Schöttler, Peter, Die „Annales-Historiker“ und die deutsche Geschichtswissenschaft. Mohr Siebeck, Tübingen 2015. XII, 412 S., 6 Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Von den Schriften der Historiker wird gelegentlich behauptet, sie würden mehr über die Zeit aussagen, in der ihre Verfasser leben, als über jene Zeit, von der sie handeln. In dem Ausmaß, in dem die Sensibilität für die Zeitgebundenheit von Geschichtsdarstellungen zunahm, wuchs auch die Bedeutung der Geschichte der Historiographie, die sich längst als eigenständiger Zweig innerhalb der Geschichtswissenschaften etabliert hat. Der Theorielastigkeit dieses wichtigen Forschungsbereichs ist es zu zuzuschreiben, dass außerhalb eines Kreises ausgewiesener Experten nur wenige sich der Mühe unterziehen, in die nicht einfache Materie einzudringen. Erkenntnisse werden so gerne auf wohlfeile Schlagworte reduziert, die immer dann zitiert werden, wenn jemand seinen Ausführungen durch eine derartige Bezugnahme besonderes Gewicht verleihen möchte. Dies trifft in besonderem Maß auf die Vertreter der „Annales“ zu, eine heterogene Gruppe französischer und frankophoner Historiker, die ihre innovativen, fachübergreifenden Ansätze seit 1929 in den Annales d’histoire économique et sociale (die Zeitschrift existiert nach mehreren Namensadaptierungen noch heute unter der Bezeichnung Annales. Histoire, Sciences Sociales) publizierten. Ihr Credo einer in eine histoire totale mündenden Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte, die sie der traditionell dominierenden Politik- und Geistesgeschichte entgegenstellten, stieß in der Zunft so etwas wie einen Paradigmenwechsel an und begründete einen geradezu mythischen Ruf.

 

Mythen zu dekonstruieren ist mittlerweile zu einer zentralen Aufgabe geschichtswissenschaftlicher Tätigkeit geworden, und auch der populäre Mythos der „Annales“ wird längst einer solchen kritischen Nachschau unterzogen. Seit einem Vierteljahrhundert hat Peter Schöttler an verschiedener Stelle in Deutsch und Französisch zu diesem Thema publiziert und nun 18 dieser Texte - ergänzt, erweitert, gekürzt und gegebenenfalls übersetzt - zum vorliegenden Band zusammentragen. Für diese Aufgabe prädestiniert diesen vielseitig ausgebildeten Gelehrten nicht zuletzt sein besonderer, stets zwischen Frankreich und Deutschland oszillierender Werdegang: 1950 in Iserlohn geboren, in Brüssel aufgewachsen, studierte er Geschichte, Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und an der VI. Sektion der École Pratique des Hautes Études in Paris (einer Institution, an der unter anderem Kapazitäten wie Roland Barthes, Pierre Bourdieu, Fernand Braudel, Jacques Lacan, Jacques Le Goff und Thomas Piketty unterrichteten und eine Verknüpfung aller Wissenschaften mit den Sozialwissenschaften anstrebten). Ein starker Einfluss auf Peter Schöttler wird dem strukturalistischen Marxismus des exzentrischen Philosophen Louis Althusser (1918 – 1990) zugeschrieben, der ihn in eine besondere geistige Nähe zu den Proponenten der „Annales“ gebracht haben soll. 1978 in Bremen promoviert, wirkte Schöttler seit 1989 bis zur Pensionierung 2015 am französischen Centre National de la Recherche Scientifique, der größten nationalen Forschungseinrichtung Europas, und seit 2001 auch als Honorarprofessor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin.

 

Als intimer Kenner sowohl der deutschen als auch der französischen Wissenschaftsgeschichte stellt der Verfasser seine Betrachtungen der „Annales“ in den größeren Kontext des französisch-deutschen Wissenschaftstransfers, der differenzierter ausgefallen sei, als häufig beschrieben. Um zu einer korrekten Einschätzung zu gelangen, dürfe man sich aber „nicht auf den Augenschein verlassen“, sondern müsse „auch die berühmtesten Texte ‚wie neu‘ studieren“ (S. 18). Auf dieser Grundlage ist der Band folgendermaßen dreigliedrig strukturiert: In einem ersten Themenblock, „Die ‚Annales‘ und Deutschland“, folgen auf einen knappen Abriss der institutionellen und inhaltlichen Entwicklung der Zeitschrift von ihrer Gründung bis zur Gegenwart drei rezeptionsgeschichtlich orientierte Beiträge, die das  wechselseitige Verhältnis zwischen den „Annales“ sowie französischen Historikern auf der einen und der deutschen Geschichtsschreibung auf der anderen Seite vor, zwischen und nach den Kriegen untersuchen. Ein weiterer Text vergleicht die „Annales“ mit einer namhaften Konkurrenz, der 1893/1903 gegründeten deutschen Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, kurz VSWG („[…] anstelle der Gelehrsamkeit als Selbstzweck, wie sie die Vierteljahrschrift vertrat, präferierten die Annales ganz eindeutig die histoire-problème und ihre Darstellung in Form [der] synthèse“; S. 105), bevor ein Blick auf die interne Kontroverse des Herausgebertandems Marc Bloch (1886 – 1944) und Lucien Febvre (1878 – 1956), die nach zähem Ringen mit der Entscheidung für die Fortführung der Zeitschrift auch unter deutscher Besatzung im Sinne Febvres endete, diesen ersten Abschnitt abschließt.

 

Ein zweiter Teil des Buches, „Paten, Vermittler, Netzwerke“, widmet sich der Skizzierung von Persönlichkeiten, Projekten und Ideen, die das Unternehmen der „Annales“ maßgeblich beeinflusst haben. Als Vorläufer wirkten hier vor allem der berühmte belgische Mediävist Henri Pirenne (1862 – 1935) und der lothringische Philosoph Henri Berr (1863 – 1954); die schillernde Österreicherin Lucie Varga (geb. als Rosa Stern, 1904 – 1941), Dissertantin bei Alfons Dopsch (1868 – 1953), sorgte nicht nur für eine veritable Ehekrise im Hause Febvre mit gravierenden Folgen in erster Linie für sie selbst, sondern bereicherte und erweiterte vor allem den Mentalitätsbegriff der „Annales“ um das Konzept der „unsichtbaren Autoritäten“, das „auf symbolische Hierarchien und Orientierungen im privaten, politischen und gesellschaftlichen Bereich (verweist), die zwar unsichtbar bleiben, aber geistige und körperliche Wirkungen haben“ (S. 178). Zum zwiespältigen Eindruck des Querverbindungen zu den frühen „Annales“, aber auch zur stammesgeschichtlichen Konzeption Josef Nadlers (1884 – 1963) offenbarenden Werks Allemagnes et Allemands (1948) des elsässischen Literaturhistorikers Robert Minder (1902 – 1980) erläutert der Verfasser, dass, „was auf den ersten Blick als ‚Volkskunde‘ und ‚Völkerpsychologie‘ im deutschen Sinne erscheinen mag, sich im französischen Kontext als eine Ethnologie lesen (lässt), die zwar Mythen und regionale Stereotypen ernstnimmt, aber als ‚kollektive Repräsentationen‘ entmystifizieren will“ (S. 227). Ebenso wurde das Unternehmen der Encyclopédie Française (20 Bände, 1 Registerband, 1935 – 1939, 1954 – 1966), das sich in enger (auch örtlicher) Anlehnung an die Zeitschrift vollzog, später häufig unterschätzt, sei Peter Schöttler zufolge aber „nicht nur ein ungewöhnliches Projekt auf dem Hintergrund der Volksfront-Ära“ gewesen, sondern „bildete auch ein Netzwerk mit weiten Verbindungen in fast alle Bereiche der französischen Wissenschaft und Kultur, teilweise sogar über deren Grenzen hinweg“ (S. 191). Ein letzter Text geht den Einstellungen der „Annales“-Gründer in Bezug auf marxistische Lehren nach und  identifiziert eine Reihe von Marxisten im Umfeld der Zeitschrift, von denen „die meisten […] erst in den zwanziger oder dreißiger Jahren sozialisiert wurden“ (S. 213); auf der anderen Seite warfen Marxisten „den Annales einen besonders gefährlichen sozialdemokratischen Revisionismus vor, mit dem es keinerlei Kompromiss geben dürfe“ (S. 215).

 

Der dritte und abschließende Themenblock konzentriert sich auf Marc Bloch und Lucien Febvre in ihrer Eigenschaft als Kritiker der deutschen Geschichtswissenschaft. Bloch hatte 1908/1909 ein Studienjahr in Berlin und Leipzig verbracht, rezensierte zahlreiche deutschsprachige Publikationen, hielt die Beherrschung des Deutschen für eine unerlässliche Voraussetzung der Arbeit des Historikers und „hatte ein feines Gespür für die Verästelungen der deutschen Geschichtsschreibung, deren Irrungen und Wirrungen er über die Jahre hin verfolgte“. Doch geschuldet den Zeitumständen, entwickelte er kein näheres, herzliches Verhältnis zu deutschen Fachkollegen, ließ sich nie vereinnahmen und behielt als Kritiker „jeweils beide Ebenen im Blick: die nationalistische Verengung ebenso wie die methodische Kapitulation, etwa vor rassistischer Ideologie“ (S. 272ff.). Die Abgrenzung Lucien Febvres zur deutschen Geschichtswissenschaft zeigt Peter Schöttler anhand von dessen Arbeiten über den Rhein (der bei Febvre „als nicht bloß ein deutscher, sondern ein ‚europäischer Strom‘“ im „Konzept einer anderen, nicht mehr nationalistisch-konfrontativen, sondern wissenschaftlich-komparativen Geschichte der Grenzmentalitäten“ gesehen wird; S. 310f.) und über Martin Luther; ein weiterer Text thematisiert Febvres Begegnung mit der Psychoanalyse im Kontext des berühmten Encyclopédie-Beitrags Jacques Lacans (1901 – 1981) über die Institution der Familie und die Familienkomplexe. Dass es sich bei der Geschichtsbetrachtung der „Annales“ und jener der deutschen „Volksgeschichte“ trotz der beiden gemeinen holistischen Konzeption keineswegs um einen identischen Ansatz handelt, expliziert der Verfasser unter dem vielsagenden Titel der „intellektuelle(n) Rheingrenze“ im allerletzten Beitrag des vorliegenden Bandes: „Bei Febvre (und ebenso bei Bloch) haben wir es mit einer […] funktional und sozial strukturierten Ganzheit zu tun, während man auf deutscher Seite eine organische Ganzheit im Blick hatte, die entsprechend anders konstituiert wurde. Febvres Gegenstand sind ‚Gesellschaften‘ (historisch bestimmbare und lokalisierbare), während auf deutscher Seite das ‚Volk‘ im Mittelpunkt steht. Und zwar nur ein Volk, das deutsche mit seiner besonderen ,Art‘ und seinem besonderen ‚Raum‘ […]. Für dieses einzige Volk aber, das sich die Volksgeschichte auf ihre Fahnen schreibt […], gibt es auf Seiten der Annales kein Äquivalent“ (S. 381). Eine ergänzende tabellarische Gegenüberstellung der jeweiligen Kernbegriffe unterstreicht die konträren Perspektiven in der Grundausrichtung beider Modelle.

 

Im Fazit ergibt sich etwa das folgende Bild: Eine wechselseitige, recht genaue Wahrnehmung zwischen französischer und deutscher Historiographie fand selbstverständlich statt, wobei in Frankreich vor allem innovative deutsche „Abweichler“ wie Karl Lamprecht (1856 – 1915) interessiert, aber nicht unkritisch registriert wurden. Das gilt auch für die VSWG und landesgeschichtliche Forschungen, sodass der Schluss, „dass die Annales-Historiker eigentlich nichts anderes getan hätten, als deutsche Erfindungen mit einem französischen Vorzeichen zu versehen“ (S. 13), als weit überzogen zurückzuweisen ist. Auf der anderen Seite „wurden weder Bloch noch Febvre jemals zu einem Gastvortrag an einer deutschen oder österreichischen Universität eingeladen“ (S. 263). Die wissenschaftliche Rezeption der „Annales“ in Deutschland setzte spät, und zwar erst in den 1960er- und 1970er-Jahren und über Umwege ein, wie etwa die Tabelle der deutschen Buch-Übersetzungen aus deren Umkreis belegt (vgl. S. 35). Lucien Febvres „Martin Luther“ (1928) erschien beispielsweise zum ersten Mal 1976 in deutscher Sprache, dazu noch mit gravierenden Eingriffen in den Text und zahllosen Übersetzungsfehlern (erst weitere 20 Jahre später konnte Peter Schöttler eine brauchbare, dem französischen Original adäquate Ausgabe auf den Markt bringen).

 

Der Verfasser hat für seine Arbeit zahlreiche weit verstreute Nachlässe aufwändig ausgewertet. Es ist ihm gelungen, trotz des anspruchsvollen Inhalts und der zugrundeliegenden heterogenen Textstruktur ein verständliches, hinreichend ausgestattetes und gut lesbares Buch vorzulegen, dessen Lektüre luzide Einblicke in ein bedeutsames Kapitel französisch-deutscher Geschichtsforschung im 20. Jahrhundert gewährt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic