Margalit, Gilad, Schuld, Leid und Erinnerung – Deutschland gedenkt seiner Toten im Zweiten Weltkrieg, hg. v. Margalit, Rony (= Historische Grundlagen der Moderne – Historische Demokratieforschung). Nomos, Baden-Baden 2016. 419 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Der Mensch kennt und erlebt viele unterschiedliche  Facetten seines Seins in der Welt zusammen und neben seinen Mitmenschen. Dabei können beispielsweise Freuden des einen Leiden anderer bedeuten und umgekehrt. Bislang jedenfalls ist es nirgends irgendjemanden gelungen, das menschliche Leid gänzlich zu beseitigen und selbst in der Erinnerung das Leben aller ausschließlich froh und heiter zu gestalten.

 

Mit einem besonderen Aspekt dieser Thematik beschäftigt sich das vorliegende, ursprünglich in hebräischer Sprache veröffentlichte, nicht zuletzt auf Grund der Vielfalt der selbständigen Gedanken sehr nachdenklich stimmende Werk des in Haifa 1959 geborenen, in Tel Aviv und Jerusalem in Geschichte ausgebildeten, an der Universität Haifa mit den Forschungsschwerpunkten Vergangenheitsbewältigung, Antisemitismus und Minderheiten in Deutschland wirkenden, 2014 im Alter von 55 Jahren früh verstorbenen Verfassers, das auf Forschungsarbeiten beruht, die von 2001 bis 2004 mit Unterstützung der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Deutschland durchgeführt werden konnten. Es gliedert sich nach einer kurzen Einleitung in sieben Abschnitte. Sie betreffen die Auseindersetzung mit der Schuld in Beziehung auf die Deutschen und ihre nationalsozialistische Vergangenheit, die Erinnerung an das nationale Leid im Zweiten Weltkrieg, deutsche Erinnerung und deutsches Totengedenken von 1945 bis zu den 1960er Jahren, westdeutsche Gedenktage und deren Metamorphose von 1945 bis 2006, die Bombardierung deutscher Städte und die deutsche Gedenkpolitik von 1945 bis 1989, die Flucht und Vertreibung in der deutschen politischen Kultur und Erinnerung seit 1945 sowie die Renaissance des deutschen Opferbewusstseins nach der Wiedervereinigung.

 

Danach haben sich im Ergebnis deutscher Staat und deutsche Gesellschaft nach 1945 allmählich von der nationalsozialistischen Ideologie gelöst sowie rezivilisiert und dadurch in die demokratische westliche Staatengemeinschaft eingegliedert. Ein wichtiger Ausdruck dieser Liberalisierung war die seit dem Ende der 1950er Jahe zunehmende Bereitschaft, sich gegenüber dem jüdischen Narrativ des Holocaust zu öffnen. Dessenungeachtet erscheint ungewiss, wessen Leid oder Schuld in der künftigen Erinnerung an die Toten des zweiten Weltkriegs in Deutschland und seinen Ausstrahlungen auf Dauer herrschen oder etwa vorherrschen wird.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler