Huneke, Maike, Iurisprudentia romano-saxonica. Die Glosse zum Sachsenspiegel-Lehnrecht und die Anfänge deutscher Rechtswissenschaft (= Monumenta Germaniae Historica Schriften Band 68). Harrassowitz, Wiesbaden 2014. LXIII, 817 S., 5 Diagramme. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Dass die römische iurisprudentia im Laufe der Geschichte von Italien über die Alpen auch nach Sachsen gelangt ist, war ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur weltweit bedeutenden Rechtswissenschaft. Wie dies im Einzelnen geschehen ist, entzieht sich allerdings bisher der allgemeinen Kenntnis, weil die damaligen Zeitgenossen dies nicht für so bedeutsam gehalten haben, dass sie darüber ausführlich berichtet hätten. In aufwendiger und beeindruckender Weise versucht die Verfasserin in ihrer umfangreichen, zwischen Februar 2009 und März 2012 am Institut für Rechtsgeschichte der Universität Freiburg im Breisgau entstandenen, nach dem Wechsel des Betreuers Bernd Kannowski nach Bayreuth dort im Sommersemester 2013 an der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät als Dissertation angenommenen Untersuchung an einer bedeutsamen Stelle Licht in das bisherige Dunkel zu bringen.

 

Gegliedert ist die wichtige Arbeit nach einer Einleitung über den Untersuchungsgegenstand, die Zielsetzung und den Untersuchungsgang in vier Kapitel. Dabei beginnt die Verfasserin mit den Grundlagen, welche die Lehnrechtsglosse als Zeugnis früher deutscher Rechtswissenschaft behandeln. Nach einem einführenden Überblick über ihre Quelle stellt sie den Forschungsstand dar und bietet eine kleine Geschichte der von ihr so genannten iurisprudentia romano-saxonica. Dabei sieht sie in Übereinstimmung mit Franz Wieackers Feststellung, dass seit dem 14. Jahrhundert auch im Heiligen römischen Reich Kenntnis und wissenschaftliche Bearbeitung des kanonischen und römischen Rechtes sich annäherten und bereits auf profane Juristen überzugehen begannen, die Lehnrechtsglosse als Vertreterin einer größeren Gruppe sächsischer Glossen und die Glossen zum sächsisch-magdeburgischen Recht als einer in den Kinderschuhen steckenden, sich als Gradmesser und Wegbereiter der Rezeption verstehen lassenden  deutschen Rechtswissenschaft angehörig.

 

Auf dieser Grundlage wendet sie sich der Bestimmung der ursprünglichen Textfassung der Lehnrechtsglosse zu und untersucht eindringlich die Überlieferung der Handschriften in den Klassen K, L und W einschließlich der Handschrift der Stendaler Glosse und der frühen Drucke. Dabei ermittelt sie bereits in der handschriftlichen Überlieferung eine in 18 der insgesamt 31 Textzeugen enthaltene Klasse L als gewöhnliche deutsche  Lehnrechtsglosse, neben der die in zehn Handschriften überlieferte Klasse K die wahrscheinlich spätere „Zusammenstreichung“ der früheren Klasse L ist und die sehr frühe, erweiternde, nicht erweislich Nikolaus Wurm zuschreibbare Bearbeitung zur Klasse W nach wie vor Rätsel aufwirft.

 

Danach widmet sich die Verfasserin der in der Übertragung gelehrter Methode auf das einheimische Recht bestehenden Arbeitstechnik des sich in seiner Arbeit mit keinem Wort verratenden und auch Angaben zu Anlass, Ort und Zeit der Niederschrift unterlassenden Glossators. Dementsprechend kann sie die Entstehungszeit nur ungenau als nach 1325 (Landrechtsglosse Johanns von Buch) und vor 1386/1387 und den vermutlich im mitteldeutschen Sprachraum tätigen Verfasser nur als von Johann von Buch verschieden bestimmen. Wahrscheinlich ist ein Auslandsstudium des Lehnrechtsgglossators (!) in Italien oder Frankreich (oder auch Frankreich oder Italien), wo er mit den Inhalten des allerorts ähnlich unterrichteten römisch-kanonischen Rechtes vertraut gemacht worden  zu sein scheint, wobei er mit großer Wahrscheinlichkeit lecturae zu dem Hauptquellen des Corpus Iuris (!), vielleicht auch zum kanonischen Recht und zu einigen extraordinariae (!) gelesenen  Quellen wie den Libri feudorum gehört haben und sich im Rahmen von disputationes in der Kunst der Disputation geübt haben könnte. Seine detaillierten Kenntnisse im sächsischen Landrecht und Lehnrecht und sein Interesse an einer aufwendigen Bearbeitung des sächischen Lehnrechts legen eine intensive berufliche Befassung mit dem einheimischen Recht nahe.

 

Ansprechend ordnet die Verfasserin auch die Lehnrechtsglosse als eine Reaktion auf ein im Kontakt mit der gelehrten Rechtswissenschaft erwachsenes Bedürfnis nach Professionalisierung im einheimischen Verfahren ein. Bei dem Versuch, durch wissenschaftliche Kommentierung das sächsische Recht mit den Instrumentarien gelehrter Rechtswissenschaft handhabbar zu machen, orientierte sich die Lehnrechtsglosse in Vermittlung durch die Buch’sche Landrechtsglosse methodisch und inhaltlich auch an dem Vorbild der legistischen Literatur. In Parallele zu den Basistexten des ius commune wollte man eine Art sächsisches „Corpus iuris“ durch die Beigabe gelehrter Begleittexte aufwerten und bediente sich klassischer gelehrter Methodik.

 

Nach Ansicht der Verfasserin sollte die gegenwärtige Forschung in Anerkennung der traditionellen, zeitgenössischen und neuartigen Elemente die sächsischen Glossen weder als typische gelehrte Glosse noch als typischen gelehrten Kommentar, sondern als Gattung eigener Art einordnen. Dabei spiegelt die Lehnrechtsglosse in der vordergründigen Anwendung des lecturae-Schemas, im überwiegenden Interesse an ausführlichen  Problembehandlungen und im Aufbau auf inkorporierten  Dritttexten vor allem die Anwendung der zeitgenössischen gelehrt-juristischen Methode. Damit nehmen die sächsischen Glossen an der Universalisierung juristischer Methode Teil.

 

Im Anschluss hieran untersucht die Verfasserin noch ausführlich und umsichtig den Rechtsbegriff der Lehnrechtsglosse. Dabei ermittelt sie, dass die sächsischen Juristen in ihren gelehrten Bearbeitungen des einheimischen Rechtes auf ein universales, harmonisches Miteinander aller denkbaren Erscheinungsformen des Rechtes vertrauen. Damit nehmen sie nach der ansprechenden Einsicht der Verfasserin  eine Einheitlichkeit des Rechtes vorweg, die zu begründen sie gerade erst im Begriff sind.

 

Insgesamt ordnet die Verfasserin am Ende ihrer vielfältigen Überlegungen die Lehnrechtsglosse als einen sperrigen Text ein, der als Nachschlagewerk für eine durchgängige Lektüre weder gedacht noch geeignet ist. Ihre Topik entzieht sie einem systematischen Verständnis. Dessenungeachtet ist sie in ihrer Textfülle und Themenvielfalt zusammen mit den übrigen sächsischen Glossen (Landrechtsglosse, Weichbildglosse) in der Form zweibändiger Standardausgaben einer Art sächsischen „Corpus iuris“ ein eindrucksvolles Zeugnis für die Anfänge einer durch die Begrenztheit des menschlichen Erinnerungsvermögens nahegelegten gelehrten deutschen Rechtswissenschaft, auch wenn weder feststeht, wer ihr Verfasser ist(, noch nach Ansicht der Verfasserin die Zusammengehörigkeit von Landrecht und Lehnrecht im Sachsenspiegel überhaupt über jeden Zweifel erhaben ist).

 

Innsbruck                                                                              Gerhard Köbler