Kraus, Hans-Christof, Bismarck. Größe – Grenzen – Leistungen. Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 330 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

„Erst heute – zwei Jahrhunderte nach seiner Geburt – scheint ein genügend großer Abstand gewonnen zu sein, um das Werk dieses Mannes weitgehend unvoreingenommen zu bewerten und zu würdigen. […] Die von ihm begangenen politischen Fehler, in denen sich die Grenzen seiner Einsicht und seines Handelns ausdrücken, liegen so unbestritten und so klar zu Tage, dass darüber kaum mehr zu diskutieren sein dürfte. Ähnliches gilt für die historische Größe, die ihm ebenfalls zukommt und die ihn bis heute zu einer der herausragenden, unbestritten wirkmächtigsten Persönlichkeiten nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Geschichte macht“ (S. 308).

 

Mit diesem zweifellos zutreffenden Resümee erfasst Hans-Christof Kraus, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau, nicht zuletzt auch den aktuellen Stand der Forschung zu Otto von Bismarck (1815 – 1898). Denn nach Jahren (schon von Bismarck selbst noch zu Lebzeiten geschickt gelenkter) hagiographischer Verehrung und der in Folge der Katastrophen der beiden Weltkriege hyperkritischen Wahrnehmung als vermeintlicher Urheber eines unheilvollen, vom preußischen Militarismus geprägten deutschen Sonderwegs hat eine rationale Geschichtsforschung, deren Ergebnisse ihren Niederschlag in den großen wissenschaftlichen Bismarck-Biographien Lothar Galls (1980), Ernst Engelbergs (1985/1990), Otto Pflanzes (1997/98) und zuletzt Jonathan Steinbergs (2012) gefunden haben, mittlerweile ein differenziertes, weitgehend akzeptiertes Bild des Reichsgründers und seiner politischen Leistungen herauskristallisiert. Was darf also von neuen Bismarck-Büchern erwartet werden, zumal, wenn sie just im Augenblick des zweihundertsten Geburtstages des „Eisernen Kanzlers“ auf den Markt kommen?

 

Die Präsentation brandneuer Forschungsergebnisse ist selten das Bedürfnis derartiger von Jubiläen initiierter Schriften. Im Vordergrund steht - neben einem legitimen Geschäftsinteresse - häufiger das Anliegen, den feierlichen Anlass zu nutzen, der damit verbundenen, aber rasch flüchtigen öffentlichen Aufmerksamkeit seriöse und verarbeitbare Informationen anzubieten. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei auf eine Ebene heruntergebrochen, die es auch dem historisch interessierten Laien ermöglicht, mittels gehobener Lektüre einen zwar komprimierten, aber korrekten und aktuellen Einblick in das entsprechende Themenfeld zu gewinnen.

 

In diesen Kontext ist auch Hans-Christof Kraus‘ Bismarck-Buch zu stellen. Der Verfasser ist mit einigen Studien zur wilhelminischen Ära, speziell zu den preußischen Konservativen, zu Ernst Ludwig und Leopold von Gerlach, hervorgetreten und somit mit dem wesentlichen Schrifttum zu Otto von Bismarck vertraut; seine aktuelle Arbeit stützt sich weitgehend auf die bekannten Quelleneditionen (wobei eigentümlicher Weise die neueste Edition der Schriften Bismarcks, die Bände der Neuen Friedrichsruher Ausgabe, offenbar nicht benutzt wurden) und stark auf Otto Pflanzes Bismarck-Biographie. Im Ergebnis hat es der Nutzer mit einer gut fundierten, plausibel argumentierenden Überblicksdarstellung zu tun, der es gelingt, sowohl die Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung des Protagonisten als auch und vor allem seinen ihn bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit belastenden politischen Werdegang anregend und nachvollziehbar wertend zu vermitteln. Bismarcks wenig freudvolle Kindheit, vermutlich die Ursache für seine spätere, seine Gesundheit gefährdende Maßlosigkeit im Essen und Trinken, kommt ebenso zur Sprache wie seine 1847 geschlossene Ehe mit Johanna von Puttkamer (nicht „Puttkammer“, wie durchgehend unrichtig bei Kraus), die ihm Halt gab und den „tollen Junker“ zur Verantwortung finden ließ. 1845 erfolgte sein Eintritt in das „politische Leben Preußens über ein Verbindungsnetz aus einflussreichen christlich-konservativen Politikern, hohen Staatsbeamten und Militärs, mit denen er im Umfeld der pietistisch geprägten pommerschen Adelskreise in Kontakt gekommen war“ (S. 32), die Revolution von 1848 sah ihn als „ultrakonservativen Heißsporn“ (S. 35). 1851 trat er seinen ersten diplomatischen Posten als stellvertretender Bundesgesandter in Frankfurt am Main an. Nach Auslandsverwendungen als Gesandter in St. Petersburg und in Paris wurde er im September 1862 in der schwierigen Situation des preußischen Verfassungskonflikts über die Gesetzesvorlagen zur Heeresreform nach Berlin zurückberufen und von König Wilhelm I. nach einer denkwürdigen Audienz mit dem Amt des preußischen Ministerpräsidenten betraut. Die Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe begründete den weiteren Aufstieg des begnadeten Realpolitikers Bismarck, der sich in den meisten Fällen gegen erhebliche Widerstände durchsetzen und seine von ihm als notwendig erachteten Ziele erreichen konnte. Die nach militärischen Erfolgen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich erfolgte Proklamierung des zweiten deutschen Kaiserreiches unter der Dynastie der Hohenzollern 1871 und damit die nationale Einigung Deutschlands nach kleindeutschem Modell - also unter Ausschluss der deutschen Gebiete Österreichs - war bekanntlich die wertvollste Frucht dieser Bestrebungen, die er in den Folgejahren durch eine geschickte Bündnispolitik nach außen und eine auf soziale Beruhigung abzielende repressive Innenpolitik zu bewahren suchte, bis der in anderen Kategorien denkende, junge und politisch unerfahrene Kaiser Wilhelm II. den Reichsgründer und Kanzler im März 1890 aus dem Amt drängte.

 

Notwendige rechtliche Erwägungen durchdringen laufend die Darstellung des politischen Geschehens. Nachdem im oben erwähnten Verfassungskonflikt das Parlament die Zustimmung zum Budget verweigert hatte, um die Regierung zum Einlenken zu zwingen, regierte Bismarck „mit den vom Parlament zuletzt bewilligten Haushaltsgeldern auch im nächsten Jahr weiter, die Steuern wurden, wie sie vom Parlament zuletzt beschlossen worden waren, weiter erhoben“. Dem deshalb erhobenen Vorwurf des offenen Verfassungsbruchs „begegnete Bismarck mit der ‚Lückentheorie‘, die auf der Annahme beruhte, dass in der preußischen revidierten Verfassung von 1850 eine ‚Lücke‘ bestehe. […] Wenn […] keine Einigung zwischen den drei zustimmungsberechtigten Institutionen Abgeordnetenhaus, Herrenhaus und Krone zustande kam, dann sah man sich vom Verfassungstext im Stich gelassen. […] Angesichts der gegebenen Lage müsse die Staatsführung, als der nun einmal mächtigste Faktor im Verfassungsleben, gegebenenfalls auch ohne Zustimmung des Parlaments handeln“. Hans-Christof Kraus, der sich in der Vergangenheit mit diesem Problem näher auseinandergesetzt hat („Ursprung und Genese der ‚Lückentheorie‘ im preußischen Verfassungskonflikt“. In: Der Staat 29 [1990], S. 209 – 234), bemerkt, dass es „für rechtsdogmatisch versierte Juristen unserer Zeit wohl eine leichte Übung (wäre), Bismarcks These zu widerlegen“, dass diese jedoch „im Kontext der Verfassungstheorie und des politischen Denkens seiner Epoche […] als durchaus verständlich und logisch“ erscheine (S. 87ff.). Ganz überzeugt von der Rechtmäßigkeit seines Vorgehens dürfte Bismarck dennoch selbst nicht gewesen sein, denn nach dem Sieg bei Königgrätz 1866 über Österreich bemühte er sich um Indemnität, also um die „nachträgliche parlamentarische Bewilligung der seit 1862 ohne Zustimmung des Landtags von der königlichen Regierung getätigten Ausgaben“; nach zunächst heftigen Debatten wurde am 3. September 1866 das Indemnitätsgesetz schließlich mit großer Mehrheit angenommen und damit „der ‚Rechtsboden der Verfassung‘ wiederhergestellt“ (S. 111f.). Mit der „allen Grundsätzen eines traditionellen monarchischen Legitimismus widersprechende(n) Annexion Hannovers, Kurhessens und Nassaus durch Preußen“, also faktisch mit der „Opferung des Legitimitätsprinzips“, erwies sich Bismarck als ein in erster Linie politisch denkender Mensch, denn „indem er Wilhelm überzeugte, entweder Staaten vollständig zu annektieren oder ungeschmälert bestehen zu lassen, konnte er die Entstehung einer politischen Irredenta (also einer Bewegung zur Rückgliederung annektierter Gebiete) verhindern“ (S. 108f.). In seinen Entwürfen einer neuen politischen Ordnung für den Norddeutschen Bund, den Putbuser Diktaten, fixierte der spätere Reichskanzler höchstpersönlich „bereits die Kerngedanken der Norddeutschen Bundesverfassung von 1867, die nur vier Jahre später mit geringen Änderungen zur Deutschen Reichsverfassung wurde und bis zum November 1918 in Kraft blieb“ (S. 113).

 

Obwohl der Verfasser den Reichsgründer selbstverständlich keineswegs unkritisch wahrnimmt und dessen offenkundige Fehler klar benennt - dass dieser der Abtrennung Elsass-Lothringens von Frankreich und damit der Begründung einer Dauerfeindschaft nicht wirklich entschieden entgegengetreten sei, gehöre „nicht in das Kapitel seiner Größe, sondern seiner Grenzen“ (S. 129), und man müsse es „als die zweite große und im Ergebnis höchst verhängnisvolle politische Fehlwahrnehmung Bismarcks ansehen, dass er den Doppelcharakter der frühen deutschen Arbeiterbewegung nicht erkannte, denn diese wies in der Zeit kurz nach der Reichsgründung keineswegs überwiegend Revolutionsanhänger, sondern gerade auch eine Vielzahl reformorientierter Kräfte auf, darunter die Anhänger Lassalles“ (S. 179) - , ist seine Bewunderung für das bestechende Augenmaß, das die Politik Bismarcks in ganz überwiegender Weise erkennen lässt, nicht zu übersehen. So betont er etwa mit Recht, dass Bismarck „keineswegs seit 1866 (auf einen Krieg mit Frankreich) hingearbeitet“ habe (S. 121) und in seinen späten Regierungsjahren weitsichtig „die in dieser Zeit entworfenen Präventivkriegsszenarien einiger deutscher Spitzenmilitärs […] ebenso strikt ab(lehnte) wie bestimmte Hoffnungen auf eine etwaige deutsche Unterstützung österreichischer Aktivitäten auf dem Balkan“, galt ihm doch hier „die Bewahrung des Friedens unter allen Umständen“ (S. 289f.) als vitales Ziel deutscher Politik. Hans-Christof Kraus spricht zwar davon, dass man über Bismarcks Leistungen „am ehesten noch streiten und kontrovers debattieren“ könne (S. 308), und hebt doch im gleichen Atemzug jene Elemente hervor, die es aus Sicht des Rezensenten rechtfertigen, in dem Fürsten immer noch den bedeutendsten Politiker zu sehen, den Deutschland bislang hervorgebracht hat: die deutsche Einheit, also die Vereinigung einer Kulturnation zu einer Staatsnation unter Verankerung eines gesamtdeutschen politischen Bewusstseins; mutige Realpolitik mit Augenmaß, die stets auch Alternativen bereithielt; die Grundlegung des deutschen Sozialstaats in einer Zeit rasanter wirtschaftlicher Dynamik; und schließlich - last, but not least - seine seit 1871 betriebene, erfolgreiche aktive europäische Friedenspolitik, die Reflexionen nahelegt zur gegenwärtigen Rolle Deutschlands in Europa und der Welt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic