Paye, Claudie, „Der französischen Sprache mächtig“. Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen (1807-1813) (= Pariser Historische Studien100). Oldenbourg, München 2013. 599 S., Ill. Besprochen von Werner Schubert.

 

Das vorliegende Werk – eine unter Rainer Hudemann (Universität Saarbrücken) und Etienne François (Berlin) entstandene Dissertation befasst sich erstmals in umfassender Weise mit der Sprachenpolitik des Königreichs Westphalen und deren Praxis. Das Werk versteht sich als eine kultur- und sozialgeschichtliche Untersuchung unter Berücksichtigung alltagsgeschichtlicher Aspekte und der politischen Dimension der Thematik (S. 29, 39, 53). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die sozialhistorische Behandlung von Sprachenfragen in Verbindung mit der Kommunikations- und Mediengeschichte noch ein relativ junges Forschungsgebiet darstellt (S. 29ff.). In Teil A ihres Werkes untersucht Paye die offizielle Sprach- und Schulpolitik und in Teil B die Sprach- und die Kommunikationspraxis, die beide den umfangreicheren Teil der Arbeit ausmachen (S. 49-350), während sie in Teil C (S. 353-499) das „Sprachbewusstsein der Westphalen im Allgemeinen, die Reflexionen der Zeitgenossen über die Sprachen und das Verhältnis der Sprachen zueinander“ behandelt (S. 353). Zwei nicht in der Druckfassung der Dissertation enthaltene Kapitel über das „westphälische Postwesen, die Briefkultur und den Stellenwert der Soldatenbriefe in der westphälischen Gesellschaft“ sowie über das „Medium ‚Gerücht’“ (S. 15) sind als open-access-Veröffentlichung zugänglich. Nach einem nicht veröffentlichten Dekret des Königs Jérôme Bonaparte sollte die französische Sprache benutzt werden in den „conseils d’Etat et privé, à la trésorerie, dans les bureaux des quatre ministères et dans ceux des conseillers d’Etat chargés de la Direction de quelques parties de l’administration publique“ (S. 62), während die deutsche Sprache – anders als in den vier linksrheinischen Departements – in den Gerichtsverhandlungen und den Notariatsurkunden verwandt werden sollte. Die Korrespondenz der Präfekten mit der Kasseler Zentrale hatte auf Französisch zu erfolgen (S. 67). Insgesamt war die westphälische Sprachenpolitik „sehr gemäßigt“: „Offiziell war die französische Sprache die erste Sprache im Land. Bei Differenzen in der Auslegung des auf Französisch und Deutsch vorhandenen Gesetzestextes sollte der französischen Version der Vorzug gegeben werden“ (S. 510). Praktisch sei eine Art „Kolinguismus“ praktiziert worden (S. 510). Neben „Religionstoleranz“ galt in Westphalen damit auch „Sprachtoleranz“, wobei für das Französische eine „latente Sprachdominanz“ bestand (S. 512). Im Übrigen war die Sprachenfrage „weniger ein sprachliches als ein kulturelles Verständigungsproblem mit anderen Gruppen der Gesellschaft“. Hinter dem Sprachkonflikt hätten sich „meist kulturelle, soziale und politische“, „selten aber nationale“ Motive verborgen (S. 515). Mit Recht weist Paye darauf hin, dass die überlieferten Aussagen der Zeitgenossen „strenge Quellenkritik“ erfordern (S. 486). Hinzuweisen ist auch darauf, dass Jérôme seine Zusage, die deutsche Sprache innerhalb von drei Jahren zu erlernen, nicht eingehalten hat (S. 421ff.) und dass höhere Verwaltungsbeamte und Minister, soweit sie aus Frankreich kamen, ebenfalls die deutsche Sprache nicht beherrschten, so dass die erwünschte Zweisprachigkeit in den höheren Ämtern nicht immer gegeben war. Auch hielten die deutschen Minister (insbesondere der Finanzminister Bülow und der Innenminister Wolffradt) die offizielle Sprachregelung „administration“ nicht immer ein (S. 455ff.).

 

Die Untersuchungen von Paye – auf den sozialhistorischen Ertrag ihres Werks soll im Einzelnen hier nicht eingegangen werden – sind auch für den Rechtshistoriker von großem Interesse, da sich die Rechtsgeschichte des Königreichs nur voll erfassen lässt, wenn man die weitgehend praktizierte Zweisprachigkeit berücksichtigt. Das Bulletin des Lois und der Moniteur, der die amtlichen Nachrichten enthielt, erschienen zweisprachig, so auch der Code de Napoléon, dessen Übersetzung im Wesentlichen von Burghard Pfeiffer stammt und im Gegensatz zu den anderen zeitgenössischen Übersetzungen des C. N. nur wenige Mängel aufwies (vgl. S. 112ff., 354f.; vgl. auch W. Schubert, in: E. Eckert/H. Hattenhauer, Sprache – Recht – Geschichte, Heidelberg 1991: Die ersten deutschen Übersetzungen des Code civil/Code Napoléon (1804-1814), S. 133ff.). Nicht unerhebliche „Übersetzungspannen“ finden sich u. a. im „Westphälischen Moniteur“ (S. 148ff.), die für die westphälischen „staatskritischen Staatsbürger“ ein „staatskritisches Potential“ darstellten (S. 152). Die mündlichen und schriftlichen Übersetzungsprozesse werden erläutert für die Generaldirektion der Hohen Polizei, die Polizeipräfektur zu Kassel, das Justizministerium und die Gerichtsbarkeit, die Gefängnisse sowie für das Staatssekretariat des Ministeriums des Äußeren (S. 137ff.). Die Bedeutung des aus Frankreich stammenden Justizministers Joseph Jérôme Siméon hätte vielleicht noch breiter dargestellt werden sollen (vgl. S. 143f., 405ff.). Im Abschnitt über die Sprach- und Kommunikationspraktiken geht Paye auch ein auf die „französisierten Bittschriften und professionellen Bittschriften in französischer Sprache“ (S. 228ff.), die Karikaturen und die Verwendung der königlich-westphälischen Wappen „zwischen Aneignung und Angriff“ (S. 335ff.). Über die umfangreiche Rechtsliteratur – oft in Anlehnung an französische Vorbilder – hätte man gerne noch mehr gelesen (vgl. S. 113f.). Das Werk wird abgeschlossen mit drei Registern (Personen-, Orts- und Sachregister), die den reichhaltigen Inhalt der Untersuchungen Payes umfassend erschließen (S. 585-599). Insgesamt bringt Paye in ihrem bemerkenswerten Werk zahlreiche wichtige Details zur Inkulturation des französischen Rechts und deren Praxis sowie der französischen Verwaltungsgrundsätze im Königreich Westphalen, die bei weiteren rechtshistorischen Arbeiten über das Königreich Westphalen nicht unberücksichtigt bleiben sollten.

 

Kiel

Werner Schubert