Der frühmittelalterliche Staat - europäische Perspektiven, hg. v. Pohl, Walter/Wieser, Veronika (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse , Denkschriften, Band 386 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16). Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2009. X, 616 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Walter Pohl, *!953 in Wien, 1984 bei Herwig Wolfram über die Awaren promoviert, 1989 für Geschichte des Mittelalters und 2001 für historische Hilfswissenschaften habilitiert und durch wichtige Arbeiten über die Germanen und über die Völkerwanderung ausgewiesen, ist seit 2004 Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der österreichischen Akademie der Wissenschaften. Veronika Wieser studierte seit 1996 Theaterwissenschaft, Politikwissenschaft, Geschichtsforschung, historische Hilfswissenschaften und Archivwissenschaft, schloss mit Catherine Feik 2006 eine Diplomarbeit bei Andrea Griesebner über Handlungsspielräume katholischer Eheleute im 18. Jahrhundert ab und promoviert seitdem unter der Betreuung Walter Pohls über Zeit und Apokalypse - Die Konsolidierung sozial-politischer Räume im Frühmittelalter. Gemeinsam vertreten die beiden Herausgeber im kurzen Vorwort des vorliegenden Bandes die von Walter Pohl schon 2006 in einem Sammelband über „Staat im frühen Mittelalter“ begründete Ansicht, dass der mittelalterliche Staat eines der Forschungsgebiete ist, in dem die europäische Mittelalterforschung noch kaum eine gemeinsame Linie gefunden hat.

 

Deswegen hat die in Wien im September 2007 mit Hilfe der vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und dem an Walter Pohl verliehenen Wittgensteinpreis durchgeführte internationale Tagung „Staat und Staatlichkeit im Früh- und Hochmittelalter“ in diesem schwierigen Forschungsfeld das Gespräch zwischen unterschiedlichen Ansätzen gesucht. Der vorliegende Band legt die Ergebnisse dar, bewusst nicht als Synthese, sondern als strukturierten Überblick über die von den Mitwirkenden gewählten Fragestellungen. Auf diese Weise vermittelt er eine bisher in dieser Form nicht verfügbare Übersicht über sehr unterschiedliche europäische Perspektiven der Staatsentwicklung im Frühmittelalter - jedenfalls insofern, als es zielführend ist, von einem Staat im Frühmittelalter zu sprechen.

 

Insgesamt werden auf diese Weise in fast 40 Referaten die Vorstellungen führender europäischer Historiker zu Einzelaspekten des Gesamtthemas sichtbar. Gegliedert ist das großformatige, mit Abbildungen ausgestattete Werk in exemplarische Längsschnitte im Sinne von Voraussetzungen und Entwicklungen (Römische Traditionen und ihre Veränderungen 500-700, Karolingerzeit 700-900, Neuanfang oder Kontinuität 850-1050) und Grundlagen, Grenzen und Probleme der Staatlichkeit (Träger, Ressourcen und Organisation, Legitimierung und symbolische Fundierung, zeitgenössische Vorstellungen und Konzepte, Grenzen und Widerstände). Am Ende des mit einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis (leider unter verwirrender Voranstellung der Vornamen vor den die Ordnung bestimmenden Familiennamen) sowie einem Register (der Namen) versehenen, vom Recht weitgehend absehenden Bandes versucht Hans-Werner Goetz in Zusammenfassung und Ausblick eine resümierende Bilanz, nach der das Frühmittelalter von einem ihm völlig angemessenen Staats- und Herrschaftswesen geprägt war, das man aber weder an modernen Vorstellungen noch an dem - dynastisch eher zufällig entstandenen - Reich Karls des Großen messen dürfe.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler