Kißener, Michael/Roth, Andreas, Notare in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ – Das westfälische Anwaltsnotariat 1933-1945. Nomos, Baden-Baden 2017. 501 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Praxis des Notariats und dessen spezielle Rollen im Nationalsozialismus sind bisher noch nicht Gegenstand einer detaillierten Untersuchung gewesen. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass sich Michael Kißener (Historiker im Historischen Seminar der Universität Mainz für den Arbeitsbereich Zeitgeschichte) und Andreas Roth (Rechtshistoriker in Mainz) dieser Thematik im Rahmen eines von der Westfälischen Notarkammer in Hamm geförderten Drittmittelprojektes angenommen haben. Grundlagen der Untersuchungen waren Dienst- und Personalakten, Entnazifizierungs- und Wiedergutmachungsakten sowie 30.000 eingesehene Urkunden von Notaren aus den Landgerichtsbezirken Dortmund, Hagen und Münster (-Land). Die Thematik des Bandes wird bearbeitet von Kißener aus dem zeit- und sozialhistorischen, von Roth aus dem rechtshistorischen Blickwinkel. In ihrer gemeinsamen Einleitung (S. 13-37) gehen die Autoren ein auf die Ziele der Untersuchung und die dieser zugrunde liegende Methodik, wobei eine „Untersuchung einer spezifischen Berufsgruppe“ unter „den Prämissen der modernen NS-Forschung gleichsam zwangsläufig einen Beitrag zur Gesellschafts- und Alltagsgeschichte des ‚Dritten Reiches‘ “ darstelle (S. 17). Als Forschungsparadigma dient der Begriff der „Volksgemeinschaft“, was konkret bedeutet, „in actu zu untersuchen, ob und wie ‚Volksgemeinschaft‘ unter den Notaren im privaten Alltagshandeln, im politischen Verhalten wie auch in der notariellen Praxis gelebt bzw. als ‚Handlungsnorm‘, in welchen Formen auch immer, akzeptiert wurde“ (S. 22). Die Untersuchung umfasst das Notariat in drei für die „neuen Machthaber“ nicht leicht zu durchdringenden Räumen (individuelle Ballungsräume mit hohen Stimmenanteilen der KPD und der SPD sowie das katholische, vom Zentrum bestimmte Milieu auf dem westfälischen Land). Nach einem Überblick über den Forschungsstand und die Quellenlage beschreiben die Autoren ihr „Vorgehen“ (S. 36f.).

 

Im ersten Teil des Werkes: „Notar und ‚Volksgenosse‘“ von Kißener (S. 39-229) geht es zunächst nach einer Beschreibung der Provinz Westfalen und des Oberlandesgerichtsbezirks Hamm um die Charakterisierung des Nationalsozialismus in Westfalen (S. 48ff.), der sich auch in der Justiz schnell durchsetzte, wenn auch Konflikte zwischen den Organen der Partei und der Justiz nicht ausblieben. Mit der Auflösung des Deutschen Notarvereins und der Überführung der Mitglieder in die BNSDJ-Fachgruppe Notare übte diese durch den Gauführer des BNSDJ (später: NSRB) die Überwachung des parteikonformen Verhaltens der Notare aus. Den Weg zu einem nationalsozialistischen Notariat ebnete die Reichsnotarordnung vom Februar 1937 (S. 79ff.), die das schon zuvor entwickelte nationalsozialistische Notarleitbild in den §§ 1-4 und 15 festsetzte (S. 79ff.). Die Praxis des Anwaltsnotariatsstandes in der „Volksgemeinschaft“ zeigte sich in der Schaffung des „arischen Notariats“ und der Exklusion der jüdischen Kollegen, die sich im Hinblick auf die Frontkämpferklausel im Berufsbeamtengesetz vom 7. 4. 1933, das für Notare in Betracht kam, und im Rechtsanwaltsdienstgesetz vom 10. 4. 1933 zunächst nicht ohne Hindernisse vollzog (S. 84ff.). Lediglich fünf Notaren in Dortmund und zwei Notaren in Hagen wurde die Aufrechterhaltung des Notariats gestattet, das diese dann Ende 1935 aufgrund der Durchführungsverordnungen zum Reichsbürgergesetz verloren (S. 101; vgl. S. 91f. die tabellarische Auflistung der jüdischen Notare in den LG-Bezirken Dortmund und Hagen). Im Einzelnen befasst sich Kißener mit dem Schicksal der betroffenen Notare, ihrem Verhältnis zu den Kollegen, den Folgen der Verdrängung sowie den „Mischehen-Notaren“. Im Abschnitt über den „Notar als politisch zuverlässiger ‚Volksgenosse‘“ (S. 142ff.) geht Kißener ein auf die Parteimitgliedschaft der Notare, von denen mindestens 37% nicht in der Partei waren, das Verhalten der Alt-Parteigenossen (19 Notaren in den 3 Landgerichtsbezirken) und der Neu-Parteigenossen. Im Abschnitt über das dienstliche Verhalten der westfälischen Notare stellt Kißener fest, dass sich „Exponenten der Partei im Notarberuf“ in ihrer „Amtsführung vieles herausnehmen konnten, ohne dafür bestraft zu werden“ (S. 197). Kißener schließt seinen Teil der Untersuchungen ab mit einem Blick auf die wenigen Notare, die sich den Ansprüchen des Nationalsozialismus an ihre Amtsführung „zu entziehen versuchten und Distanz zur nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘ wahrten, womit sie sich faktisch selbst ausschlossen“ (S. 36, 202ff.). Am Rande sei angemerkt, dass bereits im Juli 1933 Lothar Schücking, der Bruder des Kieler Völkerrechtlers Levin Schücking, aufgrund der Aprilgesetze 1933 die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft und zum Notariat verlor (S. 204 ff.).

 

Im zweiten Hauptteil (S. 231-445) behandelt Roth die notarielle Beurkundungspraxis, und zwar zunächst die Urkunden, die unabhängig von der „Arisierung“ wichtige Aspekte der notariellen Tätigkeit in der nationalsozialistischen Zeit umfassen. Es kommen zur Sprache die besonderen Regelungen für Grundstückskaufverträge, die einer vielfältigen Genehmigung bedurften (S. 236ff.), familienrechtliche Beurkundungen (Güterrecht, Verfügungen der Ehegatten, Unterhalt/Scheidung und Kindschaftssachen), erbrechtliche Urkunden, Übertragungsverträge (insbesondere im Rahmen des Erbhofrechts) sowie Rechtsgeschäfte im Zusammenhang mit einer Auswanderung (S. 292ff.; insbesondere Vollmachtserteilung von Juden vor ihrer Ausreise). Die weiteren Hauptteile umfassen die „Arisierung ‚jüdischer‘ Betriebe“ (S. 313ff.) und die notariellen Kaufverträge von Juden über nichtbetriebliche Grundstücke (S. 373ff.), und zwar unter Herausarbeitung der „konkreten Vertragsgestaltung“. Dabei ist zu berücksichtigen, dass etwa nur die Hälfte der Betriebe arisiert wurde, während die andere Hälfte der Liquidation unterfiel (S. 370), über die man gerne etwa mehr gelesen hätte. Ab 1937 und noch einmal verstärkt nach Erlass der Verordnungen zur Erfassung und Veräußerung jüdischen Vermögens ab April 1938 (insbesondere der Einsatzverordnung vom 3. 12. 1938, nach der dem Inhaber eines jüdischen Gewerbebetriebs aufgegeben werden konnte, den Betrieb innerhalb einer bestimmten Zeit zu veräußern oder abzuwickeln), nahm die Zahl der von Notaren beurkundeten Betriebsveräußerungen deutlich zu, so dass bereits Ende 1938 die meisten jüdischen Betriebe übertragen waren. Die Betriebsveräußerung unterlag der Genehmigung der staatlichen Stellen (Regierungspräsident, Oberbürgermeister), hing aber de facto von der Stellungnahme des Gauwirtschaftsberaters und damit von den Parteistellen ab. Die notariellen Urkunden über die Übernahme jüdischer Betriebe werden untersucht unter dem Gesichtspunkt der Käufer, des Kaufpreises, der Übernahme des Personals, des Konkurrenzverbots und weiterer Abreden (zu Miet- und Pachtverträgen S. 363ff.). Insgesamt war der Spielraum der Notare für die Vertragsgestaltung ab 1938 gering; insbesondere waren Abweichungen bei Immobilien vom Einheitswert nach oben oder nach unten kaum möglich oder sinnvoll. Gegebenenfalls war eine Ausgleichsabgabe vom Erwerber an den Staat zu zahlen. Gleichwohl gab es geringe Spielräume, die von einigen Notaren zugunsten der jüdischen Veräußerer genutzt wurden, während viele Beispiele auch zeigen, wie Notare die jüdischen Veräußerer einseitig beraten und konkret benachteiligt haben. Die notariellen Kaufverträge über jüdische Grundstücke analysiert Roth unter dem Gesichtspunkt der Kaufvertragsparteien, des Kaufpreises, einzelner Vertragsklauseln und des Rücktrittsrechts (vor allem bei Nichtgenehmigung). In etlichen Urkunden wurde die Auswanderungsabsicht des Verkäufers als Motiv eines Grundstücksverkaufs in der Urkunde ausdrücklich genannt.

 

Im Schlussteil stellen die Herausgeber zunächst fest, dass von den ca. 30.000 eingesehenen Urkunden 90% der beurkundeten Rechtsgeschäfte „ideologisch unbeeinflusst“ waren und „auch zu anderen Zeiten genau so wie geschehen“ hätten beurkundet werden können (S. 448). Bei 10% der Urkunden fänden sich zwar „spezielle zeitspezifische Bezüge“, jedoch weisen weniger als 5% einen „politischen Einschlag“ auf (S. 448). Nicht wenige westfälische Notare haben „nicht einmal eine einzige ‚Arisierungsurkunde‘ ausgefertigt“ (S. 448). Auf der anderen Seite hatten sich andere Notare insbesondere aus Dortmund in diesem Bereich stark engagiert und an den „ ‚Arisierungen‘ gut verdient“ (S. 449). Ein im Einzelnen dokumentiertes Beispiel zeigt nach Meinung der Autoren deutlich, „dass, von der Ungeheuerlichkeit des Vorgangs der ‚Arisierung‘ einmal abgesehen, in einzelnen Klauseln weitere Benachteiligungen zulasten der jüdischen Veräußerer und zugunsten der ‚arischen‘ und parteigenehmen Erwerber existierten, die der Notar zu legalisieren half“ (S. 458). Die Ergebnisse erweisen allerdings auch, so die Autoren, „dass eine aus einzelnen Fallbeispielen abgeleitete pauschalierende und allzu undifferenzierte Sicht auf das zentrale Unrechtsgeschehen der ‚Arisierung‘ … der differenzierten historischen Wirklichkeit in Westfalen“ nicht gerecht werde (S. 450). Notare im ländlichen Raum des Münsterlandes seien im Übrigen „weit weniger mit Anforderungen zur ‚notariellen Mitgestaltung‘ des Unrechts konfrontiert“ gewesen als ein Notar in Hagen und Dortmund (S. 450). Die geringen Spielräume, über welche die Notare noch verfügten, seien „außerordentlich unterschiedlich“ genutzt worden (S. 450f.). Dies bedeute auf der anderen Seite jedoch nicht, „den westfälischen Notarstand von seiner Mitverantwortung für die Realisierung nationalsozialistischer Herrschaft und des von ihr begangenen Unrechts zu entlasten“ (S. 451). Entstanden sei eine „schlichte ‚ökonomische Vorteilsgemeinschaft‘ bzw. ‚Profiteurgemeinschaft‘“ unter den Parteigenossen,  in deren Alltag das genaue Gegenteil der propagierten Volksgemeinschaft herrschte (Konkurrenz, Neid, sozialdarwinistischer Durchsetzungswille und Hybris der Macht; S. 455). Insgesamt gelang es der nationalsozialistischen Herrschaft nicht, „über ungenaue Ansprüche hinaus ein wirklich verinnerlichtes neues Notarleitbild zu erschaffen“ (S. 462). Allerdings wäre es ohne die Vereinheitlichung des Notarrechts unter dem Nationalsozialismus, die allerdings teilweise nur ein „Formelkompromiss“ war (S. 453), erheblich schwieriger gewesen, nach 1949 eine Bundesnotarordnung zu erlassen, die auf der Basis des hauptamtlichen Notariats auch in den neuen Bundesländern bruchlos eingeführt werden konnte.

 

Das Werk wird abgeschlossen u. a. mit einem Verzeichnis der herangezogenen archivalischen Quellen, einem Ortsregister und einem Register der erwähnten Notare. Etwas detaillierter hätte dargelegt werden sollen, nach welchen Kriterien die Notare ausgewählt wurden, deren Urkunden Berücksichtigung fanden. Welche sozialstatistischen Angaben sind in der der Notarkammer Hamm zur weiteren Verwendung und Aufbewahrung übergebenen Excel-Tabelle (S. 35) im Einzelnen berücksichtigt? Die getrennte Darstellung der zeithistorischen und spezifisch rechtshistorischen Aspekte der Thematik des Bandes ist ohne weiteres überzeugend und aus interdisziplinärer Sicht zu begrüßen. Die teilweise narrativ angelegte Darstellung vermittelt ein anschauliches Bild vom Notariat unter dem Nationalsozialismus, wobei auf das Verhalten einzelner Notare detailliert eingegangen wird. Ob und inwieweit die „Involvierung in den NS-Unrechtsstaat im Denken und Handeln“ der Notariatsgeneration der NS-Zeit „nicht doch Spuren hinterlassen hat, die sich dann beim Aufbau des demokratischen Rechtsstaates der Bundesrepublik Deutschland negativ bemerkbar gemacht haben“, muss – so die Autoren, einer „weiteren Untersuchung vorbehalten bleiben“ (S. 462f.). Insgesamt liegt mit dem überaus wichtigen und zugleich notwendigen Werk von Kißener und Roth eine umfassende Studie über das Notariat in der nationalsozialistischen Zeit am Beispiel des westfälischen Anwaltsnotariats vor, die breite Beachtung verdient und für weitere Notariatsbezirke fortgesetzt werden sollte.

 

Kiel

Werner Schubert