Weber, Max, Finanzwissenschaft. Vorlesungen 1894-1897 (= Max Weber-Gesamtausgabe, Abteilung III, Band 3), hg. v. Heilmann, Martin in Zusammenarbeit mit Meyer-Stoll, Cornelia. Mohr Siebeck, Tübingen 2017. XIII, 443 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Jahr 1894 folgte der Jurist, Ökonom und Soziologe Max Weber (1864 – 1920) dem Ruf der Universität Freiburg im Breisgau auf ein Ordinariat für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft auf Empfehlung und in der Nachfolge Eugen von Philippovichs. Diese Berufung stellte eine beträchtliche Herausforderung dar, denn Weber war zwar in den von ihm nun zu vermittelnden Fächern nicht gänzlich unbeschlagen, hatte sich jedoch bislang vorwiegend in der Rechtswissenschaft profiliert, die venia legendi für Römisches Recht und für Handelsrecht erworben und in der Folge eine außerordentliche Professur an der Juristischen Fakultät der Universität Berlin innegehabt. Gemutmaßt wird, seine „bei Levin Goldschmidt erworbene Kompetenz auf den neuen Rechtsgebieten des Handelsrechts, des Wechselrechts und des Börsenrechts könnte in Verbindung mit den aus rechtshistorischer Perspektive erforschten Sachverhalten des Agrarwesens ein entscheidendes Argument gewesen sein, dem Juristen Weber einen nationalökonomischen Lehrstuhl anzutragen“. Zusätzlich habe er an einer vom Verein für Socialpolitik durchgeführten „Landarbeiter-Enquete“ mitgearbeitet und „im Zuge der Auswertung der Daten zur Lage der ostelbischen Landarbeiter in sehr kurzer Zeit eine umfangreiche Studie verfaßt, die hohe Anerkennung fand“. Doch in diesen wenigen Anknüpfungspunkten erschöpfte sich bereits seine Kompetenz auf diesem Feld, sodass etwa Karl Bücher, ein Vertreter der Historischen Schule der Nationalökonomie, damals zum harten, aber weitgehend zutreffenden Urteil gelangt sei: „Ein Nationalökonom ist der Mann nicht“ (S. 9f.). Doch Max Weber wäre nicht Max Weber gewesen, hätte er seine eigenen Defizite nicht selbst gekannt und nach Kräften an deren Behebung gearbeitet. So sei er zunächst gezwungen gewesen, sich in einer „Phase extremer Arbeitsbelastung“ (S. 12) auf zwei große Hauptvorlesungen in seinem ersten Freiburger Semester vorzubereiten, wofür er vor allem zusammenfassende Artikel in Handbüchern herangezogen und die gängigen Lehrbücher ausgewertet habe. Sein Wirken in Freiburg soll dann dennoch „rundum erfolgreich und zufriedenstellend“ verlaufen sein. Unter anderem habe er auch erreicht, dass „eine rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät unter Aufnahme der bisher der juristischen Fakultät zugehörigen rechtswissenschaftlichen und der bisher der philosophischen Fakultät zugehörigen staatswissenschaftlichen Fächer in die neue Fakultät errichtet“ wurde (S. 17). „Alle Zweifel an seiner Kompetenz als Nationalökonom (waren) endgültig ausgeräumt“, als Weber Ende des Jahres 1896 der Ruf nach Heidelberg „auf den durch Karl Heinrich Rau und dessen Nachfolger Karl Knies hochangesehenen Lehrstuhl“ erreicht habe (S. 19).

 

Die Vorlesung über Finanzwissenschaft hat Max Weber an der Universität Freiburg zweimal gehalten, und zwar in seinem ersten (Wintersemester 1894/1895) und seinem letzten dortigen Semester (Wintersemester 1896/1897). Dazu hat sich als ein Teil des Nachlasses Max Weber ein Konvolut von 191 Manuskriptblättern erhalten, das über das Zentrale Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg 1993 nach Berlin-Dahlem ins Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz gelangte. Eine Parallelüberlieferung in Form von Mitschriften oder Nachschriften dieser Vorlesung konnte bislang allerdings nicht festgestellt werden. Zwar folge die vorliegende Edition der Gliederung Max Webers, doch lasse sich aus mehreren Gründen eine Textfassung letzter Hand nicht rekonstruieren. Der Gelehrte habe „seine Vorlesungsnotizen weder eigenhändig durchgezählt noch […] datiert“, seine Gliederung sei durch verschiedene Bearbeitungsstufen „nicht immer stimmig oder eindeutig“ und das Material „vielfach überarbeitet und ergänzt“ worden (S. 72f.). Mehrere faksimilierte Textblätter (S. 78 sowie, auf Glanzpapier eingefügt, S. 150/151, 246/247 und 276/277) machen den dynamischen Konzeptcharakter der Notizen und die Herausforderungen augenscheinlich, vor welchen die Herausgeber bei der Transkription der Aufzeichnungen gestanden haben. Der editorische Bericht gibt genauen Aufschluss darüber, in welcher Weise die Edition die Vorgaben des Manuskripts und den textkritischen Kommentar umsetzt. Wie umfassend Weber seine in Stichworten, Halbsätzen und knappen Urteilen festgehaltenen Inhalte seinerzeit tatsächlich vorgetragen hat, könne aber heute nicht mehr überprüft werden.

 

Der Aufbau der gegenständlichen Vorlesung zur Finanzwissenschaft (sechs „Bücher“ genannte thematische Großabschnitte plus ein Schluss, der wegen seines eigenständigen Inhalts nach Ansicht der Herausgeber als ein siebtes Buch firmieren sollte; eine zweite Einteilungsebene zählt 32 fortlaufend durchnummerierte Paragraphen) lehnt sich an die Systematik der wichtigsten zeitgenössischen Lehrwerke an. Es handelt sich dabei um Adolph Wagners „Finanzwissenschaft“ in drei Teilen (1880 - 1889), Karl Theodor Ehebergs „Grundriß der Finanzwissenschaft“ in dritter Auflage (1891) und Gustav Cohns „System der Finanzwissenschaft“ (1889), deren Gliederung der vorliegende Band der Disposition Webers anschaulich in einem eigenen „Anhang zur Einleitung“ vergleichend gegenüberstellt. Seine Vorlesung erläutert in § 1 einleitend „Begriffe und Aufgaben der Finanzwissenschaft“. Das erste Buch erfasst „Die geschichtliche Entwicklung der öffentlichen Wirtschaft“ zunächst in ihren allgemeinen Stadien, dann konkret von den Römern bis zu den Nationalstaaten und Territorien des 18. Jahrhunderts, das zweite die mit dem 15. Jahrhundert in Italien einsetzende „Geschichte und Litteratur der Finanzwissenschaft“. Die folgenden Bücher (3, 4, 5) erläutern den Finanzbedarf und die Mittel seiner Deckung, die Gebühren und die Steuern; Letztere werden in drei Abschnitten in die allgemeine Steuerlehre, die einzelnen Steuern (direkte Erwerbsteuern, die Besteuerung einzelner Erwerbsvorgänge, Besitzbesteuerung, Verbrauchsbesteuerung) sowie in die Aufwandsteuern und Luxussteuern eingeteilt. Buch sechs bearbeitet den öffentlichen Kredit, also die Staatsschulden, der eigenständige Schluss die Verteilung der Steuerquellen und die Lage des Budgets in den damaligen Großstaaten, wobei nur das Deutsche Reich näher behandelt und England, Frankreich und Russland lediglich kursorisch zum Vergleich herangezogen werden. Insgesamt ließen sowohl „die beiden ersten historischen Kapitel vielfach eine enge Anlehnung der Notizen an die ausgewerteten oder exzerpierten Quellen […] erkennen“, wie „(a)uch in den nachfolgenden, dem eigentlichen Standardstoff der damals gelehrten Finanzwissenschaft gewidmeten Kapiteln sich der Eindruck (bestätigt), daß dem Autor offenbar das Minimum an Muße nicht zur Verfügung stand, um die zusammengestoppelten Lektürefrüchte zu einer ausgewogenen, genügend reflektierten und im Ergebnis dann eigenständigen Darstellung zu verarbeiten“ (S. 54).

 

In der Finanzwissenschaft hat Max Weber mit Sicherheit keine herausragende Bedeutung erlangt, zu sehr haben andere Felder seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Als er Freiburg Richtung Heidelberg verließ, stand fest, dass sein Kollege Gerhart von Schulze-Gaevernitz sich „mit verstärktem Interesse der bisher eher ungeliebten Finanzwissenschaft zuwenden würde. Dieser Umstand mag erklären, weshalb man bei der weiteren Kandidatensuche weniger auf die Fachkompetenz in Finanzwissenschaft meinte achten zu müssen“ und schließlich 1897 Carl Johannes Fuchs aus Greifswald als Nachfolger Webers nach Freiburg berufen habe (S. 19). In Heidelberg „überließ er die Durchführung der Hauptvorlesung Finanzwissenschaft bedenkenlos Dozenten, von deren wissenschaftlicher Qualifikation er keineswegs überzeugt war“ (S. 55). Den Fachkollegen konnte nicht verborgen bleiben, dass Max Weber „sich als Professor in Freiburg und Heidelberg nicht zu einem typischen Vertreter der ökonomischen Gelehrtenzunft entwickelte“, da er etwa hier „zu keinem seiner Lehrgebiete […] ein Lehrbuch (schrieb). […] In seiner Forschung […] strebte er weiter, über das Fachverständnis seiner Kollegen hinaus in Richtung auf die Konzeption einer die traditionellen Teile der Politischen Ökonomie einbeziehenden, aber gesellschaftswissenschaftlich fundierten Sozialökonomik“ (S. 10f.). Das hier edierte Vorlesungsmanuskript Finanzwissenschaft liefert somit in erster Linie Erkenntnisse zu Max Webers Sozialisation als Wissenschaftler, für die Entwicklungsgeschichte der Fachdisziplin ist es letztendlich nicht von Bedeutung. Nicht verschwiegen werden soll, dass der vorliegende, mit zwei Lesezeichenbändchen versehene Band in bewährter Weise durch vorzügliche Verzeichnisse und Register aufgeschlossen ist, unter denen neben der dem Buch beiliegenden CD-ROM, die den Text als PDF-Datei zu Suchzwecken enthält und vom Verlag für Subskribenten der Max Weber-Gesamtausgabe als Campuslizenz freigegeben ist, vor allem das ausführliche Glossar und das umfangreiche Verzeichnis der von Max Weber zitierten Rechtstitel für den Rechtshistoriker von besonderem Interesse sein werden.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic