Neschwara, Christian, Geschichte des österreichischen Notariats. Band 2/1 1850 bis 1871 - Formierung eines modernen Notariats – ein Kampf zwischen Form und Freiheit. XXXVIII, 1082 S., 16 ungezählte Bl., 32 Ill. Besprochen von Werner Schubert.

 

Der neue Band Christian Neschwaras über die Geschichte des österreichischen Notariats von 1850 bis 1871 knüpft unmittelbar an den 1996 erschienenen Band der österreichischen Notariatsgeschichte an, der bis 1850 reicht. In dem untersuchten Zeitraum sind drei Notariatsordnungen (1850, 1855 und 1871) ergangen, von denen letzte Fassung mit erheblichen Änderungen bis heute maßgebend ist. Das erste Hauptstück des Werkes befasst sich mit der Entwicklung des österreichischen Notariats bis 1848, der Entstehung der Notariatsordnung von 1850, deren Inhalt und Geltungsbereich sowie deren Wirkung im Rechtsleben und der Durchführung der neuen Notariatsordnung (S. 8-161). Vorbild für die Notariatsordnung von 1850 war das französische Notariatsrecht von 1803, das in Lombardo-Venetien von Frankreich eingeführt worden war und nach 1815 dort mit erheblichen Einschränkungen weiter galt. Die Notariatsordnung von 1850 galt zunächst nur in den zum Deutschen Bund gehörigen Landesteilen des Kaiserreichs. Die Trennung des Notariats von der Advokatur galt als Regel nur für die Städte, in denen sich ein Landgericht befand. Nach § 3 der Notariatsordnung war „zur unbedingten Eintragung der öffentlichen Bücher“ ein „Notariatsact oder eine authentische Ausfertigung erforderlich“. Detailliert geregelt wurde auch das Beurkundungsrecht in den §§ 42ff. (S. 72ff.). Die Ernennung der Notare war dem Justizminister vorbehalten; sie setzte das Bestehen der Advokatenprüfung oder Notariatsprüfung und eine vorhergehende Praxis voraus. Die Notare konnten nach § 176 der NotO verpflichtet werden, als „Gerichtskommissäre“ Geschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit (insbesondere Verlassenschaftsabhandlungen) zu besorgen, was allerdings nur selten geschah. Weitere Regelungsbereiche der Notariatsordnung waren die Aufbewahrung der Beurkundungen (§§ 85ff.) und die Notariatsarchive (§§ 117ff.), die von einem Direktor zu führen waren, der gleichzeitig der Vorstand der Notariatskammer war (§ 130 NotO). Über die Existenz und die Tätigkeit der Notarkammern liegen Erkenntnisse nur für Niederösterreich vor (S. 160f.). Die „Oberleitung“ des Notariats oblag den Oberlandesgerichtspräsidenten im Einvernehmen mit den Generalprokuratoren (§§ 158ff.). Ordnungsstrafen konnten von den Notarkammern (mit Vorbehalt der Berufung an das Oberlandesgericht) ausgesprochen werden, während Disziplinarstrafen nur von den Oberlandesgerichten verhängt werden konnten. Im Abschnitt über die Durchführung der Notarorganisation (S. 98ff.) bringt Neschwara S. 115ff. die Liste der 1851 ernannten Notare. Ab 1852 wurden zunächst keine Notare mehr ernannt.

 

Im zweiten Hauptstück über die Revision des öffentlichen Notariats (1852-1861) beschäftigt sich Neschwara zunächst mit der Entstehung der Notariatsordnung von 1855 (S. 163ff.), und zwar zunächst mit der Entscheidung des Kaisers von 1852, das Notariat fortbestehen zu lassen, mit der Enquete hierüber in den cisleithanischen Ländern und der Neuordnung des Außerstreitverfahrens sowie mit der Notariatsprüfung (1854). Da die Mitwirkung gewählter Abgeordneter an der Gesetzgebung erst ab 1861 in Betracht kam, war die revidierte Notariatsordnung von 1855 das Werk des Justizministers, der Ministerkonferenz und des Reichsrats, worüber Neschwara unter Einbeziehung der archivalischen Quellen ausführlich berichtet (S. 197ff.). Die neue Notariatsordnung bezeichnet Neschwara mit Recht als „rückwärtsgewandt“ (S. 224). Die bereits 1852 erfolgte Aufhebung des Notarzwangs wurde nicht rückgängig gemacht, sodass insoweit der Notar keine exklusive Zuständigkeit mehr hatte. Das neu geschaffene Mandatsverfahren war hierfür kein Ersatz. Stattdessen wich der Notar auf die Vertretung in nichtstreitigen Angelegenheiten und die Errichtung von beglaubigten Privaturkunden, allerdings in Konkurrenz insbesondere mit den Winkelschreibern, aus. Zu einer umfassenden Verwendung der Notare als Gerichtskommissäre, wie es die Notariatsordnung anstrebte (Art. 183ff.; vgl. S. 236ff.), kam es nicht, da die Übertragung des Kommissariats im Belieben der Gerichte lag. Lediglich in den Städten mit Gerichtshöfen waren seit 1860 die Notare zu Gerichtskommissären zu bestellen (S. 242ff.). Die Notariatskammern, die nunmehr bei den Gerichten erster Instanz einzurichten waren, konnten keine Ordnungsstrafen mehr verhängen (vgl. § 163 NotO; S. 215f.). Die Reformforderungen des Notarstandes (S. 255ff.) bezogen sich u. a. auf die Forderung, einen „natürlichen“ Wirkungsbereich für das Notariat zu schaffen und generell das obligatorische Gerichtskommissariat einzuführen (S. 239ff.). Das folgende Kapitel ist der Durchführung der Notarorganisation in den Oberlandesgerichtsbezirken gewidmet (S. 287-334 Verzeichnis der Notarstellen zwischen 1855-1860/1861). In einem Exkurs behandelt Neschwara die Einführung des öffentlichen Notariats in den „nichtdeutschen“ Ländern (Galizien, Krakau, Ungarn; hier Geltung nur bis 1860). Nicht eingeführt wurde das Notariat in Lombardo-Venezien und Dalmatien (S. 354ff.).

Das dritte Hauptstück steht unter der Überschrift „Profilierung des öffentlichen Notariats seit 1861“ (bis 1867/1871; S. 359-622). Im Einzelnen werden behandelt die Reforminitiativen der Regierung, von Abgeordneten des Parlaments (Reichsrat/Herrenhaus) und der Landtage der Länder sowie standesinterne Reformbestrebungen. Die Selbstorganisierung des Notarstandes erfolgte in Notariatsvereinen und zeigte sich auch in der Schaffung der Notariats-Zeitung (S. 502ff.). Abgelehnt von den Notaren wurden die Pläne der Regierung, anstelle der gerichtlichen Einantwortung der Verlassenschaften an die Erben den Erwerb einer Erbschaft ipso iure vorzusehen (S. 367ff.). Ein Referentenentwurf über die freiwillige Gerichtsbarkeit entfachte in der Notariats-Zeitung einen „Sturm der Entrüstung“ (S. 372). Keinen Erfolg hatte ein Antrag auf Aufhebung des Landnotariats im Salzburger Landtag (S. 402ff.). In einem weiteren Abschnitt behandelt Neschwara die Durchführung der Notariatsorganisation von 1861-1871 (S. 559ff. die Verzeichnisse der Notarstellen).

 

Das vierte Hauptstück (S. 623-1053) hat zum Gegenstand die Vorarbeiten und Initiativen des Notarstandes zu einer Reform des Notarrechts (S. 626ff.), die Vorarbeiten des Justizministeriums zu einem (ersten) Entwurf für eine neue Notariatsordnung, den ersten erfolglosen Anlauf zu einer Notariatsreform im Reichsrat und den erneuten Entwurf einer Notariatsordnung, die nach Verhandlungen im Abgeordnetenhaus und Herrenhaus 1871 erlassen wurde. Gleichzeitig fanden Beratungen über das Notariatszwangsgesetz (RGBl. 1871, 205) statt. Der Regierungsentwurf hatte einen Legalisierungszwang für Grundbuchsurkunden vorgesehen, der vom Abgeordnetenhaus mit knapper Mehrheit abgelehnt wurde (vgl. S. 894ff.; 971ff.). Über Umwege, im Grundbuchsgesetz vom 25. 7. 1871 (RGBl. 1871, 241), wurde in dessen § 31 jedoch die Legalisierung für „Einverleibungen“ (insbesondere für Rechtserwerbungen oder Löschungen) d. h. die Beglaubigung der Unterschriften verlangt: „Die Einverleibung kann nur auf Grund öffentlicher Urkunden oder solcher Privaturkunden geschehen, auf welchen die Unterschriften gerichtlich oder notariell beglaubigt sind“ (vgl. S. 921). Nach Neschwara stellt die Notariatsordnung von 1871 eine „eigentümliche Kompromisslösung“ dar, „indem sie teils eine Neugestaltung ihrer Vorgängerin aus 1855, etwa in Bezug auf die Aufnahme von Notariatsakten, die Organisation der Notarenkollegien und der Notariatskammern sowie die Regelung der Disziplinargerichtsbarkeit und teils einer Restauration des Notariats von 1850 (etwa auf den Notariatszwang und Legalisierungszwang; S. 1038). Die Exekutionsfähigkeit der Notariatsurkunden war abhängig vom Erfordernis der ausdrücklichen Unterwerfungserklärung des Schuldners. Eine Selbstausfertigung der Exekutionsklausel war nicht vorgesehen (S. 1039). Ein Ausbau der Standesautonomie sowie ein obligatorisches Gerichtskommissariat erfolgten nicht. Das Werk wird abgeschlossen mit einem „Ausblick“ (S. 1045-1051). In der Notariatspraxis spielte wegen des weitgehend unvollständigen „Notariatszwangs“ weiterhin die Verfassung von Privaturkunden und die Parteivertretung in nichtstreitigen Sachen eine wichtige Rolle. Die Zivilprozessreform von 1895 machte die Lage der Notare noch schwerer, da die Gerichte die Errichtung und Beglaubigung öffentlicher Urkunden verstärkt an sich zogen (S. 1049). Die Vorlage von 1911 zu einer Reform der Notariatsordnung blieb infolge des Ersten Weltkriegs unerledigt. Nach dem Quellen- und Literaturverzeichnis folgt noch ein „Bildteil“ mit Faksimiles.

 

Mit seinem Werk hat Neschwara eine umfassende und immer angenehm zu lesende Geschichte des österreichischen Notariats im Untersuchungszeitraum vorgelegt. Das umfangreiche und sehr detaillierte Inhaltsverzeichnis ersetzt weitgehend, wenn auch nicht vollständig, ein Sachregister und Namensregister. Dieses ist für Bd. II 2 über die Entwicklung des Notariats bis zum Ende der Monarchie vorgesehen (S. IX). Die Breite der Darstellung erscheint vollauf gerechtfertigt, da Neschwara zahlreiche Texte detailliert darstellt und analysiert, die insbesondere für den deutschen Rechtshistoriker nicht oder nur schwer greifbar sind. Erwünscht wäre es gewesen, wenn Neschwara wichtige Teile der Notariatsgesetze und Entwürfe im Wortlaut mit abgedruckt hätte. Die mit dem Notariatsrecht besonders verbundenen Juristen hätten vielleicht noch detaillierter biografisch gewürdigt werden sollen. Nach der Geschichte der „spannendsten 21 Jahre des österreichischen Notariats“ (Geleitwort von L. Bittner, S. III) ist zu wünschen, dass die Fortsetzung für die Zeit ab 1872 bis 1914 möglichst bald erscheint.

 

Kiel

Werner Schubert