Grollmann, Felix, Vom bayerischen Stammesrecht zur karolingischen Rechtsreform. Zur Integration Bayerns in das Frankenreich (= Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Münchener Universitätsschriften, Juristische Fakultät, Band. 98). Erich Schmidt Verlag, Berlin 2018. XII, 469 S. Besprochen von Steffen Schlinker.

 

Die von Harald Siems betreute Münchener Dissertation Felix Grollmanns widmet sich den Rechtstexten der Karolingerzeit für Bayern und untersucht insbesondere deren Integrationsfunktion in der Zeit nach der Absetzung Herzog Tassilos III. Die Arbeit gliedert sich in eine Einleitung (S. 1-29), drei Hauptteile und ein kurzes Resümee. Der erste Teil (S. 30-129) analysiert die bayerischen Herrschaftsverhältnisse bis zur Entmachtung Tassilos III., bietet eine sorgfältige Darstellung der bayerischen Geschichte von dem 6. bis 8. Jahrhundert (S. 50ff.) und vergleicht die Regelungen der herzoglichen Befugnisse in der Lex Baiuvariorum mit der „Verfassungspraxis“, soweit sie sich unter Zuhilfenahme anderer historischer Quellen rekonstruieren lässt (vor allem S. 82ff.). Hier zieht der Verfasser vor allem die Traditionsbücher der bayerischen Diözesen, das Salzburger Güterverzeichnis, die hagiographischen Schriften und die Decreta Tassilonis als Quellen für die Herrschafts- und Verfassungsverhältnisse heran (S. 187ff., 200ff.). Der Zeitpunkt der Abfassung der Lex Baiuvariorum kann jedoch auch auf diesem Wege nicht näher bestimmt werden, sondern muss weiterhin offenbleiben. Mit Teilen der bisherigen Forschung verzichtet der Verfasser auf Spekulationen, erwägt zwar verschiedene Möglichkeiten, beschränkt sich aber vorsichtigerweise auf die Angabe eines Entstehungszeitraums zwischen dem Jahr 550, in dem das Herzogtum Bayern erstmals erwähnt wurde, und dem Jahr 770, in dem die Decreta Tassilonis abgefasst wurden (S. 36ff., 49ff., 123ff.).

 

Sorgfältig beleuchtet der Verfasser die Herrschaftsbefugnisse des Herzogs, etwa im Rahmen der Gerichtsbarkeit, deren Inhalt und Intensität sich allerdings im Einzelnen kaum bestimmen lassen (S. 66ff., 100ff., 123). Ebenso unbestimmt bleiben angesichts der Quellenlage die Aufgabenbereiche einer Reihe von Funktionsträgern, auf die der Herzog zurückgreifen kann (S. 123f.). Auch die Beziehung des Herzogs zum fränkischen König lässt sich nur durch ein paar grobe Eckpunkte einordnen. Die Bezeichnungen „Amtsherzogtum“ oder „Stammesherzogtum“, die dem frühmittelalterlichen Herzogtum gerne beigelegt werden, helfen nach Ansicht des Verfassers zum Verständnis nicht weiter (S. 124). Der Herzog ist vielmehr manchmal enger, manchmal lockerer an den fränkischen König gebunden, stets aber von ihm abhängig. Das betrifft seine Legitimation an sich und seine Befugnis, einen Heereszug durchzuführen. Die Ausübung einer königlichen Gerichtsbarkeit in oder für Bayern ist dagegen nicht erkennbar.

 

Zwischen der normativen Beschreibung der Verfassung in der Lex Baiuvariorum und der Herrschaftspraxis des frühen 8. Jahrhunderts bestehen nach Ansicht des Verfassers drei wesentliche Unterschiede: Die Nachfolgeregelung Herzog Theodos entspricht nicht den Regeln der Lex. Der tatsächliche Einfluss, den Herzog Tassilo III. auf die Kirche ausübt, geht über die Regeln der Lex Baiuvariorum erheblich hinaus. Und schließlich spiegelt die Entstehung der Decreta Tassilonis die Regeln zur Normgebung in der Lex nicht wider (S. 126ff.). Vielmehr werden die Decreta auf Synoden unter dem Vorsitz des Herzogs nach dem Modell der fränkischen und westgotischen Synodalgesetzgesetzgebung unter königlichem Vorsitz erlassen.

 

Im zweiten Teil (S. 129-228) untersucht der Verfasser die Herrschaftsverhältnisse in Bayern unter Karl dem Großen anhand des Kapitulars (Capitulare) Baiwaricum, vor allem dessen Entstehung, Regelungsgehalt und Bedeutung für die Herrschaftspraxis. Das Kapitular dürfte vermutlich schon im Jahr 789 entstanden sein (S. 174ff.). Die capitula ad legem Baiwariorum addita werden dagegen chronologisch überzeugend in die Jahre 802/803 eingeordnet. Beide Texte sollten offenbar „bestehende Zustände festigen und zugleich reichsweite Ordnungsvorstellungen übertragen“ (S. 391). Als „Prinzipien“ der „Integrationspolitik Karls des Großen“ bezeichnet der Verfasser die „Anpassung an fränkische Herrschaftsstrukturen verbunden mit eingeschränkter Akzeptanz einheimischer Sitten und Einrichtungen“ (S. 130). Insofern schließt sich der Verfasser hier den eingangs referierten Forschungsergebnissen Hubert Mordeks an (S. 2), der die Kapitularien einmal als den „sehr ernst zu nehmenden Versuch der fränkischen Herrscher“ bezeichnet hat, „ein heterogenes Großreich regierbar zu machen, es verwaltungsmäßig zu durchdringen, die Mächtigen und Großen zurückzubinden an die zentrale Gewalt, das Volk zu formen zu einer an den sittlichen Maßstäben des Christentums ausgerichteten Gemeinschaft.“ (Mordek, Hubert, Karolingische Kapitularien, in: Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, hg. v. Mordek, Hubert, 1986, S. 25-50, 49).

 

Der Sturz Herzog Tassilos III. und der Verzicht auf eine Wiederbesetzung des Herzogsamtes durch Karl den Großen führte allerdings auch zu Änderungen der bayerischen Herrschaftsstruktur: So erfuhr die Stellung der Grafen eine Stärkung (S. 150). Außerdem findet sich nun die - jedenfalls bis dato nicht in den Quellen nachgewiesene - Möglichkeit, (anstelle des Herzogs?) den König als Richter anzurufen (S. 163ff.). Vergleichend zieht der Verfasser immer wieder auch die Regelungen Karls des Großen für Sachsen und das langobardische Königreich heran und gewinnt auf dieser Basis wertvolle Einsichten in die fränkische Integrationspolitik (S. 301ff., 315).

 

Im dritten Teil (S. 229-387) nimmt der Verfasser mit den capitula ad legem Baiuwariorum addita die rechtlichen Reformen Karls des Großen in den Jahren 802/803 in den Blick. Sie dienen dem Schutz von pax und iustitia und versprechen Rechtsschutz für Leben, Freiheit und Eigentum (S. 264ff., 268ff.). Die sogenannten octo banni, die acht Bannfälle, legen nach Ansicht des Verfassers ein „normatives Minimum für die Integrationsgebiete und das Frankenreich als Ganzes fest“ und sind Ausdruck des königlichen Machtanspruchs (S. 389, 391). Gut nachvollziehbar ist die Vermutung des Verfassers, die Veränderungen des Stammesrechts in den Jahren 802/803 seien durch die langobardische Ergänzungsgesetzgebung angeregt und durch den Erwerb des Kaisertitels nochmals legitimiert worden.

 

So kann der Verfasser deutlich hervorheben, dass „Schriftrecht ... bei der Integration Bayerns beachtet und eingesetzt“ wurde (S. 227). Damit leistet der Verfasser einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Gesetzgebung. Für das immer wieder als (weitgehend) schriftlos charakterisierte frühe Mittelalter sollte die Verschriftlichung des Rechts auch außerhalb der Kirche doch stärker in das Bewusstsein gebracht werden. Nachdrücklich unterstreicht der Verfasser den Stellenwert des geschriebenen Rechts in Bayern: „Dort lagen mit den Konzilsakten von Aschheim, den Decreta Tassilonis und der Lex Baiuvariorum nicht nur mehrere geschriebene Rechtstexte vor, welche die Herrschaftsverhältnisse (implizit) regelten, sondern in diesen war auch festgehalten worden, daß kirchliche Würdenträger an die Kanones und Richter an die Leges gebunden waren." (S. 227, auch S. 377f.). Angesichts der Quellenlage muss aber letztlich offen bleiben, inwieweit diese Texte in Bayern tatsächlich benutzt wurden und ob im Gericht schriftliches Recht zur Anwendung kam (S. 22f.).

 

So lässt sich für die Karolingerzeit durchaus von Gesetzgebung sprechen. Zwar habe Karl der Große vermutlich keine Vorstellung von der „Veränderbarkeit jeglichen Rechts“ gehabt, wohl aber das „Bewusstsein“, neues Recht schaffen zu können, um auf neue Problemfelder und Veränderungen zu antworten (S. 318f.). Diese Beobachtung deckt sich durchaus mit den Forschungen zur kirchlichen Normsetzung in der späten Karolingerzeit. Auch Harald Siems spricht von einem „Bewußtsein, dass Recht nicht - etwa mit Aufzeichnung - für alle Zeiten fertig ist, sondern laufend ergänzt und fortgebildet werden muss. Diese Erfahrung verträgt sich gut mit dem Wunsch nach Beständigkeit des Rechts. Da sich die Verhältnisse ständig ändern und neue Probleme auftauchen, muß das Recht sich darauf einstellen." (Harald Siems, Die Entwicklung von Rechtsquellen zwischen Spätantike und Mittelalter, in: Von der Spätantike zum frühen Mittelalter: Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde,  hg. v. Kölzer, Theo/Schieffer, Rudolf. (= Vorträge und Forschungen70). 2009, S. 245-285, 264).

 

Die Schriftlichkeit ist schließlich im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Bemühungen um Rechtsschutz für die Armen und Schwachen zu sehen. Die Schriftlichkeit des Rechts mag auch als Schutzmechanismus gegen den bestechlichen und korrupten Richter gedacht gewesen sein (S. 377f.).

 

So analysiert der Verfasser die Lex Baiuvariorum und die Kapitularien als bewusste Instrumente einer herrscherlichen Regelung, als Werkzeuge der Christianisierung und der Integration für neu eroberte (Sachsen, langobardisches Reich) oder fester an das Frankenreich zu bindende Regionen (Bayern). Die Rechtsquellen des frühen Mittelalters haben sich wieder einmal als hochinteressantes Forschungsfeld erwiesen, das neue Ergebnisse und zugleich neue Fragen hervorzubringen vermag. Die Arbeit schließt mit einem knappen Resümee (S. 388-391), das noch einmal präzise alle wesentlichen Ergebnisse zusammenfasst. Dabei gelingt es dem Verfasser in wohltuender Zurückhaltung auf kühne Thesen zu verzichten und stattdessen das Forschungsanliegen unmittelbar auf die Quellen zurückzubeziehen.

 

Insgesamt hat Felix Grollmann ein sehr gelehrtes, zugleich aber auch gut lesbares und spannendes Buch geschrieben, das Textanalyse und Forschungsgeschichte(n) in sich vereinigt. Unter Juristen und Historikern wird es hoffentlich viele Leser finden und sicher auch Anregung für neue Forschungen sein.

 

Würzburg/Tallinn                                                      Steffen Schlinker