BraunederSchmidt20000807 Nr. 10056 ZRG 118 (2001)

 

 

Schmidt, Georg, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495 – 1806. Beck, München 1999. 459 S.

Der Untertitel setzt die Akzente. Das Alte Reich wird als Staat der Deutschen Nation verstanden. Dreierlei gilt es daher zu erklären: Reich, Staat und Deutsche Nation, und zwar nicht mittels rückprojizierter Begriffe, sondern nach zeitgenössischem Verständnis. Vier „Reichsvorstellungen“ werden daher unterschieden (10), nämlich das Reich als „Verfaßte Christenheit“, als Reichslehensverband mit unter anderem Oberitalien und Burgund, das „auf die deutschen Stände und Lande konzentrierte Reich“ zufolge enger politischer Zusammenarbeit zwischen Trient und Nord- und Ostsee, schließlich das Gebiet der kleinen Reichsstände in Schwaben, Franken und am Rhein im Gegensatz zu den großen Territorien. Die dritte Reichsbedeutung, das „engere Reich“ (11ff.), das gegen Ende des Mittelalters sogenannte „Reich Deutscher Nation“ (13ff.) ist das Alte Reich des Buchtitels. So fühlten sich beispielsweise die Schweizer Kantone nach dem Schwabenkrieg 1499 zwar noch dem Reichslehensverband angehörig, „dem politischen System ‘Reich Deutscher Nation’ standen sie fern“ (13). Dieses „erlebte im Spätmittelalter einen Konzentrationsprozeß“, der aber vorerst „ein auf den oberdeutschen Raum konzentriertes engeres Reich“ (33 und des öfteren) bewirkt habe, wie auch eine „Territorialstaatsbildung“ (20), vor allem durch „Einstaatung“ der adeligen Landstände in den letztendlich erreichten „Landesstaat“ (24). Es gehört aber zu den Verdiensten der Arbeit, dieses Gesamtbild nicht überzeichnet oder verallgemeinert zu haben: Neben diesem Landesstaat mache nämlich gerade „die relative Selbständigkeit vieler mittlerer und kleiner Herrschaften“ ein wesentliches Element des Alten Reiches an sich und auch dadurch aus, daß die Bewahrung dieser bis heute negativ als „Kleinstaaterei“ gesehenen Entwicklung mit zur Bedeutung des Alten Reiches wie zur Einbremsung der „Landesstaaten“ beigetragen habe (24). Zur „Verstaatung reichsständischer Herrschaftsbereiche“ seien weiters „in den Kernlandschaften neue Formen von Staatlichkeit“ getreten, nämlich „Einungen und Reichskreis als regionale, Reichskorporationen als ständische Zusammenfassungen von Staatlichkeit“ (26).

Schmidt sieht also die frühmoderne Staatlichkeit auf mehreren Ebenen und in mehreren Formen, nicht unbedingt als ein konkurrenzierendes Gegeneinander und daher etwa die Reformen um 1500 unter dem Aspekt, es sei den Reichsständen bei der Reichsreform auch darum gegangen, „Strukturdefizite ihrer Staatswesen auszugleichen“ (39). Das rührt natürlich an der Frage, was denn das Wesen des Staates ausmache. Schmidt begreift mit den Worten „Verstaatung“ oder „Staatsbildung“ all jene „Intensivierungsprozesse“, „die als dynastische Konzentration“ zur Unterordnung der intermediären Gewalten bei Zentralisierung der Verwaltung und Steigerung und Ausnützung von Ressourcen führte (43). Reich wie Territorien, dann Städte, Reichskreise und Bünde – also doch nicht nur „dynastische Konzentration“! - weisen daher alle für Schmidt staatliche Züge auf, sie sind ihm in ein „System komplementärer Staatlichkeit“ eingebunden, so daß er hinsichtlich des Alten Reiches von einem „komplementären Reichs-Staat“ spricht: Den Ausdruck kennt Zedlers Lexikon (42), seinen Inhalt z. B. Pütter (44). Mit diesem Begriff geht es Schmidt übrigens auch darum, sich von anderen Vorstellungen eines „deutschen Reiches“ und wohl auch dem „Deutschen Reich“ von 1870/71 abzuheben, dann soll nicht gesagt sein, daß der Reichs-Staat Anspruch erhob, alle Deutschen in sich zu vereinen, während mit dem Wort „Staat“ im Zusammenhang mit „Reich“ eine Entwicklung charakterisiert wird, die „Gemeinsamkeiten mit der Staatsentwicklung in anderen Teilen Europas“ signalisierte (42). Das von Schmidt neu gezeichnete oder jedenfalls neu konturierte Bild ist damit mehrfach innovativ: Die monolineare Sicht, „das Reich hat den Wettlauf um den Staat verloren“, nämlich mit den Ländern, diese hätten dabei das Reich „überholt“ (Mitteis/Lieberich Kap. 35), ist zu Recht einer Differenzierung gewichen, welche Staatlichkeit nicht entweder da oder dort sucht. Damit hängt zusammen, daß sich Entwicklungen etwa in Frankreich nicht gar so diametral unterscheiden (43), besonders dann, sei hinzugefügt, wenn man sich Frankreich nicht stets in den späteren Grenzen denkt. Nach Schmidt sei dieses Alte Reich schon vor 1495 als (Reichs-)Staat der Deutschen Nation begriffen worden, als deren politisch-organisatorischer Raum (44ff.), woraus sich etwa die Wahlkapitulation Karls V. an sich so wie ihr konkreter Inhalt versteht: Unter anderem sollte der Kaiser die Reichs- und Hofämter nur mit Deutschen besetzen, in den deutschsprachigen Gebieten nur Latein oder Deutsch gebrauchen (54).

Dieser Sichtweise ist wegen ihrer Komplexität, den Schlußfolgerungen wegen ihrer Stichhaltigkeit sowie beiden besonders wegen des Vermeidens einer Rückprojizierung späterer Zustände zuzustimmen. In einer gravierenden Frage geht Schmidt jedoch über die bloße Feststellung nicht hinaus: Warum entstand vorerst „ein auf den oberdeutschen Raum konzentriertes engeres Reich“ (33 und des öfteren), warum war es „um 1400 aber nur in Oberdeutschland Realität“, obwohl seine „Regelungen auch für den niederdeutschen Raum gelten sollten - nur interessierte sich dort kaum jemand dafür“ (40f.) - warum bloß? Dieser Mangel fällt sodann deshalb auf, weil Schmidt anhand der Reichsstände zwischen Weser und Ems erläutert, daß das Einbeziehen in „das Reichssystem“ Vorteile brachte (115). Er zeigt hier übrigens auch, wie der Reichs-Staat funktionierte, was das Komplementäre in ihm ausmachte. Im Bereich der Gesetzgebung wäre dies übrigens schön an den Reichspolizeiordnungen mit ihren Detail-, Rahmen- und Auftragsregelungen zu demonstrieren.

Die Darstellung insgesamt ist einerseits in die drei frühneuzeitlichen Jahrhunderte gegliedert, andererseits sind jeweils nach deren Darstellung „stärker strukturgeschichtlich orientierte Zusammenfassungen, die zentrale längerfristige Entwicklungen nachzeichnen und in der Perspektive von Staat und Nation erläutern“ (355), eingeschoben. Hier sind beispielsweise sehr instruktiv die Klagemöglichkeiten von Bürgern und Bauern beim Reichskammergericht und beim Reichshofrat untergebracht (137ff.), späterhin in etwa fortgesetzt unter „Ständische Angleichungen und Menschenrechte“ (237ff.). Am Schluß (347ff.) steht ein „Fazit: Das Alte Reich als Staat der Deutschen Nation“. Es faßt das zuvor Dargestellte zusammen: Nachdem das System des komplementären Reichs-Staates als (unbeabsichtigte?) Folge des Schmalkaldischen Krieges auch in Norddeutschland effektiv wurde, war er „das politische Ordnungssystem, das zwischen 1500 und 1800 der vor allem auf Sprache, Kultur und Abstammung basierenden Gemeinschaft der Deutschen den Rückhalt gab“ (349). Zu Recht sind die Momente französischer Bedrohung und die Türkenabwehr als verfestigende Momente genannt. Gerade angesichts der wesentlich auch glaubensmäßig mitgetragenen Türkenabwehr sei doch gefragt, ob tatsächlich „Luther mit der Reformation den religiösen Fundamentalkonsens zerstört“ habe (350): Gegen den Glaubensfeind wirkte ein christlicher Konsens denn offensichtlich doch, zumal man sich ja als Glaubensverwandte mit der freilich dahinschwindenden Hoffnung auf eine Wiedervereinigung verstand. Das Verständnis des Reichs-Staates als politische Ordnung der Deutschen Nation macht auch das Wesen der „deutschen Freiheit“ begreiflich: Sie sichert nicht Partizipation wie im revolutionären Frankreich oder auch in den absoluten deutschen Staaten verlangt, sondern die „komplementäre Staatlichkeit“ unter Einschluß der Klagsmöglichkeiten vor den Reichsgerichten. Damit ist der Wertmaßstab der westeuropäisch-nordamerikanischen Verfassungssituation in Bezug auf die deutsche Entwicklung relativiert und es erklärt andere wirksame Traditionen. Die Struktur des Reichs-Staats macht auch (wieder einmal) plausibel, daß sich mit ihr die absolutistischen Monarchien der Habsburger wie der Hohenzollern nicht vertrugen, weil ihre Struktur eine zumindest latente despotische Antikonstruktion darstellte.

Das Verständnis Schmidts vom Alten Reich mit seinen Territorien als eines komplementären Reichs-Staates eröffnet für die Verfassungsgeschichte wichtige und höchst wertvolle Einsichten: durch das Ineinandersein von Reich und Ländern und anderen Herrschaften, was sich etwa aus der Position jedes Landes- als Reichsfürsten schon bisher mehr hätte aufdrängen müssen; durch das Aufeinanderangewiesensein der großen und kleinen Reichsstände; durch die Betonung des Freiheitsgedankens im Zusammenwirken mit grundrechtsähnlicher Rechtsprechung durch die Reichsgerichte; auch durch die Hinweise auf außerdeutsche Entwicklungen als nicht unbedingt prinzipiell Gegensätzliches. Weniger die Verfassungsstruktur als solche, sondern deren Funktion und Funktionieren steht im Vordergrund, weniger etwa die Zuerkennung des votum decisivum, sondern der Umstand, daß es in der Praxis „eine Norm ohne Wert“ blieb (211). Verfassungsdenken bzw. Verfassungstheorie sowie Verfassungspraxis bzw. Verfassungsmöglichkeiten ergänzen sich in der Darstellung zur Einsicht in die nachgezeichnete Vergangenheit.

Wien                                                                                                              Wilhelm Brauneder