Seliger, Hubert, Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse. Nomos, Baden-Baden 2016. 621 S. Zugleich Diss. phil. Univ. Augsburg 2014. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als in Nürnberg über führende Repräsentanten des nationalsozialistischen Systems Recht gesprochen werden sollte, war dies nicht nur für die Weiterentwicklung des Völkerrechts ein Meilenstein. Denn abgesehen von den fachlichen Problemen, mit denen die juristisches Neuland betretenden Verfahren befrachtet waren, waren die Prozesse vor allem auch hochbrisante politische Akte, indem hier die Sieger eines Weltkrieges über die Besiegten zu Gericht saßen und Zumessung wie Ahndung individueller Schuld zugleich als kollektive Abrechnung mit einer als verbrecherisch klassifizierten Ideologie und einer Bevölkerung, die sich dieselbe in hohem Ausmaß zu Eigen gemacht hatte, interpretiert werden konnten. Diese Asymmetrie im Status zwischen Anklägern und Richtern auf der einen, den Beschuldigten auf der anderen Seite war in besonderem Maß dazu geeignet, den Zweiflern an der Legitimität der Prozesse, die ihre Position im Schlagwort der „Siegerjustiz“ verdichteten, Ansatzpunkte zur Kritik zu liefern, sodass der Frage, ob den Angeklagten eine angemessene faire Verteidigung zugestanden wurde, nicht geringe Bedeutung zukommt. Der vorliegende Band trifft auch dazu manche Feststellung; in erster Linie aber versucht er festzumachen, wer die Nürnberger Verteidiger überhaupt waren, wie ihre Sozialisation Linie und Strategie ihrer jeweiligen Verteidigung beeinflusste und für welche politischen Ziele sie sich dank ihrer Prägung in weiterer Folge engagierten. Kernthema der vorliegenden, von Philipp Gassert – mittlerweile Inhaber eines Lehrstuhls für Zeitgeschichte der Universität Mannheim – und Günther Kronenbitter betreuten Arbeit, mit der der Verfasser 2014 den Doktortitel der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg erworben hat, sei nicht, „eine Rechtsgeschichte der Nürnberger Verteidigung in Bezug auf die verfahrens- wie materiellrechtlichen Herausforderungen für die Nürnberger Anwälte zu erstellen“, sondern vielmehr zu zeigen, „wie bestimmte Verteidiger, nicht immer freiwillig, zu politischen Akteuren bzw. ‚public historians‘ in dieser sich an dem politischen Symbol ‚Nürnberg‘ entzündenden Auseinandersetzung um die deutsche Vergangenheit wurden“ (S. 13). Der Verfasser hat zu diesem Zweck die allgemeinen Prozessmaterialien, dazu Nachlässe und vor allem die Entnazifizierungsakten der Nürnberger Verteidiger systematisch ausgewertet.

 

Wenn hier pauschal von den Nürnberger Prozessen die Rede ist, so umfasst dieser Begriff sowohl das internationale Militärtribunal (International Military Tribunal - IMT) gegen die Hauptkriegsverbrecher, auch als Nürnberger Hauptprozess bekannt, als auch die zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse (Nuremberg Military Tribunals - NMT) gegen Vertreter verschiedener Funktionseliten des nationalsozialistischen Staates, die unter US-amerikanischer Ägide verhandelt wurden. Die Forschung kann bislang 264 Personen – darunter fünf Frauen – namhaft machen, die in den Verfahren als offiziell anerkannte Verteidiger (Hauptverteidiger, Hilfsverteidiger, Gutachter der Verteidigung) auftraten: 52 von ihnen verteidigten im Rahmen des IMT und der NMT, weitere 25 ausschließlich vor dem IMT, bei den verbleibenden 187 beschränkt sich das Mandat auf die NMT. Der Verfasser will aber keine umfassende Kollektivbiographie aller dieser Personen liefern, sondern versucht „die ‚politischen Verteidiger‘ unter den Anwälten zu identifizieren und ihr Agieren als politischer Akteur systematisch darzustellen“. In seinem Anliegen sieht er sich zudem methodisch in Anlehnung an Wolfram Pyta einem „‘produktiven Eklektizismus‘ […] verschrieben, (beeinflusst) durch die kulturgeschichtlich inspirierte, das Symbolhafte des Politischen besonders herausstellende Neue Politikgeschichte, aber auch durch Rechts-, Medien- und Sozialgeschichte sowie die historische Netzwerkanalyse“ (S. 17f.).

 

Der Begriff des „politischen Verteidigers“ geht auf den bei Carl Schmitt promovierten und 1933 aus Deutschland vertriebenen Otto Kirchheimer zurück, der 1961 „den bis heute gerade in der bundesdeutschen Rechts- und Politikwissenschaft dominierenden ‚Mythos vom unpolitischen Recht‘ herausgefordert hatte“ (S. 23). Weit ausgelegt, erfasst seine modifizierte Typologie in absteigender Reihung Verteidiger „in einem besonderen Nähe- und Zugehörigkeitsverhältnis zum Angeklagten“ („Parteigänger“), „Sympathisanten“, „idealistische Verfechter […] eine(s) bestimmten Verfassungsgrundsatz(es)“ und schließlich den bloßen „juristische(n) Fachmann“, der „eine nicht unbedingt freiwillige politische Rolle einnehmen“ könne, wenn er etwa als Pflichtverteidiger „durch seine Mitwirkung und grundsätzliche Bejahung einem in seinen Grundlagen hochumstrittenen Prozess Legitimität verleiht“ (S. 28ff.). Man mag festhalten, dass eine solche Typologie in der Praxis zwar eine brauchbare Kategorisierung und damit weiter reichende Schlussfolgerungen ermöglicht, sollte dabei jedoch nicht die Tatsache aus dem Auge verlieren, dass so letztendlich jedes denkbare Verhalten eines Verteidigers an sich schon im weitesten Sinn ein politisches Statement darstellt, und sei es nur durch die Ablehnung oder Übernahme eines bestimmten Mandats. Der Verfasser identifiziert in Anwendung seines Schemas unterschiedliche Positionen in den „Symbolkämpfe(n) um ‚Nürnberg‘“: Pflichtverteidiger, die „ehrlich bemüht“ gewesen seien, „Nürnberg zu einem Ort wahrer Gerechtigkeit werden zu lassen“, die aber zugleich „durch die Beschreibung der Taten des NS-Regimes in philosophisch-theologischen Kategorien wie ‚dämonisch‘ […] mit(halfen), diese Verbrechen als die Taten einzelner Extremisten darzulegen und die Mitwirkung vieler Deutscher an den Verbrechen auszublenden“ (S. 287), daneben „patriotische Pragmatiker“, lernfähige „Grenzgänger verschiedener Art“ wie die sich zu vorbildlichen Demokraten entwickelnden Nürnberger Verteidiger Hellmut Becker und der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, grundsätzliche Ablehner der juristischen Bewertung militärischen Handelns, „Apologeten des Staatsnotstandes“ sowie Verteidiger, die in Erfüllung vermeintlicher „vaterländische(r) Pflichten“ die Nürnberger Prozesse ebenfalls radikal ablehnten und „ihr Land bzw. ihr Volk vor einer zweiten Kriegsschuldhypothese […] bewahren“ zu müssen glaubten (S. 369).

 

Die Untersuchung erstreckt sich insgesamt über vier größere, jeweils wieder in sich differenzierte Kapitel, ausgehend von der politischen Sozialisation der Nürnberger Verteidiger über die Analyse der sich herausbildenden Verteidigerteams bis hin zum vorhin skizzierten Kern „ausgewählte(r) Verteidigerpersönlichkeiten, die auf die Öffentlichkeit zielende Erklärungsansätze für die Auseinandersetzung mit dem politischen Symbol ‚Nürnberg‘ in der Verteidigung ihrer Mandanten lieferten“ (S. 273), und zu deren politischer Rolle nach Nürnberg. Zunächst wird eine große Heterogenität deutlich, die es verbietet, von einem einheitlichen Nürnberger Verteidigerkorps zu sprechen. Dennoch findet sich im Umstand, dass der Großteil der Nürnberger Verteidiger mit juristischen Kenntnissen (es waren nicht ausschließlich Juristen als Verteidiger zugelassen) der Alterskohorte der Kriegsjugendgeneration und speziell jener Gruppe zugehörte, die ihren Berufseinstieg im „Dritten Reich“ erlebte (103 Verteidiger der Geburtsjahrgänge 1906 – 1914), eine signifikante Gemeinsamkeit. Der Verfasser spricht von der „Gruppe der ‚jungen Radikalen‘ […], also jene Verteidiger, die Nürnberg und seine Prinzipien als Gesamtes ins Visier genommen hatten und nicht für einen Mandanten, sondern für ‚den‘ deutschen Soldaten oder gegen die ‚neue‘ Kriegsschuld auftraten. Hinzuzurechnen sind zu dieser Gruppe etwa Otto Kranzbühler (1907), Alfred Seidl (1911), Rudolf Aschenauer (1913), Hans Laternser (1908), Martin Horn (1911) und Hellmut Becker (1913)“ (S. 43). Es sei daher kein Zufall, dass viele der erwähnten Namen nach Abschluss der Nürnberger Prozesse weiterhin im Rahmen der Entnazifizierung oder von Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (sogenannte NSG-Verfahren) Präsenz zeigten und auf die westdeutsche Vergangenheitspolitik und die Entwicklung der öffentlichen Meinung Einfluss zu nehmen suchten. Ein solches weiteres Engagement bildete unter den Nürnberger Verteidigern insgesamt aber die Ausnahme: „Der übliche Weg für die meisten Anwälte war […] die Rückkehr in die alte Kanzlei bzw. der Aufbau einer neuen Kanzlei. ‚Nürnberg‘ spielte in ihrem Leben keine Rolle mehr. Die entlassenen Richter, Staatsanwälte und Beamten unter den Verteidigern kehrten fast alle in ihren alten Beruf zurück, […] nur wenige […] sollten in der Bundesrepublik in höhere Positionen einrücken“. Umso mehr konnten gerade die erwähnten „‘jungen Radikalen‘ […] die Sicht auf die Nürnberger Prozesse und ihre Folgen nachhaltig beeinflussen“ (S. 372ff.).

 

Mit Akribie kann Hubert Seliger darlegen, wie Herbert Kraus (geb. 1884) oder Horst Pelckmann (geb. 1904) sehr wohl „Lehren aus Nürnberg“ zogen und „ihre Arbeiten gegen radikale neonationalistische Tendenzen, insbesondere gegen die im Umkreis der SRP [= Sozialistische Reichs-Partei] und der Ohlendorf Gruppe betriebene Verharmlosung der Einsatzgruppen und der Diffamierung des deutschen Widerstandes“ richteten (S. 392). Im Heidelberger Juristenkreis wiederum stand „einem gemäßigten Flügel um Wahl, Heusinger und Ranke ein radikalerer Flügel um Kranzbühler und Koch gegenüber, während Becker und Hodenberg zwischen den Extremen standen, sich aber zunehmend auf die Seite der gemäßigten Mitglieder schlugen“. Dieser Kreis betrieb „handfeste Lobbyarbeit unter dem Blickwinkel nationalkonservativer Eliten, welche die Prozesse gegen Deutsche […] als Bürde für den neuen deutschen Staat und seine Souveränität […] sahen. Den Mitgliedern […] kann allerdings nicht die Zielsetzung abgesprochen werden, eine Renazifizierung bzw. das Aufkommen eines radikalen Nationalismus verhindern zu wollen“, weshalb ihnen „eine demokratiestabilisierende Funktion zugestanden werden“ müsse (S. 434f.). Hierin unterschieden sie sich fundamental von Protagonisten wie Rudolf Aschenauer oder Ernst Achenbach, die versuchten, „durch die Propagierung einer umfassenden Amnestie in den frühen fünfziger Jahren eine ‚Brachiallösung‘ der Kriegsverbrecherfrage durchzusetzen“ (S. 477). Neben Hans Laternser, der sich im Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 wegen seiner provokanten, die Opferzeugen diffamierenden Verteidigungsargumente öffentlich „scharfe Kritik und Unverständnis“ (S. 496) einhandelte, blieb vor allem Alfred Seidl „mit seiner einseitigen Generalapologetik staatlichen Handelns durch den ‚Staatsnotstand‘, die sich sowohl in seiner Argumentation als Verteidiger wie in seiner kurzen, aber hochumstrittenen Zeit als bayerischer Innenminister [1977/1978] verfolgen lässt, in der Öffentlichkeit präsent“ (S. 522). Hier seien „unheilige Allianzen und ein braunes Anwaltsnetzwerk“ (Titel des Unterkapitels 4.3) tatkräftig am Werk gewesen.

 

Eine Zusammenstellung im Anhang des Bandes enthält Kurzbiographien der 47 folgenden bedeutenden Verteidiger und Gutachter in Nürnberg: Ernst Achenbach, Rudolf Aschenauer, Hellmut Becker, Kurt Behling, Friedrich Bergold, Conrad Böttcher, Hellmuth Dix, Rudolf Dix, Franz Exner, Hans Flächsner, Georg Fröschmann, Hans Gawlik, Elisabeth Gombel, Carl Haensel, Erhard Heinke, Wolfgang Heintzeler, Martin Horn, Hermann Jahrreiß, Kurt Kauffmann, Theodor Klefisch, Justus Koch, Otto Kranzbühler, Herbert Kraus, Egon Kubuschok, Hans Laternser, Ludwig Losacker, Gerhart Maurach, Edmund Mezger, Hans Merkel, Hermann Mosler, Rolf W. Müller, Horst Pelckmann, Wolfgang Pohle, Paul Ratz, Fritz Sauter, Alfred Schilf, Erich Schmidt-Leichner, Erich Schwinge, Alfred Seidl, Hans-Günther Seraphim, Robert Servatius, Walter Siemers, Gustav Steinbauer, Eduard Wahl, Viktor von der Lippe, Richard von Weizsäcker und Hans von Zwehl. Die Eintragungen erfassen den Namen und den akademischen Grad, die Lebensdaten, Mitgliedschaften in der NSDAP und ihren Organisationen, mögliche sonstige Mitgliedschaften, den beruflichen Werdegang sowie die Verteidigungen im Rahmen des IMT und der NMT. Verdienstvoll wäre es gewesen, zusätzlich eine komplette alphabetische Liste aller 264 mittlerweile bekannten Nürnberger Verteidiger inklusive der Zuordnung ihrer Mandate anzulegen, denn der bisweilen stark aufzählende Charakter des laufenden Textes konfrontiert den Nutzer mit einer gedrängten Fülle von Informationen, die es nicht immer leicht macht, den Überblick zu wahren. In diesem Kontext sei aber auch positiv auf die hilfreichen, die jeweiligen Unterkapitel abschließenden Zusammenfassungen und das prägnante, in zehn Punkte untergliederte elfseitige Resümee am Schluss der Arbeit hingewiesen.

 

Hubert Seligers im Detail von Fehlern nicht völlig verschont gebliebene Dissertation (störend ist zum Beispiel die durchgehend falsche Schreibung einiger Namen: Arthur Seyß-Inquart bzw. Seyss-Inquart erscheint stets als „Seys-Inquart“, General Hasso von Manteuffel als „Manteufel“; im Personenverzeichnis, S. 613, fehlt der vielfach im Text genannte Verteidiger Ernst Kaltenbrunners im IMT, Kurt Kauffmann, während der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann stets unter dem falschen Vornamen „Kurt“ aufscheint; Ludwig Losacker war wohl Obersturmbannführer der SS (Oberstleutnant), denn als „Obersturmführer“ (Oberleutnant), wie S. 94 fälschlich angeführt, wäre er rangniedriger als die genannten Sturmbannführer (Majore); Bruno Streckenbach wurde 1948 nicht, wie auf S. 356 zu lesen ist, „für Tod gehalten“, sondern bestimmt für tot) bildet eine essentielle Ergänzung der bisher vorliegenden Literatur zum Komplex der Nürnberger Prozesse IMT und NMT. Neben seinem Kernthema – der Genese, den politischen Dimensionen und der gesellschaftspolitischen Resonanz bestimmter in Nürnberg als Verteidiger tätiger Persönlichkeiten und ihrer Strategien in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Jahrtausendwende, als 2004 mit Otto Kranzbühler die letzte große „politische“ Nürnberger Verteidigerpersönlichkeit im hohen Alter verstarb – kann der Verfasser, was die Stellung der Verteidigung in Nürnberg angeht, auch manche hartnäckige Legende ausräumen. Er kommt beispielsweise zum unmissverständlichen Schluss, dass es entgegen anderslautender Behauptungen „eine Behinderung der Auswahl der Verteidiger oder ‚Vorselektion‘ […] nicht gegeben“ habe (S. 115); als „Besonderheit der Organisationsverteidigungen des IMT“ genehmigte der Gerichtshof zur Unterstützung der offiziell bestellten Verteidiger sogar „eine Art Stab aus hochrangigen SS-Juristen zu bilden, [der] die Auswahl der eidesstattlichen Erklärungen und zentrale Gutachten übernahm“ (S. 202) und den für die Geheime Staatspolizei (Gestapo) Werner Best, einst Leiter des Amtes I ‚Verwaltung und Recht‘ und Konkurrent Reinhard Heydrichs im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), sowie für den Sicherheitsdienst der SS (SD) Otto Ohlendorf, früherer Leiter der Amtsgruppe ‚SD Inland‘ im RSHA, führten. „Behauptungen, die Nürnberger Verteidigung sei der Anklage vollkommen unterlegen gewesen“, müssten „spätestens mit Hinblick auf die Verteidiger der Großindustrie als widerlegt gelten“ (S. 225f.), genauso wie jene den Tatsachen nachweisbar widersprechende, „man habe den deutschen Verteidigern bewusst amerikanische Anwälte verweigert“ (S. 233).

 

Kapfenberg                                                                                    Werner Augustinovic