Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess, hg. v. Möller, Horst/Pautsch, Ilse Dorothee/Schöllgen, Gregor u. a., bearb. v. Amos, Heike/Geiger, Tim. V & R, Göttingen 2015. 872 S., 63 Abb. Tab. Besprochen von Steffen Schlinker.

 

Die vorliegende Edition von Dokumenten zur Wiederherstellung der deutschen Einheit hat sich zur Aufgabe gemacht, die Rolle des Auswärtigen Amtes und des DDR-Außenministeriums im Prozess der Wiederherstellung der Deutschen Einheit hervorzuheben. Sie bildet daher eine Ergänzung zu der großen Quellenedition "Deutsche Einheit" von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann aus den Akten des Bundeskanzleramts (München 1998). Insofern geht es den Herausgebern von vorneherein nicht darum, einen repräsentativen Überblick über alle Facetten der deutschen Wiedervereinigung auf der Basis von Quellen unterschiedlicher Archive zusammenzustellen. Vielmehr beschränkt sich die Edition ausdrücklich auf die Akten des politischen Archivs des Auswärtigen Amtes und mithin auf den diplomatischen Bereich.

 

Zum Abdruck gelangt sind 170 Dokumente in chronologischer Reihenfolge (S. 57-772), die einen höchst lehrreichen Blick auf die dramatischen politischen Prozesse zwischen dem Juli 1989, als DDR-Bürger in den Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in Budapest und Prag Zuflucht suchten, und dem November 1990 bieten. Der Edition vorangestellt ist eine detailreiche, gut lesbare Einleitung (S. 7-56), die über den diplomatischen Austausch hinaus den gesamten politischen und wirtschaftlichen Kontext berührt.

 

Heike Amos und Tim Geiger beginnen die Einleitung mit der Wahl Michael Gorbatschows zum Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Jahre 1985. Das überzeugt, denn die Proklamierung von Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau) hatte zwar (auch) eine erhebliche propagandistische Wirkung auf Westdeutschland, vor allem aber - und das hätte hervorgehoben werden können - verstanden die Bürger der Länder des Warschauer Paktes die Politik Gorbatschows als Verzicht der KPdSU auf die ausschließliche politische Deutungshoheit und die gewaltsame Durchsetzung ihrer Herrschaftsinteressen.

 

Für Deutschland haben sicher die Treffen von Bundespräsident von Weizsäcker, Bundeskanzler Kohl und Bundesaußenminister Genscher mit Michael Gorbatschow vertrauensbildend gewirkt. So war offenbar bereits im Juni 1989, beim Besuch von Michael Gorbatschow in Bonn, eine gemeinsame Basis gefunden worden, auf der während der folgenden Monate aufgebaut werden konnte.

Ausdrücklich wird der europäische Rahmen erläutert, in dem sich seit dem Herbst 1989 die deutsche Einigung vollzog (S. 12ff.). Ungarn war im März 1989 der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten und begann mit Mai 1989 mit dem Abbau seiner Grenzanlagen zu Österreich. So wurde der sogenannte Eiserne Vorhang am 27. Juni 1989 durch den ungarischen und den österreichischen Außenminister symbolisch zerschnitten. Und am 19. August fand das berühmte Picknick der Paneuropa-Union an der österreichisch-ungarischen Grenze statt, das rund 500 Bewohner der DDR zur Flucht zu nutzen verstanden. Im August 1989 wurde in Polen eine nicht kommunistische Regierung gebildet.

 

Dass dieser Weg innerer Reformen für die DDR nicht gangbar war, wird zu Recht hervorgehoben. Die Führung der Sozialistischen Einheits-Partei der DDR (SED) steckte in einem Dilemma: Reformen verboten sich für die SED-Führung, weil durchgreifende wirtschaftliche und politische Veränderungen die Diskussion über eine Wiedervereinigung heraufbeschworen hätten (S. 13). Indem die SED-Führung Ausreise-Genehmigungen für die Flüchtlinge in Prag, Budapest und Warschau erteilte, damit das peinliche Problem der Botschaftsflüchtlinge, das die internationale Presse beherrschte, zum Zeitpunkt des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober 1989, gelöst war, öffnete die SED selbst die Schleusen zu weiteren Fluchtbewegungen (S. 15).

 

Auch die Stimmungslagen in den europäischen Staaten, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion werden behutsam nachgezeichnet (S. 17ff.). Trotz grundsätzlich konstruktiver Zusammenarbeit blieben zunächst wesentliche Fragen ungelöst, so die große Frage der Nato-Mitgliedschaft und deren Ausdehnung nach Osten. Angesichts 400.000 sowjetischer Soldaten auf deutschem Boden (S. 22ff., 28ff.) war diese Frage mit größter Vorsicht zu behandeln. Ebenso offen blieb zunächst auch der institutionelle Rahmen der Wiedervereinigungsgespräche.

 

Bei der Darstellung der innenpolitischen Lage wird die Einführung leider einseitig. Warum die Editoren das 10-Punkte Programm Helmut Kohls zur deutschen Einheit vom 28. November 1989 negativ bewerten, erschließt sich nicht. Bewusst hatte Helmut Kohl auf einen Zeitplan verzichtet, wohl aber konkrete Schritte vorgeschlagen. Tatsächlich hat Helmut Kohl damit die Bundesrepublik Deutschland als selbständig handelnden Akteur begriffen. Diese Linie verfolgte auch Hans-Dietrich Genscher, z. B. in seiner Reaktion auf das Treffen der Botschafter der Vier-Mächte im Gebäude des Alliierten Kontrollrats in Berlin (S. 20). Das 10-Punkte-Programm zeigt vielmehr, dass Helmut Kohl die wirtschaftliche und soziale Lage in der DDR klar erkannt hatte und deswegen die Initiative ergreifen musste: Offene Grenzen zum Westen ohne Reformen und ohne eine wirtschaftliche Perspektive in der DDR hätten unweigerlich zum Exodus der arbeitenden Bevölkerung von Osten nach Westen geführt.

 

Schließlich wird zu Recht auch die wirtschaftliche Seite der deutsch-sowjetischen Politik beleuchtet: Schon im Frühsommer 1990 hatte die Bundesrepublik Deutschland eine Bürgschaft für einen von der Sowjetunion dringend benötigen Kredit über 5 Milliarden DM zugesagt. Im Herbst 1990 übernahm die Bundesrepublik Deutschland schließlich auch die Kosten für den Abzug der sowjetischen Streitkräfte in Höhe von 12 Milliarden DM zuzüglich eines zinslosen Kredits in Höhe von 3 Milliarden DM. So konnte der Abzug der Soldaten aus den neuen Bundesländern vertragsgemäß im Jahr 1994 abgeschlossen werden.

 

63 Abbildungen sind über den Text verteilt und selbstverständlich enthält der Band ein Abkürzungsverzeichnis (S. 773-778), ein Literaturverzeichnis (S. 779-788), ein ausführliches Personenregister (S. 789-816) mit Lebensdaten und Hinweisen zum Tätigkeitsbereich der Genannten sowie ein Sachregister (S. 817-834).

 

So darf der Band insgesamt als benutzerfreundlich und gelungen angesehen werden. Die Edition vermittelt einen lebhaften Eindruck von den Denk- und Handlungsweisen der beteiligten Akteure in einer politisch höchst spannenden Zeit. Dass die Veränderungen von 1989/1990 nur ex post als selbstverständlich und folgerichtig erscheinen, stellt die Lektüre dem Leser noch einmal deutlich vor Augen.

 

Würzburg/Tallinn                                                            Steffen Schlinker