Kernforschung in Österreich. Wandlungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes 1900-1978, hg. v. Fengler, Silke/Sachse, Carola (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 1). Böhlau, Wien2012.411 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Mit Hilfe seines im Grunde immer regeren Verstands ist es dem Menschen in seiner Gesamtheit gelungen, sowohl in die Weite der die Erde umgebenden Welt wie auch in das Innere ihrer Bestandteile vorzudringen. Als geschichtlicher Beginn der modernen Kernforschung gelten dabei die Versuche Antoine Henri Becquerels, Pierre Curies und Marie Curies, für die sie 1903 den Nobelpreis für Physik erhielten. Otto Hahn und Lise Meitner erkannten 1938, dass Urankerne durch Bestrahlung mit Neutronen gespalten werden, woraus sich nach späterer Einsicht eigentlich unbegrenzt (aber mit gewissen Gefahren) Energie gewinnen lässt.

 

In Verfolgung dieser Möglichkeit begann Österreich nach einem Beschluss der Bundesregierung vom 22. März 1971 am 4. April 1972 mit dem Bau eines Siedewasserreaktors mit einer Nettoleistung von 692 Megawatt in Zwentendorf an der Donau in Niederösterreich. Am 5. November 1978 lehnte die Bevölkerung in einer Volksabstimmung bei einer Beteiligung mit 64,1 Prozent mit der Mehrheit von 50,47 Prozent die Inbetriebnahme des fertiggestellten Kernkraftwerks ab. Damit entstand die größte Investitionsruine Österreich mit grundlegenden Folgen für Wirtschaft und Forschung.

 

Vor und nach diesem dramatischen Vorgang gab es Kernforschung in Österreich. Der vorliegende, aus dem seit Juli 2007 vom österreichischen Wissenschaftsfonds geförderten Forschungsprojekt Österreichische Kernforschung im Spannungsfeld von internationaler Kooperation und Konkurrenz hervorgegangene, von den beiden an der Universität Wien tätigen Historikerinnen herausgegebene, mit einer bündelnden Einführung versehene Sammelband vereinigt dankenswerterweise zwölf Einzelstudien über Kernforschung im politischen und sozialen Kontext von der Monarchie bis zur zweiten Republik, Forscherpersönlichkeiten (Carl Freiherr Auer von Welsbach, Marietta Blau, Erich Schmid) und ihre Netzwerke sowie Denkstile und Praktiken. Sie beginnen mit der frühen österreichischen Radioaktivitätsforschung und enden mit dem Anschluss Österreichs im Atomzeitalter an die Ökonomie der Radioisotope und zeichnen auf diese ereignisreichen Wege ein vielfältiges Bild einer Forschungsthematik von grundlegender Bedeutung für Vergangenheit, Gegenwart und wohl auch Zukunft, das durch ein Personenregister vorteilhaft aufgeschlossen wird.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler