Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg. v. Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen. Band 5 Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte 2. C. F. Müller, Heidelberg 2013. XXXVIII, 1519 S. Besprochen von Tilman Repgen.

 

Mit Band 5 des Handbuchs der Grundrechte findet die umfassende Darstellung der Grundrechte in Deutschland ihren Abschluss. Es geht dort um die wirtschaftlichen, politischen und verfahrensrechtlichen Grundrechte.

 

Das Handbuch der Grundrechte ist ein Beitrag zum geltenden Verfassungsrecht und daher wird der Leser hier nicht unbedingt ideen- und verfassungsgeschichtliche Analysen erwarten, zumal Band 1 des Sammelwerks die Entwicklungslinien nachgezeichnet hat. Dennoch ist es auffällig, welch‘ geringe Rolle offenbar die Geschichte bei der Interpretation der einzelnen Grundrechte spielt. Keineswegs alle Abschnitte des hier zu besprechenden Bandes machen den Versuch, ihr Thema auch historisch zu reflektieren.

 

Otto Depenheuer beginnt seine Abhandlung zur Eigentumsgarantie (§ 111) mit einer Verortung des Privateigentums in der aktuellen politischen Diskussion des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts. Dazu zählt die Finanz- und Schuldenkrise mit ihren den Staat herausfordernden Aspekten „systemrelevanter“ Unternehmungen. Selbstverständlich sind Depenheuer die staatsphilosophischen Diskussionen über die Rechtfertigung des Privateigentums geläufig. Sie werden freilich hier sehr wenig expliziert (immerhin: § 111 Rn. 4 und 5). Mehr angedeutet wird die Position des Eigentums als Mittel zur Verwirklichung der Freiheit; Eigentum ist hiernach die Grundlage eigenverantwortlicher Lebensgestaltung (Rn. 8). Mit dem Eigentum sind Verfügungsbefugnis, Verantwortung und Haftung notwendig verbunden (Rn. 14). Weniger als früher bedeute, so Depenheuer, Eigentum politische Macht (Rn. 16). Depenheuer zeichnet die Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach, um die heutige Eigentumsdogmatik des Verfassungsrechts zu charakterisieren (Rn. 25-42), die zwar die Eigentumsgarantie stärken wollten, aber dieses Ziel in paradoxer Weise konterkarieren. Problematisch ist freilich, dass diese Entwicklungslinien gezeichnet werden, ohne dass zuvor die Substanz des Eigentumsbegriffs – wie auch immer – konkret festgelegt worden ist. Erst im Anschluss an diese Beschreibung eines Erosionsprozesses, an dessen Ende sprachlose Konfusion steht, erörtert Depenheuer systematisch den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff und seine Schranken (Rn. 43-87). – In einem inneren Zusammenhang mit dem Privateigentum, steht das Erbrecht, das Paul Kirchhof in § 112 behandelt. Interessant ist hier, wie der Autor die gegenwärtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in die Analyse einbezieht (insbesondere Rn. 41-45).

 

Zur Berufsfreiheit widmet Hans-Peter Schneider der Geschichte des Grundrechts einen eigenen Abschnitt (§ 113 Rn. 20-28). – Bei der Erläuterung der Berufsfreiheit der Beamten und des Berufsbeamtentums kommt Detlef Merten ohne historische Gegebenheiten aus (§ 114). – Aus der Perspektive des Zivilrechts besonders hervorzuheben ist, dass das Handbuch in § 115 einen eigenen Abschnitt zur Vertrags- und Wettbewerbsfreiheit aus der Hand Michael Brenners enthält und damit die verfassungsrechtliche Absicherung dieser Grundprinzipien der Privatrechtsidee würdigt. Die Bedeutung dieses Grundrechts im Rahmen der Gesamtrechtsordnung wird vielfach unterschätzt. – Im Abschnitt zur Koalitionsfreiheit, den Thomas von Danwitz bearbeitet hat, hört man zwar, dass das Bundesverfassungsgericht stets die Bedeutung der historischen Entwicklung für die Interpretation dieses Grundrechts betont habe (§ 116 Rn. 3), erfährt aber so gut wie nichts über diese Geschichte, sondern bleibt auf die Lektüre einiger (sozial)geschichtlicher Werke verwiesen. Ob also wirklich eine solche historische Interpretation des Grundrechts stattfand oder stattfindet, muss der Leser selbst ermessen. – Hartmut Bauer beschreibt die Entwicklung des Petitionsrechts (§ 117 Rn. 2-17). – Christian Hillgruber geht in seinem Kapitel zur Parteienfreiheit (§ 118) sehr knapp auf die Geschichte des Parteiverbots (Rn. 67-69) ein. Vom Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands 1956 ist aber zum Beispiel nicht die Rede. – Zur Stellung der Parteien zeichnet Meinhard Schröder nur Entwicklungslinien in der Zeit des Grundgesetzes nach (§ 119 Rn. 1-4), kommt aber bei seiner „Standortbestimmung“ ohne historische Reflexion aus. – Die Freiheit und Gleichheit der Wahl hat bei Markus Kotzur eine wenigstens kurze historische Bestandsaufnahme gefunden (§ 120 Rn. 3-5). – Wolfram Höfling leitet seine Betrachtung des Widerstandsrechts mit einer Erwähnung seiner Geschichte ein (§ 121 Rn. 1-8). – Kirsten Schmalenbach geht beim Verbot der Auslieferung und des Entzugs der Staatsangehörigkeit auf die historische Entwicklung des Begriffs „Staatsangehörigkeit“ ein (§ 122 Rn. 3-6). Von der Ausbürgerung im Nationalsozialismus liest man dort aber nichts. – Wolfgang Kahl zeichnet vor allem einigermaßen detailliert die Entstehungsgeschichte von Art. 2 I GG nach (§ 124 Rn. 1-13). – Die eigentlich sehr spannende Geschichte des allgemeinen Gleichheitssatzes wird in dem Beitrag von Jost Pietzcker leider nur mit wenigen Andeutungen bedacht (§ 125 Rn. 1-2). – Ausführlicher, aber eben auch nur unter speziellem Blickwinkel, thematisiert Dagmar Richter die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Stile einer noch nicht abgeschlossenen Fortschrittsgeschichte (§ 126 Rn. 24-33), deren Ziel nur erreicht werden könne, wenn diese Form der Gleichberechtigung als echte Rechtspflicht und nicht nur als Ausdruck einer „political correctness“ aufgefasst werde (Rn. 108). – Rudolf Wendt widmet in seinem Aufsatz zu den speziellen Gleichheitsrechten nur beim Verbot der Diskriminierung in Art. 33 Abs. 3 GG wenige dürre Zeilen dem geschichtlichen Hintergrund (§ 127 Rn. 75). – Noch einmal sind die Privilegierungs- und Diskriminierungsverbote Gegenstand der Abhandlung Robert Uerpmann-Wittzacks (§ 128), freilich ohne jede historische Einfassung. – Auch die von Arnd Uhle bearbeiteten rechtsstaatlichen Prozessgrundrechte und Prozessgrundsätze kommen ohne Geschichte daher (§ 129). – Nichts anderes gilt von der richterlichen Unabhängigkeit (Hans-Jürgen Papier, § 130, freilich ein knapper Hinweis auf weiterführende Literatur in Fn. 1). – Anders ist es dann wieder bei den präventiven Richtervorbehalten (Andreas Voßkuhle, § 131 Rn. 5-14). In der Tat hilft es für das Verständnis, „den historischen Ursprung“ zu kennen (Rn. 5), zeigt sich hier doch in massiver Weise, wie in der europäischen Kultur schon früh subjektive Rechte auch gegen die jeweilige Obrigkeit durchsetzbar wurden – für die Anerkennung eines wirkungsvollen Schutzes der Persönlichkeit ein maßgeblicher Schritt. – Hans-Detlef Horn erwähnt die Tradition der Machtspruchkritik seit der Aufklärung, um die Reichweite des Verbots von Ausnahmegerichten zu verdeutlichen (§ 132 Rn. 13-17). – Geschichtslos bleibt hingegen das rechtliche Gehör in § 133 (Karin Graßhof). – Das gilt leider auch bei Heinrich Amadeus Wolff für den Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege (§ 134), während Georg Nolte wenigstens kurz die Geschichte von ne bis in idem beschreibt (§ 135 Rn. 4-6).

 

Tiefergehende Analysen der Geschichte der Grundrechte fehlen durchweg. Wo aber, wenn nicht in einem Handbuch der Grundrechte wäre dafür ein geeigneter Ort jenseits rechtsgeschichtlicher Einzeluntersuchungen? Nach dem Urteil des Wissenschaftsrates von 2012 eröffnen die Grundlagenfächer – und dazu zählt nun einmal auch die Rechtsgeschichte – „Referenzräume …, in denen das positive Recht kontinuierlich der kritischen Reflexion unterzogen werden kann.“[1]  Angesichts der überragenden Bedeutung der Grundrechte für die gesamte Rechtsordnung bleibt deren kritische Reflexion anhand der Geschichte ein wichtiges Desiderat. Es würde sich zeigen, dass auch die Verfassungsordnung Wertungen transportiert, deren Begründungen gerade vor dem Hintergrund ihrer Geschichte kontrastreich werden.

 

Hamburg                                                        Tilman Repgen



[1]       Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen, 2012, S. 32.