Finger, Jürgen, Eigensinn im Einheitsstaat – NS-Schulpolitik in Württemberg, Baden und im Elsass 1933-1945.. Nomos, Baden-Baden 2016. 603 S.

 

Die Zeit des Deutschen Reiches unter dem Reichskanzler Adolf Hitler wird allgemein als eine Diktatur angesehen, in der grundsätzlich allein der Wille des Führers maßgeblich war. Da dieser aber weder allgegenwärtig noch allwissend sein konnte, ergab sich in der Alltagswirklichkeit ein wenig durchsichtiges Gewirr von Zuständigkeiten und Entscheidungen. Zwar ging auch in der Diktatur die Verwaltung grundsätzlich ihren Gang, doch war auch „Eigensinn“ oder Eigenentscheidung auf mittlerer und unterer Ebene nicht ausgeschlossen.

 

Mit einem Teilaspekt dieser Problematik beschäftigt sich die von Andreas Wirsching betreute, 2010 an der philologisch-historischen Fakultät der Universität Augsburg eingereichte und verteidigte und danach verkürzt  und mit zehn Abbildungen und fünf Tabellen ausgestattet veröffentlichte Dissertation des 1978 geborenen, nach der Promotion  in Paris und München tätigen Verfassers, der bereits 2009 Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte vorlegte, 2013 an der Geschichte des Familienunternehmens Dr. Oetker zwischen 1933 und 1945 mitwirkte und sich derzeit der Moral Economy des französischen Kapitalismus 1880-1914/1918 widmet. Sie gliedert sich in insgesamt sechs Teile. Sie betreffen die Zeitgeschichte als Bildungsgeschichte, Gleichschaltung und Eigensinn der Länder, südwestdeutsche Schulsysteme 1933-1945, die Schnittstelle Elsass im Oberrheingau, den Verwaltungszwang im Krieg als Mangelverwaltung und die politische Verwaltung im dekonzentrierten Einheitsstaat.

 

Sie geht von einer Feststellung des französischen Rechtswissenschaftlers René Capitant aus und gelangt am Ende zu der ansprechenden Ansicht, dass die Reglementierung des Bildungszugangs, die Steuerung und Neubewertung der Inhalte, Formen und Methoden der Bildung in der nationalsozialistischen Herrschaft wie auch andernorts im totalitären System ein Instrument der Sozialdisziplinierung durch Eröffnen oder Verschließen von Chancen boten. Die „Auslese“ stellte nicht den Betroffenen in den Mittelpunkt, sondern diente der Instrumentalisierung des Einzelnen für die Volksgemeinschaft. In diesem Rahmen fühlten sich die nachgeordneten Stellen in ihrer Zuständigkeit in die Gesamtzielsetzung so gut wie möglich ein, wobei sie Spielräume nutzten und Schwerpunkte selbst setzten, ohne vielleicht wirklich eigensinnig im strengen üblichen Wortsinn zu sein.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler