Kaufmann, Dörte, Anton Friedrich Justus Thibaut (1772-1840). Ein Heidelberger Professor zwischen Wissenschaft und Politik (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen Band 198). Kohlhammer, Stuttgart 2014. XXXV, 302 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Heidelberger historische, unter Volker Sellin entstandene Dissertation Dörte Kaufmanns ist nicht biografisch angelegt, sondern „orientiert sich an den verschiedenen Wirkungsschwerpunkten Thibauts auf universitäts-, rechts- und gesellschaftspolitischer Ebene“ (S. 4) im Schwerpunkt für die Jahre 1805-1820. Zu diesen Themenbereichen fehlte bisher – mit Ausnahme des Kodifikationsstreits – eine „eigenständige Untersuchung“ (S. 12), so dass die Arbeit Kaufmanns insbesondere auch aus rechtshistorischer Sicht zu begrüßen ist. Quellen der Untersuchungen sind außer den Schriften Thibauts und seiner Zeitgenossen vor allem die Bestände des Universitätsarchivs Heidelberg, des Generallandesarchivs Karlsruhe und hauptsächlich die erstmals breit ausgewertete Briefedition Rainer Polleys, der auch ein detailliertes Schriftenverzeichnis Thibauts vorgelegt hat (Anton Friedrich Justus Thibaut, [AD 1772-1840] in seinen Selbstzeugnissen und Briefen, 2 Teile, 1982).

 

Nach einem etwas sehr kurzen Überblick über die Biografie Thibauts (S. 14-16) und über die Stadt Heidelberg im Großherzogtum Baden (S. 16-22) befasst sich Kaufmann im ersten Abschnitt mit der Universitätspolitik Thibauts (S. 23-124). Thibaut wurde nach seiner Berufung aus Jena zum Wintersemester 1805/06 alsbald zum Prorektor (Rektor war zunächst das Staatsoberhaupt) ernannt. Eine seiner wichtigsten Aufgaben war die „Verbesserung der studentischen Sitten“ (Randalieren und Lärmen in der Stadt und in Wirtshäusern, Störung der Gottesdienste sowie „tätliche Auseinandersetzungen mit Angehörigen des Militärs und Handwerksgesellen“, S. 37). Thibaut trat für eine „sukzessive Strenge“ (S. 47) ein, womit er Erfolg hatte, und leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Reorganisation der Heidelberger Universität. Als Redakteur und Rezensent veröffentlichte er in den ab Januar 1808 erscheinenden Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur wichtige, auch zahlreiche eigene Kritiken, in denen er sich insbesondere mit dem Code civil und dessen Rezeption sowie mit der Herstellung einer deutschen Rechtseinheit befasste (bis 1817/1818). Eine „romantische Ausrichtung) der Jahrbücher lehnte er ab (S. 84f.). In den Universitäten sah Thibaut „allgemeine Bildungsanstalten für Deutschland“ und nicht mehr speziell für die Landeskinder (S. 89ff.). In einem von der Regierung erbetenen Gutachten vom 10. 1. 1818 zur Burschenschaftsbewegung unterstellte Thibaut „den ,Männern hinter den Coulissen‘“, insbesondere Jenaer Professoren, dass sie „letztlich ,jakobinische‘, d. h. republikanische, Zielsetzungen verfochten“ (S. 107). 1828 trat Thibaut als Vermittler auf zwischen Universität und Burschenschaft, deren Weiterexistenz stillschweigend toleriert wurde (S. 103f.), nach dem Auszug der Studenten nach Frankenthal und dem Verruf der Universität 1828 (S. 112ff.).

 

In dem Abschnitt : „Die politische Neuordnung Deutschlands – eine ,Wiedergeburt‘“(S. 125-236) befasst sich Kaufmann zunächst mit der Rezeption des Code civil in den deutschen Staaten (S. 125-140) und mit der Stellung Thibauts zu dieser Kodifikation, zu der er 1808 für die badische Regierung ein leider verschollenes Gutachten erstellte und zu der er ab 1808 in Rezensionen inhaltlich und ab 1814 auch gesellschaftspolitisch Stellung nahm (insbesondere in der umfangreichen Rezension des Werkes  A. W. Rehbergs, Ueber den Code Napoléon und dessen Einführung in Deutschland [1814], in den Heidelbergischen Jahrbüchern 1814 I, S. 1-32). Wenn er 1814 den Code civil „offensichtlich als Rückschritt gegenüber den Ideen von 1789“ (S. 135) ansah, so dürfte er mit diesen Ideen wohl nur mit Einschränkungen deren konkrete Ausformung in den französischen Kodifikationsentwürfen von 1793 bis 1795 gesehen haben. In der Diskussion über die Aufhebung des französischen Rechts trat Thibaut für dessen provisorische Fortdauer sowie für detaillierte transitorische Gesetze ein (S. 141ff.). Sehr detailliert stellt Kaufmann die „nationalpolitischen Debatten über die Herstellung einer deutschen Rechtseinheit“ (S. 147-193) dar, an denen sich Thibaut mit seiner Flugschrift von 1814 „Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland“ und in Rezensionen beteiligte. Die Darstellung Kaufmanns bringt über die bereits zahlreichen Analysen des Kodifikationsstreits zwischen Thibaut und Savigny hinaus eine detaillierte Einordnung der Kodifikationsdebatte „als Teil der deutschlandpolitischen Diskussion“ (S. 147). Besonders aufschlussreich sind die Passagen über die Stellung Thibauts zu den Themenbereichen Eherecht, väterliche Gewalt, Hypothekenrecht und Eigentumsübertragung sowie Zivilprozessrecht vor dem Hintergrund des französischen Rechts. Wenn Thibaut auch die Mündlichkeit und Öffentlichkeit des Zivilprozesses ablehnte, so vertrat er, wie sich u. a. in seiner Stellungnahme zum Eherecht des Code civil zeigt, eine „ausgesprochen moderne Position“ (S. 186). Insgesamt lassen sich Thibauts verfassungs- und gesellschaftspolitische Vorstellungen und Reformideen nach Kaufmann „trotz gewisser Einschränkungen“ dem frühliberalen Reformprogramm zuordnen (S. 296), eine These, die noch weiterer Diskussion bedarf. Die „praktischen Verwirklichungschancen“ der Rechtseinheit (S. 193-205, Zitat S. 201) beurteilte Thibaut zunehmend skeptisch. Zusammen mit Rotteck befürwortete er 1819 in der 1. Kammer der badischen Ständeversammlung einen Antrag „wegen Einleitung einer gemeinschaftlichen Bearbeitung der Grundlinien der Gesetzgebung und Gerichtsverfassung für die teutschen Bundesstaaten am Bundestage oder bei den einzelnen teutschen Regierungen“ (S. 203ff.). Aus dem Abschnitt über Thibauts Haltung zu einer kirchlichen Erneuerung (S. 205-220) ergibt sich, dass er kirchliche Reformen als eine „nationale Angelegenheit“ (S. 220) ansah (Befürwortung einer Kirchenunion zwischen Lutheranern und Calvinisten; Schaffung eines gesamtdeutschen Gesangbuchs und einer Liturgiereform mit Verbesserung des Kirchengesangs). Schließlich beschäftigt sich Kaufmann noch mit Thibauts Stellung zur Forderung nach landständischer Repräsentation (S. 221-234). Insgesamt setzte er sich für eine „liberale ständische Verfassung“ mit freiem Mandat ein (S. 222), lehnte jedoch eine ständische Gliederung der Landtage nicht generell ab. In einer abschließenden Beurteilung zu dem zweiten Hauptteil ihrer Untersuchungen stellt Kaufmann fest, dass die „deutsche Erneuerung“ einen langwierigen Prozess darstellte und er insoweit „zur unermüdlichen Geduld ermahnte“ (S. 235).

 

Im dritten, letzten Hauptabschnitt verfolgt Kaufmann Thibauts Initiativen und Beiträge in der 1. Kammer der badischen Ständeversammlung in der Session von 1819 und seine Einflussnahmen hinter der „Bühne des Landtags“ (S. 237-290). Ausführlich geht Kaufmann auf den Beitrag Thibauts zur Diskussion über eine „Grundentlastung“ ein, die durch eine Petition der 2. Kammer veranlasst war. Thibaut lehnte, anders als Rotteck, eine entschädigungslose Abschaffung u. a. der Fronberechtigungen aus Staatsmitteln ab und verteidigte vor allem die These einer privatrechtlichen Entstehung der Zehnten (S. 255ff.), gegen deren Fixierung bzw. Umwandlung in eine Geldabgabe er sich aussprach. Stattdessen war für ihn eine „vollständige Ablösung der Zehnten“ (S. 259ff.) vorzugswürdig. Im Übrigen setzte sich Thibaut gegen eine Beschränkung der Zulassung nicht-badischer Studenten in Heidelberg (S. 236ff.) und für die Suspendierung eines Adelsedikts vom 16. 4. 1819 ein (S. 268 ff.). 1820 legte er sein Landtagsmandat nieder, da er seine Vorlesungen vollständig anbieten wollte. Das Werk wird abgeschlossen mit einer Zusammenfassung, in der Kaufmann vor allem auf Thibauts Warnung vor „ungeduldiger Eilfertigkeit“ hinsichtlich der notwendigen Reformen hinweist (S. 296), und mit einem Personenregister.

 

Nicht behandelt hat Kaufmann im Interesse einer Schwerpunktsetzung Thibauts Kampf gegen die Aufhebung der akademischen Sondergerichtsbarkeit (1807), seine Anteilnahme an der Berufungspolitik und seine Ausführungen zur Pressefreiheit (S. 5 f.); über den Musiktheoretiker Thibaut hat bereits Rainer Polley gearbeitet. Die Darstellung Kaufmanns ergänzt und vervollständigt in willkommener Weise die rechtshistorischen Arbeiten über Thibaut, die sich primär mit dem Kodifikationsstreit befassen. Aus rechtshistorischer Sicht steht u. a. noch eine Arbeit über die rechtsdogmatischen Werke Thibauts insbesondere zum römischen Recht aus (hierzu bereits H. Kiefner, in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, rom. Abt., Bd. 77, 1960, S. 304ff.). Insgesamt hat Kaufmann mit ihrem Werk wichtige Lebens- und Arbeitsbereiche Thibauts erschlossen und damit die Grundlage für eine Gesamtbiografie Thibauts geschaffen.

 

Kiel

Werner Schubert