MacGregor, Neil, Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. Beck, München 2011. 816 S., 159 Abb., 4 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Seit 1753 versammelt das British Museum in London Objekte aus allen Winkeln der Erde; 2010 wurden 100 davon ausgewählt und im Rahmen eines Hörfunkprojekts über BBC Radio 4 vorgestellt, verbunden mit der Möglichkeit für die Zuhörer, Bilder des Beschriebenen bei Bedarf über eine Website abzurufen. Die wöchentlich mit fünf Beiträgen aufwartende Sendung wurde ein großer Erfolg, der  in Form des vorliegenden, nun ins Deutsche übersetzten Bandes eine dauerhafte Materialisierung erfahren soll.

 

Es ist insbesondere das Anliegen seines Herausgebers, Neil MacGregor, 1946 in Glasgow geborener Kunsthistoriker und einst Musterschüler des (später als Meisterspion für die Sowjetunion enttarnten) Anthony Blunt, 15 Jahre Direktor der National Gallery und seit 2002 Leiter des British Museum, Geschichte zu erzählen, „die nicht einen bestimmten Teil der Menschheit über Gebühr privilegiert, […] denn nur ein Teil der Welt kannte Texte, während der Großteil der Welt die meiste Zeit über ‚schriftlos‘ war“. Artefakte aller Art böten daher eine gute Möglichkeit, diese Asymmetrie auszugleichen, fehlende Zugänge zu öffnen und über klug herangetragene Fragen und Intuition neues Wissen (oder zumindest neue Perspektiven) zu generieren. Dabei liefere die Biographie der Dinge, also ihr Weg durch Raum und Zeit, zusätzliche Erkenntnisse: „Sie berichten von ganzen Gesellschaften und komplexen Prozessen, weniger von einzelnen Ereignissen, und sie erzählen von der Welt, für die sie angefertigt wurden, ebenso wie von späteren Zeiten, in denen sie verändert oder an andere Orte gebracht wurden und mitunter Bedeutungen entwickelten, die ihre ursprünglichen Produzenten keineswegs im Sinn hatten.“ (S. 13f.)

 

Tatsächlich ist die Bandbreite des so Vorgestellten groß: Aus den verschiedensten Materialien gefertigt, reicht sie, chronologisch betrachtet, vom zwei Millionen Jahre alten Chopping Tool (Obj. 2) aus der Wiege der Menschheit, der tansanischen Olduvai-Schlucht im ostafrikanischen Grabenbruch, bis zur 2010 in China produzierten Solarlampe (Obj. 100), umfasst Müll in Form achtlos weggeworfener Keramikbruchstücke (Obj. 60) ebenso wie viele kulturhistorische Pretiosen von einzigartigem Rang. Insgesamt 20 Blöcke periodisieren die Geschichte der Menschheit an Hand von jeweils fünf Objekten folgendermaßen: Wie wir Menschen wurden (2000000-9000 v. Chr.); Nach der Eiszeit: Nahrung und Sex (9000-3500 v. Chr.); Die ersten Städte und Staaten (4000-2000 v. Chr.); Die Anfänge von Wissenschaft und Literatur (2000-700 v. Chr.); Alte Welt, neue Mächte (1100-300 v. Chr.); Die Welt in konfuzianischer Zeit (500-300 v. Chr.); Reichsgründer (300 v. Chr.-10 n. Chr.); Antike Freuden, modernes Gewürz (1-500); Der Aufstieg der Weltreligionen (100-600); Die Seidenstraße und darüber hinaus (400-800); Im Innern des Palastes: Geheimnisse bei Hof (700-900); Pilger, Räuber und Händler (800-1300); Statussymbole (1100-1500); Begegnung mit den Göttern (1200-1500); An der Schwelle zur modernen Welt (1375-1550); Die erste Weltwirtschaft (1450-1650); Toleranz und Intoleranz (1550-1700); Entdeckung, Ausbeutung und Aufklärung (1680-1820); Massenproduktion, Massenverführung (1780-1914); Die Welt, die wir geschaffen haben (1914-2010).

 

In eine Reihe mit wissenschaftlichen Weltgeschichten moderner Prägung gestellt, fällt auf, dass jene - allen voran Jürgen Osterhammels „Entdeckung der Welt“, die im Übrigen beim doppelten Seitenumfang völlig ohne Bildmaterial auskommt – ihren Fokus in aller Regel auf einen Zeitraum von ein bis zwei Jahrhunderten beschränken; MacGregors Werk mit seinem die gesamte Menschheitsentwicklung anpeilenden Rahmen teilt zwar deren geographisch globalen Ansatz, kann aber mit diesen Studien weder in der Methodik noch in der Analyseschärfe seriös verglichen werden. Darin sollte man allerdings keinen Mangel erblicken, denn gerade die unkonventionelle, oft intuitive, vom Handwerk des Kunsthistorikers geprägte Herangehensweise über Artefakte eröffnet eine Reihe ungewöhnlicher Einsichten und oft bis in die unmittelbare Gegenwart gesponnener Bezüge, die sich mit den Forschungsansätzen der allgemeinen Historie allein so wohl kaum hätten erschließen lassen. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass auch Gastbeiträge ausländischer Experten in die Begleittexte einfließen.

 

Ausdrücklich hervorzuheben ist die hochwertige wie liebevolle Ausstattung dieses Buches, die es auch zu einem idealen Geschenk macht. Wer den Band in Händen hält, wird zunächst über dessen unverhältnismäßig hohes, von der Qualität des verwendeten Papiers herrührendes Gewicht erstaunt sein. Beim Aufschlagen wird man sodann von den großformatigen, farbigen Abbildungen der Objekte in den Bann gezogen und erhält eine erste Ahnung davon, was der Herausgeber meint, wenn er von der „notwendigen Poesie der Dinge“ (S. 14) spricht, die dann befruchtend in die Texte einfließt, deren am historischen Aussagegehalt ausgerichtete, explizit egalitäre Programmatik bewusst über die engen Grenzen ästhetischer Kategorien hinausweist. Vom Faustkeil (Obj. 3) weiß das Buch so zu berichten: „Vor 1,2 Millionen Jahren konnten wir also Werkzeuge wie unseren Faustkeil produzieren, mit deren Hilfe wir unsere Umwelt kontrollierten und veränderten – der Faustkeil verschaffte uns besseres Essen und versetzte uns in die Lage, Tieren für Kleidungszwecke die Haut abzuziehen oder Zweige abzuschneiden, um damit Feuer zu machen oder eine Hütte zu bauen. Mehr noch: […] Der Faustkeil sollte uns auf eine lange Reise begleiten, denn dank all dieser Fertigkeiten waren wir nicht mehr an unsere unmittelbare Umgebung gebunden. […] Reisen wurde möglich, und wir konnten die heißen Savannen Afrikas hinter uns lassen und in kälteren Gefilden überleben oder vielleicht sogar aufblühen. Der Faustkeil wurde zu unserem Ticket für den Rest der Welt“ (S. 48f.). Den Reisenden unserer Tage begleitet kein Faustkeil mehr, wohl aber die Kreditkarte aus Plastik (Obj. 99), „ultimative(s) Symbol ökonomischer Freiheit […] oder […] einer triumphierenden anglo-amerikanischen Konsumgesellschaft“ (S. 739) und modernste Erscheinungsform des Geldes, wie es sich von den Goldmünzen des Krösus von Lydien (Obj. 25) über die Banknoten des ersten Ming-Kaisers (Obj. 72) und die erste Weltwährung, die spanischen Acht-Reales-Silbermünzen (Obj. 80), trefflich dokumentieren lässt.

 

Überreich gestaltet ist auch der Anhang; er enthält unter anderem vier doppelseitige Weltkarten – je eine für 25 Gegenstände – mit Angaben zum jeweiligen Fund- oder Herstellungsort und eine Liste der Objekte mit ihren genauen Maßen und den Inventarnummern. Neben einem Personen- und einem Ortsregister lässt ein vorbildlich angelegtes, detailliertes Sachregister in puncto Orientierung keinerlei Wünsche offen.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic