Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust, hg. v. Miron, Guy/Shulhani, Shlomit. 2 Bde. Bd. 1: A-M. Bd. 2: N-Z. Wallstein, Göttingen 2014. LXXX, 1091 S., Abb., Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Der Begriff des Ghettos in seiner klassischen Bedeutung bezeichnet gemeinhin einen abgegrenzten Raum, in dem die jüdische Bevölkerung, weitgehend separiert von den anderen Bewohnern einer Siedlungseinheit, lebte. Die beiden großformatigen, durchlaufend paginierten Bände erfassen über 1100 Ghettos, die während des Zweiten Weltkriegs nahezu ausnahmslos in Ost- und Südosteuropa bestanden haben und dem im Holocaust gipfelnden Rassenantisemitismus Hitler-Deutschlands und seiner Verbündeten zum Opfer fielen. Sie bereichern damit auch unser Wissen über eine weitgehend untergegangene Kultur und holen Schicksale von jüdischen Gemeinden wieder ans Licht, deren Spuren sich einst in den Vernichtungsstätten und dann hinter abstrakten Statistiken des Todes verloren haben. Als faktenreiche Dokumentation vielfältigen jüdischen Lebens stellen sie nun in deutscher Sprache (Originalausgabe Englisch) auf über tausend Seiten auch wichtiges Basismaterial (Texte, Bilder, Karten) für die Holocaustforschung bereit.

 

Ein ausführlicher, achtzig Seiten starker Einleitungsteil (zusammengesetzt aus Vorworten Jehuda Bauers, Israel Gutmans und Michael Berenbaums, den Aufbau und die Systematik der Enzyklopädie erläuternden Vorbemerkungen der Herausgeber und insgesamt drei thematisch angelegten Studienskizzen zu den Ghettos unter dem Nationalsozialismus) geht in Band 1 dem eigentlichen, alphabetisch nach Ortsnamen aufgebauten Ghetto-Lexikon voraus. Dessen Lektüre, insbesondere die von Dan Michmans Beitrag „Jüdische Ghettos unter der Herrschaft der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten: Die Entstehung“, vermittelt wesentliche Einsichten zur spezifischen Funktion der Ghettos im Kontext der NS-Judenpolitik. Wie man heute mit einiger Sicherheit belegen kann, stellt sich die Entwicklung zum Holocaust als ein Prozess kumulativer Radikalisierung dar, in dem die rassistische antisemitische NS-Ideologie den gemeinsamen Nährboden lieferte, auf dem schließlich verschiedene Initiativen und Konstellationen den Weg zur Massenvernichtung ebneten. Die Institution des Ghettos taucht  als Begriff in der NS-Judenpolitik erst relativ spät, nämlich 1937/38 bei Heydrich und Göring auf, zunächst noch in seiner traditionellen Lesart eines separierten Wohnbezirks für Juden. Einen gravierenden Bedeutungswandel soll die im Herbst 1938 erschienene, wohl einflussreiche Schrift des Osteuropaforschers Peter-Heinz Seraphim „Das Judentum im osteuropäischen Raum“ initiiert haben, wo die freiwillig abgesondert lebende jüdische Ghettogemeinschaft als Kraftquelle und Basis der jüdischen Expansion und somit als Gefahr interpretiert wird. „Nach der Publikation von Seraphims Buch bedeutete ‚Ghetto‘ nicht mehr die virtuelle oder mentale Isolierung der Juden, ja nicht einmal mehr ein isoliertes jüdisches Wohnviertel, sondern, wie Heydrich nun sagte, die Existenz ‚vollkommen abgesonderter Stadtteile, wo nur Juden sind […] der ewige Schlupfwinkel für Verbrechen und vor allen Dingen von Seuchen und ähnlichen Dingen‘“ (S. XIXf.). Beim Einmarsch in Polen und der realen Begegnung mit dem als fremdartig wahrgenommenen „Ostjudentum“ erachteten viele der NS-Besatzer Seraphims Ausführungen als bestätigt und markierten aus ihrer Sicht durch eine materielle Absperrung „lediglich die Grenzen bestehender Ghettos und zwangen jene Juden, die die Ghettos verlassen hatten, um auch die restliche Stadt zu ‚infizieren‘, in ihren ‚natürlichen Lebensraum‘ zurück“ (S. XXIII). Somit war, wie auch der Holocaust selbst, die Ghettoisierung der Juden kein intentionalistisch geprägter Vorgang im Sinne der Verwirklichung eines lange geplanten und organisierten Vorhabens, sondern häufig eine in unterschiedlichen Formen auftretende Reaktion auf situativ bedingte Umstände vor Ort, „die Initiative an einem Ort diente als Modell und Inspirationsquelle für den nächsten usw.“. Die Frage, ob das Ghetto-System im besetzten Polen - als „Prototypen“ des keineswegs einheitlichen nationalsozialistischen Ghettos können wohl am ehesten jene von Warschau und Łódź angesehen werden, als erstes wurde am 20. Dezember 1939 jenes in Piotrków Trybunalski in Zentralpolen eingerichtet - allumfassend gewesen sei, beantwortet Dan Michman mit „ein(em) klare(n) Nein“, denn vermutlich wurde von den Sicherheitsdienststellen „das Bild des Ghettos in keinem Stadium offiziell umrissen, aber die an vorderster Front Verantwortlichen (suchten) unablässig nach der effizientesten Lösung für das ‚Judenproblem‘“ (S. XXVIf.).

 

So galten die vor dem Einmarsch in die Sowjetunion bis Sommer 1941 eingerichteten Ghettos „als bequeme Übergangslösung, bis das Regime in Umrissen eine Lösung der Judenfrage ausgearbeitet hatte. Als dieses Ziel erreicht war, diente die kurzzeitige Existenz der Ghettos der Umsetzung der gefundenen ‚Endlösung‘, wobei sie zu deren Verwirklichung allerdings nicht notwendig waren. […] Semantisch jedoch wandelte und diversifizierte sich der Begriff des Ghettos in der Periode nach dem Einmarsch in die Sowjetunion und nahm zum Beispiel auch die Bedeutung ‚Lager‘ an“ (S. XXXII). Während aber „die ‚Endlösung der Judenfrage‘, der Völkermord, ein radikal neuer Begriff aus dem Wörterbuch des Hitlerismus“ und eine „strategische Maßnahme“ gewesen sei, knüpften die Nationalsozialisten mit dem Begriff des Ghettos „an eine jahrhundertealte antisemitische Tradition an“, den ihre Aktivisten „einem ständigen Bedeutungswandel (unterwarfen), indem sie immer wieder seinen Sinn änderten und ihn wie ein Stück formbaren Ton ihren verschiedenen Zielen anpassten“ (S. XXXIX).

 

Allgemeine und stadtgeographische Merkmale der Ghettos, die Abgrenzung zur Institution des Lagers und die regionalen Ausprägungen in den deutsch und rumänisch besetzten Ostgebieten, sowie der Ghettos von Saloniki in Griechenland, Theresienstadt im Protektorat Böhmen und Mähren, des Amsterdamer Judenviertels und der Judenhäuser in Deutschland erörtern Guy Miron und Shlomit Shulhani in einem eigenen Beitrag, während Nina Springer-Aharoni zeitgenössisches Fotomaterial aus den Ghettos vorstellt, das einst von den Propagandakompanien, von deutschen Soldaten und Zivilisten sowie von jüdischen Fotografen aufgenommen worden ist. Sie weist unter anderem darauf hin, wie sensibel der Umgang mit dieser Quellengattung gehandhabt werden muss: „Der genaue Inhalt eines Fotos ist in erheblichem Ausmaß durch den damit verknüpften Text bestimmt; ein Bildtext kann die Geschichte, die ein Foto erzählt, radikal verändern. Wissenschaftler müssen sich bewusst sein, wie leicht visuelles Material fehlinterpretiert werden kann, und sie müssen lernen zu erkennen, was der Fotograf oder der Besitzer einer Sammlung durch die Bildtexte oder das Arrangement der Fotografien vermitteln wollte“ (S. LXXIX). Von der Richtigkeit dieser grundsätzlichen Bemerkungen kann sich jedermann bei der Durchsicht des Lexikonteils überzeugen, dessen Bildmaterial ohne die entsprechende textuelle Ergänzung in den meisten Fällen durch einen Außenstehenden unmöglich zu dechiffrieren wäre.

 

Die sich über beide Bände erstreckende Enzyklopädie verzeichnet in alphabetischer Ordnung unter Angabe der Verwaltungseinheiten und der genauen geographischen Koordinaten über 1100 Ghettos von „Abony. Stadt im Komitat Pest-Pilis-Solt-Kiskun, Ungarn. Koordinaten: 47°11´ 20°00´“ (S. 1) bis „Żyrardów. Stadt im Kreis Błonie, Verwaltungsbezirk Warschau, Polen. Während des Krieges: Generalgouvernement, Bezirk Warschau. Koordinaten: 52°04´ 20°26´“ (S. 1017f.). Je nach Größe, Bedeutung und überliefertem Wissensstand differiert der Umfang der einzelnen Artikel stark und kann zwischen wenigen Zeilen bis an die 25 Seiten (Warschau) betragen, dementsprechend unterschiedlich ist auch ihr Informationsgehalt. Das durchgängig vorhandene Minimum an Kerndaten veranschaulicht in etwa der Artikel zu Czartorysk im Kreis Łuck in Wolhynien: „In der Zwischenkriegszeit lebten etwa 300 Juden in Czartorysk, das entsprach etwa einem Achtel der Gesamtbevölkerung. Über ihr Erwerbstätigkeitsprofil ist nichts bekannt. Hebräische und jüdische Fächer wurden von Privatlehrern unterrichtet. Hunderte von Flüchtlingen zog es in die Stadt, als diese im September 1939 unter sowjetische Kontrolle geriet. Die Deutschen besetzten Czartorysk am 28. Juni 1941. Anschließend wurden die Juden in einem offenen Ghetto konzentriert und zur Zwangsarbeit herangezogen. Die Liquidierung des Ghettos erfolgte am 24. August 1942. Zehn Juden konnten fliehen und überlebten“ (S. 126). Nur eine Minderheit der kleineren Beiträge wird von Fotomaterial und/oder einer Planskizze des jeweiligen Ghettos begleitet.

 

Besonders informationsgesättigt ist der Anhang der Enzyklopädie ausgefallen, der mit folgenden nützlichen Elementen aufwartet: einem Beitrag im Umfang von drei Seiten über sogenannte Judenhäuser in Deutschland; einer nach Bezirken gegliederten Liste 180 weiterer Ghettos und Lager in Transnistrien, über die außer ihren Namen keine weiteren verlässlichen Daten bekannt sind; einem Glossar; einer nach den betroffenen Staaten gegliederten Auswahlbibliographie; einem Abbildungsnachweis; einem Schwarzweiß-Kartenteil mit sechs Karten (Zentral- und Westpolen; Süd- und Ostpolen; Nordpolen und Baltikum; Weißrussland und Russland; Ukraine; Ungarn), die jeweils die in diesen Gebieten zwischen 1939 und 1944 bestehenden Ghettos ausweisen und die beiden am vorderen und hinteren Einbanddeckel innen placierten Übersichts-Farbkarten präzisieren; einer neun Seiten starken, alphabetischen Liste der Ghettos, geordnet nach Ländern und Bezirken; schließlich 20 Seiten Ortsregister, das die Ortsnamen in ihren durch die verschiedenen Sprachen bedingten Varianten verzeichnet.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic