Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 4 Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945-1953. Kohlhammer, Stuttgart 2012. 234 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Nach einer Pause von 20 Jahren liegt ein weiterer Band zur Geschichte der Armenfürsorge vor (zuletzt Bd. 3: „Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus“), der die Zeit vom Beginn der Besatzungszeit bis zum Abschluss des Wiederaufbaus der Fürsorge und der Wohlfahrtspflege im Jahre 1953 behandelt, eine Materie, auf die das Werk „Sozialpolitik in Deutschland nach 1945“ (Bände 2 und 3) weniger umfassend und teilweise nur am Rande eingeht. Nach einem Überblick über die Ausgangslage („Deutschland in Trümmern“), die gekennzeichnet war durch massive Notstände (Wohnungsnot, Mangel an Lebensmitteln, gesundheitliche Schäden) und neue Gruppen von Bedürftigen (Heimatvertriebene, Währungsgeschädigte, Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone), behandeln Sachße und Tennstedt zunächst die Fundamente des „Wiederaufschwungs“ (Weststaat und Wirtschaftsaufschwung). Die Darstellung bezieht sich primär, aber keineswegs ausschließlich auf die Entwicklung in der amerikanischen Zone und insbesondere auf das neugegründete Land Hessen. Lokale Probleme werden anhand der Entwicklung in den stark zerstörten Städten Kassel und Frankfurt am Main erörtert. Für die neuen Gruppen der Bedürftigen, die zunächst der allgemeinen Fürsorge unterfielen, wurden eigene Sicherungssysteme geschaffen (u.a. Soforthilfe, Lastenausgleich), so dass die kommunale Fürsorge bald ihr früheres „Normalmaß“ erlangte (S. 180). Die Institution der deutschen Sozialversicherung wurde vollständig wiederhergestellt und das Modell einer Einheitsversicherung (hierzu bereits die Pläne der Deutschen Arbeitsfront zu einem Versorgungswerk des Deutschen Volkes; vgl. W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht, Bd. X, 2000, S. 513ff.) zurückgewiesen.

 

Im Abschnitt über die Reform der öffentlichen Fürsorge geht es um deren „Recht und Organisation“ (S. 70ff.). Mit nur geringen Änderungen galten die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht von 1924 und die dazu ergangenen Reichsgrundsätze zunächst weiter; sie wurden durch das Fürsorgeänderungsgesetz vom 20. 8. 1953 novelliert. Als Anknüpfungspunkt für die Fürsorgeleistung setzte sich Anfang der 1950er Jahre der „tatsächliche Aufenthalt“ des Fürsorgeberechtigten durch, dessen subjektives Recht auf Fürsorgeleistungen mit einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von 1954 allgemein anerkannt war (S. 78). Mit der Einschränkung der Rückerstattungspflicht wurde der Fürsorgeempfänger entlastet; die Problematik der Anrechnung von Renten und sonstigen Leistungen der Sozialversicherung wurde mit der Anerkennung eines Mehrbedarfs (Orientierung an der Lebenslage) gelöst (S. 81ff.). Die „Richtsätze“ wurden 1955 auf der Basis des „Warenkorbs“ vereinheitlicht (S. 90). – Die Organisationen der freien Wohlfahrtspflege hatten teils, wenn auch behindert, überlebt (Caritas, Innere Mission), teils wurden sie wie die Arbeiterwohlfahrt (AWO) als selbständige, der SPD nahestehender Verband, neu begründet. Letzteres gilt auch für das Deutsche Rote Kreuz als Wohlfahrtsverband. Neu eröffnet wurde der „Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband“ (S. 106f.). Die 1948 begründete (Bundes-)Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ging auf die 1924 entstandene Deutsche Liga der Freien Wohlfahrtspflege zurück. Der 1880 gebildete, 1946 wieder aktivierte „Verein für öffentliche und private Fürsorge“ wurde von deren früheren und neuen Vorsitzenden und Geschäftsführer Wilhelm Polligkeit wieder aufgebaut. Der Verein beeinflusste unter Polligkeit und unter dessen Nachfolger Hans Muthesius nicht nur den Aufbau der Fürsorge- und Wohlfahrtspflege in den Westzonen, sondern auch die Neugestaltung des Fürsorgerechts. Die weiteren Abschnitte des Werks befassen sich mit der Jugendfürsorge und dem Jugendrecht (Novellierung des Jugendwohlfahtsgesetzes im Wesentlichen nach den Vorschlägen des DV durch ein Gesetz vom 28. 8. 1953; S. 142ff.), mit dem öffentlichen Gesundheitswesen (Beibehaltung des 1934 durch das Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens begründeten öffentlichen Gesundheitsdienstes, wenn auch auf kommunaler Grundlage; S. 156ff.) und mit der Ausbildung an den Wohlfahrtsschulen und der Methodik der Sozialarbeit, die seit 1933 von der internationalen Entwicklung abgeschnitten waren. Das Werk wird abgeschlossen mit den separat gedruckten, zum Teil umfangreichen Anmerkungen und einem sehr nützlichen Personenregister.

 

Die Entscheidung von Sachße und Tennstedt, den Wiederaufbau der Fürsorge zwischen 1945 und 1953 getrennt von den weiteren Entwicklungen darzustellen, hat den Vorzug, dass sich die eigenständigen Entwicklungen der Zeit „vor dem Wohlfahrtsstaat“ (S. 9) klar herausarbeiten ließen. Die faszinierend zu lesende Darstellung erschließt einen Lebensbereich, und zwar immer unter Einbeziehung der rechtlichen Grundlagen, der auch für die deutsche Rechtsgeschichte der Nachkriegszeit von großer Wichtigkeit ist. Es ist zu wünschen, dass die Darstellung fortgeführt wird mit einer umfassenden Überblicksdarstellung für die Zeit von 1954 bis zu den großen Reformen der 1970er Jahre.

 

Kiel

Werner Schubert