Holtmann, Everhard/Köhler, Anne, Wiedervereinigung vor dem Mauerfall. Einstellungen der Bevölkerung der DDR im Spiegel geheimer westlicher Meinungsumfragen. Campus, Frankfurt am Main 2015. 323 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Als gesellschaftliches Wesen ist der Mensch an den Gedanken seiner Mitmenschen interessiert, um sein eigenes Verhalten mittels umfangreicheren Wissens über seine Umwelt vorteilhafter ausrichten zu können. Auf dieser Grundlage hat sich mittels moderner Verhaltensweisen auch die Meinungsumfrage entwickelt. Da die Entscheidungsträger der Bundesrepublik Deutschland an den politischen Vorstellungen der Bewohner der Deutschen Demokratischen Republik interessiert waren, versuchte man deren Ermittlung, obgleich eine unmittelbare Meinungsbefragung aus tatsächlichen Gründen ausgeschlossen war.

 

Aufgegriffen wurde dieser Gedanke von Herbert Wehner (SPD) als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen bzw. seit 1969 für innerdeutsche Beziehungen. Danach sollte das Meinungsforschungsinstitut Infratest die Staatsbürger der Bundesrepublik befragen, die bei Besuchen in der Deutschen Demokratischen Republik Gespräche mit verwandten oder bekannten Staatsbürgern der Deutschen Demokratischen Republik geführt hatten. Anne Köhler war an diesem Vorhaben von 1968 bis 1990 beteiligt und kann daher aus eigener Anschauung an der Schließung der bisherigen Wissenslücke mitwirken.

 

Nach Ansicht der Autoren, von denen der 1946 geborene, 1986 in Erlangen habilitierte und 1992 für Systemanalyse und vergleichende Politik an die Universität Halle-Wittenberg berufene Everhard Holtmann seit 2012 das Zentrum für Sozialforschung leitet, waren die Ergebnisse der Ermittlungen wegen ihrer Wirklichkeitsnähe wertvoller als das Wissen der Führungskräfte aus ihren eigenen Begegnungen, doch wünschte auch die Regierung der Bundesrepublik keine Veröffentlichung. Deswegen wurden die jeweils nur fünf herstellten Exemplare weitgehend geheim gehalten, doch wurde der damit befasste Regierungsdirektor K. G. (Knut Gröndahl) des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen (Referent für Grundsatzfragen) nach 1989 als informeller Mitarbeiter Töpfer des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik enttarnt und verurteilt, so dass die Deutsche Demokratische Republik den Inhalt der Berichte jeweils gekannt haben dürfte. Das politische Allgemeinwissen der Bundesrepublik Deutschland über die Zukunft der Deutschen Demokratischen Republik haben die Geheimumfragen jedenfalls bis in den Oktober 1989 so wenig wirklich geprägt, dass bis zuletzt kein verantwortlicher westdeutscher Politiker das Ende der Deutschen Demokratischen Republik sicher voraussah, wobei im Übrigen dem vorliegenden Werk durch Norbert Grube die Bewertung zugeteilt wurde, dass es nicht geschichtswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Standards entspricht.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler