Russlandheimkehrer. Die sowjetischen Kriegsgefangenschaft im Gedächtnis der Deutschen, hg. v. Scherstjanoi, Elke (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Sondernummer). Oldenbourg, München 2012. VI, 264 S., zahlr. Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Während etwa eine Million deutscher Soldaten des Zweiten Weltkriegs die Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion nicht überlebte, kehrten bis 1956 weitere zwei Millionen der sogenannten „Plennis“ in ihre bis 1989/1990 geteilte Heimat zurück. Was sie vorwiegend „in ihren Köpfen und Herzen“ aus der Ferne mitbrachten, floss in die jeweiligen öffentlichen Gefangenschaftsdiskurse ein und speist „bis hinein in unsere Tage unser kommunikatives Gedächtnis von Kriegs- und Nachkriegszeit“ (S. 1). 2008 beschäftigte sich ein Kolloquium der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte und des Deutschen Historischen Museums unter dem Titel „Deutsche Kriegsgefangene in sowjetischen Lagern. Bilder - Sprache - Gedenken“ näher mit diesem Thema; überarbeitete Fassungen der dort präsentierten Referate, komplettiert durch ergänzende Studien, füllen den vorliegenden Sammelband mit insgesamt 13 Beiträgen.

 

Beim Aufschlagen des Buches fällt sofort die außergewöhnlich große Zahl an aussagekräftigen Schwarzweiß-Illustrationen ins Auge, welche die Texte begleiten: Fotografien, darunter auch einige der wenigen vorhandenen, sehr seltenen Originalaufnahmen aus der Lagerwelt, Skizzen, Karikaturen und Zeichnungen sowie Plakate. Sie sind materieller Ausdruck jenes weiten Bildbegriffes, der den inhaltlichen Zusammenhang herstellt: „Alle Beiträge gemeinsam präsentieren ein in der Summe buntes Spektrum historischer ‚Bild‘-Analysen. […] Bilder im hier angewandten Verständnis sind Konstrukte aus menschlich verarbeiteten Eindrücken aller Art: aus visuellen, akustischen, ‚an der eigenen Haut‘ erfahrenen Eindrücken ebenso wie aus vermitteltem (weitererzähltem, vorgezeigtem) Wissen, kurz: es geht um erfahrungsgesättigte Spiegelungen, die sinnstiftend, urteilsbildend und – das steht zu vermuten – handlungslenkend wirkten und wirken. […] Bilder respektive ihre Sprache sind in diesem Verständnis sowohl Ergebnis als auch Ausgangspunkt sozialen Handelns, das sich in einer konkreten Form öffentlichen Gedenkens äußern kann und dies auch tut, sofern und insoweit die politischen Konstellationen dies erlauben oder gar fördern“ (S. 2f.).

 

Die quantitative Gewichtung der eingebrachten Texte zwischen solchen, die auf die Situation in der Bundesrepublik (BRD), und jenen, die auf die Verhältnisse in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) abzielen, fällt unausgewogen zugunsten des westlichen Deutschland aus; nur gezählte zwei Beiträge beschäftigen sich mit der DDR. Aus dem mit den Marken 1945 und 1989/1990 abgesteckten Rahmen fällt zeitlich der Beitrag Philipp Stiasnys, der sich mit der Kriegsgefangenschaft in Film und Literatur der Weimarer Republik auseinandersetzt, räumlich und perspektivisch wiederum Elena Müllers Untersuchung der Darstellung deutscher Kriegsgefangener in russischen Spielfilmen. Elemente einer unmittelbaren Vergleichsperspektive enthalten die beiden Beiträge der Herausgeberin zu den Komplexen der Zeitzeugenbefragung und der Ärztinnen-Bilder im Erinnerungskanon deutscher Kriegsgefangener, sowie Günter Agdes Filmdokumentation, die mit „Der Arzt von Stalingrad“ (1958) und „Der Teufel spielt Balalaika“ (1961) bzw. „Meine Stunde Null“ (1970) und „Heimkehr in ein fremdes Land“ (3 Teile, 1976) jeweils zwei west- und zwei ostdeutsche Produktionen neben einigen sowjetischen Dokumentarstreifen anführt.

 

Leonore Krenzlin untersucht die Darstellung Kriegsgefangener in der DDR-Literatur, Ralf Schenk die Facetten, welche die Filme der in einer Monopolstellung agierenden ostdeutschen Produktionsgesellschaft DEFA im Hinblick auf den Krieg im Osten und das deutsch-russische Verhältnis offenbaren. In den ostdeutschen literarischen Darstellungen der Gefangenschaft wird ein „Figurentyp ausgebildet, der gleichnishaft verstanden werden kann: […] Der Zusammenbruch des Nazireiches wird für ihn zum Anlass, sein eigenes vergangenes Handeln in Zweifel zu ziehen und die Suche nach einer neuen Identität zu beginnen“. Das Bild des im Lagererlebnis antifaschistisch Geschulten wurde so zu „einem der Fundamente des östlichen Gesellschaftsentwurfs“ (S. 147f.). Unter den DEFA-Filmproduktionen erlangten vor allem Konrad Wolfs Arbeiten „Ich war neunzehn“ (1967/68) und „Mama, ich lebe!“ (1976) größere öffentliche Resonanz und - obwohl „einer großen politischen Linie, einer Nutzung der Historie zur Legitimierung der Gegenwart unter(geordnet)“ (S. 175) - auch das Lob bundesdeutscher Kritiker.

 

Die im Westen tonangebenden Narrative zeichnen sich durch eine andere Akzentuierung aus. Öffentliche Deutungshoheit erlangte vor allem der „Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands e. V.“ (VdH), dem Heike Amos in einer weiteren Sondernummer der Schriftenreihe („Vertriebenenverbände im Fadenkreuz. Aktivitäten der DDR-Staatssicherheit 1949 bis 1989“, 2011) nähere Aufmerksamkeit zuteil werden ließ und zu dessen „größten politischen Erfolgen […] die Durchsetzung des 1954 verabschiedeten Kriegsgefangenen-Entschädigungsgesetzes (zählte)“ (S. 55). Sowohl Birgit Schwelling als auch Andrea von Hegel beschäftigen sich mit den Identitätskonstruktionen und öffentlichen Aktivitäten des Verbands, wobei im Mittelpunkt, wie man 1962 betonte, „keine Abrechnung mit dem sowjetischen System und den russischen Menschen“, sondern das Öffnen der Augen „vor den Gefahren, die uns von totalitären Systemen drohen, egal in welchem Gewand sich die Diktaturen gebärden“ (S. 89), stehen sollte, ein am Höhepunkt des Kalten Krieges vor dem Hintergrund der bestehenden Konkurrenz der Systeme nicht unbedingt zu erwartendes, doch bemerkenswert ausgewogenes und reifes Statement. Richtig bemerkt auch Berthold Petzinna, der sich in seinen zwei Beiträgen sowohl mit Berichten als auch mit Buchillustrationen zur Kriegsgefangenschaft in der UdSSR befasst, dass „die in den Vordergrund tretende Totalitarismustheorie […] es […] ermöglichte, Nationalsozialismus und Stalinismus als Varianten eines politischen Typus zu schildern“ und dadurch „die Grundlage für eine beide Herrschaftsformen und ihre Lagersysteme umfassende Bildsprache (schuf)“. Das „so visualisierte Schicksal der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion (kam) einer Tendenz in der deutschen Gesellschaft der späten Kriegsjahre und frühen Nachkriegsjahre entgegen, sich in der Rolle des Opfers zu bespiegeln“ (S. 134). In weiteren Aufsätzen gehen Helmut Peitsch auf die bundesrepublikanische „unbefriedigende Literatur über die Gefangenschaft“, Peter Jahn auf westdeutsche Spielfilme zum Thema ein.

 

Ausgehend von ihrer Befragung (mit Masse ostdeutscher) Zeitzeugen vornehmlich in den Jahren 2005 bis 2008 sieht Elke Scherstjanoi nunmehr „Neues im Diskurs“: Im „alten westdeutschen Zeitzeugenangebot […] während der 1950er- und 60er-Jahre“ steckten „selbst hinter positiv gemeinten Anmerkungen zu den Russen noch immer abfällige, häufig rassistische Klischees“, heute artikuliere sich „mehr Akzeptanz des Fremden als auch einer Kultur“, die Opferrhetorik habe abgenommen. Es stelle sich das „Gegenbild zum altbundesdeutschen, öffentlich dominierten [gemeint ist wohl: dominierenden, W. A.] heute nicht als spezifisch ostdeutsches in Abgrenzung zu einem spezifisch westdeutschen Bild dar, sondern allgemein als ein kritisches, demokratisches, nicht antikommunistisches, eher russland- und fremdenfreundliches, kulturell offenes Gegenbild zu einem nationalkonservativen, fremdenfeindlichen, antikommunistischen Erinnerungskanon der Adenauerzeit“ (S. 34ff.). Jahrzehnte gelebter Demokratie im Westen und seit 1990 auch im Osten scheinen hier offensichtlich deutliche und erfreuliche Spuren hinterlassen zu haben. Angesichts der Tatsache, dass aus der „Erbmasse“ Hitlerdeutschlands auch die Republik Österreich 1955 als souveräner und demokratischer Staat wiedererstehen konnte und auch zahlreiche Österreicher als Wehrmachtsangehörige in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren, ist allerdings zu fragen, warum deren spezifischer Erinnerungskomplex nicht eigens hinterfragt und komparatistisch einbezogen wurde.

 

Rechtsgeschichtliche Materien spielen in dem auf Findmittel verzichtenden, innovative Einsichten in die Mentalität der deutschen Nachkriegsgesellschaften in Ost und West eröffnenden Sammelband, unter dessen Beiträgern ausweislich des Autorenverzeichnisses kein Jurist namhaft zu machen ist, praktisch keine Rolle. Erfolg versprechende Fragestellungen in diese Richtung sind indes durchaus denkbar, beispielsweise Aussagen darüber, ob und in welcher Weise die in den beiden deutschen Staaten unterschiedlichen Erinnerungs-„Bilder“ nachweislich Wirkungsmacht in Bezug auf normative Akte - etwa hinsichtlich der Regelung der Versorgungsansprüche der Heimkehrer - entfalten konnten und wie sich diese im Vergleich darstellt.

 

Kapfenberg                                                                            Werner Augustinovic