Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Band 1 Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Band 2 Bundessozialgericht und Sozialstaatsforschung. Richterliche Wissensgewinnung und Wissenschaft, hg. v. Peter Masuch/Wolfgang Spellbrink/Ulrich Becker u.a. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014. XVI, 823 S.

 

Die Festschrift zum 60jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts (BSG) setzt die Reihe der Festschriften von 1965, 1979 und 2004 zum Bundessozialgericht fort. Der 2014 erschienene Band 1 der „Denkschrift“ konzentriert sich auf „Ausgangspunkte und Ausblicke“ und ist vorwiegend nach „Sachgesichtspunkten“ (S. IX) gegliedert. Insgesamt ist die Festschrift „keine übliche Festschrift“, sondern der erste Band einer „Denkschrift“ im Sinne eines „Anstoß Gebens“ (F.-X. Kaufmann, S. 777). Alle Autoren waren eingeladen, „sich zu einem bestimmten Thema zu äußern, für das sie aufgrund ihrer bisherigen Publikationen qualifiziert erschienen“. Die Beiträge stammen von Historikern, Ökonomen, Soziologen sowie von Politikwissenschaftlern und Rechtswissenschaftlern. Im historisch angelegten Abschnitt geht es vornehmlich darum, das „Besondere des deutschen Sozialstaats“ herauszuarbeiten (S. Xf.). Eine vergleichende Hinführung zu den Ursprüngen, Entwicklungen und Herausforderungen des modernen Wohlfahrtsstaats bringt Stephan Leibfried mit Hinweisen auf weitere vertiefende, insbesondere englischsprachige Literatur (S. 3ff.). Franz-Xaver Kaufmann geht der deutschen Tradition des sozialpolitischen Denkens im Horizont der Differenz von Staat und Gesellschaft unter Berücksichtigung insbesondere Hegels, Lorenz von Steins und Bismarcks nach (S. 21ff.). Nach Manfred G. Schmidt ist die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik gekennzeichnet durch einen „Mittelweg“ zwischen dem „Typ des staatslastigen ‚Wohlfahrtskapitalismus‘ schwedischer Prägung und dem Typ der ‚liberalen Marktwirtschaft‘, den vor allem die englischsprachigen Länder, insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika vor der Finanzmarktkrise seit 2007 verkörperten“ (S. 222). Heribert Obinger prüft anhand von 33 zentralen Sozialstaatsindikatoren für die Jahre 1980 und 2009, inwieweit für Deutschland im internationalen Vergleich die These vom „mittleren Weg“ zutrifft (S. 47ff.). Im Rahmen der ersten Ausformung der Sozialgesetzgebung in der Bismarckzeit behandelt Florian Tennstedt vornehmlich die handelnden Personen (S. 73ff.). Der Weiterentwicklung des Sozialrechts im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit widmet sich Ulrike Haerendel (S. 91ff.), während Marc von Miquel auf den „‚völkischen‘ Wohlfahrtsstaat in der NS-Zeit“ insbesondere hinsichtlich seiner negativen Seite eingeht (S. 119ff.). Gern hätte man noch etwas mehr zur Entwicklung des Sozialrechts und zu den Reformplänen der NS-Zeit gelesen (vgl. hierzu u. a. W. Schubert [Hrsg.], Akademie für Deutsches Recht 1933-1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. IX: Ausschuss für die Reform der Sozialversicherung/für Sozialversicherung [1934-1944]. Versorgungswerk und Gesundheitswerk des Deutschen Volkes [1940-1942], 2000). Einen knappen, jedoch prononcierten Überblick über die Entwicklung des Sozialrechts nach 1945 geben Hans Günter Hockerts, Christiane Kuller/Winfried Süß und Frank Nullmeier (S. 139-199). Nach den Beiträgen im Abschnitt „Historische Querschnitte im Überblick“ (S. 201ff.) folgt im Abschnitt: „Wege zu einer besonderen Gerichtsbarkeit für den Sozialstaat“ (S. 261ff.) ein Beitrag von Wolfgang Ayaß über Schiedsgerichte und das Reichsversicherungsamt bis 1945 unter Einbeziehung auch archivalischer Quellen. Der Abschnitt über die „sozialrechtlichen Grundlagen: Das Besondere der rechtlichen Ausformung des Sozialstaates“ (S. 313ff.) ist rechtswissenschaftlich angelegt und enthält u. a. Beiträge von Christian Rolfs über „Sozialrecht und Privatrecht“ (S. 405ff.) und von Peter Masuch/Wolfgang Spellbrink über das „Gerichtsverfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz – Stand und Perspektiven“ (S. 437ff.). Die 14 Beiträge des letzten Abschnitts „Herausforderungen des Sozialstaats“ gehen ein auf die „internen und externen Herausforderungen, die der deutsche Sozialstaat zu bewältigen hat“ (S. X), und zwar unter den Themenbereichen „Internationalisierung und Europäisierung“, „Familie, Gender und Zivilgesellschaft“, „Bildung, Migration und Arbeitsmarkt – soziale Polarisierung“ und „Demographische Entwicklung und zukünftige Finanzierung“. Von rechtswissenschaftlichem Interesse sind insbesondere die Beiträge Elisabeth Beck-Gernsheims über „Sozialpolitik in der Konkurrenz der Familienformen, Leitbilder und Ansprüche“ (S. 559 ff.) und Ilona Ostners über neuere Entwicklungen in der sozialen Sicherung von Frauen (S. 597ff.). Eine „Bilanz“ über die 37 Beiträge des Bandes 1 zieht F.-X. Kaufmann in seiner Studie: „Sozialwissenschaften, Sozialpolitik und Sozialrecht“ (S. 777ff.) unter den Gesichtspunkten des „Besonderen des Deutschen Sozialstaats“, der Herkunft des Sozialrechts sowie der Zukunft des Sozialstaats.

 

In Band 2 der „Denkschrift“ werden die „Schnittstellen“ zwischen der Wissenschaft und der Sozialgerichtsbarkeit in acht zentralen Praxisfeldern behandelt: Alterssicherung und Erwerbsminderung, Pflege, Gesundheit, Arbeitsmarktpolitik, Armut und Unterversorgung, Unterhaltsverband, Behinderung und Rehabilitation sowie Strukturprobleme der Finanzierung sozialer Sicherheit. Angestrebt wurde ein Dialog der Wissenschaften mit der Sozialgerichtsbarkeit, so dass die Praxisfelder durch jeweils vier Beiträge erschlossen werden. Neben der rechtswissenschaftlichen und der richterlichen Sicht kommt jeweils auch die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche/soziologische Sicht zur Sprache. Beispielsweise werden im Abschnitt über „Armut und Existenzsicherung“ (S. 409ff.) die Fragen der Ermittlung des Existenzminimums (Regelbedarf) aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht unter dem Gesichtspunkt der Einkommensarmut (S. 441ff.) und aus sozialwissenschaftlicher Sicht (Ursprung von Armut und Hilfsbedürftigkeit, Kinderarmut als Herausforderung für den deutschen Sozialstaat; S. 461ff.) behandelt. Von rechtswissenschaftlicher Seite wird die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung über die Höhe des Regelbedarfs anhand von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (S. 409ff.) diskutiert. Sabine Knickrehm (BSG) fragt nach den „Einfallstoren“ für Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften im Existenzsicherungsrecht und nach den Folgerungen, die sich hieraus für das Recht des Existenzminimums ergeben können.

 

Auch der Rechtshistoriker, der sich nur am Rande mit der Geschichte des Sozialrechts befasst, wird die Beiträge der beiden Bände mit Gewinn lesen. Es werden die bedeutsamsten Bereiche des Sozialrechts unter Einbeziehung der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung zu den wichtigsten Themenbereichen des Sozialrechts erschlossen. Nach der Klärung der historischen Grundlagen des deutschen Sozialrechts (Überblick u. a. bei M. Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriss, 2003), geht es nunmehr um die rechtshistorische Erschließung des weit verzweigten Sozialrechts der vergangenen 65 Jahre. Hierzu enthalten die Beiträge der beiden Bände vielfältige Anregungen insbesondere auch aus den Nachbarwissenschaften.

 

Kiel

Werner Schubert