Intuition und Wissenschaft. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. v. Bachhiesl, Christian/Bachhiesl, Sonja Maria/ Köchel, Stefan. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2018. 419 S.

 

Was und wieviel von dem, was man nicht denkt, hat Einfluss auf das, was man denkt?

Paul Valéry

 

„Ich grase meine Gehirnwiese ab.“ Die charmante beherzigenswerte, deskribierende Parole der selbstreflexiven Vor-Sätze Valérys in seinen verborgenen Cahiers steht am Beginn der Überlegungen Christian Bachhiesls, Historiker und Jurist, über die komplizierten Relationen von Intuition und Wissenschaft. Intuitionen können nicht „notiert“ werden, sie sagen viel mehr als sie denken, so Valéry. Das wache Bewusstsein ist zur intuitiven Erkenntnis nicht fähig. Wohin führt der „Schock“ der Intuition? Zu einer „Oszillation“, die periodisch „das Wahre“ demaskiert? Mit solchen Gedanken, schwer zu tragen, wird der gehaltvolle Band eingeleitet, der sich den großen Fragen nach der Herkunft des Neuen, nach gedanklichem Eigenleben und dem seltsamem, schwer ergründbaren Walten des Zufalls inmitten von gedanklichen Kausalitätserwägungen widmet.

 

Ausgangspunkt des Werkes war eine von den Universitätsmuseen der Karl-Franzens-Universität Graz mit diesem Titel veranstaltete Tagung vom 10. bis 12. 11. 2016. Sie stellt jedoch eine Sammlung von weitergehenden Beiträgen dar. Mit erstaunlicher thematischer Bandbreite werden hier Zugangsweisen und Funktionen von Intuition im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zusammengestellt und in ein neues „synoptisches Licht“ (Christian Bachhiesl) gerückt. Die Weite der unterschiedlichen Ansätze und Herangehensweisen reicht von der Philosophie, der Ideen- und Wissenschaftsgeschichte über Literatur-, Musik-, Kunst- und Rechtswissenschaften, Archäologie, Zoologie, Theologie und Geschichte bis hin zu Naturwissenschaft, Medizin und Psychopathologie.

 

Die Intuition zählt, wie Bachhiesl, einer der maßgeblichen Herausgeber und Organisator der Tagung entwickelt und zusammenfasst, nicht zu den konstitutiven, sondern fragwürdigen Spezifika wissenschaftlichen Forschens, als ein kaum vorhersehbarer und beinflussbarer „Gast“, als ein exzeptionelles Phänomen, wie etwa die Analyse der irrationalen Erkenntnislehre Richard Müller-Freienfels‘ oder die Kriminalbiologie Adolf Lenz‘ zeigten.

 

 Wie sich kreative Intuition im Laufe der Wissenschaftsgeschichte manifestiert, ist Gegenstand einer eindrücklichen Darstellung (Alois Kernbauer). Die Fragwürdigkeiten intuitiven Urteilens werden in Geschichte und Gegenwart der freien Beweiswürdigung im Strafprozess deutlich, bei der sich hochkomplexe Informationsverarbeitungsprozesse intuitiver wenn nicht per se irrationaler Natur abspielen (Benjamin Koller), mögen auch Wahrscheinlichkeitsbegriffe diese Umstände verdecken oder verdunkeln.

 

Ein Erich Wulffen, gewissermaßen die etwas kleinere Ausgabe des Enzyklopädisten Hans Gross, erhob die Intuition noch zum alleinseligmachenden und wahrheitsbegründenden Erkenntnismittel der Forensik. Wenn sich Intuition etwa bei Oswald Spengler mit seinen methodisch-stilistischen Anleihen bei Goethe und Nietzsche zu einer angewandten Intuition als innerer visueller Erfahrung und zu einer den Leser mitreißenden „Schau“ geschichtlicher Abläufe verdichteten, die er als unbestrittene Wahrheiten präsentierte (Eva Ulrich), werden die methodischen, inhaltlichen und historischen Erkenntnisprozesse weitab von archivalischen oder anderen Belegen mehr als deutlich.

 

Intuitive Betrachtungsweisen haben, wie Bernhard Schrettle aufzeigt, in der klassischen Archäologie Tradition. In diesem kritisch betrachteten Kontext, dem archäologischen hermeneutischen „workflow“ lassen sich intuitive geprägte Erkenntnisprozesse („zündende Idee“, „Geistesblitz“) in moderneren Kategorien fassen. Ganz anders als etwa Spenglers Methode der Erkenntnis durch „Schau“ versucht Max Weber durch die bekannten Idealtypen ein diffuses, differenziertes Material durch Selektion und Formung komparatistisch mit dem Versuch einer Annäherung an die soziale Wirklichkeit zu erfassen (Omid Amouzadeh-Ghadikolai). Es führt ein nicht unbedeutender, durch denkerische Zusammenhänge charakterisierter Schritt von Webers Konzeption des Erklärens und Verstehens zu Karl Jaspers‘ psychologischen Idealtypen und Phänomenen, die sich rational nicht verstehen lassen oder zu Konfliktlagen, in denen nach Jaspers nur eine existenzielle Intuition als Grundlage sich anbietet (Sonja Maria Bachhhiesl in ihrer Analyse von Schirachs Stück „Terror“).

 

In dieser zugegeben subjektiven Auswahl aus den hier so zahlreich versammelten, tiefgründigen generellen oder empirisch orientierten Versuchen, das Irrationale der Wissenschaftssektoren doch zu rationalisieren, sozusagen reduktionistisch zu erfassen, lassen sich Intuitionen gewiss auch philosophisch als ein System von Gedankenexperimenten sehen, deren systematische Sammlung sich zugleich als bewertete und systematisierte Intuitionen darstelle (C. Bachhiesl), gewissermaßen als eine „Gesundheitspolizei des Denkens“ (Eugen Fischer), welche Intuitionen als kognitive Illusionen entlarvt. In dem Band sollen jedoch stattdessen zumeist mit „klassischem“ Ansatz Intuitionen nicht als modale Einsichten oder Experimente, sondern als unreduzierte anregende Vielfalt wahrgenommen und über sie sollte mit Ferngläsern oder unter einem Mikroskop aus den unterschiedlichsten Fächern exemplarisch geforscht und nachgedacht werden.

 

Paul Valéry folgend kommt Intuition ganz plötzlich über den Erkennenden - schlagartig als „Schock“, als „Wirkung ohne Ursache“. Die Kausalität wird aus den Angeln gehoben. Die Kunstwissenschaften, vertreten durch Doris Pichler, Susanne Kogler, Andrea Ch. Berger, sehen das heute durchaus mit etwas anderen Augen.

 

Welches hohe Ausmaß an einmaliger Intuition und profunder Fähigkeit zur Produktion von profitablen Illusionen gehört, bestätigt der spannende und höchst amüsante Werkstattbericht des Insiders Manfred Mayer über „A Galileo Forgery“ , die Fälschung des „Sidereus Nuncius“. Intuitiv unterstellt der Betrachter dem genialen Fälscher nur die Hoffnung auf schnöden Mammon. Doch scheint auch der Wunsch, es der etablierten Wissenschaft einmal richtig zu zeigen, die Intentionen beflügelt zu haben.

 

Schocks erschütterten Handel und Wissenschaften.

 

Es ist alles in allem kein überall nur kurzweiliges und multiperspektivisches, sondern ein sehr tiefgründiges, wissenschaftliches, die Intuition nach allen Regeln der Künste und Forschungsfelder durchbuchstabierendes Sammelwerk Grazer interdisziplinärer Näherungen vorgelegt worden.

 

Eine Art Schock steht denn auch zum guten Schluss wie schon am Anfang beim philosophischen „Wagnis der Intuition“ (Stefan Köchel wagt damit sogar eine lakonisch-ziselierte Geschichte der Philosophie) von Platon und Sokrates über zahllose Zwischenstationen bis hin zu Walter Benjamin: Bei welchem, so Köchel, die Dialektik im Stillstand die Gegenwart definiert: „Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert <...> im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit.“ (W. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte).

 

Düsseldorf                                                                 Albrecht Götz von Olenhusen