Ernst, Wolfgang, Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten - „group choice“ in europäischen Justiztraditionen. Mohr Siebeck, Tübingen 2016. XX, 362 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Der Mensch kann oder muss sich in vielen Fällen zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden, von denen beispielsweise eine als gut und eine andere als weniger gut eingestuft werden kann. In dieser Lage befindet sich grundsätzlich auch der Richter, der in seinem Urteil feststellen soll, was dem vorhandenen anerkannten Bestand an Rechtssätzen am ehesten entspricht. Damit stellt sich die Frage der Erkenntnis des Rechtes durch den Richter auch in der besonderen Gestalt von Richtermehrheiten.

 

Der sich ihr in em vorliegenden eindrucksvollen Werk widmende, in Bonn 1956 geborene Verfasser wurde in Bonn und Frankfurt am Main in der Rechtswissenschaft ausgebildet und wirkte nach seiner 1981 erfolgten Promotion über Eigenbesitz und Mobiliarerwerb und seiner 1989 gelungenen Habilitation seit 1990 als Professor für römisches Recht und Privatrecht in Tübingen, Bonn und Zürich, ehe er 2002/2003 als Arthur Goodhart Professor of Legal Science nach Cambridge und ab 1. Oktober als Regius Professor of Civil Law nach Oxford berufen wurde. Seine nunmehrige spannende Studie gliedert sich in sechs Teile. Sie betreffen die römische Antike mit Schiedsrichtermehrheiten und Richtermehrheiten einschließlich eines Annexes über das israelitische Recht, das gelehrte Recht, Schriftsteller der Spätaufklärung (Nicolas de Condorcet, Joseph von Sonnenfels, Pierre Simon Laplace und Francesco Vigilio Barbacovi), französische Rechtsentwicklungen seit dem Recht der Ordonnanzen, deutsche Rechtsentwicklungen seit der Einsammlung begründeter Individualvoten, englische Rechtsentwicklungen und die juristische Zeitgeschichte.

 

Im Ergebnis seiner sachkundigen, weitgespannten Rechtsvergleichung verbindet er die kontinentaleuropäische Kollegialgerichtsbarkeit mit Rechtsprechung in bürokratischen Stil. Allerdings vertritt er nachdrücklich den Standpunkt, dass die Methodenkultur für kollektive Entscheidungen in Spruchkörpern erst dann ein vollwertiger Gegenstand rechtswissenschaftlicher Befassung werden wird, wenn der Vorgang der innerkollegialen Entscheidungsfindung nicht mehr durch das unangebrachte Beratungsgeheimnis verhüllt wird. Dementsprechend stuft er am Ende die Offenlegung der rechtstatsächlich bei der Entscheidungsbildung angewandten Methoden – oder das Eingeständnis der schlicht methodenlosen Konsenssuche - überzeugend als einen erfolgversprechenden Beitrag zu  einem Dialog mit Fachvertretern der Entscheidungstheorie ein, die sich aus ihrer Sicht mit dem richterlichen Urteil als einer layered decision befassen.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler