Herrlein, Jürgen, Zur „Arierfrage“ in Studentenverbindungen. Die akademischen Korporationen und der Prozess der Ausgrenzung der Juden vor und während der NS-Zeit sowie die Verarbeitung dieses Vorgangs nach 1945. Nomos, Baden-Baden 2015. 484 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die vorliegende unter Theodor Mommsens Satz „Canaille bleibt Canaille, und der Antisemitismus ist die Gesinnung der Canaille“ gestellte Arbeit ist die von Peter Derleder betreute, im Sommersemester 2015 von dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen als Dissertation (summa cum laude) angenommene Dissertation des 1962 geborenen Verfassers über das ihn schon lange beschäftigende Thema. Sie ist allen Studierenden gewidmet, die Opfer nationalsozialistischer Willkür und Gewalt wurden, insbesondere den von ihren eigenen Korporationen Ausgegrenzten und den bis heute Vergessenen. Sie gliedert sich nach einer Einleitung über die historische Bedeutung von akademischen Verbindungen in Studentenschaft und Gesellschaft, Fragestellung, Materialzugang, Forschungsstand, regionale und inhaltliche Begrenzung sowie Gliederung  in insgesamt 17 Kapitel.

 

Dabei behandelt der Verfasser zunächst die allgemeine Geschichte der akademischen Verbindungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und die Grundzüge der Entwicklung des verbindungsstudentischen Antisemitismus bis zum Ende der Weimarer Republik sowie die Ausgrenzung der deutschen Juden durch die Satzungen der akademischen Verbindungen bereits vor 1933. Danach geht er eindringlich auf die Entwicklung seit 1933 ein. Am Ende betrachtet er die Restauration der Korporationen nach dem zweiten Weltkrieg und die anschließende Aufarbeitung.

 

Im Ergebnis kann er überzeugend feststellen, dass von etwa 1800 bis etwa 1880 keine einheitliche Haltung der Verbindungen zu der „Judenfrage“ erkennbar ist und ein vorhandener religiöser Gegensatz im Zweifel problemlos durch eine Konversion zum Christentum beseitigt werden konnte. Seit etwa 1880 zunehmend und seit etwa 1920 grundsätzlich wurden jedoch auch christlich konvertierte „Judenstämmige“ nicht mehr aufgenommen, doch wurden aufgenommene Juden und „Judenstämmlinge“ unter den alten Herren geduldet. Nach 1933 waren die Korporationen zur Eingliederung in die nationalsozialistische Herrschaft ohne Vorbehalte bereit, überschätzten dabei aber ihre eigene Bedeutung für das Regime.

 

Die bislang von den akademischen Korporationen genannten Zahlen der ab 1933 von rechtswidriger Ausgrenzung betroffenen „Nichtarier“ und „jüdisch Versippten“ sind unzutreffend. Die Korporationen und Korporationsverbände haben diese Ausgrenzung bei den Wiedergründungen nach 1945 vollständig ausgeklammert, weil sie die angestrebte Rückerstattung der Verbindungshäuser durch ein allenfallsiges Geständnis einer antisemitischen Vergangenheit bedroht sahen. Eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte im Nationalsozialismus wurde nahezu bis in die Gegenwart unterlassen, so dass das vorliegende Werk eine dunkle Lücke schließt und möglicherweise ein befreites Denken fördern kann.

 

Der umfangreiche Materialanhang weist die Korporationszugehörigkeit von (13 von 20) Reichskanzlern, preußischen Ministern Reichstagspräsidenten und weitern führenden Amtsträgern nach. Eine Übersicht enthält die Namen der 325 Mitglieder des Kössener Senioren Convents-Verbands und des Verbands alter Corpsstudenten, die 1933/1934 im Rahmen einer Arierumfrage von den 106 verbandsangehörigen Corps an die Verbände als „Nichtarier“ oder als „jüdisch Versippte“ gemeldet wurden. Ein Personenregister verzeichnet von Abegg bis Zoerkler weit über tausend Namen, so dass die allgemeinmenschliche Wesenszüge auch in der wissenschaftlich gebildeten Gesellschaft einmal mehr über lange Kontinuitäten beeindruckend nachweisende Untersuchung für eine weitere Vertiefung der Thematik  eine vorzügliche Grundlage bietet.

 

Innsbruck                                                       Köbler