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|0007 : [I]|

Syſtem

des

heutigen Römiſchen Rechts

von

Friedrich Carl von Savigny.

Achter Band.

Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.

 Berlin.

Bei Veit und Comp.

1849.

 

|0008 : [II]|

|0009 : [III]|

Vorrede.

Der hier vorliegende achte Band erhält durch

ſeinen Inhalt eine eigenthümliche Beſchaffenheit, ſehr

verſchieden von allen früheren Bänden. Zunächſt

erſcheint darin der ſichtbare Einfluß des Römiſchen

Rechts weit geringer, als in den früher abgehan-

delten Lehren. Ferner iſt die hier dargeſtellte Lehre,

verglichen mit anderen, als erſt im Werden begriffen,

als unfertig, aufzufaſſen. Und zwar iſt dieſe Be-

hauptung nicht etwa zu verſtehen als ein ſubjectives

Bekenntniß des Schriftſtellers, der ſeine perſönlichen

Kräfte für unzureichend hält zur Bewältigung der

Schwierigkeit des Stoffes; ſie iſt vielmehr geſchöpft

aus der Betrachtung der eigenthümlichen Natur des

 

|0010 : IV|

Vorrede.

Gegenſtandes ſelbſt, worüber nunmehr genauere

Rechenſchaft gegeben werden ſoll.

In dieſer Lehre, und beſonders in der erſten

Hälfte derſelben (Kap. I.), gehen bis jetzt die

Meinungen der Schriftſteller, ſo wie die Urtheile

der Gerichte, ziemlich wild durch einander; Deutſche,

Franzoſen, Engländer und Amerikaner, ſtehen ſich

oft ſehr ſchroff gegenüber. Alle aber vereinigen ſich

in einem gemeinſamen lebhaften Intereſſe an den

hier einſchlagenden Fragen, in dem Beſtreben nach

Annäherung, Ausgleichung, Verſtändigung, ſo wie

es ſich in keiner anderen Rechtslehre findet. Man

kann ſagen, daß dieſe Lehre bereits ein Gemeingut

der gebildeten Nationen geworden iſt, nicht durch

einen ſchon erworbenen Beſitz feſter, allgemein aner-

kannter Grundſätze, wohl aber durch die Gemein-

ſchaft wiſſenſchaftlicher Unterſuchung, die zu einem

ſolchen Beſitz hinſtrebt. Ein anſchauliches Bild

dieſes unfertigen, aber hoffnungsreichen Zuſtandes

gewährt das treffliche Werk von Story, das zu-

gleich als reiche Materialienſammlung jedem Forſcher

in hohem Grade förderlich wird.

 

Es iſt aber nicht blos die Ausſicht auf Ent-

wicklung und Ausbau der juriſtiſchen Theorie, die

 

|0011 : V|

Vorrede.

uns in dieſer Lehre ſo anziehend und anregend er-

ſcheint, ſondern eben ſo, und noch mehr, die groß-

artige Ausſicht auf eine in das Allgemeine gehende

praktiſche Gemeinſchaft des Rechtsbewußtſeyns und

des Rechtslebens.

Betrachten wir noch insbeſondere die Stellung

dieſer Lehre zu den Beſtrebungen und Parteien der

neueſten Zeit.

 

Der nicht ſelten feindliche Gegenſatz zwiſchen

Germaniſten und Romaniſten kommt in dieſer Lehre

weniger, als anderwärts, in Betracht. In den

wichtigſten Fragen ſind die deutſchen Rechtslehrer

meiſt zu einer großen Einſtimmung gekommen, unge-

ſtört durch jenen, in anderen Lehren oft zum Nach-

theil der Wiſſenſchaft hervor tretenden, Gegenſatz.

Das Römiſche Recht erſcheint vergleichungsweiſe

weniger, als anderwärts, einwirkend durch unmittel-

bare poſitive Vorſchriften. Die genaueſte Kenntniß

deſſelben aber wird hier vorzüglich dadurch wichtig,

daß die Meinungen der Schriftſteller und der Ge-

richte großentheils durch wahre oder falſche Auf-

faſſung Römiſcher Begriffe und Regeln beſtimmt

worden ſind, oft ohne deutliches Bewußtſeyn derer,

die in der That ganz unter dieſem Einfluß ſtanden.

 

|0012 : VI|

Vorrede.

Wenn ferner ein abſchließendes Hervorheben

der Nationalität zu den vorherrſchenden Richtungen

neueſter Zeit gehört, ſo kann ſich gerade dieſe Rich-

tung in einer Lehre nicht geltend machen, die ihrer

Natur nach darauf ausgehen muß, die nationalen

Gegenſätze in einer anerkannten Gemeinſchaft der

verſchiedenen Nationen aufzulöſen.

 

So finden wir alſo hier von der einen Seite

die großartigſten Ausſichten in die Zukunft, von

der anderen Seite die Unmöglichkeit, die vorlie-

gende Aufgabe ſchon jetzt zu einem völligen Ab-

ſchluß zu führen, ſelbſt unabhängig von der per-

ſönlichen Fähigkeit des einzelnen Arbeiters. Jeder,

der ſich in ſolcher Stellung befindet, kann aus

dieſer Betrachtung eben ſo viel Muth, als Be-

ſcheidenheit ſchöpfen. Er muß es ſich zur Ehre

rechnen, wenn es ihm gelingt, den fortgehenden

geiſtigen Prozeß durch Zurückführung dieſer Lehre

auf eigentliche Grundſätze weiter fördern zu helfen,

ſelbſt wenn ſein Verſuch, bei fernerer Entwicklung,

nur noch als einzelner, vorbereitender Schritt im

Andenken bleiben ſollte.

 

Einen beſonderen Mangel in den bisherigen

Arbeiten glaubte der Verfaſſer dieſes Werks darin

 

|0013 : VII|

Vorrede.

zu finden, daß man ſtets die beiden Stücke,

die in dem vorliegenden Werke verbunden er-

ſcheinen, die örtlichen und die zeitlichen Gränzen

der Herrſchaft der Rechtsregeln, einzeln und abge-

ſondert behandelt hat. Er glaubte dieſem Mangel

dadurch abhelfen zu müſſen, daß er beide Stücke

in Verbindung brachte, nicht blos indem er ſie

äußerlich neben einander ſtellte, welches allein nicht

ausreicht, auch ſchon häufig in der kurzen Dar-

ſtellung der Lehrbücher ohne merklichen Erfolg ver-

ſucht worden iſt, ſondern indem er den inneren

Zuſammenhang der für beide Stücke geltenden

Grundſätze zu erforſchen und darzuſtellen ſuchte.

Mit dem gegenwärtigen Bande iſt der allge-

meine Theil des Syſtems, deſſen Bedeutung gleich

Anfangs dargelegt wurde (I. § 58), zu Ende ge-

führt. Die dem erſten Band vorangeſetzte Ueber-

ſicht des ganzen Werks ließ erwarten, daß unmittel-

bar auf die drei erſten Bücher, welche dieſen

allgemeinen Theil in ſich ſchließen, in einer fort-

aufenden Reihe von Bänden der beſondere Theil

 

|0014 : VIII|

Vorrede.

folgen würde, welchem vorläufig folgende Ueber-

ſchriften gegeben waren:

Viertes Buch. Sachenrecht.

Fünftes Buch. Obligationenrecht.

Sechstes Buch. Familienrecht.

Siebentes Buch. Erbrecht.

Eine durch zufällige Umſtände herbeigeführte,

längere Unterbrechung hat indeſſen die Vollendung

des Ganzen noch unwahrſcheinlicher gemacht, als ſie

vielleicht gleich Anfangs angenommen werden konnte,

und durch dieſe Betrachtung bin ich zu folgender

Veränderung in der äußerlichen Einrichtung des

Werks geführt worden, die alſo durchaus nicht aus

der Annahme einer veränderten Ueberzeugung über

die Zweckmäßigkeit des weſentlichen Planes deſſelben

erklärt werden darf.

 

Ich betrachte nunmehr die jetzt vorliegenden

acht Bände als ein für ſich beſtehendes abgeſchloſſenes

Werk, ſo daß der Titel jedes Bandes in Gedanken

zu ergänzen iſt durch die hinzugefügten Worte:

Allgemeiner Theil.

 

Der beſondere Theil des Syſtems ſoll nunmehr

nicht als Fortſetzung des allgemeinen, durch fort-

laufende Bändezahl, bezeichnet, ſondern vielmehr

 

|0015 : IX|

Vorrede.

in abgeſonderten Werken dargeſtellt werden, unter

welchen zunächſt das Obligationenrecht (nicht nach

der früheren Abſicht das Sachenrecht) an die Reihe

kommen ſoll. Dieſe abgeſonderten Werke werden

alſo äußerlich als Monographieen erſcheinen, in der

That aber nicht den weſentlichen Charakter von

ſolchen an ſich tragen (I. S. xxxix), ſondern

vielmehr gerade ſo beſchaffen ſeyn, wie wenn die

gegenwärtig angekündigte Veränderung des urſprüng-

lichen Planes nicht eingetreten wäre.

Geſchrieben im Julius 1849.

 

|0016 : [X]|

|0017 : XI|

Inhalt des achten Bandes.

Drittes Buch. Herrſchaft der Rechtsregeln über die

Rechtsverhältniſſe.

 

Seite.

§. 344. Einleitung 1

Erſtes Kapitel. Oertliche Gränzen der Herrſchaft der Rechts-

regeln über die Rechtsverhältniſſe.

§. 345. Ueberſicht 8

§. 346. Abſtammung und Landgebiet, als Grunde der An-

gehörigkeit der Perſon 14

§. 347. Widerſtreitende Territorialrechte in demſelben Staate 19

§. 348. Widerſtreitende Territorialrechte in verſchiedenen

Staaten 23

§. 349. Fortſetzung 32

§. 350. Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

Einleitung 39

|0018 : XII|

Inhalt des achten Bandes.

Seite.

§. 351. Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

I. Origo 44

§. 352. Fortſetzung 50

§. 353. Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

II. Domicilium 57

§. 354. Fortſetzung 63

§. 355. Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

Wirkung dieſer Verhältniſſe 67

§. 356. Fortſetzung 76

§. 357. Fortſetzung 86

§. 358. Origo und domicilium im heutigen Recht 89

§. 359. Fortſetzung 95

§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen 107

§. 361. Fortſetzung 118

§. 362. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und

Handlungsfähigkeit) 134

§. 363. Fortſetzung 141

§. 364. Fortſetzung 147

§. 365. Fortſetzung 159

§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln 169

§. 367. II. Sachenrecht. Eigenthum 181

§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re 189

§. 369. III. Obligationenrecht. Einleitung 200

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation 205

§. 371. Fortſetzung 233

§. 372. III. Obligationenrecht. Oertliches Recht 246

|0019 : XIII|

Inhalt des achten Bandes.

Seite.

§. 373. Fortſetzung 256

§. 374. III. Obligationenrecht. Oertliches Recht. Einzelne

Rechtsfragen 263

§. 375. IV. Erbrecht 295

§. 376. Fortſetzung 298

§. 377. IV. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen 311

§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht 316

§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe 324

§. 380. V. Familienrecht. B. Väterliche Gewalt. C. Vor-

mundſchaft 338

§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum) 348

§. 382. Fortſetzung 359

Zweites Kapitel. Zeitliche Gränzen der Herrſchaft der Rechts-

regeln über die Rechtsverhältniſſe.

§. 383. Einleitung 368

§. 384. Zweierlei Rechtsregeln 373

§. 385. A. Erwerb der Rechte. — Grundſatz 381

§. 386. Fortſetzung 392

§. 387. Fortſetzung 399

§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen des Grundſatzes 406

§. 389. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. I. Zuſtand

der Perſon an ſich 414

§. 390. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. II. Sachenrecht 420

§. 391. Fortſetzung 426

§. 392. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. III. Obli-

gationenrecht 435

|0020 : XIV|

Inhalt des achten Bandes.

Seite.

§. 393. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. IV. Erbrecht 447

§. 394. Fortſetzung 468

§. 395. Fortſetzung 482

§. 396. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. V. Familienrecht 493

§. 397. A. Erwerb der Rechte. — Ausnahmen 506

§. 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz 514

§. 399. B. Daſeyn der Rechte. — Anwendungen. Ausnahmen 522

§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit 532

|0021|

|0022|

|0023 : [1]|

Drittes Buch.

Herrſchaft der Rechtsregeln über die Rechtsver-

hältniſſe.

§. 344.

Einleitung.

Das erſte Buch des gegenwärtigen Rechtsſyſtems hatte

die Aufgabe, die Rechtsquellen, d. h. die Entſtehungsgründe

der Rechtsregeln, darzuſtellen; das zweite, die allgemeine

Natur der Rechtsverhältniſſe, die durch jene Regeln beherrſcht

werden ſollten. Es bleibt jetzt, für den allgemeinen Theil

des Syſtems, noch übrig, die Verbindung der Rechtsregeln

mit den Rechtsverhältniſſen feſtzuſtellen; dieſe Verbindung

erſcheint, von der einen Seite betrachtet, als Herrſchaft der

Regeln über die Verhältniſſe, von der andern Seite als

Unterwerfung der Verhältniſſe unter die Regeln.

 

Damit aber dieſer letzte, eben ſo wichtige als ſchwie-

rige Theil der Aufgabe gleich Anfangs richtig aufgefaßt

werde, iſt es nöthig, genau zu beſtimmen, in welchem

 

VIII. 1

|0024 : 2|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln.

Sinne hier jene Verbindung (Herrſchaft, Unterwerfung)

zu denken iſt (a).

Die Rechtsregeln ſollen herrſchen über die Rechtsver-

hältniſſe; welches iſt aber das Gebiet ihrer Herrſchaft?

Ueber welche Rechtsverhältniſſe ſollen ſie herrſchen? Dieſe

Frage erhält ihren beſtimmten Sinn zunächſt durch die

Natur des poſitiven Rechts, welches nicht etwa eines und

daſſelbe iſt für die Menſchheit im Ganzen, ſondern ein, je

nach Völkern und Staaten, beſonderes und verſchiedenes;

in jedem einzelnen Volke aber theils aus allgemein menſch-

lichen, theils aus eigenthümlichen rechtsbildenden Kräften

entſpringend. Dieſe Mannichfaltigkeit der poſitiven Rechte

iſt es, woraus das Bedürfniß und die Wichtigkeit hervor-

geht, für jedes poſitive Recht das Gebiet ſeiner Herrſchaft

zu beſtimmen, das heißt, die Gränzen zu ziehen zwiſchen den

verſchiedenen poſitiven Rechten gegen einander. Nur durch

dieſe Gränzbeſtimmung wird es möglich, über jede denkbare

Colliſion zu entſcheiden, die in der Beurtheilung eines ge-

gebenen Rechtsverhältniſſes zwiſchen verſchiedenen poſitiven

Rechten eintreten kann.

 

Um zu den hier aufgeworfenen Fragen und ihrer Be-

antwortung zu gelangen, kann man nun auch den umge-

kehrten Weg einſchlagen. Es liegt uns ein Rechtsverhält-

niß vor, als Gegenſtand unſrer Beurtheilung. Wir ſuchen

dafür eine Rechtsregel auf, unter deren Herrſchaft daſſelbe

 

(a) Die Grundlage der gegenwärtigen Unterſuchung, insbeſondere

der hier aufgeſtellten Begriffe, findet ſich oben B. 1 § 4—9 § 15.

|0025 : 3|

§. 344. Einleitung.

ſteht, nach welcher es zu beurtheilen iſt. Indem wir hier

unter mehreren Rechtsregeln zu wählen haben, welche ver-

ſchiedenen poſitiven Rechten angehören, kommen wir wie-

derum auf die ſchon erwähnten Gränzen der Herrſchaft

eines jeden poſitiven Rechts, und auf die von dieſen Grän-

zen abhängigen Colliſionen. Beide Arten, die Frage auf-

zufaſſen, ſind nur im Ausgangspunkte verſchieden. Die

Frage ſelbſt iſt hier und dort dieſelbe, und die Entſcheidung

kann in beiden Fällen nicht verſchieden ausfallen.

Die meiſten Schriftſteller über dieſen Gegenſtand gehen

aus von dem Begriff der Colliſionen, und behandeln die

Entſcheidung derſelben als ihre wahre und einzige Aufgabe;

gewiß zum Nachtheil eines befriedigenden Erfolgs. Die

natürliche Folge der Gedanken iſt vielmehr folgende. Für

die Rechtsregeln wird gefragt: Ueber welche Rechtsverhält-

niſſe ſollen ſie herrſchen? Für die Rechtsverhältniſſe: Welchen

Rechtsregeln ſind ſie unterworfen, oder angehörig? Die

Frage nach den Gränzen der Herrſchaft oder der Ange-

hörigkeit, und nach den an dieſen Gränzen eintretenden

Gränzſtreitigkeiten oder Colliſionen, ſind ihrer Natur

nach abgeleitete und untergeordnete Fragen (b).

 

Zu der bisher angedeuteten Frage nach den Gränzen,

in welchen die Regeln jedes poſitiven Rechts herrſchen,

 

(b) Wächter II. S. 34 macht

die gute Bemerkung, daß manche

Schriftſteller, indem ſie die Frage

nach der Anwendung der Geſetze

ganz abſondern von der Frage

nach der Colliſion, dahin geführt

werden, auf beide an ſich identiſche

Fragen widerſprechende Antworten

zu geben.

1*

|0026 : 4|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln.

tritt aber nun noch eine neue, von der bisher betrachteten

verſchiedene, obgleich damit verwandte, hinzu. Wir betrach-

teten bisher die Rechtsregeln als feſtſtehende, ohne Rückſicht

auf mögliche Veränderungen derſelben in der Zeit. Nun

gehört es aber zu dem Weſen des poſitiven Rechts, daß

daſſelbe nicht als ein ruhendes, ſondern als ein in ſteter

Fortbildung und Entwickelung begriffenes, aufgefaßt werde (c),

und damit wird ihm die Eigenſchaft der Wandelbarkeit in

der Zeit zugeſchrieben. Ferner hat jedes unſerer Beurthei-

lung vorliegende Rechtsverhältniß nothwendig ſeinen Ent-

ſtehungsgrund in juriſtiſchen Thatſachen (d), die ſtets in

einer, bald näher bald entfernter liegenden, Vergangenheit

gedacht werden müſſen. Da aber in der Zwiſchenzeit, von

der Entſtehung des Rechtsverhältniſſes bis zur Gegenwart,

Veränderungen im poſitiven Recht eingetreten ſein können,

ſo iſt noch zu beſtimmen, aus welchem Zeitpunkt wir die

das Rechtsverhältniß beherrſchende Regel zu entnehmen

haben.

Aus dieſer Betrachtung entſteht mithin eine neue Art

von Gränzen für die Herrſchaft der Rechtsregeln, und da-

mit eine neue Art möglicher Colliſionen, nicht minder wich-

tig und ſchwierig, als die vorher betrachteten Gränzen und

Colliſionen. In der früheren Betrachtung wurden die

Rechtsregeln gedacht als gleichzeitige, ruhende, feſtſtehende;

in dieſer ſpäteren werden ſie gedacht als ungleichzeitige,

 

(c) S. o. B. 1 § 7.

(d) S. o. B. 3 § 104.

|0027 : 5|

§. 344. Einleitung.

durch Fortbildung verſchiedene, ſucceſſive. Zum Zweck einer

kurzen und gleichförmigen Beziehung will ich folgende Aus-

drücke gebrauchen:

Örtliche Gränzen der Herrſchaft der Rechtsregeln.

Zeitliche Gränzen der Herrſchaft.

Der zweite dieſer Kunſtausdrücke iſt für ſich klar. Die

Rechtfertigung des erſten iſt nur im Laufe der folgenden

Unterſuchung möglich.

 

Das gegenwärtige Werk hat zum Gegenſtand das

Römiſche Recht. In welchem Verhältniß nun ſteht das

Römiſche Recht zu den hier aufgeworfenen Fragen? Wir

müſſen dafür ein zwiefaches, an ſich verſchiedenes, Ver-

hältniß anerkennen.

 

Zunächſt müſſen wir für die Anwendung des Römiſchen

Rechts auf beſtimmte Staaten und Völker, im Verhältniß

zu anderen poſitiven Rechten, auf jene Fragen eingehen,

wenn wir ihm irgend eine praktiſche Geltung ſichern wollen.

Dieſes Bedürfniß würde unabweislich ſein, ſelbſt wenn die

Römiſchen Juriſten an jene Fragen nie gedacht, ſich damit

niemals beſchäftigt hätten. — Zweitens aber haben die

Römer in der That dieſe Fragen behandelt, und wir müſ-

ſen daher ihre Ausſprüche über dieſelben aufſuchen und

feſtſtellen. Obgleich nun dieſe Ausſprüche zum Theil ein-

ſeitig und mangelhaft ſind, auch nicht überall auf unmit-

telbare Anwendung Anſpruch haben können, ſelbſt da, wo

wir die Geltung des Römiſchen Rechts im Allgemeinen

anzunehmen berechtigt ſind, ſo iſt dennoch die Feſtſtellung

 

|0028 : 6|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln.

derſelben von großer Wichtigkeit. Sie iſt es ſchon deshalb,

weil die Lehre der neueren Schriftſteller, und die damit zu-

ſammenhängende Praxis, großentheils auf den Ausſprüchen

der Römer, oft aber nach einer unrichtigen Auffaſſung der-

ſelben beruht, ſo daß ſowohl das rechte Verſtändniß der

neueren Lehre und Praxis, als die Reinigung derſelben,

nur durch eine gründliche Unterſuchung über die im Römi-

ſchen Recht niedergelegten Anſichten herbeigeführt werden

kann.

Die nunmehr folgende, hier eingeleitete, Unterſuchung

wird in zwei Kapiteln: I. die örtlichen Gränzen, II. die

zeitlichen Gränzen der Herrſchaft der Rechtsregeln über die

Rechtsverhältniſſe feſtzuſtellen haben.

 

Bei dieſen zweifachen Gränzen iſt aber noch voraus zu

bemerken, daß unter denſelben eine gewiſſe Wechſelwirkung

eintreten kann. Wenn überhaupt zwei Rechtsregeln mit

einander in zeitliche Colliſion kommen, ſo daß eine Gränz-

beſtimmung nöthig iſt, um die Herrſchaft der einen oder

der andern Regel zu entſcheiden, ſo wird dabei ſtets eine

eingetretene Veränderung vorausgeſetzt. Eine ſolche Verän-

derung nun kann auf zwei verſchiedenen Seiten liegen.

 

Sie kann erſtens liegen auf der Seite der Rechtsregel.

Der einfachſte Fall iſt der, wenn der Geſetzgeber durch Er-

laß eines neuen Geſetzes über das vorliegende Rechtsver-

hältniß, die bisher beſtehende Regel ändert, alſo neues ob-

jectives Recht ſchafft.

 

|0029 : 7|

§ 344. Einleitung.

Die Veränderung kann aber auch zweitens liegen auf

der Seite des Rechtsverhältniſſes, indem, bei unveränderter

Rechtsregel, die thatſächlichen Bedingungen des Rechtsver-

hältniſſes wechſeln. Als Beiſpiel zur Erläuterung kann

die Handlungsfähigkeit dienen, die nach dem Recht beur-

theilt wird, welches am Wohnſitz der Perſon gilt. Wenn

nun dieſe Perſon den Wohnſitz ändert, ſo kann dadurch das

Rechtsverhältniß unter eine neue Rechtsregel fortrücken, und

es kann die Frage entſtehen, ob die Handlungsfähigkeit von

jetzt an nach dem Geſetz des früheren, oder des ſpäteren

Wohnſitzes zu beurtheilen iſt.

 

Es iſt einleuchtend, daß die Veränderungen dieſer zwei-

ten Art zugleich in das Gebiet der örtlichen und der zeit-

lichen Colliſion einſchlagen. Jedoch iſt dabei das örtliche

Element vorherrſchend, und es iſt daher zweckmäßig und

räthlich, alle dahin einſchlagende Fragen in Verbindung

mit den örtlichen Gränzen der Herrſchaft abzuhandeln, alſo

in das erſte Kapitel mit aufzunehmen (e).

 

Sonach bleiben für die Unterſuchung über die zeitlichen

Gränzen der Herrſchaft (das zweite Kapitel) nur noch die

 

(e) Die Erörterung dieſer

Fragen kommt vor in den §§ 365

(Ende des §), § 366—368, § 370. n.

§ 372. N. III, § 379. N. 3. — In

andern Lehren kommt dieſe Frage

deswegen nicht vor, weil dabei der

Einfluß des an ſich veränderlichen

thatſächlichen Verhältniſſes auf

einen beſtimmten Zeitpunkt fixirt

iſt, wodurch die Möglichkeit jedes

Zweifels ausgeſchloſſen wird. So

bei dem Erbrecht (§ 374. 377), und

bei der Regel: locus regit actum

(§ 381).

|0030 : 8|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Veränderungen der erſten Art übrig, welche auf der Seite

der Rechtsregel liegen.

Erſtes Kapitel.

Oertliche Gränzen der Herrſchaft der Rechtsregeln

über die Rechtsverhältniſſe.

§. 345.

Ueberſicht.

Schriftſteller(a):

 

Bartolus in Codicem, L. 1 C. de summa trin. (1. 1)

Num. 13 — 51.

B. Argentraei Comment. ad patrias Britonum Leges

ed. oct. Antverp. 1664 f. — Der art. 218 der

Coutume de Bretagne beſtimmt, daß Jeder nur ein

Drittheil des unbeweglichen Vermögens ſeinen geſetz-

lichen Erben ſoll entziehen dürfen. Dabei entſtand die

Frage, ob auch auswärtige Grundſtücke in dieſes

Drittheil einzurechnen ſeien, und ſo kam d’Argentré

in der ſechsten Gloſſe zu dem angeführten Artikel auf

die ganze Lehre von der Colliſion der Geſetze, die er

hier S. 601 — 620 abhandelt. Der Verf. ſtarb 1590,

(a) Der Abkürzung wegen werde ich die hier zuſammengeſtellten

Schriftſteller künftig blos mit ihren Namen anführen.

|0031 : 9|

§. 345. Ueberſicht.

und das angeführte Werk iſt erſt nach ſeinem Tode

(1608) erſchienen.

Chr. Rodenburg de jure conjugum Traj. 1653 4.

Die praeliminaria S. 13—178 enthalten eine aus-

führliche Abhandlung über die Colliſion der Geſetze.

P. Voetius de statutis eorumque concursu. Leodii. 1700

4 (Zuerſt Amſt. 1661). Von der Colliſion der Sta-

tute handeln nur die Sect. 4. 9. 10. 11.

J. N. Hertius de collisione legum 1688, Comm. et

opuscul. Vol. 1 p. 118—154. Hierher gehört nur

Sect. 4 (§ 1—74).

Ulr. Huber de conflictu legum, in den praelect. ad

Pand. als Anhang zu Lib. 1 Tit. 3 de legibus

(§ 1—15).

J. Voetius de statutis. Steht in dem Commentar über

die Pandekten hinter Lib. 1 Tit. 4 de constitut. princ.

als Pars 2 de statutis (§ 1—22).

L. Boullenois traité de la personnalité et de la réalité

des loix etc. Paris 1766. 2 Vol. in 4. Franzöſiſche

Ueberſetzung des angeführten Werks von Rodenburg

mit ſehr weitſchweifigen Zuſätzen.

D. Meier de conflictu legum divers. Bremae 1810. 8.

G. v. Struve üb. das poſitive Rechtsgeſetz in ſeiner Be-

ziehung auf räumliche Verhältniſſe. Carlsruhe 1834 8.

Jos. Story comment. on the conflict of laws. Boston

1834, zweite ſehr vermehrte Originalausgabe Boston

1841. 8.

|0032 : 10|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

W. Burge Commentaries on colonial and foreign laws

generally and in their conflict with each other and

with the law of England. London 1838. 4 Voll.

W. Schäffner Entwickelung des internationalen Pri-

vatrechts. Frankf. 1841. 8.

v. Wächter über die Colliſion der Privatrechtsgeſetze,

Archiv f. civil. Praxis. B. 24 S. 230—311, B. 25

S. 1—60, S. 161—200, S. 361—419, im Ganzen

32 §§, 1841. 1842. Ich werde, um kürzer anführen

zu können, den im 24. B. enthaltenen Abſchnitt mit I.,

die im 25. B. enthaltenen mit II. bezeichnen.

Nic. Rocco dell’ uso e autorità delle leggi delle due

Sicilie considerate nelle relazioni con le persone e

col territorio degli Stranieri. Napoli 1842. 8.

Foelix du droit international privé, deuxième édition,

Paris 1847. 8. (Erſte Ausgabe 1843.)

Jedes Recht erſcheint zunächſt als eine der Perſon zu-

ſtehende Macht (b), mithin als Eigenſchaft dieſer Perſon,

und von dieſem erſten und nächſten Standpunkt aus haben

wir auch die Rechtsverhältniſſe als Attribute einer Perſon

zu betrachten. Hiernach würde die Frage, womit wir uns

beſchäftigen, ſo zu faſſen ſein: Auf welche Perſonen er-

ſtreckt jede gegebene Rechtsregel das Gebiet ihrer Herrſchaft?

 

(b) S. o. B. 1 § 4.

|0033 : 11|

§. 345. Ueberſicht.

Oder in umgekehrter Auffaſſung (§ 344): Welches ſind die

Rechtsregeln, denen eine gegebene Perſon unterworfen

oder angehörig iſt?

Folgende Betrachtung aber muß uns ſogleich überzeu-

gen, daß mit dieſer Stellung der Frage nicht auszureichen

iſt. In dem Gebiet der erworbenen Rechte (c) erweitert

ſich die Perſon nach den von ihr ſelbſt verſchiedenen Ge-

genſtänden dieſer erworbenen Rechte hin, und ſchon aus

dieſer Erweiterung an ſich entſteht wenigſtens die Möglich-

keit des Eintritts der Perſon in das Gebiet einer ihr ur-

ſprünglich fremden Rechtsregel. Dieſe bloße Möglichkeit

aber gewinnt noch eine ganz andere Geſtalt, wenn wir die

beſondere Beſchaffenheit jener Gegenſtände der erworbenen

Rechte in’s Auge faſſen. Unter dieſen Gegenſtänden finden

wir vor allen auch fremde Perſonen, deren jede auch

wieder einem eigenthümlichen Gebiet beherrſchender Rechts-

regeln angehört, und da es nun ganz zufällig iſt, ob zwei,

mit einander in einem Rechtsverhältniß ſtehende Perſonen

demſelben Rechtsgebiet angehören oder verſchiedenen Rechts-

gebieten, ſo ergiebt ſich daraus eine neue, und zwar ſehr

ausgedehnte, Quelle von Colliſionen zwiſchen den die Rechts-

verhältniſſe beherrſchenden Rechtsregeln.

 

Folgende Ueberſicht über die Gegenſtände der Rechts-

regeln wird es anſchaulich machen, in welcher mannich-

faltigen Weiſe die Colliſionen unter den Rechtsregeln

 

(c) B. 1 § 53.

|0034 : 12|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

verſchiedener Gebiete des poſitiven Rechts eintreten

können (d).

Die Rechtsregeln können zum Gegenſtand haben:

 

I. Die Perſonen an ſich ſelbſt, die Rechtsfähigkeit

und die Handlungsfähigkeit derſelben, oder die Be-

dingungen, unter welchen ſie Rechte haben und

Rechte erwerben können. Dieſe Klaſſe von

Rechtsregeln iſt es, von deren Betrachtung im

Anfang des gegenwärtigen Paragraphen ausgegan-

gen wurde.

II. Die Rechtsverhältniſſe.

1. Rechte an beſtimmten Sachen.

2. Obligationen.

3. Rechte an einem ganzen Vermögen, als einem

idealen Gegenſtande von unbeſtimmtem Umfang

(Erbrecht).

4. Familienrecht.

Aus dieſer Ueberſicht iſt es klar, daß allerdings der

nächſte und unmittelbare Gegenſtand, worüber die Rechts-

regel herrſcht, die Perſon iſt. Und zwar zunächſt die Per-

ſon in ihrem allgemeinen Daſein, als Träger aller Rechte;

dann aber auch die Perſon, inſofern ſie durch ihre freie

Handlungen in den meiſten und wichtigſten Fällen die

Rechtsverhältniſſe erzeugt oder erzeugen hilft.

 

Allein die Perſon breitet ſich aus zu künſtlichen Erwei-

 

(d) Dieſe Ueberſicht ſoll hier nur zu einem vorläufigen Anhalt

dienen. Sie wird unten (§ 361) genauer ausgeführt werden.

|0035 : 13|

§. 345. Ueberſicht.

terungen ihres Daſeins. — Sie will herrſchen über Sachen,

und begiebt ſich dadurch in den beſtimmten Raum, den

dieſe Sachen einnehmen, alſo in ein ihr ſelbſt möglicher-

weiſe fremdes Rechtsgebiet. Am unverkennbarſten geſchieht

Dieſes bei unbeweglichen Sachen, bei welchen der Raum,

den ſie erfüllen, nicht zufällig und veränderlich iſt; es iſt

aber, dem Weſen nach, nicht minder wahr auch bei beweg-

lichen Sachen. — Sie will durch Obligationen herrſchen

über fremde Handlungen, oder ihre eigene Handlungen

einem fremden Willen unterwerfen. — Sie geht in beſon-

dere Lebensformen ein durch die Familie, und tritt auch

dadurch, bald freiwillig, bald unfreiwillig, auf mancherlei

Weiſe aus ihrem urſprünglichen, rein perſönlichen, Rechts-

gebiet heraus.

Es ergiebt ſich aus dieſer Betrachtung, daß für jeden

gegebenen Fall die anzuwendende Rechtsregel beſtimmt und

begränzt wird zunächſt und hauptſächlich durch die Unter-

werfung der berechtigten Perſon unter ein beſtimmtes Rechts-

gebiet; daß aber daneben die mannichfaltigſten und wich-

tigſten Modificationen eintreten können durch das Verhält-

niß, in welchem theils beſtimmte Sachen, theils beſtimmte

Handlungen oder Lebensverhältniſſe zu anderen Rechtsge-

bieten ſtehen (e).

 

Die nächſte Aufgabe wird daher auf die Gründe ge-

 

(e) Hieran knüpft ſich die in früherer Zeit ſehr verbreitete Unter-

ſcheidung der Statuta personalia, realia, mixta, von welcher bald

noch weiter die Rede ſein wird (§ 361).

|0036 : 14|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

richtet ſein müſſen, aus welchen die allgemeine Angehörig-

keit einer Perſon an ein beſtimmtes Rechtsgebiet abzu-

leiten iſt.

§ 346.

Abſtammung und Landgebiet, als Gründe der Angehö-

rigkeit der Perſon an ein beſtimmtes Rechtsgebiet.

Um den Zuſammenhang zu erkennen, wodurch eine Per-

ſon mit einem beſtimmten poſitiven Recht durch die Ange-

hörigkeit an daſſelbe verknüpft wird, müſſen wir uns daran

erinnern, daß das poſitive Recht ſelbſt ſeinen Sitz in dem

Volk als einem großen Naturganzen, oder in einer volks-

mäßigen Abtheilung dieſes Ganzen hat. Es iſt aber nur

ein anderer Ausdruck derſelben Wahrheit, wenn wir ſagen,

das Recht habe ſeinen Sitz in dem Staat, oder in einem

einzelnen organiſchen Theile des Staates, da eben nur in

dem Staat das Volk wahre Realität hat, indem nur hier

der Wille der Einzelnen in einem Geſammtwillen wahr-

haft aufgeht (a). In Folge dieſer allgemeinen Angabe ha-

ben wir daher näher zu beſtimmen, wodurch dasjenige

Ganze gebildet, diejenige Einheit begränzt wird, worin die

Rechtsregeln, als Beſtandtheile des poſitiven Rechts, ihren

Sitz haben. Dadurch werden wir erkennen, durch welches

Band die einzelnen Perſonen zur Gemeinſchaft eines und

deſſelben poſitiven Rechts zuſammen gehalten werden.

 

(a) Vgl. oben B. 1. § 8. 9.

|0037 : 15|

§ 346. Abſtammung und Landgebiet.

Suchen wir nun auf geſchichtlichem Wege zur Löſung

dieſer Aufgabe zu gelangen, ſo finden wir zwei Gründe,

wodurch von jeher im Großen und Ganzen eine ſolche Ge-

meinſchaft des poſitiven Rechts unter den Einzelnen vor-

zugsweiſe beſtimmt und begränzt worden iſt: die Volks-

abſtammung, und das Landgebiet.

 

I. Die Volksabſtammung (Nationalität) als Grund

und Gränze der Rechtsgemeinſchaft hat zunächſt einen ganz

perſönlichen und unſichtbaren Charakter. Obgleich ſie,

ihrem Begriffe nach, den Einfluß der Willkür auszu-

ſchließen ſcheint, iſt ſie dennoch einer Erweiterung durch

die freie Aufnahme Einzelner empfänglich.

 

In großer Ausdehnung erſcheint die Nationalität als

Grund und Gränze der Rechtsgemeinſchaft bei wandernden

Völkern, für welche ein feſtes Landgebiet überhaupt nicht

vorhanden iſt, wie bei den Germanen zur Zeit der Völker-

wanderung. Bei dieſen hat ſich aber auch nach ihrer feſten

Niederlaſſung auf dem alten Boden des Römiſchen Reichs

derſelbe Grundſatz noch lange lebendig erhalten in dem

Syſtem der perſönlichen Geſetze, die hier in demſelben

Staate neben einander zur Anwendung kamen, und in deren

Reihe jetzt, neben den Rechten der Franken, Lombarden

u. ſ. w., auch das Römiſche Recht, als das fortdauernde

perſönliche Recht der urſprünglichen Einwohner dieſer durch

Eroberung neu gegründeten Staaten erſcheint (b).

 

(b) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 1 Kap. 3

§ 30—33.

|0038 : 16|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

In den neueren Jahrhunderten finden wir noch jetzt

im Türkiſchen Reich das vollſtändigſte Bild dieſer Art der

Rechtsgemeinſchaft. In den chriſtlichen Staaten von Eu-

ropa aber hat ſich ein Ueberreſt davon am längſten bei der

Jüdiſchen Nation erhalten, in welcher die Fortdauer des

nationalen Rechts, ſo wie die der abgeſonderten Natio-

nalität ſelbſt, mit der Religion in Verbindung ſtand. Aber

auch dieſer Ueberreſt verſchwindet immer mehr (c).

 

Verwandt, aber nicht gleichbedeutend mit dem eben dar-

geſtellten Grunde der Rechtsgemeinſchaft iſt derjenige, wel-

cher auf dem eigenthümlichen Bürgerverhältniß beſonderer

Klaſſen von Perſonen beruht. Ein ſolches erſcheint bei

den Römern ſehr ausgebildet, und lange dauernd, in den

Klaſſen der cives, latini, peregrini, welche wiederum mit

den Syſtemen des jus civile und jus gentium zuſammen-

hängen (d). Dennoch hat dieſe Unterſcheidung, obgleich in

anderer Hinſicht ſehr wichtig, in der Richtung, die uns hier

ausſchließend beſchäftigt, niemals einen Einfluß erlangt,

welcher dem Einfluß der Volksabſtammung oder des Land-

gebietes an die Seite geſtellt werden könnte.

 

II. Das Landgebiet (die Territorialität) erſcheint

als der zweite beſonders wichtige und verbreitete Grund,

die Gemeinſchaft des poſitiven Rechts unter den Einzelnen

 

(c) In Preußen z. B. iſt ſchon

im J. 1812 durch das Judenedict

§ 20. 21 für die Juden das ge-

meine Recht der übrigen Einwohner

als Regel aufgeſtellt, das beſon-

dere nationale Recht nur als Aus-

nahme beibehalten worden.

(d) Vgl. oben B. 1 § 22,

und: Geſchichte des R. R. im

Mittelalter B. 1 § 1.

|0039 : 17|

§. 346. Abſtammung und Landgebiet.

zu beſtimmen und zu begränzen. Dieſer Grund unterſchei-

det ſich von dem vorhergehenden (der Nationalität) durch

ſeine weniger perſönliche Natur. Er iſt an etwas äußer-

lich Erkennbares, die ſichtbare Landgränze, gebunden, und

der Einfluß menſchlicher Willkür in der Anwendung dieſes

Grundes iſt ausgedehnter und unmittelbarer, als bei der

Volksabſtammung, bei welcher dieſer Einfluß mehr die Na-

tur einer bloßen Ausnahme an ſich trägt.

Dieſer zweite Grund der Rechtsgemeinſchaft hat den

erſten (die Nationalität) im Laufe der Zeit, bei fortſchrei-

tender Ausbildung, mehr und mehr verdrängt. Darauf hat

vor Allem eingewirkt der vielſeitigere, lebendigere Verkehr

der Völker unter einander, durch welchen die ſchrofferen

Gegenſätze der Nationalitäten verändert werden mußten.

Beſonders aber darf nicht verkannt werden der Einfluß des

Chriſtenthums, welches als gemeinſames Band des geiſtigen

Lebens die verſchiedenſten Völker umſchlingend, die eigen-

thümlichen Unterſchiede derſelben mehr in den Hintergrund

treten ließ.

 

Gehen wir nun aus von dieſem zweiten Grunde der

Rechtsgemeinſchaft, ſo bezieht ſich die Colliſion, die uns

hier überall vor Augen ſtehen muß, auf die örtliche

Verſchiedenheit der Rechte, und unſere Aufgabe läßt ſich

für alle eintretende Colliſionsfälle nunmehr in folgende

Frage faſſen:

 

VIII. 2

|0040 : 18|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Welches Territorialrecht iſt in jedem gege-

benen Falle anzuwenden?

Hierin liegt denn auch der Grund, weshalb ſchon bis-

her die gleichzeitigen Gränzen der Rechtsregeln als ört-

liche Gränzen bezeichnet worden ſind (§ 244).

 

Suchen wir zunächſt durch Beiſpiele anſchaulich zu

machen, welche Bedeutung die hier in Frage geſtellte Colli-

ſion verſchiedener örtlicher oder territorialer Rechte haben

kann. An einem beſtimmten Orte iſt ein Rechtsſtreit zu

entſcheiden über die Erfüllung eines Vertrages oder über

das Eigenthum einer Sache. Der Vertrag aber iſt ge-

ſchloſſen an einem anderen Orte, als an dem des Gerichts;

die ſtreitige Sache befindet ſich an einem anderen Orte, als

dem des Gerichts; beide Orte haben verſchiedenes territo-

riales Recht. Daneben können beide ſtreitende Parteien,

ihrer Perſon nach, dem Orte des Gerichts angehören, oder

beide einem fremden Orte, oder auch beide Parteien ver-

ſchiedenen Orten. Welches unter den verſchiedenen ört-

lichen Rechten, mit denen das ſtreitige Rechtsverhältniß in

irgend einer Berührung ſteht, ſoll bei der Entſcheidung des

Streites zur Anwendung kommen? Das iſt der Sinn der

Colliſionsfrage in Anwendung auf Territorialrechte (e).

 

(e) Die Colliſion verſchiedener

Rechte kommt allerdings auch bei

der auf die Volksabſtammung ge-

gründeten Rechtsgemeinſchaft in

Frage, und bedarf hier, eben ſo

gut als neben dem Territorialrecht,

ihrer Löſung. Ein genaueres Ein-

gehen auf dieſe Geſtalt unſerer

Frage, die ja überhaupt nur

des geſchichtlichen Zuſammenhangs

wegen gegenwärtig berührt wurde,

und für das heutige Recht keine

|0041 : 19|

§. 347. Widerſtreit. Territsrialrechte in demſelben Staate.

§. 347.

Widerſtreitende Territorialrechte in demſelben Staate.

Die einander widerſtreitenden Territorialrechte, für deren

Colliſion wir nunmehr die Regeln feſtzuſtellen haben (§ 346),

können unter einander in einem zweifachen Verhältniß ſte-

hen, und wenngleich die Grundſätze der Beurtheilung ſtets

dieſelben bleiben, ſo hat doch dieſe Verſchiedenheit den

größten Einfluß auf die Art der Anwendung jener Grund-

ſätze.

 

Jene Territorialrechte können gelten entweder in ver-

ſchiedenen Gebietstheilen eines und deſſelben Staates,

oder in verſchiedenen, von einander unabhängigen

Staaten.

 

I. Verſchiedene Territorialrechte innerhalb eines und

deſſelben Staates ſind ſchon an einer früheren Stelle be-

merklich gemacht worden unter dem Namen von particu-

lären Rechten im Gegenſatz eines gemeinen Rechts eines

ſolchen Staates, und ſie können eben ſowohl in der Ge-

ſtalt von Geſetzen als von Gewohnheiten beſtehen (a).

 

Die geſchichtliche Veranlaſſung derſelben, ſo wie ihre

davon abhängende Begränzung, iſt höchſt mannichfaltig.

Der wichtigſte Fall der Anwendung während der Dauer

des deutſchen Reiches war begründet durch das Verhältniß

 

Bedeutung hat, würde hier nicht

am Orte ſein. Vgl. Savigny

Geſchichte des R. R. im Mittel-

alter B. 1 § 46.

(a) S. o. B. 1 § 8. 18. 21.

2*

|0042 : 20|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

der einzelnen deutſchen Staaten zu dem, ſie alle zuſammen

haltenden deutſchen Reiche (b). — Aehnliche Verhältniſſe

aber fanden ſich innerhalb der zum deutſchen Reiche gehö-

renden einzelnen Staaten, und finden ſich noch jetzt nach

der Auflöſung des Reiches.

Solche Particularrechte erſcheinen bald in ganzen Pro-

vinzen, bald in Abtheilungen von Provinzen, bald und vor-

züglich in einzelnen Gemeinden. Beſonders häufig erſchei-

nen ſie in Stadtgebieten, ja zuweilen ſelbſt in einzelnen

örtlichen Beſtandtheilen eines und deſſelben Stadtgebietes (c).

 

In größeren Landſtrichen (Provinzen oder Provinzab-

theilungen) ſind ſolche Particularrechte oft dadurch entſtan-

den, daß ein ſolcher Landſtrich früher als ſelbſtſtändiges

Staatsgebiet oder auch als Theil eines fremden Staates

beſtand, und erſt ſpäter dem Staate, dem er jetzt angehört,

einverleibt wurde.

 

(b) B. 1 § 2. — Ein ähnliches,

doch nicht völlig gleiches, Verhält-

niß finden wir unter den ſouveränen

kleinen Staaten, aus welchen die

vereinigten Niederlande beſtanden,

die nicht ſo, wie die deutſchen

Staaten, durch eine gemeinſame

höhere Staatsgewalt und Geſetz-

gebung verbunden waren. Durch

die daſelbſt ſehr häufig hervortre-

tenden Colliſionsfälle wurden be-

ſonders die Holländiſchen Juriſten

(Rodenburg, P. Voet, J. Voet,

Huber) veranlaßt, große Aufmerk-

ſamkeit auf den hier vorliegenden

Gegenſtand zu wenden. Aehnlich

iſt auch das Verhältniß der Nord-

amerikaniſchen Freiſtaaten.

(c) So z. B. beſtanden neben

einander in Breslau bis zum 1.

Jan. 1840 fünferlei partikuläre

Geſetze und Obſervanzen über Erb-

recht, eheliches Güterrecht u. ſ.

w., deren Anwendung durch Juris-

dictionsbezirke begränzt war. Nicht

ſelten war hier das Recht von

Haus zu Haus verſchieden, ja es

kam vor, daß Ein Haus auf der

Gränze verſchiedener Rechte lag,

denen es daher theilweiſe angehörte.

Vgl. das Geſetz vom 11. Mai 1839

(Geſetzſammlung 1839 S. 166).

|0043 : 21|

§. 347. Widerſtreit. Territorialrechte in demſelben Staate.

In Stadtgebieten ſind ſie oft für dieſe einzelne Stadt

erlaſſen, ſei es von dem Landesherrn, dem dieſe Stadt un-

terworfen war, oder auch von der ſtädtiſchen Obrigkeit, mit

Zulaſſung oder Genehmigung des Landesherrn.

 

Dieſe Entſtehung beſonderer Stadtrechte finden wir ſchon

im Römiſchen Reiche, deſſen einzelne Gemeinden nicht nur

vor ihrer Vereinigung mit dem großen Ganzen das Recht

eigener Geſetzgebung gehabt hatten, ſondern dieſes Recht

auch durch jene Vereinigung nicht ſchlechthin einbüßten,

wenngleich ſie den in Rom neu erlaſſenen Geſetzen ſtets

unterworfen waren (d). Sie ſind es, durch welche über-

haupt die Römiſchen Juriſten Veranlaſſung erhielten, auf

die hier vorliegende Unterſuchung einzugehen (e). Sie bil-

den hier, als Particularrechte, den Gegenſatz gegen das ge-

meine Römiſche Recht. — Noch weit ausgedehnter und

wichtiger aber waren die Stadtrechte, die ſich im Italieni-

ſchen Mittelalter faſt in jeder Stadt ausbildeten, und die

hier, als Particularrechte, nicht blos gegen das Römiſche

Recht, ſondern auch gegen das Lombardiſche, beide als ge-

meine Rechte gedacht, den Gegenſatz bildeten (f). Für ſie

wurde der Name Statuta als Kunſtausdruck geltend, der

dann auch auf andere Länder übertragen wurde, und an

welchen ſich die Lehre von den Statuta personalia, realia,

mixta anſchloß (§ 345 f.).

 

(d) Savigny Geſchichte des

R. R. im Mittelalter B. 1 Kap. 2.

(e) S. o. § 344.

(f) Geſchichte des R. R. im

Mittelalter B. 3 § 42. 189 B. 2

§ 76.

|0044 : 22|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Zu der Colliſion verſchiedener Territorialrechte inner-

halb deſſelben Staates könnte man verſuchen auch folgen-

den Fall zu ziehen, der jedoch in der That eine ganz an-

dere Natur hat, und gar nicht in das Gebiet der gegen-

wärtigen Unterſuchung gehört. — In jedem Staate können

Particularrechte in verſchiedener Abſtufung und Unterord-

nung vorkommen, von dem örtlich begränzteſten an in immer

weiteren Kreiſen der Anwendung geltend, bis zum gemeinen

Recht eines ſolchen Staates hinauf. Auch dabei kann man

von einer Colliſion reden, indem an beſtimmten Orten jedes

dieſer Particularrechte im Allgemeinen wirkliche Geltung

hat, und alſo in gegebenen einzelnen Fällen gefragt werden

kann, welches derſelben, wenn ſie einander widerſtreiten,

die Regel der Entſcheidung bilden ſolle. Hier aber hat

die Colliſionsfrage, wenn man dieſen Ausdruck dabei ge-

brauchen will, eine andere Bedeutung, als bei den neben

einander ſtehenden, Particularrechten deſſelben Staates, die

von einander unabhängig ſind, alſo nicht im Verhältniß

der Abhängigkeit und Unterordnung zu einander ſtehen.

 

Zwiſchen mehreren einander untergeordneten Rechten gilt

die einfache Regel, daß ſtets dasjenige Recht in der An-

wendung den Vorzug hat, welchem der beſchränkteſte Um-

fang der Geltung zuzuſchreiben iſt, nur mit Ausnahme des

beſonderen Falles, wenn das über ihm in weiterem Um-

fange ſtehende Recht einzelne Beſtimmungen von einem ab-

ſolut gebietenden Charakter enthält (g).

 

(g) S. o. B. 1 § 21. 45. Außer dieſem beſonderen Falle alſo

gilt die Regel: Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemein Recht.

|0045 : 23|

§. 347. Widerſtreit. Territorialrechte in demſelben Staate.

Mit einer ſo einfachen Regel iſt die Colliſion, die zwi-

ſchen mehreren von einander unabhängigen Particularrech-

ten eintritt, nicht zu beherrſchen. Für ſie iſt eine tiefer ein-

gehende Unterſuchung nöthig, die eben in der Folge des

gegenwärtigen Kapitels angeſtellt werden ſoll. Da übri-

gens in dem gegenwärtig allein vorausgeſetzten Fall Par-

ticularrechte eines und deſſelben Staates vorausgeſetzt wer-

den (h), ſo ließe ſich denken, daß die Colliſion dieſer

Rechte ſelbſt durch die allgemeine Geſetzgebung eben dieſes

Staates geregelt wäre. Gerade Dieſes aber findet ſich bis

jetzt wohl in keinem Lande auf irgend erſchöpfende Weiſe

durchgeführt, vielmehr ſind überall die meiſten und wichtig-

ſten hierher gehörenden Fragen der wiſſenſchaftlichen Feſt-

ſtellung überlaſſen geblieben.

 

§. 348.

Widerſtreitende Territorialrechte in verſchiedenen

Staaten.

II. Der zweite Fall einer möglichen Colliſion verſchie-

dener Territorialrechte ſetzt voraus, daß dieſe Rechte nicht

 

(h) Es ließe ſich Dieſes denken

ohne Unterſchied, ob über den

eigenthümlichen Particularrechten

ein und daſſelbe gemeine Recht

ſteht (ſo wie in Preußen das allge-

meine Landrecht über den Provin-

zialrechten von Brandenburg, Pom-

mern, Oſt- u. Weſtpreußen u. ſ. w.),

oder nicht, denn auch in dieſem

letzten Fall, welcher z. B. zwiſchen

der Preußiſchen Rheinprovinz und

den übrigen Provinzen eintritt,

ließe ſich doch denken, daß ein

Preußiſches Landesgeſetz die Colli-

ſion dieſer verſchiedenen Rechte

vollſtändig geregelt hätte.

|0046 : 24|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

in demſelben Staate, ſondern in mehreren von einander un-

abhängigen Staaten beſtehen (§ 347). Sehen wir dabei

zurück auf die ſchon oben zur Erläuterung der ganzen

Colliſionsfrage angegebenen Beiſpiele (§ 346), ſo nehmen

dieſe nunmehr folgende Geſtalt an. Ein Richter unſeres

Staates hat zu entſcheiden über ein ſtreitiges Rechtsver-

hältniß, das durch die Thatſachen, die ihm zum Grunde

liegen (z. B. den Ort, wo ein Vertrag abgeſchloſſen iſt,

oder wo ſich eine ſtreitige Sache befindet), mit dem von

unſrem poſitiven Rechte abweichenden Rechte eines fremden

Staates in Berührung ſteht. Daneben iſt es möglich, daß

beide Parteien Inländer, oder beide Ausländer ſind, oder

daß die eine dem Inlande, die andere dem Auslande per-

ſönlich angehört. Welches der verſchiedenen hier einſchla-

genden Territorialrechte hat der Richter zur Anwendung zu

bringen?

Ganz dieſelbe Frage könnte auch dem Richter jenes

fremden Staates zur Entſcheidung vorliegen, wenn zufällig

der Rechtsſtreit nicht in unſrem, ſondern in dem fremden

Staate entſtanden wäre.

 

Manche haben verſucht, dieſe Fragen lediglich durch

den Grundſatz der unabhängigen Staatsgewalt (Souverä-

nität) zu entſcheiden, indem ſie folgende zwei Regeln an die

Spitze ſtellen. 1. Jeder Staat kann fordern, daß inner-

halb ſeiner Gränzen lediglich ſein Geſetz gelte. 2. Kein

 

|0047 : 25|

§. 348. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten.

Staat kann die Geltung ſeines Geſetzes außer ſeinen

Gränzen fordern (a).

Ich will nicht nur die Wahrheit dieſer Sätze einräumen,

ſondern ſelbſt ihre Ausdehnung bis zu den äußerſten denk-

baren Gränzen anerkennen, glaube aber, daß ſie für die

Löſung unſrer Aufgabe wenig Hülfe gewähren.

 

Die weiteſte Ausdehnung der unabhängigen Staats-

gewalt in Beziehung auf Fremde könnte bis zur völligen

Rechtloſigkeit der Fremden führen. Eine ſolche Auffaſſung

iſt dem Römiſchen Völkerrecht nicht fremd (b), und auch

da, wo ſie von den Römern gegen das Ausland nicht

geltend gemacht wird, iſt wenigſtens ein großer Unterſchied

in der Rechtsfähigkeit zwiſchen Römern und Fremden ſtets

feſtgehalten worden (§ 346). — Das heutige Recht dagegen

hat allmälig zur Anerkennung vollſtändiger Rechtsgleichheit

zwiſchen Einheimiſchen und Fremden hingeführt (c).

 

Mit dieſer Rechtsgleichheit der Perſonen iſt jedoch

über die Frage wegen der Colliſion zwiſchen dem einhei-

miſchen und fremden Rechte noch gar nicht entſchieden.

Vor Allem müſſen wir anerkennen, daß, wenn einheimiſche

 

(a) Huber § 2, Story

§ 18—21.

(b) Das R. R. wendet dieſe

Rechtloſigkeit, und zwar mit gegen-

ſeitigen Folgen, nicht nur auf

hostes an, deren Begriff einen

erklärten Krieg vorausſetzt, ſondern

ſelbſt auf alle Bürger ſolcher

Staaten, mit welchen Rom weder

foedus noch amicitia gegründet

hat. L. 5 § 2 de capt. (49. 15)

(c) Wächter I. S. 253 II.

S. 33—34. 181. Puchta Pan-

dekten § 45. 112. Eichhorn

deutſches Recht § 75.

|0048 : 26|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Geſetze über die Behandlung der Colliſionsfälle Vorſchriften

geben, dieſe Vorſchriften von den Richtern unſres Staates

ſchlechthin angewendet werden müſſen (d). Nur finden ſich

ſolche Geſetze in erſchöpfender Weiſe nirgend, insbeſondere

nicht in den Staaten, für welche das gemeine deutſche

Recht gilt (e)

Allerdings könnte das ſtrenge Recht der höchſten Gewalt

unter Anderm dahin führen, daß allen Richtern des Landes

vorgeſchrieben würden, die ihnen vorkommenden Rechts-

verhältniſſe lediglich nach dem einheimiſchen Rechte zu ent-

ſcheiden, unbekümmert um die vielleicht abweichenden Be-

ſtimmungen irgend eines fremden Rechtes, mit deſſen Land-

gebiet etwa das ſtreitige Rechtsverhältniß in Berührung

gekommen ſein möchte. Eine ſolche Vorſchrift iſt aber in

der Geſetzgebung keines bekannten Staates zu finden, und

mußte auch ſchon durch folgende Betrachtung verhindert

werden.

 

Je mannichfaltiger und lebhafter der Verkehr unter den

verſchiedenen Völkern wird, deſto mehr wird man ſich über-

zeugen müſſen, daß es räthlich iſt, jenen ſtrengen Grundſatz

nicht feſtzuhalten, ſondern vielmehr mit einem entgegengeſetzten

Grundſatz zu vertauſchen. Dahin führt die wünſchenswerthe

Gegenſeitigkeit in der Behandlung der Rechtsverhältniſſe, und

 

(d) Wächter I. S. 237 fg.

Story § 23. — Seltſamerweiſe

widerſpricht Struve § 9. 37,

indem er die Geſetze für nichtig

erklärt, die nicht von richtigen

Grundſätzen über die Colliſion

ausgehen.

(e) Es tritt alſo hier derſelbe

Fall ein, wie bei der Colliſion der

Particularrechte (§ 347).

|0049 : 27|

§. 348. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten.

die daraus hervorgehende Gleichheit in der Beurtheilung

der Einheimiſchen und Fremden, die im Ganzen und Großen

durch den gemeinſamen Vortheil der Völker und der Ein-

zelnen geboten wird. Denn dieſe Gleichheit muß in voll-

ſtändiger Ausbildung dahin führen, daß nicht bloß in jedem

einzelnen Staate der Fremde gegen den Einheimiſchen nicht

zurückgeſetzt werde (worin die gleiche Behandlung der Per-

ſonen beſteht), ſondern daß auch die Rechtsverhältniſſe, in

Fällen einer Colliſion der Geſetze, dieſelbe Beurthei-

lung zu erwarten haben, ohne Unterſchied, ob in dieſem

oder jenem Staate das Urtheil geſprochen werde.

Der Standpunkt, auf den wir durch dieſe Erwägung

geführt werden, iſt der einer völkerrechtlichen Gemeinſchaft

der mit einander verkehrenden Nationen, und dieſer Stand-

punkt hat im Fortſchritt der Zeit immer allgemeinere An-

erkennung gefunden, unter dem Einfluß theils der gemein-

ſamen chriſtlichen Geſittung, theils des wahren Vortheils,

der daraus für alle Theile hervorgeht.

 

Auf dieſem Wege kommen wir dahin, die Colliſion der

Territorialrechte unabhängiger Staaten, von welcher gegen-

wärtig die Rede iſt, weſentlich nach denſelben Grundſätzen zu

behandeln, welche für die Colliſion verſchiedener Particular-

rechte deſſelben Staates gelten (§ 347), und dieſe Gleich-

ſtellung iſt für die geſammte folgende Unterſuchung maaß-

gebend.

 

Für beide Arten der Colliſion läßt ſich nunmehr die

gemeinſame Aufgabe dahin beſtimmen,

 

|0050 : 28|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

daß bei jedem Rechtsverhältniß dasjenige

Rechtsgebiet aufgeſucht werde, welchem

dieſes Rechtsverhältniß ſeiner eigen-

thümlichen Natur nach angehört oder

unterworfen iſt.

Man kann dieſe Gleichſtellung, im Gegenſatz des oben

erwähnten ſtrengen Rechts, als freundliche Zulaſſung unter

ſouveränen Staaten bezeichnen, nämlich als Zulaſſung ur-

ſprünglich fremder Geſetze unter die Quellen, aus welchen

die einheimiſchen Gerichte die Beurtheilung mancher Rechts-

verhältniſſe zu ſchöpfen haben (f).

 

Nur darf dieſe Zulaſſung nicht gedacht werden als

Ausfluß bloßer Großmuth oder Willkür, die zugleich als

zufällig wechſelnd und vorübergehend zu denken wäre.

Vielmehr iſt darin eine eigenthümliche und fortſchreitende

Rechtsentwickelung zu erkennen, gleichen Schritt haltend

mit der Behandlung der Colliſionen unter den Particular-

rechten deſſelben Staates (g).

 

(f) Huber de conflictu le-

gum § 2. „Rectores imperiorum

id comiter agunt, ut jura cujus-

que populi … teneant ubique

suam vim“. I. Voet. de statu-

tis § 1. 12. 17. „Dein quid

ex comitate gens genti …

liberaliter et officiose indul-

geat, permittat, patiatur, ultro

citroque“ … — Story con-

flict of laws § 24—38.

(g) Ich kann daher nicht über-

einſtimmen mit Wächter I. S. 240.

II. S. 12—15, wenn er hierin ſo

ſehr warnt gegen Verwechſelung

des richterlichen und legislativen

Standpunktes. Was er zu dem

legislativen Standpunkt rechnet,

fällt gewiß großentheils in den

richterlichen, bei einem Gegenſtand

den die Geſetzgebung ohnehin

der wiſſenſchaftlichen Entwickelung

|0051 : 29|

§. 348. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten.

Nur dadurch muß die eben behauptete Gleichſtellung

beider Arten der Colliſion beſchränkt werden, daß bei wi-

derſtreitenden Particularrechten (§ 347) die Colliſionsfrage

entſchieden werden kann durch ein über beiden Particular-

rechten ſtehendes gemeinſames Landesgeſetz. Eine ſolche

mögliche Auskunft kann bei widerſtreitenden Geſetzen ver-

ſchiedener unabhängiger Staaten allerdings nicht eintreten.

 

Dieſer Standpunkt einer völkerrechtlichen Gemeinſchaft

unter unabhängigen Staaten, aus welchem dann die An-

näherung zu einer gegenſeitigen Gleichſtellung in der Be-

handlung der Colliſion verſchiedener poſitiver Rechte hervor-

gegangen iſt, war den Römern fremd. Der Verkehr der

Völker mußte erſt den ungeheuren Schwung erhalten haben,

den wir in neueren Zeiten wahrnehmen, damit das Be-

dürfniß ſolche Grundſätze zur Anerkennung und Ausbildung

bringen konnte.

 

Wenn dieſer Standpunkt bei neueren Schriftſtellern

nicht geradezu wörtliche Anerkennung gefunden hat, ſo liegt

er doch, dem Weſen nach, zum Grunde bei dem in dieſer

Unterſuchung häufig geltend gemachten allgemeinen Gewohn-

heitsrecht (h). Zwar wird dieſes Gewohnheitsrecht vor-

zugsweiſe behauptet für das Gebiet des gemeinen deutſchen

 

größtentheils überlaſſen hat. Auch

liegt eine Annäherung an die hier

aufgeſtellte Anſicht in einer anderen

Stelle von Wächter (I. 265),

worin er den Richter auf Richtung,

Sinn und Geiſt ſeiner Landesge-

ſetze verweiſt.

(h) Wächter I. S. 255—261.

II. S. 175—177. S. 195. S. 371.

— Schäffner § 21.

|0052 : 30|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Rechts. Allein die Ableitung deſſelben aus der (ſtets fort-

ſchreitenden) Uebereinſtimmung der Schriftſteller und der

Richterſprüche führt gerade hier unwiderſtehlich über dieſe

Gränze hinaus. Auch daß ſehr gewöhnlich über den In-

halt und die Gränzen jenes Gewohnheitsrechts geſtritten

wird, kann hierin Nichts ändern. Die gemeinſame An-

nahme des Daſeyns deſſelben, und das gemeinſame Suchen

nach deſſen Inhalt, iſt entſcheidend für die hier aufgeſtellte

Behauptung. Schwankende und durch einander gehende

Meinungen aber können am wenigſten befremden in einer

Rechtslehre, die, ſo wie die hier vorliegende, noch erſt im

Werden begriffen iſt (i).

Die hier aufgeſtellten Grundſätze über die mögliche,

wünſchenswerthe, zu erwartende völkerrechtliche Gemein-

ſchaft in der Behandlung der Colliſionen örtlicher Rechte

können eine beſondere Förderung erhalten, wenn über dieſen

Gegenſtand unter verſchiedenen, beſonders unter benach-

barten Staaten, bei welchen die Colliſionsfälle am häufigſten

eintreten, Staatsverträge geſchloſſen werden. Solche

Staatsverträge ſind nicht blos von Rechtslehrern lebhaft

gewünſcht und empfohlen worden, ſondern auch in der

That ſchon vorlängſt zu Stande gekommen (k). Es würde

 

(i) Vgl. hierüber die Vorrede zum gegenwärtigen Bande.

(k) I. Voet. § 1. 12. 17.

|0053 : 31|

§. 348. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten.

unrichtig ſein, ſolche Verträge, wo ſie ſich finden, ſo aufzu-

faſſen, als werde darin etwas ganz Neues poſitiv feſtge-

ſtellt, ſo daß, abgeſehen von denſelben, und vor ihrer Zeit,

etwa gerade das Gegentheil gegolten haben müßte. Viel-

mehr ſind ſie faſt immer als der Ausdruck der oben dar-

gelegten allgemeinen Rechtsgemeinſchaft anzuſehen, mithin

als Verſuche, dieſe Rechtsgemeinſchaft ſtets vollſtändiger zur

Anerkennung zu bringen.

Kein Staat hat in neuerer Zeit ſo zahlreiche Verträge

dieſer Art mit anderen Staaten geſchloſſen, als der Preußi-

ſche, und in dieſen Verträgen beſonders iſt der eben aufge-

ſtellte Geſichtspunkt ganz unverkennbar vorherrſchend geweſen.

Ich will hier eine Ueberſicht dieſer Preußiſchen Staatsver-

träge mit Nachbarſtaaten geben, um in der Folge dieſer

Unterſuchung leichter darauf zurückweiſen zu können.

 

Vertrag mit Sachſen-Weimar 1824, Geſetz-Sammlung

1824. S. 149.

‒ ‒ Sachſen-Altenburg 1832, ‒

1832. S. 105.

‒ ‒ Sachſen-Coburg-Gotha 1833, ‒

1834. S. 9.

‒ ‒ Reuß-Gera 1834, ‒

1834. S. 124.

‒ ‒ Königreich Sachſen 1839, ‒

1839. S. 353.

‒ ‒ Schwarzburg-Rudolſtadt 1840, ‒

1840. S. 239.

|0054 : 32|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Vertrag mit Anhalt-Bernburg 1840, Geſetz-Sammlung

1840. S. 250.

‒ ‒ Braunſchweig 1841, ‒

1842. S. 1.

§. 349.

Widerſtreitende Territorialrechte in verſchiedenen

Staaten. (Fortſetzung.)

Unſere Unterſuchung hat bisher dahin geführt, daß auch

bei der Entſcheidung über ſolche Rechtsverhältniſſe, welche

mit verſchiedenen unabhängigen Staaten in Berührung

kommen, der Richter dasjenige örtliche Recht anzuwenden

hat, dem das ſtreitige Rechtsverhältniß angehört, ohne Un-

terſchied, ob dieſes örtliche Recht das einheimiſche Recht

dieſes Richters, oder das Recht eines fremden Staates

ſein mag (§ 348.).

 

Dieſer Grundſatz aber muß nunmehr beſchränkt werden

mit Rückſicht auf manche Arten von Geſetzen, deren beſon-

dere Natur einer ſo freien Behandlung der Rechtsgemein-

ſchaft unter verſchiedenen Staaten widerſtrebt. Bei ſolchen

Geſetzen wird der Richter das einheimiſche Recht aus-

ſchließender anzuwenden haben, als es jener Grundſatz ge-

ſtattet, das fremde Recht dagegen unangewendet laſſen

müſſen, auch wo jener Grundſatz die Anwendung rechtfer-

tigen würde. Daraus entſteht eine Reihe von Ausnahme-

fällen wichtiger Art, deren Gränzen feſtzuſtellen vielleicht

die ſchwierigſte Aufgabe in dieſer ganzen Lehre ſein mag.

 

|0055 : 33|

§. 349. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten. (Fortſ.)

Die oft unbewußte Rückſicht unſerer Schriftſteller auf dieſe

Ausnahmefälle hat nicht wenig dazu beigetragen, die über-

einſtimmende Anerkennung der Regeln zu verhindern, die

durch dieſelben beſchränkt werden. Sollte es gelingen, jene

Ausnahmen als ſolche, und zugleich die wahren Gränzen

derſelben, auf überzeugende Weiſe feſtzuſtellen, ſo dürfte da-

durch vielleicht mancher Widerſtreit über die Regeln ſelbſt

beſeitigt, und ſo die gegenſeitige Annäherung der ſtreitenden

Parteien gefördert werden.

Ich will es verſuchen, die angedeuteten Ausnahmen

auf zwei Klaſſen zurückzuführen:

 

A. Geſetze von ſtreng poſitiver, zwingender

Natur, die eben wegen dieſer Natur zu

jener freien Behandlung, unabhängig von

den Gränzen verſchiedener Staaten, nicht

geeignet ſind.

B. Rechtsinſtitute eines fremden Staates, de-

ren Daſein in dem unſrigen überhaupt

nicht anerkannt iſt, die alſo deswegen auf

Rechtsſchutz in unſerm Staate keinen An-

ſpruch haben.

A. Geſetze von ſtreng poſitiver, zwingender Natur.

Schon oben ſind verſchiedene Gegenſätze in der Natur

und Herkunft der Rechtsregeln hervor gehoben worden (a).

An dieſe müſſen wir hier anknüpfen, wir reichen damit

 

(a) S. o. B. 1 § 15. 16. 22.

VIII. 3

|0056 : 34|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

aber für den gegenwärtigen Zweck nicht aus, müſſen viel-

mehr die verſchiedene Natur der Rechtsregeln noch genauer

betrachten.

Zwar könnte man glauben, hier auszureichen mit der

Unterſcheidung abſoluter und vermittelnder Rechtsregeln

(§ 16), allein auch darin würde man ſich täuſchen. Zwar

iſt dieſe Unterſcheidung inſofern von einigem Einfluß auf

unſre Frage, als niemals eine blos vermittelnde Rechts-

regel in die Reihe jener Ausnahmefälle gehören wird (b).

Dagegen würde es umgekehrt ganz irrig ſein, allen abſo-

luten Geſetzen eine ſo poſitive, zwingende Natur zuzuſchrei-

ben, daß ſie unter die Ausnahmefälle gerechnet werden

müßten. So z. B. gehört jedes Geſetz über den Anfang

der Volljährigkeit unter die abſoluten Geſetze, weil es nicht

blos in Ermangelung einer anders beſtimmenden Privat-

willkür wirken ſoll; dennoch ſind Alle darüber einig, daß

gerade dieſes Geſetz auch außer den Gränzen des Staates,

worin es gegeben iſt, unbedenklich wirken kann (§ 362).

 

Ob nun irgend ein Geſetz unter die Ausnahmefälle zu

rechnen iſt, das hängt vor Allem von der Abſicht des Ge-

ſetzgebers ab. Hat dieſer ſich darüber ausdrücklich erklärt,

 

(b) Jedes Geſetz über die In-

teſtaterbfolge iſt ein vermittelndes,

weil es nur wirkt in Ermangelung

eines letzten Willens. Daher iſt

es auch allgemein anerkannt, daß

ſolche Geſetze außer dem Ge-

biete, wofür ſie gegeben ſind,

wirken können; denn die häufigen

abweichenden Meinungen betreffen

nicht dieſe Geſetze an ſich, ſondern

nur ihre Anwendung auf das

Grundeigenthum, wovon unten

ausführlich die Rede ſein wird

(§. 376).

|0057 : 35|

§. 346. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten. (Fortſ.)

ſo muß dieſe Erklärung gelten, da dieſelbe dann die Na-

tur eines Geſetzes über die Colliſion hat, welches

ſtets unbedingt befolgt werden muß (§ 348 d.). Allein an

einer ſolchen ausdrücklichen Erklärung wird es meiſt fehlen,

und dann bleibt Nichts übrig, als auf die verſchiedene Na-

tur der abſoluten Geſetze zurück zu gehen, die uns auf fol-

gende Unterſcheidung führen muß.

Eine Klaſſe der abſoluten Geſetze hat keinen anderen

Grund und Zweck, als die Handhabung des Rechts durch

feſte Regeln zu ſichern, ſo daß ſie erlaſſen werden lediglich

um der Perſonen Willen, welche die Träger der Rechte

ſind. Dahin gehören die Geſetze über die Einſchränkung

der Handlungsfähigkeit wegen des Alters, des Geſchlechts

u. ſ. w. Ferner die Geſetze über die Formen der Ueber-

tragung des Eigenthums (durch bloßen Vertrag oder durch

Uebergabe). — Bei allen Geſetzen ſolcher Art iſt kein Grund

vorhanden, ſie unter die Ausnahmefälle zu rechnen, die da-

bei eintretende Colliſionen können vielmehr nach dem Grund-

ſatz der freieſten Rechtsgemeinſchaft geſchlichtet werden, da

jeder Staat unbedenklich auch innerhalb ſeiner Gränzen

dem fremden Geſetze ſolcher Art eine Einwirkung geſtat-

ten kann.

 

Eine andere Klaſſe der abſoluten Geſetze dagegen

hat ihren Grund und Zweck außer dem reinen, in ſeinem

abſtracten Daſein aufgefaßten, Rechtsgebiet (c), ſo daß ſie

 

(c) „contra rationem juris“, ſ. o. B. 1 § 16 Note p.

3*

|0058 : 36|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

erlaſſen werden nicht lediglich um der Perſonen Willen,

welche die Träger der Rechte ſind. — Die Geſetze dieſer

Klaſſe können beruhen auf ſittlichen Gründen. Dahin

gehört jedes Ehegeſetz, welches die Polygamie ausſchließt.

— Sie können auch beruhen auf Gründen des öffent-

lichen Wohls (publica utilitas), mögen dieſe nun mehr

einen politiſchen, einen polizeilichen, oder einen volkswirth-

ſchaftlichen Charakter an ſich tragen. Dahin gehören

manche Geſetze, welche den Erwerb des Grundeigenthums

von Seiten der Juden einſchränken.

Alle Geſetze ſolcher Art gehören zu den oben erwähn-

ten Ausnahmefällen, ſo daß in Beziehung auf ihre Anwen-

dung jeder Staat für ſich als völlig abgeſchloſſen erſcheint.

— Schließt alſo das Geſetz unſers Staates die Polygamie

aus, ſo muß unſer Richter auch der polygamiſchen Ehe

ſolcher Ausländer, deren Landesgeſetz ſie zuläßt, den Rechts-

ſchutz verſagen. — Unterſagt unſer Geſetz den Juden die

Erwerbung des Grundeigenthums, ſo muß unſer Richter

nicht nur den einheimiſchen Juden den Erwerb unterſagen,

ſondern auch den auswärtigen, in deren Staat ein ſolches

Verbot nicht beſteht, wenngleich nach den allgemeinen Re-

geln über die Colliſion die perſönliche Rechtsfähigkeit und

Handlungsfähigkeit nach den Geſetzen des Wohnſitzes der

Perſon beurtheilt werden müßte. Ebenſo aber umgekehrt

wird der fremde Staat, deſſen Geſetz eine ſolche Beſchrän-

kung der Juden nicht kennt, auch die unſerm Staate ange-

 

|0059 : 37|

§. 349. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten. (Fortſ.)

hörenden Juden zum Grundbeſitz zulaſſen, ohne Rückſicht

auf das beſchränkende Geſetz ihres perſönlichen Wohnſitzes.

B. Rechtsinſtitute eines fremden Staates, deren Daſein

in dem unſrigen überhaupt nicht anerkannt iſt.

Der Richter eines Staates, dem der bürgerliche Tod

der Franzöſiſchen oder Ruſſiſchen Geſetzgebung unbekannt

iſt, wird auf Perſonen, die in dieſen Ländern dem bürger-

lichen Tode unterworfen worden ſind, die damit verbundene

Rechtsunfähigkeit nicht anzuwenden haben, wenngleich, nach

allgemeinen Regeln über die Colliſion, der perſönliche Zu-

ſtand beurtheilt werden müßte nach dem am Wohnſitz gel-

tenden Recht (d). — Eben ſo wird in einem Staate, der

die Sklaverei nicht kennt, ein Negerſklave, der ſich daſelbſt

aufhält, nicht als Eigenthum ſeines Herrn, und nicht als

rechtsunfähig, behandelt werden können (e). In dieſem

letzten Fall werden ſogar beide hier aufgeſtellte Geſichts-

punkte zuſammen treffen, und zu einem und demſelben Ziele

führen. Die Sklaverei iſt als Rechtsinſtitut unſerm Staate

fremd, in ihm nicht anerkannt; und zugleich iſt es von

unſerm Standpunkte aus etwas durchaus Unſittliches, einen

Menſchen als Sache zu behandeln. Bei dem vorher ange-

führten Fall des bürgerlichen Todes würde nur der erſte

Grund geltend gemacht werden können, nicht der zweite, da

 

(d) Vgl. oben B. 2 § 75. —

Anderer Meinung iſt in dieſem

Punkte Schäffner § 35, außer

wenn man etwa die auswärtige

Wirkſamkeit des Straferkennt-

niſſes verneinen möchte.

(e) Wächter II. S. 172.

Schäffner § 34.

|0060 : 38|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

der bürgerliche Tod nicht unſittlicher iſt, als jede andere

ſehr harte Strafe.

Die hier zuſammen geſtellten Klaſſen abſoluter Geſetze,

ſo verſchieden von einander ſie außerdem ſein mögen, kom-

men darin überein, daß ſie ſich der für die Colliſion des

örtlichen Rechts im Allgemeinen geforderten Rechtsgemein-

ſchaft aller Staaten entziehen, daß ſie alſo in dieſer Hin-

ſicht eine anomale Natur haben. Es iſt aber zu erwarten,

daß dieſe Ausnahmefälle, in Folge der natürlichen Rechts-

entwickelung der Völker, ſich fortwährend vermindern

werden (f).

 

Die in dem gegenwärtigen Paragraphen abgehandelten

Ausnahmen von den ſonſt geltenden Regeln der Colliſion

beziehen ſich zunächſt auf die widerſtreitenden Territorial-

rechte verſchiedener Staaten. Bei den Particularrechten

eines und deſſelben Staates (§ 347) werden ähnliche Ver-

hältniſſe weit ſeltener vorkommen, da die oben charakteri-

ſirten Geſetze von ſtreng poſitiver, zwingender Natur meiſt-

für den ganzen Umfang eines Staates erlaſſen werden, alſo

ohne Rückſicht auf die Gränzen particulärer Rechte. Doch

kommen auch innerhalb deſſelben Staates ſolche anomale

 

(f) Die wichtigſten und mannich-

faltigſten Anwendungen der hier

aufgeſtellten Regeln werden unten

in der Lehre von der Rechtsfähig-

keit und Handlungsfähigkeit vor-

kommen (§ 365). Was nun hier

vielleicht in einer zu abſtracten

Geſtalt erſcheint, wird dort mehr

Anſchaulichkeit gewinnen, und

durch dieſe geeigneter ſein, Ueber-

zeugung zu bewirken.

|0061 : 39|

§. 349. Widerſtreit. Territorialrechte in verſchied. Staaten. (Fortſ.)

Verhältniſſe vor, wenn nämlich die Verſchiedenheit örtlicher

Rechte aus einer Zeit herrührt, in welcher manche gegen-

wärtige Beſtandtheile des Staates noch nicht zu ihm ge-

hört haben. Dieſes gilt namentlich von dem Recht der

Preußiſchen Rheinprovinz im Verhältniß zu dem in den

übrigen Preußiſchen Provinzen geltenden Recht. Dann

werden die in dem gegenwärtigen Paragraphen aufgeſtell-

ten beſonderen Regeln auch innerhalb der Gränzen deſſelben

Staates zur Anwendung kommen können.

§. 350.

Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

Einleitung.

Unſere Unterſuchung hat bis jetzt dahin geführt, daß

die Colliſion verſchiedener poſitiver Rechte in der Beur-

theilung eines Rechtsverhältniſſes zunächſt und hauptſächlich

zu entſcheiden iſt nach dem Rechtszuſtand der Perſon,

welche in dieſem Rechtsverhältniß ſteht, und daß ſelbſt die

zahlreichen und wichtigen Abweichungen von dieſem Grund-

ſatz nur im Zuſammenhang mit denſelben und als Modifi-

cationen deſſelben richtig verſtanden werden können (§ 345).

Es wurde ferner gezeigt, daß der Rechtszuſtand der Perſon,

nach der ſeit langer Zeit allgemein anerkannten Regel, durch

das Landgebiet (nicht durch die Abſtammung) beſtimmt

werde (§ 346—348).

 

Allein auch dieſe gewonnene Einſicht hat nur erſt eine

formelle Bedeutung. Denn es bleibt noch die Frage übrig:

 

|0062 : 40|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Wodurch wird die einzelne Perſon mit ihrem Rechtszuſtand

an das Land gebunden? Welches iſt alſo der Grund, der

zwiſchen der Perſon und dem Territorialrecht den Zuſammen-

hang vermittelt? Unſere nächſte Aufgabe muß auf die Be-

antwortung dieſer Frage gerichtet ſein.

Hier treten uns nun zwei thatſächliche Verhältniſſe als

ſolche Vermittelungsgründe entgegen: Origo und domicilium,

Herkunft und Wohnſitz. Wir haben uns die Bedeutung

derſelben, den juriſtiſchen Einfluß, das Verhältniß beider

zu einander klar zu machen.

 

Daran nun zweifelt Niemand, daß uns ſowohl dieſe

Ausdrücke, als die mit denſelben bezeichneten Rechtsbegriffe,

durch das Römiſche Recht zugekommen ſind: Alle, die davon

Anwendung machen, gehen auf die Quellen des Römiſchen

Rechts zurück. Wir müſſen alſo vor Allem genau feſtzu-

ſtellen ſuchen, was ſich die Römiſchen Juriſten unter jenen

Ausdrücken denken, und welchen Einfluß ſie den dadurch

bezeichneten Rechtsbegriffen beilegen. Damit iſt aber keines-

weges geſagt, daß die Römiſche Auffaſſung derſelben auch

für uns maaßgebend ſein müſſe. Vielmehr wird ſich im

Fortgang der Unterſuchung zeigen, daß eben hierin unſer

Rechtszuſtand die größten Abweichungen von dem Römiſchen

darbietet. Es ſoll zunächſt nur gegen die auf bloßen Miß-

verſtändniſſen beruhende Anwendung vermeintlicher Römiſcher

Kunſtausdrücke und Rechtsbegriffe ein ſicherer Schutz ge-

währt werden.

 

Hierin nun hat es mit einem der angeführten Aus-

 

|0063 : 41|

§. 350. Origo und domicilium. Einleitung.

drücke, dem domicilium, wenig Gefahr, indem ſich hierin

der Rechtszuſtand weſentlich nicht verändert hat, dabei alſo

ſchon die tägliche Anwendung hinreicht, die richtige Auf-

faſſung feſtzuhalten. Anders verhält es ſich mit der origo

(Herkunft); und zwar auch hier nicht etwa deshalb, weil

die Ausſprüche des Römiſchen Rechts über dieſen Gegen-

ſtand dunkel oder zweideutig wären, ſondern weil hierin

unſer Rechtszuſtand von dem Römiſchen durchaus verſchie-

den iſt, die Lebenserfahrung alſo nicht ſchon als Schutz gegen

eine unrichtige Auffaſſung der Begriffe dienen kann. Da

nun der eben erwähnte Ausdruck an ſich leicht dahin führt,

ihn von dem Geburtsort zu verſtehen, ſo hat ſich dieſer

letzte Begriff bei den neueren Rechtslehrern häufig Geltung

verſchafft, auch bei denen, die daneben die wahre Bedeutung

der origo aus den Quellen des Römiſchen Rechts an-

geben (a). Der bloße Geburtsort an ſich aber iſt ein höchſt

zufälliger Umſtand, ohne allen juriſtiſchen Einfluß.

Bevor nun der wahre Sinn jener Kunſtausdrücke feſt-

geſtellt werden kann, muß bemerklich gemacht werden, daß

die praktiſche Bedeutung derſelben keinesweges auf die Ent-

 

(a) Voet. ad Pand. V. 1.

§. 91. „Est autem originis lo-

cus, in quo quis natus est, aut

nasci debuit, licet forte re

ipsa alibi natus esset, matre in

peregrinatione parturiente.“

Durch den Zuſatz wird allerdings

den nachtheiligen Folgen des fal-

ſchen Grundbegriffs entgegen ge-

arbeitet; die folgenden Allegate

aber erwähnen, daß hierin die

Meinungen ſchwankend ſeien. Eben

ſo iſt Glück B. 6 § 511 ſchwan-

kend und verworren, indem mitten

in die richtigen Angaben immer

wieder der Geburtsort hinein

ſpielt.

|0064 : 42|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſcheidung unſrer Colliſionsfrage, als auf eine vereinzelte

Folge, eingeſchränkt werden darf, ſondern daß vielmehr

dieſe Entſcheidung ſelbſt nur als einzelnes Stück eines

größeren Zuſammenhanges aufgefaßt werden darf.

Jeder Einzelne nämlich iſt in den Verhältniſſen des

öffentlichen Rechts in einer zweifachen Abhängigkeit oder

Verpflichtung zu denken. Erſtlich zu dem Staate im

Ganzen, dem er als Bürger und Unterthan angehört.

Zweitens zu irgend einem engeren, örtlichen Kreiſe (nach

Römiſcher Verfaſſung einer Stadtgemeinde), der ein orga-

niſches Glied jenes größeren Ganzen bildet. Die Abhängig-

keit von dieſem engeren Kreiſe, der Zuſammenhang mit

demſelben, erſcheint in mannichfaltigen wichtigen Folgen;

nach Römiſchem Recht bald in der Verpflichtung zu ſtädti-

ſchen Laſten (munera); bald in dem Gehorſam gegen ſtäd-

tiſche Obrigkeiten; bald in dem ſtädtiſchen poſitiven Recht,

welches als das perſönliche Recht dieſes Einzelnen anzu-

ſehen iſt.

 

Der Gehorſam gegen die örtlichen Obrigkeiten zeigt ſich

in dem Gerichtsſtand, dem jeder Einzelne regelmäßig unter-

worfen iſt, dem forum originis und forum domicilii.

 

Das örtliche poſitive Recht endlich, als das perſönliche

Recht jedes Einzelnen, war die Veranlaſſung, dieſen Ge-

genſtand ſchon an dieſer Stelle vorläufig zur Sprache zu

bringen; es ſollte namentlich ſchon im Eingang auf den

Zuſammenhang zwiſchen dem Gerichtsſtand und dem per-

 

|0065 : 43|

§. 350. Origo und domicilium. Einleitung.

ſönlichen Recht (forum und lex originis, forum und lex

domicilii) aufmerkſam gemacht werden (b).

Nach dieſer Vorbemerkung ſoll nunmehr ſowohl die

wahre Bedeutung von origo und domicilium im Römiſchen

Recht, als das praktiſche Verhältniß dieſer beiden Begriffe

zu einander, feſtgeſtellt werden. Es verhält ſich nämlich

damit alſo, daß für jeden Einzelnen durch origo und

domicilium beſtimmt wird:

 

1. Die Verpflichtung zur Theilnahme an ſtädtiſchen Laſten

(munera).

2. Der Gehorſam gegen die ſtädtiſchen Obrigkeiten, ins-

beſondere der davon abhängende perſönliche Gerichts-

ſtand.

3. Das auf ihn anwendbare eigenthümliche Recht einer

Stadt als Eigenſchaft ſeiner Perſon.

Und zwar werden dieſe Wirkungen hervorgebracht bald

von den beiden oben bezeichneten Verhältniſſen (origo und

domicilium) neben einander, ſo daß ſie an zwei verſchie-

denen Orten zugleich eintreten können, bald von einem der-

ſelben allein. Alles Dieſes ſoll nunmehr näher beſtimmt

werden.

 

(b) Es darf nicht anſtößig

gefunden werden, daß hier von

dieſen Dingen in ſo allgemeinen,

abſtracten Ausdrücken geſprochen

wird. Die genauere Beſtimmung

und Bezeichnung iſt erſt im Fort-

gang der Unterſuchung möglich,

und zwar ſowohl für das Römi-

ſche Recht, als für das heutige.

|0066 : 44|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

§. 351.

Die Römiſche Lehre von origo und domicilium

I. Origo.

Gemeinſame Quellen für origo und domicilium.

 

Dig. L. 1. (ad municipalem et de incolis), und L. 4. (de

muneribus et honoribus).

Cod. X. 38. (de municipibus et originariis), und X. 39.

(de incolis, et ubi quis domicilium habere videtur,

et de his, qui studiorum causa in alia civitate degunt).

Zur Zeit der ausgebildeten Römiſchen Verfaſſung gegen

das Ende der Republik und in den erſten Jahrhunderten

der Kaiſerregierung, war der Zuſtand der einzelnen Beſtand-

theile des Römiſchen Reichs folgender (a).

 

Ganz Italien, außer der Stadt Rom, beſtand aus einer

großen Zahl von Stadtgemeinden, meiſt Municipien und

Colonieen, nebſt einigen untergeordneten Klaſſen von Ge-

meinden. Jede derſelben hatte eine mehr oder weniger

ſelbſtſtändige Verfaſſung, mit eigenen Obrigkeiten, mit Ge-

richtsbarkeit, und ſelbſt mit beſonderer Geſetzgebung (§ 347 d.).

Der ganze Boden von Italien alſo, mit Ausnahme der

Stadt Rom und ihres beſonderen Gebietes, war in den

Gebieten dieſer Städte enthalten, und alle einzelne Ein-

 

(a) Vgl. Savigny Geſchichte des Römiſchen Rechts im Mittel-

alter. B. 1. Kap. 2.

|0067 : 45|

§. 351. Origo und domicilium I. Origo.

wohner von Italien waren Angehörige entweder der Stadt

Rom, oder irgend einer dieſer ſtädtiſchen Gemeinden.

Die Provinzen dagegen hatten urſprünglich ſehr ver-

ſchiedene Verfaſſungen. Indeſſen wurden ſie allmälig immer

mehr der Städteverfaſſung von Italien angenähert, wenn

gleich dieſe nicht ſo vollſtändig und eingreifend in ihnen

durchgeführt wurde. Zur Zeit der großen Juriſten, im

zweiten und dritten Jahrhundert unſrer Zeitrechnung, konnte

man den ſo eben für Italien aufgeſtellten Grundſatz faſt

auf das ganze Reich anwenden: der Boden des Reichs

war faſt ganz in beſtimmten Stadtgebieten enthalten, und

die Einwohner des Reichs waren nunmehr Angehörige ent-

weder der Stadt Rom, oder irgend einer anderen ſtädtiſchen

Gemeinde (b).

 

Die Stadtgemeinden führen den gemeinſamen Namen

civitates oder respublicae (c). Das Gebiet jeder Stadt

heißt territorium, auch wohl regio (d). Jedes ſtädtiſche

Gebiet, und die demſelben angehörende Gemeinde, umfaßte

 

(b) In wiefern ſie auch beides

zugleich ſeyn konnten, ſpäterhin

ſogar ſein mußten, wird weiter

unten feſtgeſtellt werden.

(c) S. o. B. 2 § 87. Auch

municipes, als collectiver Aus-

druck, wird häufig gebraucht, um

die Gemeinde ſelbſt, als juriſtiſche

Perſon, zu bezeichnen; der Aus-

druck ſteht dann für municipium,

welches letzte aber gerade in dieſer

abſtracten Bedeutung (für Städte

jeder Art) nicht üblich iſt (§ 352.

f. g).

(d) Territorium. L. 239 § 8

de V. S. (50. 16), L. 20 de jurisd.

(2. 1), L. 20 de jud. (5. 1),

L 53 C. de decur. (10. 31). —

Regio. Siculus Flaccus de

condicionibus agrorum, gleich

im Anfang der Schrift, p. 135 der

Gromatici veteres ed. Lach-

mann Berol. 1848.

|0068 : 46|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

zugleich die in deſſen Gränzen befindlichen vici (e), ſo wie

die darin einzeln liegenden Höfe, in welchen zu allen Zeiten

ein ſo großer Theil der Bevölkerung von Italien enthalten

war. Aus dieſem Grunde eben läßt ſich behaupten, daß

faſt der geſammte Boden des Reichs in einer großen Zahl

von Stadtgebieten aufging.

Es iſt nunmehr zu beſtimmen, wie jeder Einzelne An-

gehöriger einer Stadtgemeinde wird, alſo zu ihr in ein

beſtimmtes Verhältniß der Abhängigkeit tritt. Dieſes ge-

ſchieht auf zweierlei Weiſe: erſtlich durch das Bürger-

recht der Gemeinde (origo), zweitens durch den Wohn-

ſitz in dem Stadtgebiet (domicilium).

 

I. Bürgerrecht.

 

Das Bürgerrecht wird erworben durch folgende That-

ſachen: Geburt, Adoption, Freilaſſung, Auf-

nahme (f).

 

1. Geburt (origo, nativitas) (Note f.).

Dieſe Entſtehungsart iſt völlig unabhängig von

dem freien Willen Desjenigen, der dadurch der Stadt

angehört.

Sie iſt die regelmäßige und häufigſte, und daher

wird ganz gewöhnlich der Name derſelben gebraucht,

 

(e) L. 30 ad mun. (50. 1).

In der älteren Zeit gab es auch

vici, die eine eigene res publica

hatten. Festus v. vici.

(f) L. 1 pr. ad mun. (50. 1).

„Municipem aut nativitas facit,

aut munumissio, aut adoptio“.

L. 7 C. de incolis (10. 39) „Cives

quidem origo, manumissio, allec-

tio, vel adoptio, incolas vero ..

domicilium facit“.

|0069 : 47|

§. 351. Origo und domicilium. I. Origo.

um das Bürgerverhältniß ſelbſt, das dadurch ent-

ſteht, zu bezeichnen (g).

Es iſt damit gemeint die Erzeugung in einer

rechtsgültigen Ehe, wenn der Vater ſelbſt das Bür-

gerrecht hat (h). Die Vaterſtadt der Mutter iſt

dabei in der Regel ohne Einfluß, jedoch hatten einige

Städte das beſondere Privilegium, daß auch das

Bürgerrecht der ihnen angehörenden Frauen auf die

ehelichen Kinder derſelben übergehen ſollte (i). —

Uneheliche Kinder ſollten durch origo das Bürger-

recht in der Vaterſtadt der Mutter erwerben (k).

2. Adoption (Note f.).

Dadurch wird das angeborne Bürgerrecht nicht auf-

gehoben, ſondern der Adoptivſohn hat nunmehr ein

zweifaches Bürgerverhältniß, welches auch auf deſſen

Kinder forterbt (l). — Die Emancipation des Adop-

tivkindes aber zerſtört jede Wirkung der Adoption,

und ſo auch dieſe dem öffentlichen Rechte angehö-

rende Wirkung (m).

(g) L. 6 pr. § 1. 3. L. 9

ad mun. (50. 1). L. 15 § 3 eod.

(jus originis). — Andere, aller-

dings genauer redende, Stellen

nennen das Rechtsverhältntß (deſſen

Entſtehung nur die origo iſt, und

zwar nicht immer) patria oder

civitas. L. 27 pr. L. 30 eod.

(h) L. 1 § 2. L. 6 § 1 ad

mun. (50. 1). L. 3 C. de munic.

(10. 38).

(i) L. 1 § 2 ad mun. (50. 1).

Es iſt nicht klar, ob nun das Kind

nur in der Vaterſtadt der Mutter

Bürger ſein ſollte, oder in beiden

Städten. Das Letzte iſt wohl an

ſich wahrſcheinlicher.

(k) L. 1 § 2. L. 9 ad mun.

(50. 1).

(l) L. 15 § 3. L. 17 § 9

ad mun. (50. 1).

(m) L. 16 ad mun. (50. 1).

|0070 : 48|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

3. Freilaſſung (Note f).

Der freigelaſſene Sklave konnte kein angebornes

Recht haben. Dagegen erwarb er durch die Frei-

laſſung das Bürgerrecht in der Vaterſtadt des Pa-

trons, welches dann wiederum auf ſeine Kinder fort-

erbte. Hatte der Patron ein mehrfaches Bürger-

recht, oder wurde ein gemeinſchaftlicher Sklave meh-

rerer Herren von dieſen freigelaſſen, ſo konnte auch

durch die Freilaſſung ein mehrfaches Bürgerrecht

entſtehen (n).

4. Aufnahme (allectio) (o).

Darunter iſt zu verſtehen die freiwillige Gewährung

des Bürgerrechts von Seiten der ſtädtiſchen Behörde,

an deren Zuläſſigkeit ohnehin nicht zu zweifeln ſein

würde, auch wenn ſie nicht ausdrücklich bezeugt

wäre.

(n) L. 6 § 3. L. 7. L. 22

pr. L. 27 pr. L. 37 § 1 ad

mun. (50. 1), L. 3 § 8 de mun.

(50. 4.), L. 2 C. de municip.

(10. 38). — Ueber den Text und

den Sinn der L. 22 pr. ad mun.

vgl. Zeitſchrift für geſchichtliche

Rechtswiſſenſchaft B. 9 S. 91 —

98. — Der Erwerb des Stadt-

bürgerrechts durch Freilaſſung konnte

aber nur behauptet werden von

einer vollgültigen Freilaſſung. Die

dediticii wurden nicht Bürger in

der Stadt ihres Patrons (§ 356),

und eben ſo wohl auch die Latini

Juniani.

(o) L. 7 C. de incolis (10. 39)

„allectio vel adoptio“. Daß

in einigen Hſſ. vel fehlt, in an-

deren dafür atque ſteht, hat keinen

Einfluß auf den Sinn. Wichtiger

iſt die Variante: allectio id est

adoptio, welche Cujacius aus

Hſſ. anführt, ohne ſie zu billigen

(in III. libros, opp. II. 737).

Dadurch würde die Aufnahme als

eine beſondere Erwerbungsart ganz

beſeitigt, welche zu bezweifeln jedoch

gar kein Grund vorhanden iſt.

|0071 : 49|

§. 351. Origo und domicilium. I. Origo.

Aufgehoben wurde das Bürgerrecht mit ſeinen Folgen

nicht durch den einſeitigen Willen der Perſonen, die durch

irgend eine der hier angegebenen Thatſachen in daſſelbe ein-

getreten waren (p). — Durch rechtsgültige Ehe in einer

fremden Stadt trat die Ehefrau zwar nicht eigentlich aus

dem angebornen Bürgerverhältniß aus; allein ſie war, wäh-

rend der Dauer der Ehe, von den damit verbundenen per-

ſönlichen Laſten (munera) befreit (q). — Eine ähnliche Be-

freiung von perſönlichen Laſten, ohne gänzliche Zerſtörung

des angebornen Bürgerrechts, galt für den Stadtbürger,

der zur Würde eines Senators des Römiſchen Reichs er-

hoben wurde, ſo wie für deſſen Nachkommenſchaft (r); des-

gleichen für jeden Soldaten, ſo lange ſein Dienſtverhältniß

dauerte (s).

 

Aus den hier aufgeſtellten Regeln folgt der wichtige

Satz, daß nicht ſelten eine und dieſelbe Perſon zu mehreren

Städten des Römiſchen Reichs gleichzeitig in einem wahren

Bürgerverhältniß ſtehen konnte, alſo die Rechte einer jeden

dieſer Städte vereinigte, und die Laſten einer jeden zu tra-

gen hatte (t). So konnte zu dem angeborenen Bürgerrecht

 

(p) L. 6 pr. ad mun. (50. 1),

L. 4. 5 C. de municip. (10. 38). —

Eine Entlaſſung durch die Stadt-

behörde mußte eben ſo gut eintreten

können, als die Aufnahme durch

dieſelbe.

(q) L. 37 § 2. L. 38 § 3 ad

mun. (50. 1). L. 1 C. de muner.

(10. 62).

(r) L. 23 pr. L. 22 § 4. 5 ad

mun. (50. 1).

(s) L. 3 § 1. L. 4 § 3 de

muner. (50 4).

(t) Dieſer Satz ſcheint im Wi-

derſpruch zu ſtehen mit Cicero

pro Balbo Cap. II. „Duarum

civitatum civis esse nostro jure

VIII. 4

|0072 : 50|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ein ſpäteres durch Adoption oder Aufnahme treten, welche

beide neben einander beſtanden (Note l). Und eben ſo konnte

der freigelaſſene Sklave gleich Anfangs in ein mehrfaches

Bürgerverhältniß durch die Freilaſſung gebracht werden

(Note n).

Auf der anderen Seite aber war es denkbar, daß Je-

mand in keiner Stadt ein Bürgerverhältniß hatte, obgleich

dieſer Fall gewiß nicht häufig vorkam. Er mußte eintre-

ten, wenn ein Ausländer als Einwohner in das Römiſche

Reich aufgenommen wurde, ohne durch Aufnahme Bürger

irgend einer einzelnen Stadt zu werden (Note o); eben ſo,

wenn der Bürger irgend einer Stadt aus dem ſtädtiſchen

Verband derſelben entlaſſen wurde (Note p), ohne in eine

andere Bürgergemeinde aufgenommen zu werden; endlich

auch bei den Freigelaſſenen der unterſten Klaſſe, welche

dedititiorum numero waren, und keiner Gemeinde ange-

hörten (u).

 

§. 352.

Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

I. Origo. (Fortſetzung.)

Die urſprüngliche große Verſchiedenheit der Städte-

verfaſſung in Italien und den Provinzen könnte leicht zu

 

civili nemo potest.“ Allein in

dieſer Stelle iſt die Rede von

Städten außer dem Römiſchen

Staate, die als ſouveräne Staaten

neben demſelben ſtanden. Wir

ſprechen von den Städten inner-

halb des Römiſchen Reichs.

(u) Ulpian. XX. § 14.

|0073 : 51|

§. 352. Origo und domicilium. I. Origo. (Fortſ.)

der Annahme verleiten, daß die hier vorgetragenen Regeln

über die Stadtgebiete und das Stadtbürgerrecht nur in

Italien, nicht in den Provinzen, Geltung gehabt hätten.

In der That aber war hierin faſt gar kein Unterſchied.

Die Stadtgebiete (territoria) waren in faſt allen Pro-

vinzen (a) eben ſo abgegränzt, wie in Italien. Dieſe

Gränzen, ſo wie der Einfluß derſelben auf die Verpflich-

tung zu ſtädtiſchen Laſten, namentlich in den zu den Städten

gehörenden Dörfern, gaben auch in den Provinzen nicht

ſelten Anlaß zu Prozeſſen. Nur darin wird ein Unterſchied

bemerkt, daß in manchen Provinzen, namentlich in Afrika,

die Stadtgebiete nicht den ganzen Boden des Landes er-

ſchöpfen, indem hier im Beſitz mancher Privatperſonen, auch

des Kaiſers, ſehr ausgedehnte, zur Weide benutzte, Land-

ſtrecken (saltus) waren, die ganz für ſich beſtanden, und

zu keinem Stadtgebiete gehörten (b).

 

Die oben vorgetragene Lehre von dem Stadtbürgerrecht,

welches durch Geburt, Freilaſſung u. ſ. w. entſtand, wird

von den alten Juriſten in Anwendung auf Provinzialſtädte,

 

(a) Es muß nämlich Aegypten

ausgenommen werden, welches in

jeder Hinſicht eine durch große Be-

ſchränkungen ausgezeichnete Ver-

faſſung hatte. So war daſelbſt

kein Proconſul oder Proprätor,

ſondern nur ein praefectus Au-

gustalis von geringerem Rang.

(Dio Cass. 51. 17, 53. 13,

Tacitus hist. 1.11, Digest. 1. 17).

Eben ſo aber gab es daſelbſt nur

Diſtricte (Nomen), keine Stadt-

gemeinden, und nur in Alexandrien

fand ſich ein Bürgerrecht (Plinius

epist. X. 5. 22. 23).

(b) Agennius Urbicus de

controversiis agrorum p. 84. 85

der Gromatici veteres ed. Lach-

mann Berol. 1848.

4*

|0074 : 52|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ganz ohne Unterſchied von den Italieniſchen Städten, vor-

getragen (c). Eben ſo auch die Anwendung dieſes Rechts

auf die ſtädtiſchen Laſten, ſo wie auf die einzelnen Befrei-

ungen von dieſen Laſten (vacatio und immunitas) (d).

So vielfachen und unzweideutigen Zeugniſſen gegen-

über würde mit Unrecht eine Stelle des Ulpian gel-

tend gemacht werden, zum Beweiſe, daß in den Provinzen

überhaupt kein jus originis, ſondern nur allein das domi-

cilium, beachtet worden wäre (e).

 

Hieran ſchließt ſich folgende, zum Verſtändniß unſerer

Rechtsquellen nicht unwichtige, Bemerkung über den Sprach-

gebrauch, welche die Bedeutung der Ausdrücke municipium

und municeps zum Gegenſtand hat. — Die urſprüng-

liche Bedeutung dieſer Ausdrücke iſt nicht blos in neueren

 

(c) L. 1 § 2. L. 37 pr. ad

mun. (50. 1) (Ilium, Delphi,

Pontus). L. 2 C. de municip.

(10. 38) (Aquitaniſche Städte).

L. 7 § 10 de interd. et releg.

(48. 22).

(d) L. 8 pr. L. 10 § 1 de

vacat. (50. 5), L. 5 § 1 de j.

immunitatis (50. 6).

(e) L. 190 de V. S. (50. 16)

„Provinciales eos accipere de.

bemus, qui in provincia domi-

cilium habent, non eos, qui in

provincia oriundi sunt.“ Dieſe

Stelle, wie ſo viele andere deſſelben

Titels, hat nur in den Digeſten

einen falſchen Schein von Allge-

meinheit, anſtatt daß ſie urſprüng-

lich nur von einer ganz einzelnen

Anwendung verſtanden werden ſollte,

die nur jetzt nicht mit Sicherheit

zu ermitteln iſt. Vgl. über dieſe

Stelle: Gundlingiana St. 31

N. 2 S. 34—43. Conradi par-

erga p. 488—506. Hollweg

Verſuche S. 6. — Bei dem Ehe-

verbot zwiſchen den Römiſchen

Provinzialbeamten und den Pro-

vinzialinnen heißt es in L. 38 pr.

de ritu nupt. (23. 2) gerade um-

gekehrt: „inde oriundam, vel

ibi domicilium habentem uxo-

rem ducere non potest“, wobei

es ganz willkürlich iſt, wenn

Manche das vel durch id est

erklären wollen.

|0075 : 53|

§. 352. Origo und domicilium. I. Origo. (Fortſ.)

Zeiten beſtritten und zweifelhaft, ſie war es auch ſchon bei

den Römern ſelbſt. Die Zweifel ſind dabei theils ſprach-

licher, theils ſachlicher, alſo geſchichtlicher Art (f). Wir

können aber für unſern Zweck dieſe ſchwierige Unterſuchung

auf ſich beruhen laſſen, da ſich ſpäterhin der Sprachgebrauch

in folgender Weiſe unzweifelhaft feſtgeſtellt hat. — Seit

der Lex Julia über das allgemeine Bürgerrecht von Italien

war municipium die regelmäßige Bezeichnung der Einen

Hauptklaſſe Italiſcher Städte, der Städte nämlich, die nicht

von Rom aus als Gemeinden zuerſt begründet worden

waren, im Gegenſatz der anderen Hauptklaſſe, der colo-

niae (g). Der Name municipium, der allerdings auch in

den Provinzen nicht ſelten iſt, wurde aber auf die Pro-

vinzen keinesweges allgemein übertragen, zu der Zeit, als

die Civität dem ganzen Reiche, alſo allen Städten, mitge-

theilt wurde. Sollte nun eine Stadtgemeinde überhaupt

bezeichnet werden, ohne Unterſchied zwiſchen Municipien

und Colonieen, zwiſchen Italien und den Provinzen, ſo

wurden dafür regelmäßig die Ausdrücke respublica und

civitas gebraucht. — Municeps aber erſcheint bei den alten

(f) Vgl. beſonders Niebuhr

Römiſche Geſchichte B. 2 S. 56—

88. der dritten Ausgabe. Außer-

dem iſt zu benutzen ein Programm

von Rudorff, welches als Vor-

rede zum lateiniſchen Lections-

Katalog der Berliner Univerſität,

Winterſemeſter 1848, abgedruckt iſt.

(g) In der Lex Julia munici-

palis (tabula Heracleensis) iſt

die regelmäßige, ſtets wiederkehrende,

Aufzählung der Stadtgemeinden

in Italien folgende: municipium,

colonia, praefectura, forum,

conciliabulum (Haubold mo-

numenta legalia N. XVI); faſt

eben ſo in der Lex Rubria (ibid.

N. XXI).

|0076 : 54|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Juriſten als die gemeinſame Bezeichnung eines jeden Stadt-

bürgers, ohne Rückſicht auf die eben erwähnten Unterſchiede,

alſo eben ſo allgemein, wie die für das Ganze gebrauchten

Ausdrücke respublica und civitas (h). Für dieſe ver-

ſchiedenartige Ausdehnung beider an ſich verwandter Aus-

drücke läßt ſich auch ein befriedigender Grund angeben.

Wollte man etwa nur die Stadtbürger in den eigentlichen

Municipien municipes nennen, ſo wäre für die Stadtbür-

ger überhaupt kaum ein anderer Name übrig geblieben, als

civis (i), analog mit civitas, worunter wirklich jede Stadt-

(h) L. 1 § 1 ad mun. (50. 1)

„Et proprie quidem municipes

appellantur muneris participes,

recepti in civitatem, ut munera

nobiscum facerent; sed nunc

abusive municipes dicimus suae

cujusque civitatis cives, utputa

Campanos, Puteolanos. (Im

§ 2 wird derſelbe Sprachgebrauch

angewendet auf Ilium und Delphi).

Eben ſo in L. 23 pr. eod. —

Das abusive hat hier eine doppelte

Bedeutung. Erſtlich (wovon Ul-

pian zunächſt ſpricht) im Gegen-

ſatz der oben im Text erwähnten

urſprünglichen, alterthümlichen Be-

deutung, die in den vorhergehenden

Worten des Ulpian angedeutet iſt.

Zweitens aber auch in der anderen

Bedeutung, daß Municeps nicht

blos auf Municipien angewendet

wurde, ſondern auch auf Colonieen

und Provinzialſtädte. Dieſe letzten

kommen im § 2 vor; Puteoli aber

war ſeit Nero durchaus Colonie.

Tacitus ann. XIV. 27. — In

der erſten Beziehung findet ſich der

abuſive Sprachgebrauch (muni-

ceps für civis überhaupt) ſchon

bei Cicero ad fam. XIII. 11

„meos municipes Arpinates“ pro

Cluentio 16 „municipum suorum

dissimillimus“ und de legibus

II. 2. Sehr genau unterſcheidet

noch die Lex Julia municipalis

lin. 145 (Haubold pag. 129):

municipes, coloni und qui ejus

praefecturae erant (vgl. lin.

159—163). Und dennoch mag

gerade dieſes Geſetz die ſpätere

allgemeine Bedeutung des Aus-

drucks municipes vorzugsweiſe be-

fördert haben, da daſſelbe die Ita-

liſchen Stadtbürger aller Klaſſen

gemeinſchaftlich umfaßte, und zu-

gleich den Namen Lex Julia mu-

nicipalis führte.

(i) So kommt dieſer Ausdruck

in der That vor in L. 7 C. de

incolis (10. 39).

|0077 : 55|

§. 352. Origo und domicilium. I. Origo. (Fortſ.)

gemeinde ohne Unterſchied verſtanden wurde. Allein der

Ausdruck civis war hier weniger brauchbar, weil er in der

Klaſſifikation der cives, latini, peregrini, eine für die alten

Juriſten allzu wichtige und unentbehrliche Stellung hatte,

um noch für einen andern Zweck verwendet zu werden,

welches zu mancher Zweideutigkeit geführt haben würde.

So iſt alſo municeps der allgemeine Ausdruck gewor-

den, für jeden Inhaber irgend eines Stadtbürgerrechts

außer Rom, alſo für alle diejenigen Perſonen, deren gemein-

ſame Angehörigkeit an eine Stadtgemeinde außerdem ſehr

gewöhnlich mit origo oder auch patria bezeichnet wird.

 

Eine ſehr eigenthümliche Ausdehnung erhielt die auf

das Bürgerrecht gegründete Angehörigkeit an eine Stadtge-

meinde, ſeitdem die Römiſche Civität durch die Lex Julia

an ganz Italien, durch eine Verordnung von Caracalla

auch an alle Provinzen, gegeben worden war. Denn da

die Römiſche Civität, ihrem Urbegriff nach, das Bürger-

recht der Stadt Rom war, ſo hatten nunmehr faſt alle

Stadtbürger in Italien und in den Provinzen, die ohnehin

ſchon ein mehrfaches Bürgerrecht zufällig haben konnten

(§ 351), mindeſtens ein zweifaches Bürgerrecht: das ihrer

eigenen Stadt, und das der Stadt Rom. Dieſe doppelte

patria wird dann auch in ganz verſchiedenen Zeiten aus-

 

|0078 : 56|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

drücklich anerkannt (k). — Indeſſen war dieſes Verhält-

niß von minderer Wichtigkeit, als man ihm auf den erſten

Blick zuſchreiben möchte. Bei dem Stadtbürgerrecht von

Rom kamen die in andern Städten wichtigen ſtädtiſchen

Laſten und Verpflichtungen (munera) wenig in Betracht, da

für dieſe Zwecke in Rom meiſt auf andere Weiſe geſorgt

war. — Der auf das Stadtbürgerrecht gegründete Ge-

richtsſtand (forum originis) vor den Gerichten der Stadt

Rom war allerdings auch für die Bürger anderer Städte

vorhanden, jedoch nur unter großen Einſchränkungen. Er

galt nur, wenn dieſe Bürger ſich zufällig in Rom aufhiel-

ten, und auch dann nur unter dem Vorbehalt zahlreicher

Ausnahmen, die unter dem gemeinſamen Namen des jus

revocandi domum begriffen werden (l). — Was endlich

die Anwendung des örtlichen Rechts der Stadt Rom auf

die Perſonen der Bürger anderer Städte betrifft (alſo das

eigentliche Ziel unſrer ganzen gegenwärtigen Unterſuchung),

ſo kann davon erſt weiter unten (§ 357) in einem größeren

Zuſammenhang geredet werden.

Es würde jedoch unrichtig ſein, der hier erwähnten

neuen Combination den Sinn beizulegen, als ob nun in

 

(k) Cicero de legibus II. 2

„omnibus municipibus duas

esse censeo patrias, unam

naturae, alteram civitatis …

habuit alteram loci patriam,

alteram juris.“ — L. 33 ad mun.

(50. 1) (Modestinus): „Roma

communis nostra patria est“.

Cicero ſpricht nur von Stadt-

bürgern aus Italien (municipes),

Modeſtin ſpricht ganz allgemein,

(nostra); jeder nach dem Rechte

ſeiner Zeit.

(l) L. 28 § 4 ex quib. caus.

(4. 6), L. 2 § 3—6 de jud.

(5. 1), L. 24—28 eod.

|0079 : 57|

§ 352. Origo und domicilium. I. Origo. (Fortſ.)

der That alle freie Einwohner des Römiſchen Reichs min-

deſtens das Stadtbürgerrecht von Rom (als cives Romani)

hätten haben müſſen. Denn es gab auch nach der Ver-

ordnung des K. Caracalla über die Civität noch immer

eine nicht geringe Zahl von Perſonen, die in niedere Klaſ-

ſen neu eintraten, und durch welche alſo dieſe Klaſſen ſtets

erhalten wurden: theils indem durch unvollſtändige Frei-

laſſung neue Latini und peregrini entſtanden (m), theils

durch Einwanderung von Ausländern in das Römiſche

Reich, welchen nicht gerade auch die Civität neben ihrer

Aufnahme als Unterthanen ertheilt wurde.

So bleibt alſo für alle Zeiten der oben (§ 351) auf-

geſtellte Satz wahr, daß freie Einwohner des Römiſchen

Reichs ohne alles Bürgerverhältniß zu irgend einer Stadt

ſein konnten, wenngleich freilich die Anwendung dieſes

Satzes im Laufe der Zeit ſeltener und unbedeutender wurde.

 

§ 353.

Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

II. Domicilium.

Quellen (ſ. o. § 350).

 

Schriftſteller:

 

Lauterbach de domicilio 1663 (Diss. Vol. 2. N. 72.).

(m) Erſt Juſtinian hob dieſe

unvollſtändigen Freilaſſungen auf

(Cod. VII. 5. 6), deren Wirkungen

alſo bis auf ihn fortgedauert hatten,

und zwar ſowohl in den auf ſolche

Weiſe freigelaſſenen Sklaven ſelbſt,

als in den Nachkommen derſelben.

|0080 : 58|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Thomasius de vagabundo (Diss. Vol. 1. N. 3.).

Glück B. 6. § 512—515.

Kierulff B. 1. S. 122—128.

Der zweite Grund, wodurch der Einzelne Angehöriger

einer Stadtgemeinde werden konnte, war, der Wohnſitz

(domicilium) (a).

 

Als Wohnſitz eines Menſchen iſt derjenige Ort zu be-

trachten, welchen derſelbe zum bleibenden Aufenthalt, und

dadurch zugleich zum Mittelpunkt ſeiner Rechtsverhältniſſe

und Geſchäfte frei gewählt hat (b). — Der bleibende

Aufenthalt ſchließt aber weder eine vorübergehende Abwe-

 

(a) Wohnſitz halte ich für

bezeichnender und darum beſſer

als Wohnort; eine verſchiedene

Bedeutung beider Ausdrücke aber

(Linde § 88 Note l) kann ich

nicht einräumen. Die Verſchieden-

heit vom bloßen Aufenthalt wird

ſogleich erwähnt und näher be-

ſtimmt werden. — Die Lehre vom

domicilium wird hier, eben ſo

wie die von der origo, allerdings

zunächſt in ihrem Zuſammenhang

mit dem R. R. feſtgeſtellt. Da

ſich aber unten zeigen wird, daß

im heutigen Recht das domicilium

in den Hauptpunkten dieſelbe

Stellung wie im R. R. einnimmt,

ſo ſchien es zweckmäßig, dabei

gleich hier auch den heutigen Rechts-

zuſtand mit zu berückſichtigen.

(b) L. 7 C. de incolis (10. 39)

(ſ. o. § 350. f) „. , incolas

vero . . domicilium facit. Et

in eo loco singulos habere

domicilium non ambigitur, ubi

quis larem rerumque ac fortu-

narum suarum summam con-

stituit, unde rursus non sit

discessurus, si nihil avocet,

unde quum profectus est, pere-

grinari videtur, quo si rediit,

peregrinari jam destitit.“ —

L. 203 de V. S. (50. 16) „…

Sed de ea re constitutum esse,

eam domum unicuique nostrum

debere existimari, ubi quisque

sedes et tabulas haberet, sua-

rumque rerum constitutionem

fecisset“.

|0081 : 59|

§. 353. Origo und domicilium. II. Domicilium.

ſenheit aus, noch eine künftige Abänderung, deren Vorbe-

halt vielmehr von ſelbſt verſtanden wird; es iſt damit nur

gemeint, daß nicht ſchon jetzt die Abſicht auf vorüberge-

hende Dauer vorhanden ſein darf.

Das domicilium, wie die origo, begründete die Ange-

hörigkeit an eine beſtimmte Stadtgemeinde, bezog ſich alſo

ſtets auf ein beſtimmtes Stadtgebiet (c), und umfaßte da-

her nicht nur die Bewohner der eigentlichen Stadt ſelbſt,

ſondern auch die Bewohner der zu dieſem Gebiete gehören-

den Dörfer und einzelnen Höfe (coloniae) (d).

 

Für die Perſonen, die auf dieſem Wege Angehörige

einer Stadtgemeine geworden waren, iſt die regelmäßige

Bezeichnung: Incola (e). — Die zwei verſchiedene Gründe

aber, wodurch eine ſolche Angehörigkeit begründet werden

konnte (Bürgerrecht und Wohnſitz), werden durch folgende

gegenſätzliche Ausdrücke unterſchieden:

 

(c) L. 3. 5. 6 C. de incolis

(10. 39).

(d) L. 239 § 2 de V. S. (50. 16)

„. . Nec tantem hi, qui in

oppido morantur, incolae sunt,

sed etiam qui alicujus oppidi

finibus ita agrum habent, ut in

eum se, quasi in aliquam sedem,

recipiant.“ Scheinbar wider-

ſprechen L 27 § 1 L. 35 ad mun.

(50. 1), welche dem Bewohner

einer colonia nur dann das do-

micilium der Stadt zuſchreiben

wollen, wenn er durch überwie-

genden Aufenthalt in der Stadt

auch die Vortheile und Annehm-

lichkeiten derſelben genieße. Dieſe

Einſchränkung beruht aber ohne

Zweifel nur auf einem ungenauen

Ausdruck, und geht eigentlich nicht

auf das domicilium an ſich,

ſondern nur auf eine einzelne

Wirkung deſſelben, die Theilnahme

an gewiſſen Arten von ſtädtiſchen

Laſten. Denn daß die Bewohner

der coloniae ihren Gerichtsſtand

vor den ſtädtiſchen Obrigkeiten

hatten (forum domicilii), wurde

gewiß von Niemand bezweifelt.

Vgl. unten § 355. m.

(e) L. 5. 20 ad mun. (50. 1),

L. 239 § 2 de V. S. (50. 16)

|0082 : 60|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Municipes und incolae (f).

Origo und domicilium (g).

Jus originis und jus incolatus (h).

Patria und domus (i).

Aus dem ſo eben beſtimmten Begriff des Wohnſitzes

ergiebt ſich die weſentliche Verſchiedenheit deſſelben vom

bloßen Aufenthalt, ſo wie vom Grundbeſitz. — Der Auf-

enthalt, welcher nicht verbunden iſt mit der gegen-

wärtigen Abſicht, daß er ein bleibender, immerwährender

ſein ſoll, begründet nicht den Wohnſitz, ſelbſt dann nicht,

wenn er zufällig längere Zeit dauert, alſo nicht blos ſchnell

vorübergehend iſt. Dahin gehört z. B. der Aufenthalt der

Studierenden an einer Bildungsanſtalt; erſt wenn dieſer

mindeſtens zehen Jahre dauerte, ſollte derſelbe nach einer

Verordnung von Hadrian als bleibend, folglich als Wohn-

ſitz angeſehen werden (k). — Der Grundbeſitz aber, den

Jemand in einem Stadtgebiet hat, iſt zum Wohnſitz nicht

 

(Note d), L. 7 C. de incolis

(10. 39) (Note b).

(f) L. 6 § 5 de mun. (50. 4).

Ueber den Ausdruck municipes ſ. o.

§ 352 g., über incolae Note e. —

Ungenau iſt der Ausdruck des

Paulus in L. 22 § 2 ad mun.

(50. 1), der auch bloße Einwohner

municipes nennt (anſtatt incolae),

und damit nur ſagen will, daß

auch ſie die ſtädtiſchen munera zu

tragen haben.

(g) L. 7 § 10 de interd. et

releg. (48. 22), L. 6 § 3 L. 22

§ 2 ad mun. (50. 1).

(h) L. 15 § 3 ad mun. (50. 1),

L. 5 C. de incolis (10. 39)

(i) L. 203 de V. S. (50. 16).

(k) L. 5 §. 5 de injur. (47. 10),

L. 2. 3 C. de incolis (10. 39).

Allerdings ſind die zehen Jahre

nur eine Präſumtion der auf immer-

währenden Aufenthalt gerichteten

Abſicht. Lauterbach de domi-

cilio § 27.

|0083 : 61|

§. 353. Origo und domicilium. II. Domicilium.

erforderlich, für ſich allein aber dazu auch nicht hinrei-

chend (l).

Die Begründung des Wohnſitzes mit ſeinen rechtli-

chen Wirkungen geſchieht durch den freien Willen und die

mit demſelben übereinſtimmende That, alſo nicht durch bloße

Willenserklärung ohne That (m). — Der Wille aber wird

dabei ſo ſehr als frei gedacht, daß dieſe Freiheit nicht ein-

mal ſoll beſchränkt werden dürfen durch privatrechtliche

Beſtimmungen, z. B. durch die einem Legat hinzugefügte

Bedingung eines beſtimmten Aufenthalts, welche Bedingung

in der Regel als nicht geſchrieben anzuſehen iſt (n). —

Dagegen kann durch das öffentliche Recht dieſe Freiheit

auf mancherlei Weiſe beſchränkt werden. So hat jeder

Staatsdiener, z. B. jeder Soldat, einen nothwendigen

Wohnſitz am Orte des Dienſtes (o); der Verbannte am

Orte der Verbannung (p). Umgekehrt kann durch Strafe

ein beſtimmter Aufenthalt unterſagt werden (q).

 

(l) L. 17 § 13. L. 22 § 7

ad mun. (50. 1), L. 4 C. de

incolis (10. 39). — Manche Städte

hatten das Privilegium, daß der

bloße Grundbeſitz, ohne Wohnſitz, zur

Uebernahme perſönlicher munera

verpflichten ſollte. L. 17 § 5 ad

mun. (50. 1).

(m) L. 20 ad mun. (50. 1)

„Domicilium re et facto trans

fertur, non nuda contestatione;

sicut in his exigitur, qui negant

se posse ad munera, ut incolas,

vocari“.

(n) L. 31 ad mun. (50. 1),

L. 71 § 2 de cond. (35. 1). S.

o. B. 3 S. 184.

(o) L. 23 § 1 ad mun. (50. 1).

(p) L. 22 § 3 ad mun. (50. 1).

(q) L. 31 ad mun. (50. 1),

L. 7 § 10 de interd. et releg.

(48. 22). — Wenn in L. 27 § 3

ad mun. (50. 1) geſagt wird, daß

der Relegirte ſeinen vorigen Wohn-

ſitz behalte, ſo hat das wohl den

Sinn, daß er durch die Strafe

nicht frei werden ſoll von der Theil-

nahme an den bisherigen Laſten.

|0084 : 62|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Außerdem aber konnte in folgenden Fällen der Wohnſitz

begründet werden durch die Beziehung, in welcher eine

Perſon zu einer anderen Perſon und deren Wohnſitz ſtand,

welches man einen relativen Wohnſitz nennen könnte:

 

1. Ehefrauen haben ihren Wohnſitz allgemein und

nothwendig gemeinſchaftlich mit dem des Eheman-

nes (r). Dieſer Wohnſitz dauert fort auch für die

Wittwe, ſo lange ſie nicht eine neue Ehe eingeht,

oder auf andere Weiſe ihren Wohnſitz willkürlich

ändert (s).

2. Eheliche Kinder haben von ihrer Geburt an un-

zweifelhaft denſelben Wohnſitz wie der Vater. Sie

können aber ſpäterhin einen anderen Wohnſitz frei

erwählen, wodurch jener urſprüngliche aufhört (t).

Bei unehelichen Kindern muß eben ſo behauptet

werden, daß der Wohnſitz der Mutter als Wohnſitz

dieſer Kinder zu betrachten iſt.

3. Auf ähnliche Weiſe verhielt es ſich mit den Frei-

gelaſſenen. Ihr Wohnſitz war urſprünglich der des

(r) L. 5 de ritu nupt. (23. 2),

L. 65 de jud. (5. 1), L. 38 § 3

ad mun. (50. 1), L. 9 C. de

incolis (10. 38), L. 13 C. de

dignit. (12. 1). Dieſer Wohnſitz

heißt das domicilium matrimonii.

Eine ungültige Ehe begründet ihn

nicht, eben ſo der bloße Brautſtand.

L. 37 § 2, L. 32 ad mun. (50. 1).

(s) L. 22 § 1 ad mun. (50. 1).

(t) L. 3. L. 4. L. 6 § 1. L. 17

§ 11 ad mun. (50. 1). — Eben

ſo folgen ſie unzweifelhaft dem

Vater, wenn dieſer nach ihrer Ge-

burt einen neuen Wohnſitz be-

gründet, ſo lange als ſie ſelbſt

noch zu ſeinem Hausſtande gehören.

|0085 : 63|

§ 353. Origo und domicilium. II. Domicilium.

Patrons (u); ſie konnten ihn aber ſpäter frei ver-

ändern (v).

4. Eben Daſſelbe gilt nach unſern heutigen Verhält-

niſſen von den Dienſtboten (w); imgleichen von den

auf einem beſtimmten Landgute bleibend arbeiten-

den Tagelöhnern, und von den bei einem beſtimm-

ten Handwerksmeiſter arbeitenden Geſellen.

Die Aufhebung eines bisher vorhandenen Wohnſitzes

erfolgt, eben ſo wie die Begründung, durch die freie Will-

kür des bisherigen Einwohners. Gewöhnlich, wenngleich

nicht allgemein und nothwendig, wird dieſe Aufhebung zu-

ſammen fallen mit der Begründung eines neuen Wohn-

ſitzes, und daher wird in unſern Rechtsquellen die Aufhe-

bung als Uebertragung bezeichnet (x).

 

§. 354.

Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

II. Domicilium. (Fortſetzung.)

Der Wohnſitz, als ſelbſtändiger Grund der Angehörig-

keit an eine beſtimmte Stadtgemeinde, kann auch gleichzeitig

in Beziehung auf mehrere Städte vorhanden ſein, wenn

 

(u) L. 6 § 3. L. 22 pr. ad

mun (50. 1). Ueber dieſe letzte

Stelle iſt zu vergleichen die ſchon

oben § 351 n. angeführte Ab-

handlung.

(v) L. 22 § 2. L. 27 pr.

L. 37 § 1 ad mun. (50. 1).

(w) Vgl. die Preußiſche Allg.

Gerichtsordnung I. 2 § 13.

(x) L. 20 ad mun. (ſ. o.

Note m.), L. 1 C. de incolis

(10. 39). Dieſe Veränderlichkeit

wird bezeichnet durch den Ausdruck

domicilii ratio temporaria.

L. 17 § 11 ad mun. (50. 1).

|0086 : 64|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Jemand mehrere Orte gleichmäßig als Hauptpunkte ſeiner

Verhältniſſe und Geſchäfte behandelt, und unter ſie, je

nach Bedürfniß, ſeinen wirklichen Aufenthalt vertheilt.

Manche unter den Römiſchen Juriſten bezweifelten dieſe

Möglichkeit, zuletzt aber wurde ſie dennoch anerkannt, ob-

gleich dabei nicht verkannt wurde, daß ein ſolcher Fall nur

ſelten als vorhanden anzunehmen ſein werde (a).

Umgekehrt kann Jemand ganz ohne Wohnſitz ſein in

dem oben beſtimmten Sinn des Wortes, wiewohl auch die-

ſer Fall zu den ſeltneren gehören wird (b). Er iſt na-

mentlich anzunehmen unter folgenden, an ſich ſehr verſchie-

denen, Vorausſetzungen:

 

1. Wenn ein bisheriger Wohnſitz aufgegeben iſt, und

ein neuer erſt aufgeſucht wird, ſo lange bis dieſer

gewählt und wirklich begründet ſein wird (c). Die-

ſer Fall iſt wenig wichtig wegen der meiſt beſchränk-

ten Dauer einer ſolchen Zwiſchenzeit.

2. Wenn Jemand eine lange Zeit hindurch das Reiſen

zu ſeinem Lebensberuf macht, ohne daneben eine Hei-

math als bleibenden Mittelpunkt ſeiner Geſchäfte,

in welchen er regelmäßig zurückzukehren pflegt, zu

(a) L. 5, L. 6 § 2, L. 27

§ 2 ad mun. (50. 1), C. 2 pr.

de sepult. in VI. (3. 12).

(b) L. 27 § 2 ad mun. (50. 1).

(c) L. 27 § 2 ad mun. (50. 1).

— Dahin gehört ſehr häufig der

Fall eines, den Dienſt oder die

Arbeit wechſelnden Dienſtboten,

Tagelöhners oder Handwerksge-

ſellen, wenn nämlich ein ſolcher

Wechſel zugleich mit einer Ver-

änderung des Aufenthaltsorts ver-

bunden iſt (§ 353 Num. 4).

|0087 : 65|

§. 354. Origo u. domicilium. II. Domicilium. (Fortſ.)

behandeln. Auch dieſer Fall iſt wenig wichtig, weil

er nur ſelten vorkommt.

3. Bei Landſtreichern oder Vagabunden, die ohne

einen feſten Lebenslauf in unbeſtimmter Weiſe um-

her ziehen, den Unterhalt des Lebens meiſt in ab-

wechſelnder und für die öffentliche Wohlfahrt und

Sicherheit bedenklicher Weiſe ſuchend. Dieſe Klaſſe

iſt zahlreich und wichtig, und gehört unter die

großen Uebel unſrer Zeit (d).

Der oben aufgeſtellte Begriff des Wohnſitzes (§ 353)

bezieht ſich auf die Lebensverhältniſſe des natürlichen Men-

ſchen, iſt alſo, ſeiner Natur nach, nicht anwendbar auf ju-

riſtiſche Perſonen (e). Dennoch kann auch bei dieſen das

Bedürfniß vorkommen, etwas, dem Wohnſitz der natürlichen

Perſonen Entſprechendes oder Aehnliches, gleichſam einen

künſtlichen Wohuſitz, anzunehmen, vorzüglich wohl um den

 

(d) Es iſt auffallend, daß von

dieſer Klaſſe in den Quellen des

Römiſchen Rechts eigentlich nicht

die Rede iſt. Selbſt die öfter er-

wähnten flüchtigen Sklaven (er-

rones, fugitivi. L. 225 de V. S.

(50. 16) können dahin nicht ge-

rechnet werden, da dieſe im juri-

ſtiſchen Sinn einen feſten Wohn-

ſitz haben, nämlich den ihrer

Herren. Der Erklärungsgrund

jener auffallenden Erſcheinung liegt

nun eben in dem Umſtand, daß

die Perſonen, welche bei uns als

Vagabunden erſcheinen (eben ſo,

wie der größte Theil unſerer Pro-

letarier), bei den Roͤmern in dem

Sklavenſtand enthalten waren. —

Thomasius de vagabundo § 79.

91. 112 nennt vagabundus Jeden,

der kein domicilium hat, und

unterſcheidet ihn von dem verächt-

lichen Landſtreicher, ganz gegen

den herrſchenden Sprachgebrauch,

der dieſe beiden Ausdrücke als

gleichbedeutend anſieht. Niemand

wird den Kaufmann, der ſeinen

Wohnſitz aufgegeben hat, um

einen neuen zu ſuchen, oder den

ehrenhaften Reiſenden von Pro-

feſſion, einen Vagabunden nennen.

(e) S. o. B 2 § 85 fg.

VIII. 5

|0088 : 66|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Gerichtsſtand darauf zu begründen (f). In den meiſten

Fällen nun wird hierüber kein Zweifel ſeyn wegen des na-

türlichen Zuſammenhanges, in welchem die juriſtiſche Per-

ſon zu dem Grund und Boden ſteht; ſo bei Städten und

Dörfern, bei Kirchen, Schulen, Krankenhäuſern u. ſ. w.

Zweifelhaft kann es ſein beſonders bei gewerblichen Geſell-

ſchaften, wenn deren Thätigkeit entweder an gar keine Ört-

lichkeit gebunden iſt, oder auf größere Räume ſich erſtreckt,

wie z. B. die der Geſellſchaften für Eiſenbahnen, oder

Dampfſchiffahrt, oder für den Brückenbau über große

Ströme, deren beide Ufer oft verſchiedenen Gerichten, ver-

ſchiedener Geſetzgebung, ja ſelbſt verſchiedenen Staaten, un-

terworfen ſind. Hier iſt es räthlich, gleich bei der Grün-

dung einer ſolchen juriſtiſchen Perſon einen künſtlichen

Wohnſitz feſtzuſtellen (g); wird dieſes verſäumt, ſo muß

der Richter den Mittelpunkt der Geſchäfte künſtlich zu er-

mitteln ſuchen.

Wenn wir die beiden, von einander unabhängigen,

Gründe der Angehörigkeit an eine beſtimmte Stadtgemeinde,

 

(f) Vgl. Linde Lehrbuch § 88

Note 14.

(g) Beiſpiele: Statut der Ber-

lin-Sächſiſchen (Anhaltiſchen) Ei-

ſenbahn-Geſellſchaft § 1: „Berlin

iſt ihr Domizil und der Sitz ihrer

Verwaltung und das Königliche

Stadtgericht zu Berlin ihr Ge-

richtsſtand“. — Statut der Berlin-

Stettiner Eiſenbahn-Geſellſchaft

§ 3: „Stettin iſt das Domizil der

Geſellſchaft“ u. ſ. w. (Geſetzſamml.

für die Preußiſchen Staaten 1839

S. 178, 1840 S. 306).

|0089 : 67|

§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.

Bürgerrecht und Wohnſitz, zuſammenhalten, ſo ergeben ſich

aus den für beide hier aufgeſtellten Grundſätzen (§ 351—

354) folgende mögliche Combinationen.

Eine einzelne Perſon konnte im Bürgerverhältniß ſte-

hen zu Einer Stadt, zu mehreren Städten, zu keiner

Stadt (§ 351).

 

Daneben konnte dieſelbe Perſon im Verhältniß des

Wohnſitzes ſtehen zu Einer Stadt, zu mehreren Städten,

zu keiner Stadt (§ 354).

 

Der regelmäßige und häufigſte Zuſtand aber war es

gewiß, daß das Bürgerverhältniß einer Perſon nur für

Eine Stadt begründet war, und daß dieſe Perſon in der-

ſelben Stadt zugleich auch ihren Wohnſitz hatte.

 

§. 355.

Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

Wirkung dieſer Verhältniſſe.

Nachdem die beiden Gründe der Angehörigkeit an eine

beſtimmte Stadtgemeinde dargeſtellt worden ſind, iſt nun

die praktiſche Seite dieſer Lehre, oder die juriſtiſche Wir-

kung der aus ihnen entſpringenden Angehörigkeit, zu un-

terſuchen.

 

Man möchte dabei ein gleiches Maaß von Rechten und

Pflichten als Wirkung erwarten, und es muß zunächſt auf-

fallen, daß in unſern Rechtsquellen faſt nur von Pflichten,

nicht von Rechten, die Rede iſt. Dieſe Erſcheinung iſt auf

folgende Weiſe zu erklären. — Das Bürgerverhältniß

 

5*

|0090 : 68|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

(die origo) führte allerdings Rechte mit ſich, die urſprüng-

lich großen Werth hatten; beſonders das ausſchließende

Recht der Theilnahme an der Stadtverwaltung durch den

Eintritt in die Stadtſenate und in die obrigkeitlichen Aem-

ter. Allein die Theilnahme an den Stadtſenaten war in

der ſpäteren Kaiſerzeit aus einem Ehrenrecht in Druck und

Laſt verwandelt worden (a), von den Obrigkeiten der

Städte aber geben uns unſre Rechtsquellen überhaupt nur

ſehr dürftige Nachrichten, welches aus ihrer ausſchließenden

Beſtimmung zum Gebrauch im Reich von Juſtinian (d.

h. im Orient) zu erklären iſt (b). Dagegen waren die an

das Bürgerverhältniß urſprünglich geknüpften Verpflichtungen

auch im Laufe der Zeit unverändert geblieben, ſo daß ſie

auch in unſern Rechtsquellen in ihrem vollſtändigen Zu-

ſammenhang dargeſtellt werden konnten und mußten. —

Was aber den Wohnſitz, als den zweiten Grund der An-

gehörigkeit betrifft, ſo war bei demſelben überhaupt nicht

von eigentlichen Rechten die Rede, da er ſelbſt aus reiner

Willkür des Einzelnen begründet werden konnte (§ 353),

wozu ja der Erwerb eigentlicher Rechte wenig gepaßt ha-

ben würde. Auch werden in der That als praktiſche Fol-

gen des Wohnſitzes, da wo man etwa die Angabe beſtimm-

ter Rechte erwarten möchte, vielmehr bloße thatſächliche

Vortheile und Genüſſe aufgezählt (c).

(a) Savigny Geſchichte des

R. R. im Mittelalter B. 1 §. 8.

(b) a. a. O. § 22.

(c) L. 27 § 1 ad mun. (50. 1)

„Si quis … in illo (munici-

pio) vendit, emit, contrahit,

|0091 : 69|

§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.

Es bleiben alſo nur noch die Verpflichtungen aus der

Angehörigkeit zur näheren Betrachtung übrig. Dieſe ſind

ſchon oben in einer allgemeinen Ueberſicht dahin angedeutet

worden: Städtiſche Laſten, Gerichtsſtand, das örtliche Recht

(§ 350), und dieſe drei Stücke ſollen nunmehr theils ge-

nauer entwickelt, theils in unſern Rechtsquellen nachgewie-

ſen werden.

 

I. Städtiſche Laſten (Munera).

Unter dem Ausdruck munera werden im Allgemeinen

Laſten jeder Art verſtanden; hier aber kommen nur diejeni-

gen Laſten in Betracht, die aus dem öffentlichen Recht ent-

ſpringen, alſo nur publica, nicht privata (d), und zwar

insbeſondere aus der perſönlichen Angehörigkeit an eine

Stadtgemeinde, weshalb ſie auch civilia munera genannt

werden (e). Damit iſt jedoch nicht geſagt, daß dieſe La-

ſten gerade für ſtädtiſche Zwecke und Vortheile getragen

werden mußten; vielmehr war ein großer Theil der ört-

lichen Staatsverwaltung den Städten aufgebürdet worden,

und manche der drückendſten Bürgerlaſten dienten nur zu

 

in eo foro, balneo, spectaculis

utitur, ibi festos dies celebrat,

omnibus denique municipii

commodis .. fruitur, ibi magis

habere domicilium“ … Vgl.

über dieſe Stelle oben § 353 d.

(d) L. 239 § 3 de V. S.

(50. 16), L. 18 § 28 de mun.

(50. 4). — Wenn alſo anderwärts

die munera eingetheilt werden

in publica und privata (L. 14

§ 1 de mun.), ſo iſt das nicht

eine Eintheilung der ſtädtiſchen

Laſten (die ſtets publica ſind),

ſondern der Laſten überhaupt, die

ja auch aus privatrechtlichen Ver-

hältniſſen herrühren können.

(e) L. 18 §. 28 de mun. (50. 4).

|0092 : 70|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Zwecken des Staates, nicht der Städte ſelbſt, von deren

Angehörigen ſie getragen wurden (f).

Die Römiſchen Juriſten unterſcheiden munus und honor

dadurch, daß jenes nicht, ſo wie dieſes, mit einer perſön-

lichen Würde (dignitas) verbunden war (g). Es würde

jedoch irrig ſein, dieſer Unterſcheidung den Sinn beizulegen,

als ob der honor blos als Ehre und Recht, ohne Zwang

und Verpflichtung, betrachtet worden wäre. Für den honor

galt dieſelbe Verpflichtung der Uebernahme, wie für das

munus (h), beide wurden gleichmäßig als ſtädtiſche Laſten

betrachtet, und jene Unterſcheidung betraf alſo blos den

Namen.

 

Sie unterſcheiden ferner Laſten der Perſon und des

Vermögens (munera personalia und patrimonii), je nach-

dem dabei allein oder doch überwiegend die Mühe und Ar-

beit in Betracht kam, oder vielmehr die auf dem Vermögen

ruhende Ausgabe oder Gefahr (i). Dieſe Unterſcheidung

war jedoch ſchwankend und von unbeſtimmter Gränze (k),

auch ohne Erheblichkeit, da beiderlei Laſten gleichmäßig die

 

(f) Vgl. z. B. L. 18 § 3. 4.

8. 16 de mun. (50. 4).

(g) L. 14 pr. § 1 L. 6 § 3

de mun. (50. 4). — Der Ausdruck

honor wurde aber nicht blos auf

die Obrigkeiten, ſondern auch auf

die Decurionen angewendet. L. 5

de vac. (50. 5).

(h) L. 3 § 2. 3. 15. 17 de

mun. (50. 4).

(i) L. 1 § 1. 2. 3. 4 de mun.

(50. 4), L. 6 § 3. 4. 5 eod., L. 18

pr. § 1—17 eod. — Unter die

perſönlichen Laſten gehörte die Ver-

waltung des Richtergeſchäfts, ſo

wie die der Bormundſchaft. L. 1

§. 4, L. 18 § 14 eod., L 8 § 4,

L. 13 pr. § 2. 3 de vac. (50. 5).

(k) Daher nahmen Manche

noch eine Mittelklaſſe an, mixta

munera. L. 18 pr. § 18—27

de mun. (50. 4).

|0093 : 71|

§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.

Angehörigen jeder Stadt, und nur dieſe, betrafen. Dage-

gen iſt es wichtig, davon ſtreng zu unterſcheiden diejenigen

Laſten, die blos auf dem Grundbeſitz hafteten (wie die

Grundſteuern), ganz ohne Rückſicht darauf, ob der Beſitzer

perſönlich der Stadt angehörte (durch origo oder domicilium),

oder nicht (l).

Die hier dargeſtellte Verpflichtung zur Uebernahme

ſtädtiſcher Laſten betraf in der Regel alle Angehörige einer

Stadt, ohne Unterſchied, ob ſie in dieſes Verhältniß durch

Bürgerrecht oder durch Wohnſitz eingetreten waren (m).

Wer alſo in mehreren Städten zugleich das Bürgerrecht,

vielleicht auch in mehreren den Wohnſitz hatte (§ 351, 354),

war in jeder dieſer Städte zur vollſtändigen Theilnahme

an dieſen Laſten verpflichtet, und konnte dadurch in ein ſehr

nachtheiliges Verhältniß kommen.

 

Obgleich aber dieſe allgemeine und gleichmäßige Ver-

pflichtung aller Angehörigen die Regel bildete, ſo gab es

doch daneben ausnahmsweiſe vielfache Befreiungen aus

ſehr verſchiedenen Gründen, und unter verſchiedenen Benen-

 

(l) L. 6 § 5 de mun. (50. 4),

L. 14 § 2, L. 18 § 21—25, L. 29.

30 eod., L. 10 pr. de vac. (50. 5),

L. 11 eod. — Etwas abweichend

iſt der Sprachgebrauch einer Stelle,

worin dieſe reine Grundlaſten

patrimonii munera genannt

werden. L. un. C. de mulier.

(10. 62).

(m) L. 22 § 2, L. 29 ad

mun. (50. 1), L. 6 § 5, L. 18

§ 22 de mun. (50. 4), L. 1 C. de

municip. (10. 38), L. 4. 6 C. de

incolis (10. 39). — Die ſchwan-

kende Erklärung mancher Stellen

über das domicilium von Bauer-

höfen im Stadtgebiet (§ 353 d.),

mag daher rühren, daß vielleicht

für manche Arten der Laſten ein

verſchiedener Vertheilungsmaaßſtab,

etwa nach örtlichen Gränzen, an-

genommen wurde.

|0094 : 72|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

nungen (vacatio, excusatio, immunitas); theils immerwäh-

rende, theils vorübergehende (n).

II. Gerichtsſtand (forum originis, domicilii).

Dabei liegt zum Grunde die allgemeine Regel, daß jeder

Rechtsſtreit zu führen iſt im Gerichtsſtand des Beklagten,

nicht des Klägers (o). Fragt man nun, wo der Beklagte

ſeinen regelmäßigen Gerichtsſtand hat, ſo beſtimmt dieſen

das Römiſche Recht dahin: In jeder Stadt, gegen deren

Obrigkeit er zum Gehorſam verpflichtet iſt, weil er dieſer

Stadt angehört. Angehörig einer Stadt aber wird der

Einzelne ſowohl durch Bürgerrecht, als durch Wohnſitz;

und dadurch verwandelt ſich nunmehr jene Beſtimmung in

die praktiſche Regel: Jeder muß ſich als Beklagter belangen

laſſen in jeder Stadt, worin ihm das Bürgerrecht zuſteht;

außerdem aber auch in jeder Stadt, worin er den Wohn-

ſitz hat. So wird dieſe Regel geradezu ausgeſprochen, und

zugleich auf ihren eben angegebenen höheren Grund zurück

geführt in folgender Stelle des Gajus (p):

Incola et his magistratibus parere debet, apud quos

incola est, et illis, apud quos civis erit; nec tan-

tum municipali jurisdictioni in utroque municipio

 

 

(n) Dig. L. 5 und L. 6, Cod. X.

44—64. Die genauere Unter-

ſuchung dieſer Befreiungen kann

hier auf ſich beruhen, da ſie für

unſren gegenwärtigen Zweck gleich-

gültig iſt.

(o) Vat. fragm. 325. 326, L. 2.

C. de jurisd. (3. 13), L. 3 C.

ubi in rem. (3. 19), L. 3. 4 C.

ubi causa status (3. 22).

(p) L. 29 ad mun. (50. 1).

|0095 : 73|

§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.

subjectus est, verum etiam omnibus publicis mu-

neribus fungi debet.

In dieſer wichtigen Stelle wird zugleich anerkannt, daß

hierin durchaus daſſelbe Verhältniß eintrete für den Ge-

richtsſtand, wie für die ſtädtiſchen Laſten. Hieraus folgt

alſo, daß auch der Gerichtsſtand für dieſelbe Perſon ſo-

gar in mehr als zwei Städten zugleich begründet ſein konnte,

wenn etwa dieſe Perſon in mehreren Städten das Bürger-

recht, und zugleich in mehreren anderen Städten den Wohn-

ſitz, gehabt haben ſollte. Dann mußte es in der freien

Wahl des Klägers ſtehen, in welcher dieſer mehreren Städte

er einen Rechtsſtreit anhängig machen wollte, und der Be-

klagte war in jeder dazu gewählten Stadt zur Einlaſſung

verpflichtet.

 

Bei dieſem unzweideutigen Ausſpruch ſowohl der Regel

ſelbſt, als ihres höheren Grundes, und ihres Zuſammen-

hanges mit den ſtädtiſchen Laſten, muß es auffallen, daß

anderwärts von dem auf das bloße Bürgerrecht (verſchieden

von dem Wohnſitz) gegründeten Gerichtsſtand (forum ori-

ginis) ſo wenig die Rede iſt. In vielen Stellen, worin

der perſönliche Gerichtsſtand nur für einzelne Fälle und

nur beiläufig erwähnt wird, iſt lediglich von dem forum

domicilii, nicht von dem forum originis, die Rede (q).

 

(q) L. 19 § 4 de jud. (5. 1),

L. 29 § 4 de inoff. test. (5. 2),

L. 1. 2 de reb. auct. jud (42. 5),

Vat. fragm. 326, L. 2 C. de jurisd.

(3. 10), L. 1 C. ubi res her.

(3. 20), L. 4 C. ubi causa status

(3. 22). — Dagegen wird in

mehreren Stellen das Wahlrecht

|0096 : 74|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Dennoch darf uns dieſe Erſcheinung an der Richtigkeit der

Regel ſelbſt nicht zweifelhaft machen; ſie iſt vielmehr aus

folgenden Gründen zu erklären. Erſtlich fand jene Regel

ihre vollſtändige Anwendung nur in Italien, nicht in den

Provinzen, in welchen Stadobrigkeiten mit Gerichtsbarkeit

gar nicht vorkamen (r); daher konnte hier das Stadtbür-

gerrecht keinen Gerichtsſtand begründen, anſtatt daß der

abſtracte Begriff des Wohnſitzes auf das Gebiet einer Pro-

vinz, alſo auf die Gerichtsbarkeit des Kaiſerlichen Statt-

halters derſelben, eben ſo anwendbar war, wie auf das

Gebiet einer einzelnen Stadt. Mehrere der angeführten

Stellen aber ſprechen ausdrücklich nur von den Provin-

zen (s), und andere derſelben mögen auch davon geſprochen

haben, ohne daß es an ihrer gegenwärtigen Geſtalt ſichtbar

iſt. — Zweitens war vielleicht ſtets für den, welcher in

zwei verſchiedenen Städten das Bürgerrecht und den Wohn-

ſitz hatte, die Anwendung des forum originis auf den Fall

beſchränkt, wenn er ſich zufällig in der Stadt aufhielt, wo-

rin ihm das Bürgerrecht zuſtand (t). Selbſt aber wenn

des Klägers zwiſchen dem forum

domicilii und dem forum con-

tractus erwähnt. L. 19 § 4 de

jud. (5. 1), L. 1. 2. 3 de reb.

auct. jud. (42. 5).

(r) Erſt ſpät erhielten hier die

Defenſoren eine Art von Gerichts-

barkeit, die lange Zeit ſehr be-

ſchränkt blieb, und erſt von Ju-

ſtinian zu etwas mehr Bedeutung

erhoben wurde. Savigny Ge-

ſchichte des R. R. im Mittelalter

B. 2 § 23.

(s) So z. B., unter den in der

Note q. angeführten Stellen:

L. 19 § 4 de jud. (5. 1), L. 29

§ 4 de inoff. (5. 2), Vat. fragm.

326.

(t) So war es mit dem forum

originis in der Stadt Rom (§ 352. k.),

und es iſt vielleicht nur zufällig,

daß von einer gleichartigen Vor-

|0097 : 75|

§. 355. Origo und domicilium. Wirkung.

eine ſolche beſchränkende Rechtsregel nicht vorhanden war,

mußte doch meiſt der Kläger ſeines eigenen Vortheils we-

gen das forum domicilii vorziehen, weil der Beklagte am

Ort ſeines Wohnſitzes leichter und bequemer zu errei-

chen war.

Zum Schluß aber muß nun noch bemerkt werden, daß

die hier aufgeſtellten Regeln, ſo wie ſie größtentheils durch

die in den Digeſten niedergelegten Zeugniſſe der alten Ju-

riſten begründet worden ſind, auch nur von der Zeit an

ſichere und allgemeine Geltung in Anſpruch nehmen können,

in welcher die befeſtigte und ausgebildete Kaiſerregierung

einen hohen Grad der Gleichförmigkeit in die einzelnen

Theile des Reichs gebracht hatte. Damit iſt es alſo ſehr

wohl vereinbar, daß manche Provinz in früherer Zeit, bald

nach ihrer Unterwerfung unter das Römiſche Reich, eigen-

thümliche Vorrechte in der Gerichtsverfaſſung genoß, wo-

von in unſeren Rechtsquellen keine Spur mehr zu fin-

den iſt (u).

 

ſchrift für andere Städte keine Er-

wähnung gefunden wird.

(u) Dieſes gilt namentlich von

Sicilien. Cicero in Verrem

act. 2 lib. 2 C. 13. 24. 25. 37.

|0098 : 76|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

§. 356.

Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

Wirkung dieſer Verhältniſſe. (Fortſetzung.)

III. Das eigenthümliche Recht einer Stadt als Eigenſchaft

der ihr angehörenden Perſonen (lex originis, domicilii).

 

Es ſind oben, in allgemeiner Ueberſicht, drei Wirkungen

der Angehörigkeit einer Perſon an eine Stadtgemeinde ange-

geben worden (§ 350): Städtiſche Laſten, Gerichtsſtand,

endlich das Recht dieſer Stadt als Eigenſchaft der Perſon.

Die zwei erſten Wirkungen ſind bereits im Einzelnen

dargeſtellt (§ 355), und es bleibt nunmehr die dritte

zu unterſuchen übrig, die allein unſerer gegenwärtigen Auf-

gabe angehört, und um deren Willen die ganze bisher ge-

führte Erörterung unternommen wurde, indem nur auf

dieſem Wege die Unterordnung der Perſon unter das ört-

liche Recht einer beſtimmten Stadt in ihrem wahren Zu-

ſammenhang erkannt werden kann.

 

Dieſe Unterſuchung knüpft ſich an die oben aufgeſtellten

Sätze, nach welchen jede Perſon einem beſtimmten Rechts-

gebiet angehört (§ 345), dieſes Rechtsgebiet aber vorzugs-

weiſe als ein örtliches oder territoriales Gebiet anzuſehen

iſt (§ 350), und zwar nach Römiſcher Verfaſſung insbe-

ſondere als ein Stadtgebiet (§ 351). Da nun jede einzelne

Perſon überhaupt einem Stadtgebiet auf zweierlei Weiſe

angehören konnte, durch Bürgerrecht oder durch Wohnſitz

(§ 351), ſo konnte auf dieſen beiden Wegen auch die Unter-

 

|0099 : 77|

§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)

ordnung der Perſon unter das territoriale Recht einer Stadt

begründet werden.

Es wird alſo hier ein innerer Zuſammenhang behauptet

zwiſchen den drei verſchiedenen Wirkungen der Angehörig-

keit an eine Stadtgemeinde, und dieſer Zuſammenhang iſt

beſonders zu bemerken zwiſchen den zwei letzten Wirkungen

(dem Gerichtsſtand und dem territorialen Recht), da beide

nur als verſchiedene Seiten des geſammten örtlichen Rechts-

zuſtandes anzuſehen ſind. Die Anerkennung aber dieſes

inneren Zuſammenhanges iſt für unſere ganze Aufgabe von

Wichtigkeit, und reicht ſelbſt über die eigenthümliche Rö-

miſche Verfaſſung hinaus, ſo daß auch bei der Feſtſtellung

des heutigen Rechtszuſtandes davon Gebrauch zu machen

ſeyn wird.

 

Die Richtigkeit der hier aufgeſtellten Behauptung, ſo

wie die beſtimmtere Ausführung derſelben, will ich nun-

mehr in den Quellen des Römiſchen Rechts nachzuweiſen

verſuchen. Allerdings ſind die Ausſprüche der Römiſchen

Juriſten über dieſe Frage ſehr ſpärlich, um ſo mehr, als

wir bei einem kritiſchen Verfahren genöthigt ſind, gar

manche ſcheinbare Aeußerungen über dieſelbe als nicht da-

hin gehörend zurück zu weiſen. Auch dürften jene wenige

Ausſprüche kaum hinreichen, die Anſicht der Römer voll-

ſtändig zu erkennen.

 

1. Der älteſte hierher gehörende Fall bezieht ſich auf

die Colliſion eines poſitiven Römiſchen Geſetzes mit dem

 

|0100 : 78|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Recht anderer ſouveräner (jedoch mit den Römern verbün-

deter) Staaten (§ 348) (a).

Im Jahre der Stadt 561 (L. Cornelio Merula, Q. Mi-

nucio Thermo Coss.) fand ſich in Rom eine große Noth

der durch Wucher bedrückten Schuldner. Zwar beſtanden

ſchützende Wuchergeſetze, allein dieſe wurden dadurch um-

gangen, daß die Wucherer ihre Forderungen zum Schein

auf den Namen von Einwohnern benachbarter Staaten

(Socii und Latini) ſchreiben ließen. Denn da dieſe durch

das poſitive Wuchergeſetz nicht gebunden waren, ſo hatten

gegen ſie die Schuldner keinen Schutz (b). Zur Entkräftung

dieſes unredlichen Verfahrens wurde ein beſonderes Geſetz

erlaſſen mit der Vorſchrift, daß die Römiſchen Geſetze über

das Gelddarlehen (die Wuchergeſetze) auch für die Socii

und Latini als Glaubiger Römiſcher Bürger bindend ſeyn

ſollten (c).

 

2. Eine ähnliche Natur hat die in einem Senatsſchluß

aus der Zeit des Hadrian anerkannte Rechtsregel, daß

das Kind aus einer secundum leges moresque peregrinorum

geſchloſſenen Ehe ſelbſt dann als Peregrine geboren werden

(alſo ſeinem Vater angehören) ſolle, wenn zur Zeit der

 

(a) Livius XXXV. 7.

(b) Welches Wuchergeſetz, nach

dem angegebenen Jahre, hier ge-

meint iſt, läßt ſich bei der ſehr

unſicheren Geſchichte dieſer Geſetze

nicht beſtimmen. Es kann ſeyn

das über unciarium foenus, aber

auch das über semunciarium. Für

unſern gegenwärtigen Zweck iſt

dieſe Frage gleichgültig.

(c) Livius l. c. „plebesque

scivit, ut cum sociis ac nomine

Latino pecuniae creditae jus

idem, quod cum civibus Ro-

manis esset“.

|0101 : 79|

§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)

Geburt blos die Mutter (und nicht zugleich der Vater) die

Civität erlangt hatte. Es wurde alſo hier der für das

Römiſche Recht geltende Grundſatz, daß der status der

legitime concepti nach der Zeit der Erzeugung beurtheilt

werden ſollte, mit völliger Reciprocität auch auf die Bürger

fremder Staaten angewendet (d).

Die folgenden Fälle beziehen ſich auf die Colliſion der

für Italien gegebenen poſitiven Geſetze mit dem Recht der

Provinzen, alſo auf eine Colliſion von Rechten innerhalb

der Gränzen des Römiſchen Staates.

 

3. Die Verpflichtung eines fidepromissor ging in der

Regel nicht ſo, wie die eines fidejussor, auf die Erben

über; ausnahmsweiſe aber trat dennoch dieſer Uebergang

ein, wenn der fidepromissor ein Peregrine war, und zwar

einer ſolchen Provinzialſtadt angehörte, deren poſitives Recht

hierin von dem Römiſchen abwich (e).

 

4. Eine Lex Furia hatte verordnet, daß die Ver-

pflichtung der sponsores und fidepromissores durch den

Ablauf von zwei Jahren getilgt ſein ſolle, ſo wie daß

mehrere neben einander eintretende Bürgen ſolcher Art nur

theilweiſe haften ſollten, nicht für die ganze Schuld. Dieſes

 

(d) Gajus I. §. 92, verglichen

mit § 89.

(e) Gajus III. § 120 „Prae-

terea sponsoris et fidepromis-

soris heres non tenetur, nisi

si de peregrino fidepromissore

quaeramus, et alio jure civitas

ejus utatur“. Es könnte auf-

fallen, daß in der Aufſtellung der

Regel außer dem fidepromissor

auch der sponsor genannt wird,

der nachher in der Ausnahme nicht

wieder erwähnt iſt. Dieſer Um-

ſtand erklärt ſich daraus, daß Pe-

regrinen überhaupt nicht sponsores

ſein konnten. Gajus III. § 93.

|0102 : 80|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Geſetz aber war nur für Italien gültig, nicht für die Pro-

vinzen (f), das heißt, es galt nur für die Bürger der Städte

in Italien, nicht für die Bürger der Provinzialſtädte, auch

wenn dieſe die Römiſche Civität hatten (g).

5. Es gab eine Klaſſe der Freigelaſſenen, die durch

die Freilaſſung weder cives noch latini, ſondern nur pere-

grini, und zwar mit ganz beſonderen Zurückſetzungen, wur-

den (dedititiorum numero). Von dieſen nun wird geſagt,

ſie könnten keine Teſtamente machen, und zwar weder als

Römiſche Bürger, weil ſie nicht unter dieſe gehörten, noch

als Peregrinen, weil ſie nicht irgend einer beſtimmten Stadt

als Bürger angehörten, um nach deren Stadtrecht teſtiren

zu können (h). — Dabei liegt augenſcheinlich folgende Vor-

ausſetzung zum Grunde. Wäre dieſer Peregrine der Bürger

 

(f) Gajus III. § 121. 122.

(g) Die sponsores, die als

Provinzialen in den § 121. 122

vorausgeſetzt werden, mußten noth-

wendig die Römiſche Civität haben,

ſ. o. Note e. — Rudorff ſucht

der Lex Furia eine engere Be-

ſchränkung anzuweiſen (Zeitſchrift

XIV. S. 441), nach welcher der

Fall derſelben nicht mehr in dieſen

Zuſammenhang gehören würde.

Die genauere Unterſuchung würde

hier zu weit abführen.

(h) Ulpian. XX § 14 „La-

tinus Junianus, item is qui

dedititiorum numero est, testa-

mentum facere non potest …

qui dedititiorum numero est,

quoniam nec quasi civis Ro-

manus testari potest, cum sit

peregrinus, nec quasi peregri-

nus, quoniam nullius certae

civitatis civis est, ut adversus

leges civitatis suae testetur“.

Anſtatt des offenbar richtigen civis

est, lieſt die Handſchrift sciens,

welches Manche gezwungen und

unbefriedigend zu vertheidigen ge-

ſucht haben. — Adversus heißt

hier nicht: entgegen, im Wider-

ſpruch mit, ſondern: in Beziehung

auf, in Gemäßheit dieſer Geſetze.

Ganz wie in L. 5 de usurp. (41. 3).

Andere wollen emendiren: secun-

dum. S. o. Lachmann Zeit-

ſchrift IX. S. 203.

|0103 : 81|

§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)

einer ſolchen Provinzialſtadt, welche das Recht der Teſta-

mente anerkennt, und dafür gewiſſe Regeln vorſchreibt, ſo

könnte er mit Beobachtung dieſer Regeln ein gültiges Teſta-

ment machen, und zwar ſowohl in Rom, als in ſeiner Va-

terſtadt. Nun aber kann er es nicht, weil er überhaupt

keiner Stadt als Bürger angehört (§ 351. n).

6. Endlich kann hier noch die bekannte Thatſache er-

wähnt werden, daß das eigenthümliche Eherecht der Latini-

ſchen Städte unterging, als dieſe Städte das Römiſche

Bürgerrecht erhielten (i).

 

Es würde ſehr gewagt ſein, aus dieſen wenigen, ver-

einzelten Ausſprüchen erſchöpfende Regeln über die Be-

handlung der Colliſion verſchiedener Territorialrechte ablei-

ten zu wollen. Doch laſſen ſich darin folgende leitende

Geſichtspunkte nicht verkennen.

 

A. In einem Vertragsverhältniß zwiſchen zwei Bür-

gern verſchiedener Staaten kann keiner Partei das

rein poſitive Geſetz des ihr fremden Staates ent-

gegengeſetzt werden; ſie ſind vielmehr nach dem

jus gentium zu beurtheilen (k). Doch kann davon

in einzelnen Fällen, aus politiſchen Gründen, das

Gegentheil vorgeſchrieben werden (Nr. 1).

B. Das Bürgerrecht einer beſtimmten Stadt beſtimmt

in der Regel für jeden Einzelnen dasjenige poſi-

tive Recht, dem er perſönlich untergeordnet iſt, nach

(i) Gellius Lib. 4 C. 4.

(k) Vergl. oben § 348. c.

VIII. 6

|0104 : 82|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

welchem alſo er beurtheilt werden muß (Nr. 3.

4. und 5).

Außerdem kommen noch zweierlei andere Aeußerungen

der Römiſchen Juriſten vor, die leicht als Regeln über die

Beobachtung des örtlichen Rechts angeſehen werden können,

in der That aber nicht als ſolche zu betrachten ſind, ſo daß

noch beſonders gegen die Anwendung derſelben auf die hier

vorliegende Unterſuchung gewarnt werden muß.

 

Erſtlich gehören dahin einige vereinzelte Stellen, welche

bei der Auslegung und Anwendung von Rechtsgeſchäften

auf örtliche Gewohnheiten verweiſen, die man aber

fälſchlich von örtlichen Rechtsregeln verſtehen würde.

— So ſoll bei der Auslegung eines unbeſtimmten Vertrags

als die wahrſcheinliche Abſicht der Parteien unter Anderen

Das angenommen werden, welches in dieſer Gegend vor-

zugsweiſe üblich iſt (l). Dieſes iſt nun offenbar nicht

eine Rechtsregel dieſer Gegend, ſondern vielmehr das,

woran man dort thatſächlich gewöhnt iſt, welches man

häufig zu thun pflegt. Eine einzelne wichtige Anwen-

dung dieſer allgemeinen Auslegungsregel findet ſich bei den

Cautionen, die der Verkäufer werthvoller Sachen zu leiſten

hat; auch dieſe ſollen ſich nach der Sitte der Gegend rich-

 

(l) L. 34 de R. J. (50. 17).

„.. id sequamur, quod in re-

gione in qua actum est fre-

quentatur“.

|0105 : 83|

§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)

ten, d. h. nach den Cautionen, die dort am häufigſten frei-

willig geleiſtet zu werden pflegen (m). — Ferner ſoll die

Höhe der Verzugszinſen nach dem Zinsfuß beſtimmt wer-

den, der in dieſer Gegend gerade jetzt üblich iſt (n). Ganz

eben ſo die Höhe der Zinſen, die ein Geſchäftsführer von

ſeinem ausgelegten baaren Gelde berechnen darf (o). In

beiden Stellen iſt gar nicht von einer örtlichen Rechtsregel

die Rede, wodurch der Zinsfuß dort beſtimmt geweſen wäre,

ſondern von dem Zinsfuß, wie er augenblicklich an dem

dortigen Geldmarkte vorgefunden wurde. Der Grund die-

ſer Beſtimmung aber lag darin, daß jene Zinſen dem Glau-

biger eine wahre Entſchädigung für die entbehrte Geld-

nutzung gewähren ſollten, welche Entſchädigung nur nach

den Zinſen abgemeſſen werden konnte, die der Glaubiger

aus dem wirklichen Geldbeſitz anderwärts hätte gewinnen

können.

(m) L. 6 de evict. (21. 2). —

Aus demſelben Grunde war eine

ſolche Caution, die duplae stipu-

latio, bei wichtigen Sachen ſogar

allgemein in die Verpflichtungen

des Verkäufers übergegangen. L. 31

§ 20 de aed. ed. (21. 1), L. 2,

L. 37 pr. § 1 de evict. (21. 2).

Andere Anwendungen derſelben

Auslegungsregel (bei Teſtamenten)

finden ſich in L. 21 § 1 qui test.

(28. 1), L. 50 § 3 de leg. 1.

(30 un.), L. 18 § 3 de instructo

(33. 7). — Daß jedoch von den

hier abgewieſenen Stellen auch in

unſerer Lehre ein indirecter Ge-

brauch zu machen iſt, wird unten

gezeigt werden (§ 372).

(n) L. 1 pr. de usuris. (22. 1),

„.. usurarum modus ex more

regionis, ubi contractum est,

constituitur“.

(o) L. 37 de usuris (22. 1)

„.. debere dici usuras venire,

eas autem, quae in regione fre-

quentantur, ut est in b. f. judi-

ciis constitutum“ (das ſind eben

die in der vorhergehenden Stelle

erwähnten Verzugszinſen). Vergl.

auch L. 10 § 3 mand. (17. 1),

L. 7 § 10 de admin. (26. 7).

6*

|0106 : 84|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Zweitens aber ſind noch viel wichtiger die Stellen,

welche von den drei Klaſſen der freien Einwohner des Rö-

miſchen Reichs (cives, Latini, peregrini) reden, und die

man gleichfalls verſucht ſein könnte, mit der Unterordnung

der Einzelnen unter ein beſtimmtes poſitives Recht in Ver-

bindung zu bringen. Man könnte nämlich einen ſolchen

Gedanken etwa dahin ausbilden wollen, daß auf die erſte

Klaſſe (die cives) das jus civile, auf die zwei niederen

Klaſſen das jus gentium angewendet worden wäre. Allein

dieſer ganze Gedanke muß völlig zurück gewieſen werden.

Jene Klaſſification war höchſt wichtig für die Rechtsfä-

higkeit der Einzelnen, indem der civis das connubium

und commercium, der Latinus das commercium ohne connu-

bium, der peregrinus keine dieſer beiden Fähigkeiten hatte (p).

Dagegen hat jene Klaſſification durchaus keine Verbindung

mit der hier vorliegenden Aufgabe, nämlich mit dem Syſtem

der auf jeden Einzelnen anwendbaren poſitiven Rechtsre-

geln. Einige Beiſpiele werden Dieſes außer Zweifel ſetzen.

Auf die cives wurden die Regeln des jus gentium nicht

minder, als die des jus civile angewendet. Der Latinus

Junianus konnte allerdings, obgleich er als Latinus die

testamentifactio hatte, kein Teſtament machen, weil ihm

 

(p) S. o. B. 2 § 64. 66. —

Zu dieſer Lehre von der Rechts-

fähigkeit, und nicht zu dem Syſtem

der auf den Einzelnen anwend-

baren Territorialrechte (wovon hier

allein die Rede iſt), gehört auch

der Satz, daß die Stipulation in

der Formel: spondes? spondeo

nur von Römiſchen Bürgern, nicht

von Peregrinen, gebraucht werden

konnte. Gajus III. § 93.

|0107 : 85|

§. 356. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)

Dieſes beſonders verboten war (q). Sein Sohn aber war

ein freigeborner Latinus, der durch dieſes Verbot nicht ge-

bunden war, und wenn dieſer ein Teſtament machte, wozu

ihn ſein Stand als Latinus berechtigte (Note q), ſo wurde

er nach den Regeln der hereditas, alſo nach dem ſtrengſten

jus civile, beerbt, welches alſo auf ihn anwendbar ſein

mußte.

Noch weniger aber, als die hier angeführten Stellen,

können für unſre Unterſuchung ſolche Ausſprüche des Rö-

miſchen Rechts benutzt werden, welche nur ganz im Allge-

meinen die Berückſichtigung eines örtlichen Gewohnheits-

rechts erwähnen, ohne dabei den Gegenſatz verſchiedener

örtlicher Rechte (alſo den Fall einer Colliſion) voraus zu

ſetzen oder anzudeuten (r).

 

(q) Ulpian. XX. § 14. —

Daß ihm das Recht der testamen-

tifactio nicht fehlte (alſo nur

jenes ganz poſitive Verbot im

Wege ſtand), ſagt ausdrücklich

Ulpian ebendaſ. § 8. Auch be-

ruhte ja das Teſtament auf der

Mancipationsform, und daher war

die testamentifactio gleichbe-

deutend mit dem commercium

oder der Mancipationsfähigkeit,

welche den Latinen jeder Art zuſtand.

Ulpian. XIX. § 4. 5.

(r) Dahin gehören etwa fol-

gende Stellen: L. 1 § 15 de in-

spic. ventre (25. 4), L. 19 C.

de locato (4. 65). — Eben dahin

gehört die Erwähnung der chiro-

grapha und syngraphae, als

eines genus obligationis pro-

prium peregrinorum. Gajus III.

§ 134. — Von den beſonderen Aus-

ſprüchen über die Regel: locus

regit actum vgl. unten § 382.

|0108 : 86|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

§. 357.

Die Römiſche Lehre von origo und domicilium.

Wirkung dieſer Verhältniſſe. (Fortſetzung.)

Aus der bis hierher geführten Unterſuchung ergab es

ſich, daß die Angehörigkeit einer einzelnen Perſon an eine

beſtimmte Stadtgemeinde drei Wirkungen hatte, indem die

angehörige Perſon unterworfen war: 1. den ſtädtiſchen

Laſten, 2. dem Gerichtsſtand dieſer Stadt, 3. dem eigen-

thümlichen poſitiven Rechte derſelben. Dieſe drei Wirkun-

gen ſtanden in einem inneren Zuſammenhang, und konnten

daher als gleichartig betrachtet werden. Es iſt aber nun

noch eine wichtige Verſchiedenheit unter dieſen Wirkungen

hervor zu heben.

 

Wenn eine Perſon mehreren Städten angehörig war,

ſei es durch Bürgerrecht oder durch Wohnſitz, ſo war ſie

in jeder dieſer Städte den Bürgerlaſten und dem Gerichts-

ſtand unterworfen, ſo daß dann eine wahre Concurrenz un-

ter den Anſprüchen jener Städte an dieſelbe Perſon ent-

ſtand. Eine ſolche Concurrenz war bei der Unterordnung

der Perſon unter das poſitive Recht verſchiedener Städte

unmöglich, weil ſie einen inneren Widerſpruch mit ſich ge-

führt hätte. Dieſelbe Perſon konnte vor verſchiedenen

Obrigkeiten verklagt werden, je nach der Wahl des Klägers,

ſie konnte aber nicht nach verſchiedenen, vielleicht ganz wi-

derſprechenden, Rechtsregeln beurtheilt werden. Es war

alſo nur die Unterordnung unter Ein örtliches Recht mög-

 

|0109 : 87|

§. 357. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)

lich, und es mußte für dieſen Zweck unter den verſchiedenen,

in anderer Hinſicht concurrirenden Städten eine entſcheidende

Wahl getroffen werden.

Ich halte es nun für unzweifelhaft, daß das örtliche

Recht, dem jede Perſon unterworfen ſeyn ſollte, wenn dieſe

Perſon in zwei verſchiedenen Städten das Bürgerrecht und

den Wohnſitz hatte, durch das Bürgerrecht beſtimmt

wurde, nicht durch den Wohnſitz. Für dieſe Annahme

ſprechen folgende Gründe. Erſtlich war das Bürgerrecht

das engere, an ſich höher ſtehende Band, verglichen mit dem

von Willkür und Laune abhängenden Wohnſitz. Zweitens

war es das frühere Band, da es durch die Geburt geknüpft

wurde, der anderwärts vorhandene Wohnſitz erſt ſpäter

durch eine freie Handlung entſtanden ſein konnte; es fehlt

aber an jedem Grunde, weshalb das für die Perſon ein-

mal begründete territoriale Recht hätte umgewandelt werden

ſollen. Drittens deuten darauf auch mehrere der eben an-

geführten Aeußerungen der Römiſchen Juriſten, indem dieſe

ſagen: si … alio jure civitas ejus utatur (§ 356 e), und

quoniam nullius certae civitatis civis est (§ 356 h),

welche Ausdrücke offenbar auf das Bürgerrecht hindeuten

als Beſtimmungsgrund für das auf die Perſon anwendbare

örtliche Recht, nicht auf den Wohnſitz.

 

Nimmt man die hier aufgeſtellte Regel als richtig an,

ſo bleiben dann noch folgende Fälle, die dadurch nicht be-

ſtimmt werden, zu entſcheiden übrig.

 

|0110 : 88|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Erſtlich konnte Jemand das Bürgerrecht an mehreren

Orten zugleich haben: an dem einen durch die Geburt, an

einem andern durch Adoption oder durch Aufnahme (§ 351).

In einem ſolchen Falle wurde ohne Zweifel das frühere

Bürgerrecht, alſo das durch Geburt entſtandene (die

origo), als vorherrſchend behandelt, weil kein Grund vor-

handen war, eine Umwandlung des perſönlichen Rechtszu-

ſtandes anzunehmen. — Das Bürgerrecht der Stadt Rom,

welches jeder municeps neben ſeinem beſonderen Stadtbür-

gerrecht hatte (§ 352), kam bei der Beſtimmung des per-

ſönlichen Rechts gewiß nicht in Betracht, vielmehr konnte

in dieſer Hinſicht nur das Recht der engeren Heimath be-

rückſichtigt werden.

 

Zweitens konnte Jemand ganz ohne ſtädtiſches Bür-

gerrecht ſein (§ 351), während er einen Wohnſitz hatte.

In dieſem Fall mußte der Wohnſitz als Beſtimmungsgrund

für das auf ihn anwendbare perſönliche Recht gelten.

 

Zuletzt bleiben noch die Fälle zu erwägen übrig, wenn Je-

mand in keiner Stadt das Bürgerrecht (§ 351), und zu-

gleich entweder in mehreren Städten, oder auch in keiner

Stadt einen Wohnſitz hatte (§ 354). Wie die Römer ſolche,

bei ihnen gewiß ſeltene, Fälle beurtheilt haben mögen, läßt

ſich aus unſern Rechtsquellen nicht durch unmittelbare

Zeugniſſe nachweiſen. Wir werden auf dieſelben zurück-

kommen bei der Unterſuchung des heutigen Rechts (§ 359).

 

Auch für dieſe, das örtliche Recht betreffende, Regeln,

muß die Bemerkung wiederholt werden, welche oben für die

 

|0111 : 89|

§. 357. Origo und domicilium. Wirkung. (Fortſ.)

Gerichtsverfaſſung gemacht worden iſt, daß die Allgemein-

heit dieſer Regeln zwar für das Zeitalter der alten Juriſten

behauptet werden darf, in der früheren Zeit aber, durch die

eigenthümliche Verfaſſung mancher Provinzen, nur mit Aus-

nahmen anzunehmen iſt (a).

§. 358.

Origo und domicilium im heutigen Recht.

Es iſt nicht ſchwer zu zeigen, daß die hier dargeſtellte

Römiſche Lehre von origo und domicilium in unſerem

heutigen Rechtszuſtand, namentlich in dem für Deutſchland

geltenden gemeinen Recht, nicht mehr Anwendung findet,

und daß davon höchſtens vereinzelte Beſtandtheile übrig ge-

blieben ſind. Denn die Grundlage und Vorausſetzung jener

Lehre beſtand in den Stadtgebieten, die wie ein Netz über

den ganzen Boden des Römiſchen Reichs verbreitet waren,

und, damit zuſammenhängend, in den Stadtgemeinden, die

für die einzelnen Einwohner das Verhältniß zum Staate

vermittelten, ſo daß alle Einzelne, mit wenigen Ausnahmen,

als Stadtbürger, mannichfaltigen und dauernden perſön-

lichen Verpflichtungen unterworfen waren (§ 351).

 

Gerade dieſe Grundlage nun der Römiſchen Verfaſſung

 

(a) Dieſes gilt namentlich von

Sicilien nach den oben aus

Cicero angeführten Stellen

(§ 355. u.), worin die Gerichte und

die Geſetze neben einander genannt

werden als Vorrechte der Sicilianer.

Cap. 13 „domi certet suis legi-

bus.“ Cap. 24 „postulant, ut se

ad leges suas rejiciat.“ Cap. 37

„ut cives inter se legibus suis

agerent.“

|0112 : 90|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

in ihrer Anwendung auf die einzelnen Theile des Staats-

gebietes, findet ſich in den neueren Zeiten nicht mehr.

Namentlich in Deutſchland haben zwar ſeit vielen Jahr-

hunderten die Städte ein wichtiges Stück der Verfaſſung,

ſowohl im Reiche, als in den einzelnen Ländern, gebildet;

jedoch nur ein vereinzeltes, neben anderen meiſt wichtigeren

Beſtandtheilen ſtehendes Stück, ſo daß hier an ein Aufgehen

des Ganzen in bloße Stadtgebiete und Stadtgemeinden

niemals zu denken war. Wie mit Deutſchland, ſo verhielt

es ſich in dieſer Hinſicht auch mit anderen Staaten neuerer

Zeit; und höchſtens in Italien finden ſich theilweiſe noch

Zuſtände, die, wenn auch unvollſtändig, nicht nur an den

Zuſtand des Römiſchen Kaiſerreichs erinnern, ſondern auch

in der That als Ueberreſte deſſelben zu betrachten ſind.

Iſt nun die Grundlage jener Römiſchen Lehre von origo

und domicilium verſchwunden, ſo können auch die darauf

beruhenden Rechtsverhältniſſe (munera, forum, Stadtrecht

als Recht der Perſon) nicht mehr in Römiſcher Weiſe be-

hauptet werden. Vorzüglich einleuchtend iſt Dieſes für die

origo, das heißt für das bei jedem Einzelnen vorauszu-

ſetzende Stadtbürgerrecht, anſtatt daß bei der abſtracteren

Natur des domicilium ſich noch eher eine gewiſſe Art von

Fortdauer annehmen ließe.

 

Auch haben von jeher die neueren Schriftſteller als

unzweifelhaft anerkannt, daß in dieſer Lehre unſer Rechts-

zuſtand von dem der Römer durchaus abweiche. Zwar den

ganzen Umfang der eingetretenen Veränderung konnten ſie

 

|0113 : 91|

§. 358. Origo und domicilium im heutigen Recht.

deswegen nicht anerkennen, weil keiner unter ihnen den

wahren und vollſtändigen Zuſammenhang jener Römiſchen

Rechtsinſtitute überſah. Allein bei einer einzelnen Anwen-

dung, dem Gerichtsſtande, wurden ſie auf dieſen Gegen-

ſtand aufmerkſam, und hier eben erkannten ſie einſtimmig

an, daß das Römiſche forum originis, in ſeiner urſprüng-

lich vorherrſchenden Bedeutung, für uns ganz verſchwunden

ſey, und daß höchſtens noch etwas ihm Aehnliches, aber

untergeordnet, und als bloße Aushülfe für ſeltenere Fälle,

für unſer heutiges Recht übrig bleibe (a). — Wollte etwa

Jemand bezweifeln, ob wirklich in dieſer Lehre eine durch-

greifende Veränderung vorgegangen wäre, ſo müßte er

ſchon durch den Umſtand überzeugt werden können, daß

ſelbſt die Begriffe und Kunſtausdrücke der Römer bei den

Neueren ganz verwirrt und verdunkelt erſcheinen. Denn

dieſer Umſtand erklärt ſich nicht daraus, daß etwa die

Quellen des Römiſchen Rechts in dieſer Lehre beſonders

undeutlich oder lückenhaft wären, (welches in der That

nicht der Fall iſt), ſondern lediglich daraus, daß der In-

halt jener Rechtsquellen ſo wenig zu unſern Zuſtänden

paſſen wollte.

Man könnte nun etwa verſuchen, die eingetretene

Veränderung ſo aufzufaſſen, als wäre aus dem Römiſchen

Recht blos die eine Hälfte (die origo) verſchwunden, die

andere Hälfte (das domicilium) unverändert übrig geblieben.

 

(a) Lauterbach de domicilio § 13. 14. 50. Schilter ex. 13

§ 24. Stryk V. 1 § 17. 18. Glück B. 6 S. 261.

|0114 : 92|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Allein auch dieſe Auffaſſung kann nur mit großer Be-

ſchränkung als richtig anerkannt werden.

Die praktiſche Bedeutung nämlich des Römiſchen domi-

cilium bezog ſich immer wieder auf die Stadtgemeinde und

deren Gebiet, indem der Wohnſitz, eben ſo wie das Bür-

gerrecht, jeden Einzelnen zum Angehörigen einer Stadt-

gemeinde machen konnte (§ 351. 353). Dieſe aus-

ſchließende praktiſche Bedeutung iſt nicht mehr vorhanden,

oder ſie hat vielmehr eine andere Geſtalt angenommen.

 

Dagegen iſt die Art, wie der Wohnſitz entſteht und

wieder aufgehoben wird (§ 353. 354), bei uns ganz die-

ſelbe wie im Römiſchen Recht, und in ſofern ſind bei uns

die Beſtimmungen des Römiſchen Rechts völlig anwendbar.

 

Die Gränze des anwendbaren und nicht anwendbaren

Theils jener ganzen Lehre wird nun noch anſchaulicher

werden durch die Betrachtung der drei einzelnen Wirkungen,

die das Römiſche Recht an den Wohnſitz, eben ſo wie an

das Stadtbürgerrecht, knüpft (§. 355. 356).

 

1. Städtiſche Laſten (munera). Dieſe können hier völlig

unbeachtet bleiben, da ſie ſich ganz auf eigenthümlich

Römiſche Verhältniſſe bezogen.

 

2. Gerichtsſtand (forum domicilii).

 

Dieſe Wirkung des Wohnſitzes iſt nicht nur im heuti-

gen Rechte übrig geblieben, ſondern ſie erſcheint hier

noch wichtiger, als bei den Römern. Denn bei die-

ſen beſtand ganz gewöhnlich das forum originis neben

 

|0115 : 93|

§. 358. Origo und domicilium im heutigen Recht.

dem forum domicilii, ſo daß zwiſchen beiden der Klä-

ger die Wahl hatte (§ 355); bei uns iſt die origo

im Römiſchen Sinne verſchwunden, und ſo iſt nunmehr

das forum domicilii der einzige ordentliche, regelmäßige

Gerichtsſtand jedes Menſchen.

Dieſer Gerichtsſtand aber, wie der Wohnſitz ſelbſt,

auf welchem er beruht, hat jetzt eine andere Bedeutung,

als im Römiſchen Recht. Er bezieht ſich nicht mehr,

wie dort, allgemein und nothwendig auf die richterliche

Obrigkeit eines Stadtgebietes, zu welchem der Wohn-

ſitz gehört, ſondern eines Gerichtsſprengels, der

ſehr verſchiedenartige Entſtehungsgründe und Gränzen

haben, und allerdings unter anderen und zufällig auch

mit den Gränzen eines Stadtgebietes zuſammen fallen

kann.

 

3. Das beſondere territoriale Recht, welchem jeder Einzelne,

als ſeinem perſönlichen Recht, untergeordnet iſt. Damit

verhält es ſich ähnlich, wie es ſo eben von dem Gerichts-

ſtand bemerkt worden iſt. Dieſe Wirkung des Wohnſitzes

iſt nicht nur übrig geblieben, ſondern auch ausſchließender

anwendbar und darum wichtiger geworden, als bei ihnen.

Zugleich aber hat ſie bei uns, eben ſo wie der Gerichts-

ſtand, eine veränderte Bedeutung angenommen.

 

Dieſer Gegenſtand aber iſt für die Aufgabe der gegen-

wärtigen Unterſuchung wichtiger, als alles Uebrige, ja er

allein war die Veranlaſſung, auch die übrigen hier abge-

 

|0116 : 94|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

handelten Fragen mit in den Kreis dieſer Unterſuchung zu

ziehen. Daher iſt derſelbe nunmehr einer abgeſonderten,

ſelbſtſtändigen Betrachtung zu unterwerfen (§ 359).

Neben der hier dargeſtellten großen und allgemein aner-

kannten Verſchiedenheit, die bei dem Uebergang aus den

Römiſchen Zuſtänden in die heutigen eingetreten iſt, muß

es als eine Merkwürdigkeit erwähnt werden, daß ſich in

einem kleinen Europäiſchen Lande ein ähnlicher Rechtszu-

ſtand ausgebildet hat, wie der oben dargeſtellte Römiſche:

eine origo, verſchieden von dem domicilium, aber mit ent-

ſchiedenem Uebergewicht über dieſes; ein Rechtszuſtand, der

nicht Ueberreſt des Römiſchen, und eben ſo wenig Nach-

ahmung deſſelben iſt, ſo wie er auch darin eigenthümlich

erſcheint, daß er nicht ausſchließend auf einem Stadtbür-

gerrecht, ſondern auf dem Heimathsrecht oder Bürgerrecht

in irgend einer Gemeinde (ſey ſie ſtädtiſch oder ländlich)

beruht. Dieſer Zuſtand findet ſich in den meiſten Kantonen

der deutſchen Schweiz, wo das Heimathsrecht in einer be-

ſtimmten Gemeinde, welches zugleich Bedingung für den

Erwerb des Kantonsbürgerrechts iſt, vorzugsweiſe vor

dem vielleicht anderswo gewählten Wohnſitz, entſcheidend

iſt für viele der wichtigſten Rechtsverhältniſſe: namentlich

für die Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit, für die

Ehe, väterliche Gewalt, Vormundſchaft, ſo wie für das

Recht der Teſtamente und die Inteſtaterbfolge. Für mehrere

 

|0117 : 95|

§. 358. Origo und domicilium im heutigen Recht.

dieſer Rechtsverhältniſſe wird nicht blos das anwendbare

örtliche Recht, ſondern auch der Gerichtsſtand durch die

origo (das Gemeindebürgerrecht) beſtimmt, vorzugsweiſe

vor dem Wohnſitz; namentlich gilt Dieſes für die Klagen

auf Eheſcheidung, und für die aus dem Erbrecht. Alle

dieſe Beſtimmungen gründen ſich theils auf altes Her-

kommen, theils auf die zwiſchen vielen Kantonen geſchloſſenen

Konkordate (b).

§. 359.

Origo und domicilium nach heutigem Recht.

(Fortſetzung.)

Nach dem heutigen Recht iſt der Wohnſitz als regel-

mäßiger Beſtimmungsgrund anzuſehen für das beſondere

territoriale Recht, welchem jeder Einzelne, als ſeinem per-

ſönlichen Rechte, untergeordnet iſt (§. 358), und dieſer Satz

hat auch von jeher ſehr allgemeine Anerkennung gefun-

den (a). Es tritt alſo nunmehr als Regel derjenige Zu-

 

(b) Offizielle Sammlung der

das Schweizeriſche Staatsrecht be-

treffenden Aktenſtücke B. 2 Zürich

1822. 4 S. 34. 36. 39. — Ich

verdanke dieſen, das Schweizerrecht

betreffenden, Zuſatz der freundlichen

Mittheilung von Keller.

(a) Vgl. die im § 358 Note a.

angeführten Schriftſteller, und

Eichhorn deutſches Recht § 34. —

Für die Uebereinſtimmung aus-

ländiſcher Rechtslehrer ſind folgende

Zeugniſſe zu bemerken: Projet de

code civil Paris 1801. 8. p. LV.

LVI. — Rocco Lib. 2 C. 8, wo

gleichfalls der bloße Wohnſitz als

Grundlage des örtlichen Rechts

für den Einzelnen anerkannt wird,

völlig verſchieden von der (poli-

tiſchen) Naturaliſation, von welcher

Lib. 1 C. 10 handelt. — Story

Chap. 3. und 4.

|0118 : 96|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſtand ein, welcher im Römiſchen Rechte ausnahmsweiſe an-

erkannt werden mußte für ſolche Perſonen, die zufällig zu

keiner Stadt ein eigentliches Bürgerverhältniß hatten, alſo

ohne origo waren (§ 357). Man könnte dieſe Regel des

heutigen Rechts, um ihr Verhältniß ſowohl zum Römiſchen

Recht, als zu der ſchon erwähnten verwandten Regel für

den Gerichtsſtand, anſchaulich zu machen, etwa ſo aus-

drücken. 1. Bei den Römern beſtand neben dem forum

domicilii das forum originis, beide mit völlig gleicher Be-

rechtigung, alſo concurrirend. Bei uns iſt das forum

originis im Römiſchen Sinne verſchwunden, das forum

domicilii allein übrig. 2. Bei den Römern galt, als ter-

ritoriales perſönliches Recht der Einzelnen, die lex originis,

und nur ausnahmsweiſe die lex domicilii, für diejenigen

Perſonen, die zufällig keine origo hatten. Bei uns iſt die

lex domicilii der einzige regelmäßige Beſtimmungsgrund für

das territoriale perſönliche Recht der Einzelnen (b).

Obgleich nun dieſe ungemein wichtige Regel, die für die

ganze folgende Unterſuchung die Grundlage abgeben wird,

 

(b) Es iſt ſchon oben (§ 356)

aufmerkſam gemacht worden auf

den Zuſammenhang zwiſchen forum

(originis, domicilii) und lex

(originis, domicilii) Dieſer Zu-

ſammenhang zeigt ſich nicht blos

im R. R., ſondern auch in manchen

rein praktiſchen Folgen des heutigen

Rechts; ſo unter andern in der

Regel, nach welcher die vom ge-

wöhnlichen örtlichen Gerichtsſtand

eximirten Perſonen auch nicht den

örtlichen Statuten unterworfen ſind.

Eichhorn deutſches Recht § 34. —

Es darf jedoch keine unbedingte,

ausſchließende Behauptung dieſes

Zuſammenhangs geltend gemacht

werden, welches ſchon wegen der

nicht ſeltenen Concurrenz verſchie-

dener Arten des Gerichtsſtandes

(z. B. domicilii mit rei sitae)

bedenklich ſeyn würde.

|0119 : 97|

Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)

als Regel ſehr allgemein anerkannt wird, ſo iſt es doch nach

zwei Seiten hin nöthig, ſie näher zu beſtimmen.

Erſtlich hat im heutigen Recht der Wohnſitz auch in

Anſehung des territorialen Rechts eine andere Bedeutung

und andere Gränzen, als im Römiſchen Recht, ganz ſo wie

es bereits in Anſehung des Gerichtsſtandes bemerkt worden

iſt (§ 358). Bei den Römern war die lex originis, wie

die lex domicilii, ſtets das örtliche Recht eines beſtimmten

Stadtgebietes (§ 356). Bei uns dagegen hat die Einheit

eines territorialen Rechtes, eben ſo wie der Gerichtsſtand,

ſehr verſchiedenartige Entſtehungsgründe und Gränzen (c),

und das territoriale Recht kann nur unter andern und zu-

fälligerweiſe mit den Gränzen eines Stadtgebiets zuſammen

fallen, alſo ein Stadtrecht ſein. Wollen wir alſo für dieſes

Verhältniß den Vortheil einer allgemein paſſenden Bezeich-

nung gewinnen, ſo müſſen wir dafür einen beſonderen Kunſt-

ausdruck erſt bilden, und es würde ſich dazu etwa der Aus-

druck Geſetzſprengel eignen, welcher durch ſeine Aehn-

lichkeit mit dem allgemein üblichen Ausdruck: Gerichtsſpren-

gel leicht verſtändlich ſein wird. Nur muß dabei bedacht

werden, daß der Ausdruck: Geſetz (eben ſo wie lex domi-

cilii) in einem weiteren Sinn zu nehmen iſt, für jede Re-

gel des poſitiven Rechts, ohne Unterſchied, ob dieſe Regel

durch ein eigentliches Geſetz, oder etwa durch Gewohnheits-

recht, entſtanden ſein mag.

 

(c) Von dieſer verſchiedenar-

tigen Natur und Begränzung terri-

torialer Rechte iſt ſchon oben im

§ 347 die Rede geweſen.

VIII. 7

|0120 : 98|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Zweitens könnte man verſucht ſein, der hier aufgeſtell-

ten Regel von der lex domicilii einen uneingeſchränkten

Einfluß einzuräumen nur bei der Colliſion zwiſchen den

Particularrechten eines und deſſelben Staates (§ 347),

nicht ſo bei der Colliſion zwiſchen den Geſetzen ſouveräner

Staaten (§ 348); man könnte annehmen, daß für dieſe

Colliſion nicht ſowohl der Wohnſitz, als vielmehr der

Staatsverband, das Unterthanenverhältniß, maaßgebend ſein

müſſe. — In mehreren großen Staaten nämlich ſind ge-

naue Beſtimmungen erlaſſen worden über den Erwerb und

Verluſt des Staatsbürgerrechts, und man könnte daher

glauben, in dieſen Staaten ſei die Anwendung des territo-

rialen Rechts auf die Einzelnen forthin bedingt durch das

Staatsbürgerrecht, nicht mehr durch den Wohnſitz, worin

alſo eine modificirte Rückkehr zu dem Römiſchen Begriff

der origo (verſchieden von domicilium) gefunden werden

könnte.

 

Dieſe Annahme iſt nicht ohne Schein im Franzöſiſchen

Recht, welches genaue Beſtimmungen enthält über die Ent-

ſtehung und Aufhebung der Eigenſchaft eines Français (d).

Daran knüpft ſich dann die Beſtimmung, daß der perſön-

liche Zuſtand des Français (l’état et la capacité), auch wenn

 

(d) Code civil art. 9 — 13.

17 — 21. Von dem Français iſt

verſchieden der citoyen, welcher

Ausdruck die politiſchen Rechte be-

zeichnet, art. 7. — Auch Foelix

p. 36 ‒ 39 ſpricht zwar zuerſt von der

nationalité als Grundlage des

anzuwendenden örtlichen Rechts,

nimmt aber dann dieſen Ausdruck

gleichbedeutend mit domicile, will

alſo nicht etwa in Widerſpruch

treten mit der unter den Schrift-

ſtellern des gemeinen Rechts herr-

ſchenden Anſicht.

|0121 : 99|

§. 359. Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)

er im Ausland wohne, nach Franzöſiſchem Recht beurtheilt

werden ſolle (e); ferner daß jeder Français alle droits ci-

vils genieße (f). Dieſem letzten Satz könnte man die aus-

ſchließende Bedeutung beilegen, daß der Ausländer die

droits civils in Frankreich nicht genieße, worin dann eine

Herſtellung des Römiſchen Unterſchieds der cives und pere-

grini in der Lehre von der Rechtsfähigkeit gefunden

werden möchte. Allein, abgeſehen davon, daß die Franzö-

ſiſchen Juriſten von den droits civils ſehr verworrene und

irrige Begriffe haben (g), werden daneben den Ausländern

ſo ziemlich dieſelben Rechte, wie den Français, eingeräumt (h).

Daraus geht hervor, daß die praktiſche Bedeutung des Be-

griffs Français weit geringer iſt, als ſie auf den erſten

Blick ſcheint, und daß ſie ſich hauptſächlich in der Lehre

von der Handlungsfähigkeit äußert, an welcher Stelle

wir auf dieſen Gegenſtand zurückkommen werden.

In Preußen iſt neuerlich ein Geſetz erlaſſen worden

über die Entſtehung und Aufhebung der Eigenſchaft eines

Preußen oder Preußiſchen Unterthans (i), und man könnte

auch bei dieſem Geſetz verſucht ſein, darnach die Anwend-

barkeit des Preußiſchen Rechts auf die Einzelnen, unabhän-

 

(e) Code civ. art. 3, ſ. u.

§ 363 am Ende des §.

(f) Code civ. art. 8.

(g) S. o., B. 2 S. 154 fg.

(h) Code civ. art. 11, wo der

Grundſatz der Reciprocität aufge-

geſtellt iſt, welcher jetzt faſt über-

all auf völlig gleiche Rechtsfähig-

keit zwiſchen Inländern und Aus-

ländern führen wird.

(i) Geſetz vom 31. Dec. 1842

(G. S. 1843 S. 15).

7*

|0122 : 100|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

gig von dem Wohnſitz, abzumeſſen (k). In der That aber

iſt dazu noch weniger Schein, als im Franzöſiſchen Recht,

jenes Geſetz betrifft blos die Verhältniſſe des öffentlichen

Rechts, und nach den allgemeinen Preußiſchen Geſetzen iſt

es unzweifelhaft, daß das perſönliche Recht der Einzelnen

durch den Wohnſitz zu beſtimmen iſt, ohne Unterſchied der

Inländer und Ausländer (l).

Auch für das Engliſche, und das darauf gegründete

Amerikaniſche Recht könnte man annehmen, daß der Be-

griff des Staatsverbandes, an ſich verſchieden von dem

des Wohnſitzes, als Grundbegriff angenommen ſein möchte.

Allein Story, welcher ganz von den Begriffen des Engli-

ſchen Rechts ausgeht, erkennt dennoch den Begriff des

Wohnſitzes als Grundlage an, und zwar ganz in dem Sinn,

in welchem derſelbe von den Schriftſtellern über das Römi-

ſche Recht angewendet wird (Chap. 3 und 4).

 

Es muß alſo in der That der Wohnſitz als allgemei-

ner Beſtimmungsgrund anerkannt werden, und ſo haben

ihn auch die oben angeführten Schriftſteller (§ 358. a) als

 

(k) Daß die Eigenſchaft des

Preußen durch den Wohnſitz allein

weder begründet noch aufgehoben

werde, ſagt ausdrücklich das an-

geführte Geſetz § 13. 23.

(l) Allg Landrecht Einleitung

§ 23. 24. 34. — Eine Beſtätigung

dieſer Annahme liegt auch in den

zahlreichen Staatsverträgen mit

deutſchen Nachbarſtaaten, in welchen

für die beiderſeitigen Unterthanen

der Wohnſitz ſchlechthin als

Grundlage des ordentlichen per-

ſönlichen Gerichtsſtandes anerkannt

wird, ohne Erwähnung eines da-

von möglicherweiſe verſchiedenen

Unterthanenverbandes. Ich ver-

weiſe nur beiſpielsweiſe auf die

Verträge mit Weimar 1824 Art. 8

und Sachſen 1839 Art. 8 (G. S.

1824 S. 150. 1839 S. 354).

|0123 : 101|

§. 359. Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)

den wahren Grund des Unterthanenverhältniſſes (in Bezie-

hung auf das Privatrecht) anerkannt.

Der hier aufgeſtellte Grundſatz, daß der Wohnſitz als

Beſtimmungsgrund gelten ſoll ſowohl für den Gerichtsſtand

(forum domicilii), als für das örtliche Recht der Perſon

(lex domicilii), iſt für zwei mögliche Fälle nicht ausreichend,

und bedarf alſo für dieſe Fälle einer Ergänzung. Es kann

nämlich geſchehen, daß die Perſon, deren Gerichtsſtand oder

deren örtliches Recht wir zu beſtimmen haben, entweder

einen mehrfachen Wohnſitz hat, oder überhaupt keinen

Wohnſitz (§ 354).

 

Im erſten Fall entſteht für den Gerichtsſtand keine

Schwierigkeit. Dieſer iſt an jedem der verſchiedenen Orte

des Wohnſitzes völlig begründet, und der Kläger hat unter

ihnen die Wahl, ganz ſo wie nach dem Römiſchen

Recht (§ 355).

 

Für das örtliche Recht der Perſon iſt eine gleichartige

Beſtimmung nicht möglich, vielmehr muß hier unter den

mehreren Orten des gleichzeitigen Wohnſitzes einer als aus-

ſchließender Beſtimmungsgrund für das örtliche Recht ge-

wählt werden. Ich habe kein Bedenken, dafür denjenigen

Ort vorzugsweiſe anzuerkennen, an welchem zuerſt der

Wohnſitz errichtet war; und zwar deswegen, weil es an

einem hinreichenden Grunde fehlt, in dem örtlichen Recht,

 

|0124 : 102|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

das die Perſon durch Errichtung des erſten Wohnſitzes ein-

mal begründet hat, eine Aenderung anzunehmen (m).

Der zweite Fall endlich, wofür der aufgeſtellte Grund-

ſatz nicht ausreicht, alſo einer Ergänzung bedarf, iſt der,

wenn die Perſon, für welche wir den Gerichtsſtand oder

das örtliche Recht aufzuſuchen haben, gegenwärtig gar keinen

Wohnſitz hat.

 

Dieſer Fall kann zunächſt in der Geſtalt auftreten, daß

dieſelbe Perſon einen wahren Wohnſitz früher erweislich

gehabt, dann aber aufgegeben hat, ohne einen neuen zu

wählen. Dann haben wir dieſen früheren Wohnſitz als

Beſtimmungsgrund anzuſehen, und zwar wieder, wie es

ſchon bei anderer Gelegenheit geltend gemacht worden iſt

(Note m), weil es an einem hinreichenden Grunde zur

Annahme einer Aenderung fehlt. — Und von demſelben

Standpunkt aus iſt dann auch der letzte noch übrig blei-

bende Fall zu entſcheiden, der Fall, in welchem jene Perſon

auch in keiner früheren Zeit irgend einen Wohnſitz errich-

tet hat. Denn in einem ſolchen Fall müſſen wir auf einen

Zeitpunkt zurück gehen, in welchem ſie, ohne eigene Wahl,

einen Wohnſitz hatte. Dieſes iſt der Zeitpunkt der Geburt,

in welchem der Wohnſitz des ehelichen Kindes mit dem

 

(m) Aus demſelben Grunde iſt

ſchon oben eine gleichartige Ent-

ſcheidung getroffen worden, wenn

nach Römiſchem Recht dieſelbe

Perſon an mehreren Orten das

Bürgerrecht hatte (§ 357). — Mit

der hier aufgeſtellten Behauptung

ſtimmt überein Meier de con-

flietu legum p. 16.

|0125 : 103|

§. 359. Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)

Wohnſitz zuſammen fällt, den zu dieſer Zeit der Vater

hat (n).

Dieſes nun iſt die origo im Sinne unſers neueren

Rechts, und ſo iſt auch die Sache, bei Gelegenheit des

forum originis, von beſonnenen Rechtslehrern ſtets auf-

gefaßt worden (o), obgleich dabei oft die Verwechslung mit

dem bloßen Geburtsort (§ 350. a), oft auch eine unklare Vor-

ſtellung von dem Verhältniß dieſes Begriffs zu dem Römiſchen

Begriff von origo, der richtigen Einſicht hinderlich geweſen

iſt. Um in dieſer letzten Beziehung jeder künftigen Ver-

wechslung ſicherer vorzubeugen, will ich den Unterſchied,

wie er aus der ganzen bisher geführten Unterſuchung her-

vorgeht, hier kurz zuſammenſtellen. Die Römer nennen origo

das durch die Geburt eines Menſchen erworbene Stadt-

bürgerrecht deſſelben. Wir nennen origo die Fiction des

Wohnſitzes eines Menſchen an dem Ort, an welchem zur

Zeit der Geburt deſſelben der Wohnſitz des Vaters ge-

weſen iſt.

 

(n) S. o. § 353. t. (mit der

daſelbſt hinzugefügten näheren Be-

ſtimmung). — Mit dieſer Ent-

ſcheidung ſtimmt überein Voetius

V. 1 § 92 (am Ende des §), der

auch den richtigen Grund angiebt.

— Meier de conflictu legum

p. 14 will auf den Geburtsort

ſehen, der aber als ſolcher ganz

gleichgültig iſt. Thatſächlich wer-

den freilich beide Orte meiſt zu-

ſammen treffen.

(o) Auch die Preußiſche Ge-

ſetzgebung faßt die Sache richtig

in dieſem Sinne auf. Zwar iſt

in dem A. L. R. Einl. § 25 der

Ausdruck: „Ort der Herkunft“ un-

beſtimmt, und könnte von dem

bloßen Geburtsort verſtanden wer-

den. Allein die Allg. Ger. Ordn. I.

2 § 17. 18 erklärt die Herkunft

und das forum originis ganz

ausdrücklich von dem Gerichts-

ſtand der Eltern.

|0126 : 104|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Dieſer Begriff der origo oder der Herkunft im Sinne

des heutigen Rechts iſt nun gleichmäßig anzuwenden auf

den Gerichtsſtand, als forum originis, und auf das örtliche

Recht der Perſon, als lex originis.

 

Mit dieſer Behauptung ſetzen wir uns auch gar nicht

etwa in Widerſpruch mit den Beſtimmungen des Römiſchen

Rechts, deſſen Entſcheidung über den hier vorliegenden Fall

ich oben einſtweilen dahin geſtellt gelaſſen habe (§ 357).

Vielmehr glaube ich, daß die Römer dieſen Fall ganz eben

ſo entſchieden haben würden, wenn ihnen ein ſolcher Fall

vorgekommen wäre. Dafür ſpricht nicht nur der oben für

das heutige Recht geltend gemachte innere Grund, den ſie

eben ſo gut, als wir, anerkennen konnten, ſondern auch ein

auf demſelben Grunde beruhender beſtimmter Ausſpruch

über einen nahe liegenden, völlig verwandten Fall. Der

Freigelaſſene konnte ſeinen Wohnſitz frei wählen, unabhän-

gig von dem Wohnſitz ſeines Patrons (§ 353. v). Dennoch

wird daneben geſagt, der Wohnſitz eines Freigelaſſenen

werde beſtimmt durch den Wohnſitz des Patrons; eben

ſo ſogar der Wohnſitz der Kinder des Freigelaſſenen, und

ſelbſt der von ihm wiederum freigelaſſenen Sklaven (p).

Der ſcheinbare Widerſpruch dieſer Ausſprüche iſt unbedenk-

lich auf folgende Weiſe zu löſen. Im Augenblick der Frei-

 

(p) S. o. § 353. u. — Die

entſcheidenden Stellen ſind: L. 6

§ 3, L. 22 pr. ad mun. (50. 1),

und es iſt für das richtige Ver-

ſtändniß dieſer Stellen beſonders

zu vergleichen: Zeitſchrift für ge-

ſchichtliche Rechtswiſſ. B. 9 S. 98.

|0127 : 105|

§. 359. Origo und domicilium nach heutigem Recht. (Fortſ.)

laſſung hat der bisherige Sklave keinen anderen Wohnſitz,

als den ſeines Patrons, zu deſſen Hausſtand er bis dahin

gehört hat. Er behält dieſen Wohnſitz ſo lange, bis durch

ſeinen freien Willen eine Veränderung hierin vorgenommen

wird, das heißt, ſo lange, als nicht eine ſolche Veränderung

nachgewieſen werden kann. Derſelbe Wohnſitz muß alſo

bis dahin auch fortwährend angenommen werden für die

von ihm abhängigen Perſonen (Kinder und Freigelaſſene),

ſo lange bis auch dieſe wieder eine Veränderung hierin

vornehmen durch Errichtung eines eigenen Wohnſitzes. —

Dieſe Ausſprüche der Römiſchen Juriſten beruhen augen-

ſcheinlich auf demſelben Grunde, welcher oben für die origo

des heutigen Rechts geltend gemacht worden iſt, und ſie

laſſen kaum einen Zweifel übrig, daß die Römer auch für

den Sohn eines Freigebornen, wenn er keinen eigenen Wohn-

ſitz errichtet hatte, denjenigen Wohnſitz angenommen haben

würden, den der Vater zur Zeit der Geburt dieſes Sohnes

hatte.

Es iſt hierbei noch beſonders hervor zu heben ein ſelt-

ſamer, bei neueren Schriftſtellern ganz gewöhnlicher, Kunſt-

ausdruck: domicilium originis (q). Unter Vorausſetzung

des Römiſchen Sprachgebrauchs iſt dieſe Zuſammenſetzung

widerſinnig, da dieſe Ausdrücke zwei verſchiedene, unabhän-

 

(q) Schilter ex. 13 § 24.

Lautebbach de domicilio § 13.

— Thomasius de vagabundo

§ 44. bis 68 kritiſirt dieſen Kunſt-

ausdruck, verwickelt ſich aber dabei

in unerträgliche, völlig unfrucht-

bare Subtilitäten.

|0128 : 106|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

gige Gründe der Angehörigkeit bezeichneten. Im Sinn

der neueren Juriſten ſoll es heißen: der Wohnſitz eines

Menſchen, der nicht durch eigene freie Wahl, ſondern durch

ſeine Abſtammung begründet wird, alſo gewiſſermaßen auf

einer Fiction beruht.

Man kann nun allerdings in der Kaſuiſtik noch etwas

weiter fortſchreiten, und die Frage aufwerfen, welches Recht

anwendbar ſei auf einen Menſchen, bei dem weder ein

ſelbſtgewählter Wohnſitz, noch ein Wohnſitz des Vaters er-

mittelt werden kann. Dieſe Frage kann unter andern vor-

kommen, wenn dieſer Menſch ſtirbt, und deſſen Inteſtaterb-

folge beſtimmt werden ſoll. Dann wird kaum etwas An-

deres übrig bleiben, als den augenblicklichen Aufenthalt für

den Wohnſitz anzunehmen, alſo (wenn von der Erbfolge

die Rede iſt) den Ort, an welchem er geſtorben iſt. — Bei

Findelkindern mag als Wohnſitz gelten der Ort, wo ſie

gefunden werden, mit Vorbehalt einer Aenderung, wenn

ſie an einem anderen Orte zum Zweck der Erziehung einen

bleibenden Aufenthalt bekommen, ſei es in einer öffentlichen

Anſtalt, oder bei Privatperſonen (r).

 

(r) Linde Lehrbuch § 89.

|0129 : 107|

§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.

§. 360.

Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.

Wir ſind jetzt an einem Punkt unſrer Unterſuchung an-

gelangt, der einen größeren Abſchnitt bildet, und an welchem

ein Rückblick auf den zurückgelegten Theil räthlich erſcheint.

 

Der Gang der Unterſuchung war bisher folgender. Es

wurde ein Rechtsgrund aufgeſucht, aus welchem die Unter-

ordnung der einzelnen Perſon unter ein beſtimmtes örlliches

Recht, alſo die Angehörigkeit der Perſon an ein beſtimmtes

Rechtsgebiet, abgeleitet werden könne (§ 345). Als ein

ſolcher Rechtsgrund wurde im Römiſchen Recht anerkannt

das ſtädtiſche Bürgerrecht (origo), in deſſen Ermangelung

aber der Wohnſitz in einem beſtimmten Stadtgebiet (§ 350.

bis 357). Im heutigen Recht trat an die Stelle dieſes

Rechtsgrundes der Wohnſitz in einem beſtimmten Geſetz-

ſprengel (§ 358. 359).

 

Es wurde aber zugleich anerkannt, daß dieſe Beſtimmung

nur die Grundlage bilden könne für die Löſung unſrer Auf-

gabe, und nicht als eine ſolche Löſung ſelbſt angeſehen

werden dürfe. Denn zu dieſer Löſung genügt nicht die

Betrachtung der Perſon in ihrem abſtracten Daſeyn (ſo

wie in der oben erwähnten Beſtimmung), ſondern es muß

vielmehr die Perſon unter einem ganz anderen Geſichts-

punkt betrachtet werden, nämlich als eintretend in einen

weiten Kreis erworbener Rechte, und als Träger dieſer

 

|0130 : 108|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Rechte, womit zugleich die Möglichkeit des Eintritts in die

verſchiedenſten Rechtsgebiete gegeben iſt (§ 345).

Anſtatt alſo, daß bisher der Gegenſtand unſerer Unter-

ſuchung die Perſon war, für welche ein Band aufgeſucht

wurde, durch das ſie an eine beſtimmte Oertlichkeit, als an

ein einzelnes Rechtsgebiet, angeknüpft wäre, ſo wendet ſich

jetzt die Unterſuchung auf einen anderen Gegenſtand, auf

die Rechtsverhältniſſe, für welche wir nunmehr eine

ähnliche Verknüpfung mit einer beſtimmten Oertlichkeit, mit

einem einzelnen Rechtsgebiet, feſtzuſtellen haben. Um aber

beide Theile der Unterſuchung auch im Ausdruck einander

näher zu bringen, können wir ſagen, daß in der Folge für

jede Klaſſe der Rechtsverhältniſſe ein beſtimmter Sitz auf-

geſucht werden ſoll.

 

Dieſen Gedanken verfolgend, will ich hier die Formel

wiederholen, die ſchon oben in anderem Zuſammenhang vor-

läufig aufgeſtellt worden iſt (§ 348), und nach welcher die

geſammte Aufgabe dahin geht,

daß bei jedem Rechtsverhältniß dasje-

nige Rechtsgebiet aufgeſucht werde,

welchem dieſes Rechtsverhältniß ſeiner

eigenthümlichen Natur nach angehört

oder unterworfen iſt, (worin daſſelbe ſeinen

Sitz hat).

 

Dieſe Formel iſt im Weſentlichen gleich anwendbar auf

die Colliſion von örtlichen Rechten deſſelben Staates und

verſchiedener Staaten.

 

|0131 : 109|

§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.

Nur durch die vollſtändige Löſung dieſer Aufgabe wird

eine ſichere und erſchöpfende Anwendung der aufzuſtellenden

Grundſätze auf das wirkliche Leben möglich, und von dieſem

Standpunkte aus können wir die bisher geführte Unter-

ſuchung als den theoretiſchen Theil der ganzen Lehre, die

nunmehr folgende als den praktiſchen Theil derſelben be-

zeichnen.

 

In dieſer Unterſuchung werden einige allgemeine Ge-

ſichtspunkte öfter erwähnt werden müſſen. Eine vorläufige

Zuſammenſtellung derſelben am gegenwärtigen Orte wird

die ſpäter davon zu machende Anwendung weſentlich er-

leichtern und fördern.

 

1. Schon oben iſt auf den inneren Zuſammenhang auf-

merkſam gemacht worden, welcher zwiſchen dem Gerichts-

ſtand und dem anzuwendenden örtlichen Recht ſchon

bei den Römern beſtand, und auch im heutigen Recht nicht

verſchwunden iſt (§ 356. 359). Dieſer Zuſammenhang

beruhte bei der Perſon auf dem Gehorſam, den dieſelbe,

wie der Obrigkeit, ſo dem örtlichen Recht, zu leiſten hatte,

alſo auf einer gleichartigen Unterwerfung der Perſon unter

beide über ihr ſtehende Gewalten. Eine ähnliche Verwandt-

ſchaft, beſtehend in gleichartiger Unterwerfung, müſſen wir

nunmehr auch für die Rechtsverhältniſſe geltend machen.

Nur darf dieſer innere Zuſammenhang nicht bis zu völliger

Identität ausgedehnt werden. Eine ſolche Annahme wird

 

|0132 : 110|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſchon durch den Umſtand ausgeſchloſſen, daß in vielen

Fällen ein mehrfacher Gerichtsſtand anwendbar iſt, anſtatt

daß das anwendbare örtliche Recht ſtets nur ein einfaches

ſeyn kann.

2. Das für jedes Rechtsverhältniß anwendbare örtliche

Recht ſteht unter einem ſehr ausgedehnten Einfluß des

freien Willens der betheiligten Perſonen, alſo der frei-

willigen Unterwerfung unter ein beſtimmtes Rechtsgebiet,

obgleich dieſer Einfluß nicht als ein unbegränzter gedacht

werden darf. Dieſelbe freiwillige Unterwerfung iſt auch

wirkſam bei dem für die einzelnen Rechtsverhältniſſe gelten-

den Gerichtsſtand.

 

Die freie Unterwerfung unter ein örtliches Recht erſcheint

in verſchiedenen Arten und Graden. Zuweilen darin, daß

der Inhalt eines beſtimmten örtlichen Rechts als maaßgebend

frei gewählt wird, anſtatt daß auch wohl ein anderer In-

halt hätte vorgezogen werden können; ſo insbeſondere bei

den obligatoriſchen Verträgen, bei welchen das frei gewählte

örtliche Recht gleichſam als Beſtandtheil des Vertrages

ſelbſt anzuſehen iſt. In anderen Fällen erſcheint jene freie

Unterwerfung in dem Erwerbe eines Rechtes an ſich, ſo

z. B. bei dem Erwerbe eines Grundeigenthums in einem

fremden Rechtsgebiet, wobei der Erwerber zwar freie Macht

hat, den Erwerb zu unterlaſſen, wenn er ihn aber beſchließt,

den Inhalt des örtlichen Rechts über den Grundbeſitz noth-

wendig anerkennen muß.

 

|0133 : 111|

§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen

Bei dieſer Anwendung eines örtlichen Rechts in Folge

freier Unterwerfung ſind ſtets zwei Fragen zu beachten:

Unter welchen Bedingungen iſt dieſelbe anzunehmen, da es

meiſt an einer ausdrücklichen Erklärung darüber fehlen wird?

In welchen Fällen iſt ſie zuläſſig, oder aber durch entgegen-

ſtehende abſolute Geſetze ausgeſchloſſen?

 

Der große Einfluß dieſer freiwilligen Unterwerfung auf

das anzuwendende örtliche Recht hat denn auch ſtets ſehr

allgemeine Anerkennung gefunden. Er konnte noch etwa

bezweifelt werden im Römiſchen Recht, nach welchem die

perſönliche Abhängigkeit von einem beſtimmten örtlichen

Recht zunächſt durch das ſtädtiſche Bürgerverhältniß be-

ſtimmt wurde (§ 357), in welches Jeder regelmäßig nicht

durch ſeinen freien Willen, ſondern durch die Geburt ein-

trat (§ 352). Jeder mögliche Zweifel aber verſchwindet

für das heutige Recht, in welchem die perſönliche Abhän-

gigkeit von einem beſtimmten örtlichen Recht durch den

Wohnſitz beſtimmt wird. Denn da der Wohnſitz ſelbſt durch

völlig freie Wahl eines Jeden beſtimmt wird, ſo kann auch

für einzelne Rechtsverhältniſſe die regelmäßige Befugniß zur

freien Unterwerfung unter ein beſtimmtes örtliches Recht

keinem Zweifel unterliegen.

 

Die hier erwähnte freiwillige Unterwerfung erſcheint

theils als eine einſeitige (wie bei dem Erwerb des Eigen-

thums und anderer dinglicher Rechte), theils als eine in

mehreren Perſonen übereinſtimmend vorhandene (wie bei den

obligatoriſchen Verträgen). Dieſe letzte könnte man geneigt

 

|0134 : 112|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſeyn, ſelbſt für einen Vertrag, nämlich einen ſtillſchweigen-

den, zu halten. Allein dieſe Auffaſſung würde nicht genau

richtig ſeyn. Zu jedem Vertrag wird vorausgeſetzt ein

poſitives Wollen mit beſtimmtem Bewußtſeyn. Ein ſolches

iſt bei der hier in Frage ſtehenden Unterwerfung keineswe-

ges immer vorhanden. Vielmehr wird hier nur das dem

inneren Bedürfniß Entſprechende als gewollt, in Kraft einer

allgemeinen Rechtsregel, vorſorglich angenommen, ſo lange

nicht ein beſtimmt widerſprechender Wille vorliegt. Von

dieſer, allerdings etwas ſubtilen, Unterſcheidung zwiſchen

der hier angenommenen Unterwerfung und dem Vertrage,

wird unten eine nicht unwichtige Anwendung gemacht

werden (§ 379 Num. 3), in welcher die Unterſcheidung

ſelbſt noch anſchaulicher hervortreten wird.

Wenngleich nun in der Sache ſelbſt große Ueberein-

ſtimmung herrſcht über den großen Einfluß der freiwilligen

Unterwerfung unter ein beſtimmtes örtliches Recht, ſo muß

ich doch Widerſpruch einlegen gegen einen Sprachgebrauch,

der hierin neuerlich geltend gemacht worden iſt. Die

neueren Schriftſteller pflegen nämlich dieſe ſehr allgemeine

Einwirkung des freien Willens als Autonomie zu be-

zeichnen (a), da doch dieſer Kunſtausdruck von früherer Zeit

her vielmehr angewendet worden iſt als Bezeichnung eines

ſehr eigenthümlichen Verhältniſſes in der Entwickelung des

deutſchen Rechts, beſtehend in der Befugniß des deutſchen

 

(a) Wächter II. S. 35.

Eichhorn deutſches Recht § 34. 37.

Mittermaier deutſches Recht

§ 30. 31. Foelix p. 134.

|0135 : 113|

§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.

Adels und mancher Korporationen, ihre eigenen Verhält-

niſſe durch eine Art innerer Geſetzgebung ſelbſtſtändig zu

ordnen (b). Hier iſt der Ausdruck nicht wohl zu entbehren,

und er wird in ſeiner eigenthümlichen Bedeutung nur ge-

ſchwächt durch die überflüſſige Anwendung auf die ganz

ungleichartigen Verhältniſſe unſerer Lehre, welche an Klar-

heit und Beſtimmtheit dadurch gar Nichts gewinnt. Wollte

man dieſe Anwendung etwa dadurch zu rechtfertigen ſuchen,

daß ſich auch hier die Parteien einem (ſchon beſtehenden)

Rechte unterwerfen, in dieſem Sinne alſo ſich ſelbſt ein

Geſetz geben, ſo gilt ja Daſſelbe in noch höherem Grade

von der freien Wahl des Wohnſitzes, und doch denkt

Niemand daran, die Wahl des Wohnſitzes als Ausfluß der

Autonomie zu bezeichnen. — Hiernach ſcheint es gerathen,

bei der freien Unterwerfung unter irgend ein örtliches Recht,

eben ſo wie bei der Wahl des Wohnſitzes, und bei den

unzähligen anderen freien Handlungen, woraus rechtliche

Folgen entſpringen, den Namen der Autonomie zu ver-

meiden (c).

3. Wenn wir die Behandlung der hier vorliegenden

Fragen im Großen betrachten, wie ſie im Laufe mehrerer

 

(b) Eichhorn deutſches Recht

§. 20. 25. 30, Rechtsgeſchichte

B. 2 § 346. — Phillips deut-

ſches Recht B. 1 S. 89 B. 2

S. 73. — Puchta Gewohnheits-

recht B. 1 S. 155—160 B. 2

S. 107.

(c) Vgl. auch Puchta Gewohn-

heitsrecht B. 1 S. 158, B. 2 S. 107

Es liegt bei dem hier getadelten

Sprachgebrauch eine ähnliche Ver-

wechſelung zum Grunde, wie die,

durch welche die Entſtehungsgründe

der Rechtsverhältniſſe mit den

Rechtsquellen zuſammengeſtellt wer-

den, ſ. o. B. 1 § 6 Note b.

VIII. 8

|0136 : 114|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Jahrhunderte bei den Schriftſtellern, in der gerichtlichen

Praxis, und ſelbſt in der Geſetzgebung verſchiedener Na-

tionen erſcheint, ſo erſcheint uns darin eine unverkennbare

Umänderung, und zwar ein Fortſchritt, nach einer und der-

ſelben Richtung hin. In früherer Zeit war eine ſcharfe

Abſonderung der einzelnen Staaten gegen einander vor-

herrſchend, an deren Stelle im Laufe der Zeit eine ſtets

wachſende Annäherung getreten iſt. Uebereinſtimmend damit

hat ſich auch unter den Schriftſtellern der verſchiedenen

Nationen eine merkliche Verminderung der früheren Mei-

nungsverſchiedenheiten gezeigt. Von dieſer veränderten

Richtung geben zwei ſchon oben (§ 348) bemerkte That-

ſachen Zeugniß: die ſtets allgemeiner anerkannte gleiche

Rechtsfähigkeit unter Inländern und Ausländern, ſo wie

das zunehmende Einverſtändniß über manche Sätze eines

allgemeinen Gewohnheitsrechts über unſere Fragen. Wird

dieſe bereits angefangene Entwickelung des Rechts nicht

durch unvorhergeſehene äußere Umſtände geſtört, ſo läßt

ſich erwarten, daß ſie zuletzt zu einer völlig übereinſtim-

menden Behandlung unſerer Lehre in allen Staaten führen

wird. Eine ſolche Uebereinſtimmung könnte herbeigeführt

werden auf dem Wege der Wiſſenſchaft und der durch dieſe

geleiteten Praxis der Gerichte. Sie könnte auch bewirkt

werden durch ein unter allen Staaten vereinbartes Geſetz

über die Colliſion der örtlichen Rechte. Ich ſage nicht, daß

ein ſolches wahrſcheinlich wäre, oder auch nur räthlicher

und heilſamer, als die blos wiſſenſchaftliche Vereinbarung.

|0137 : 115|

§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.

Allein der Gedanke an ein ſolches Geſetz kann uns als

Maaßſtab dienen für die Prüfung einer jeden von uns auf-

zuſtellenden Regel über die Colliſion. Wir haben uns da-

bei ſtets zu fragen, ob eine ſolche Regel wohl geeignet

ſeyn dürfte, um in jenes allen Nationen gemeinſame Geſetz

aufgenommen zu werden.

Bei dieſer zunehmenden Annäherung iſt Ein Haupt-

punkt übrig geblieben, an welchen ſich fortwährend die

ſtrengſten Gegenſätze angeſchloſſen haben. Das ältere ger-

maniſche Recht geht aus von einem ſcharfen Unterſchied

zwiſchen dem Eigenthum an unbeweglichen Sachen auf der

einen Seite, und dem beweglichen Eigenthum nebſt allem

übrigen Vermögen (beſonders Obligationen) auf der andern

Seite. Hält man dieſen Unterſchied auch in unſerer Lehre

feſt, ſo wird man dahin geführt, das unbewegliche Ver-

mögen in allen Beziehungen nach dem Recht des Ortes,

wo die Sache liegt, zu beurtheilen, alſo in vielen der

wichtigſten Fälle von dem übrigen Vermögen gänzlich zu

trennen. Giebt man jenen Unterſchied auf, ſo kommt man

dahin, in vielen ſolchen Fällen das Vermögen aller Art

gleich zu behandeln. Dieſer ſehr wichtige Gegenſatz wird

zunächſt bei den dinglichen Rechten, dann aber beſonders

in dem Erbrecht und in dem ehelichen Güterrecht, weiter

unten genauer dargeſtellt werden. Seiner allgemeineren

Natur wegen erſchien jedoch eine vorläufige Erwähnung

deſſelben ſchon an dieſer Stelle räthlich.

 

Nach einer unbefangenen Betrachtung muß man aner-

 

8*

|0138 : 116|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

kennen, daß die in neuerer Zeit völlig veränderten Verhält-

niſſe des Vermögens und des Verkehrs dahin führen, jenen

ſtrengen Unterſchied aufzugeben. Die Gegner dieſer Meinung

verkennen zwar nicht die große Schwierigkeit der Ausführung,

die in heutiger Zeit mit dem Beharren bei jenem Unter-

ſchied verbunden ſeyn müſſe. Sie pflegen aber auf dieſen

Umſtand etwas vornehm herab zu ſehen, indem ſie be-

haupten, eine ſolche Unbequemlichkeit dürfe uns nicht

hindern, an richtigen Grundſätzen feſt zu halten. Dieſes

möchte zugegeben werden, wenn die Rede wäre von einer

bloßen Schwierigkeit für die urtheilenden Richter, deren

Mühe und Arbeit alſo durch die ausgleichende Meinung

vermindert werden ſollte, Allein die Schwierigkeiten, und

die aus dieſen entſpringenden Nachtheile treffen die Be-

theiligten ſelbſt, die Parteien, auf welche die Rechtsregeln

anzuwenden ſind, und wir dürfen niemals vergeſſen, daß

deren wahres und gleichförmiges Intereſſe zu fördern, der

Zweck der Rechtsregeln iſt, daß dieſe Regeln ihnen dienen

ſollen, nicht umgekehrt.

Und betrachten wir doch genauer, worin der Grundſatz

beſtehen könnte, der durch die Beſeitigung jener Schwierig-

keit etwa gefährdet würde. — Man könnte gefährdet glau-

ben den Vortheil der eigenen Unterthanen, wenn vielleicht

in einzelnen Fällen ein Grundeigenthum unſres Landes

durch Vererbung nach Rechtsregeln des Auslandes an einen

Ausländer fiele, anſtatt an einen Einheimiſchen. Allein

theils könnte im einzelnen Fall auch gerade der umgekehrte

 

|0139 : 117|

§. 360. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.

Erfolg bei der Anwendung der fremden Rechtsregel eintreten,

theils wird jede ſolche Gefahr, (wenn man dieſen Namen

gebrauchen will) durch die von uns vorausgeſetzte Gegen-

ſeitigkeit völlig beſeitigt. — Oder man könnte glauben, die

Würde und Selbſtſtändigkeit unſres Staates wäre gefährdet,

wenn auf die Vererbung eines einheimiſchen Grundeigen-

thums fremde Rechtsregeln angewendet würden. Allein

auch dieſer Einwurf widerlegt ſich durch die angenommene

Gegenſeitigkeit, die ſich, allgemeiner aufgefaßt, in eine

völkerrechtliche Gemeinſchaft, als Grundlage und letztes

Ziel unſrer ganzen Lehre auflöſt (§ 348).

Thatſächlich nun hat ſich der hier erwähnte Gegenſatz

der Meinungen ſo ausgebildet. Die deutſchen Schriftſteller

haben ſich in neuerer Zeit immer mehr dahin geneigt, den

oben erwähnten ſtrengen Unterſchied zwiſchen unbeweglichem

und anderem Vermögen aufzugeben, und zwar ſo, daß hierin

Romaniſten und Germaniſten ganz einverſtanden ſind. Die

Engliſchen Schriftſteller dagegen mit Einſchluß der Ame-

rikaniſchen (deren Lehre auf demſelben Boden des common

law ſteht) halten jenen Unterſchied in großer Strenge

feſt (d), und ihnen ſcheinen ſich auch die Franzöſiſchen

Schriftſteller anzuſchließen. Mit den Schriftſtellern aber

geht überall die Praxis der Gerichte, nach einer ſehr natür-

lichen Wechſelwirkung, Hand in Hand.

 

(d) Nicht ohne Einfluß auf

dieſes Feſthalten in England iſt

gewiß das Normänniſche Lehenrecht

geweſen, welches daſelbſt noch jetzt

den Verkehr im Grundeigenthum

großentheils beherrſcht.

|0140 : 118|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

§. 361.

Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen.

(Fortſetzung.)

Unſere nächſte Aufgabe geht dahin, für jede Klaſſe der

Rechtsverhältniſſe ein beſtimmtes Rechtsgebiet dem es an-

gehört, alſo gleichſam einen Sitz des Rechtsverhältniſſes,

aufzuſuchen (§ 360). Die Grundlage dieſer Arbeit muß

eine zuſammenſtellende Ueberſicht der Rechtsverhältniſſe

ſelbſt bilden, auf welche jene Unterſuchung gerichtet wer-

den ſoll (a).

 

Den Mittelpunkt jedes Rechtsverhältniſſes bildet die

Perſon, als der Träger derſelben, und es muß zuvörderſt

der Zuſtand der Perſon an ſich beſtimmt werden. Dieſes

geſchieht durch die Feſtſtellung von zweierlei Bedingungen:

den Bedingungen, unter welchen die Perſon Träger von

Rechtsverhältniſſen ſeyn kann (Rechtsfähigkeit); und

den Bedingungen, unter welchen ſie durch eigene Freiheit

Träger von Rechtsverhältniſſen werden kann (Handlungs-

fähigkeit). Man pflegt dieſe zweifache Fähigkeit den

abſoluten Zuſtand der Perſon zu nennen.

 

(a) Vgl. oben § 345 und B. 1

§ 53—58. — Die Rechtsfähig-

keit und Handlungsfähigkeit ſind

oben dargeſtellt, B. 2 und 3, das

Actionenrecht B. 5. 6. und 7. —

Uebrigens verſteht es ſich von ſelbſt,

daß die vorliegende Unterſuchung,

ſo wie das ganze Werk, beſchränkt

iſt auf das materielle Privatrecht,

ſo daß davon ausgeſchloſſen bleibt

ſowohl das Prozeßrecht, als das

Strafrecht, ſ. o. B. 1 § 1.

|0141 : 119|

§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)

Um dieſen Mittelpunkt nun (die Perſon an ſich) bilden

ſich die erworbenen Rechte in ihren mannichfaltigen Ge-

ſtalten. Sie laſſen ſich auf zwei Hauptklaſſen zurückführen,

die durch ihre Gegenſtände beſtimmt werden: Familien-

recht und Vermögensrecht.

 

Zum Vermögensrecht gehören zunächſt die Rechte an

einzelnen Sachen (dingliche Rechte), dann die Rechte an

einzelnen Handlungen beſtimmter Perſonen (Obligationen-

recht, wovon das Actionenrecht als einzelner Zweig zu be-

trachten iſt).

 

Dieſe, das Vermögen bildende, einzelne Rechte erſchei-

nen als eine künſtliche Einheit im Erbrecht, welches das

Vermögen in ſeinem abſtracten Begriff, von unbeſtimmtem

Inhalt, zum Gegenſtand hat.

 

Die Familie erſcheint theils in ihrer urſprünglichen Na-

tur, als dauernde Lebensform (reines Familienrecht), theils

in dem wichtigen Einfluß, den ihre einzelne Zweige auf das

Vermögen ausüben (angewandtes Familienrecht). Sie iſt

in den drei Geſtalten zu betrachten, die im heutigen Römi-

ſchen Recht allein noch übrig ſind: Ehe, väterliche Ge-

walt, Vormundſchaft, da das im Römiſchen Recht bis

zur ſpäteſten Zeit enthaltene Sklavenrecht längſt verſchwun-

den iſt.

 

Aus dieſer Ueberſicht ergiebt ſich, als leitend für den

ganzen folgenden Theil unſerer Unterſuchung, folgende Reihe

der Rechtsverhältniſſe:

 

|0142 : 120|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit,

Handlungsfähigkeit.)

II. Sachenrecht.

III. Obligationenrecht.

IV. Erbrecht.

V. Familienrecht.

A. Ehe.

B. Väterliche Gewalt.

C. Vormundſchaft.

Für jedes Rechtsverhältniß nun, das einer dieſer Klaſſen

angehört, werden wir die Regel feſtzuſtellen haben, nach

welcher die Colliſion verſchiedener örtlicher Rechte zu ent-

ſcheiden iſt. Der formelle Grundſatz zur Löſung dieſer

Aufgabe iſt bereits (§ 360) dahin angegeben worden, daß

der Sitz (die Heimath) jedes Rechtsverhältniſſes (wohl zu

unterſcheiden von dem Wohnſitz der Perſon) ermittelt wer-

den müſſe; dieſes örtliche Recht ſoll in jedem Fall einer

Colliſion zur Anwendung kommen. Die thatſächlichen Ver-

hältniſſe, die bei dieſer Ermittelung in Betracht kommen

können, unter welchen alſo jedesmal zu wählen ſein

wird, wo es darauf ankommt, den Sitz der einzelnen Rechts-

verhältniſſe feſtzuſtellen, ſind folgende:

Der Wohnſitz irgend einer mit dem Rechts-

verhältniß in Beziehung ſtehenden Perſon.

 

 

|0143 : 211[121]|

§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)

Der Ort, an welchem eine Sache liegt, auf die

ſich das Rechtsverhältniß bezieht.

Der Ort einer juriſtiſchen Handlung, welche

geſchehen iſt oder geſchehen ſoll.

Der Ort des Gerichts, welches einen Rechts-

ſtreit zu entſcheiden hat.

Nun ſind aber zu verſchiedenen Zeiten Verſuche ge-

macht worden, auch einen materiellen Grundſatz für die

Entſcheidung aller vorkommenden Colliſionsfragen aufzu-

finden. Ich will hier die wichtigſten Verſuche dieſer Art

zuſammen ſtellen. Die Prüfung eines jeden derſelben wird

davon abhängen, ob er dem angegebenen formellen Grund-

ſatz entſpricht, das heißt, ob aus ihm in der That für

jedes einzelne Rechtsverhältniß der wahre Sitz deſſelben

ſicher erkannt werden kann. Als bedenklich aber müſſen

alle dieſe Verſuche ſchon in vorläufiger Betrachtung des-

wegen erſcheinen, weil ja die einzelnen Rechtsverhältniſſe

von ſo ſehr verſchiedener Natur ſind, daß ſie ſchwerlich

auf eine gemeinſame, durchgreifende Regel über ihren Wohn-

ſitz zurückgeführt werden können.

 

1. Die Unterſcheidung der Statuta personalia, realia,

mixta (b).

 

(b) Darauf iſt ſchon oben hin-

gedeutet worden am Schluß des

§ 345 und im § 347. Ausführ-

lich handelt davon Wächter I.

S. 256 — 261. S. 270 — 311.

Vgl. auch Foelix § 19 fg. Story

§ 12 fg.

|0144 : 122|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

In einem ſehr unreifen Anfang findet ſich dieſe Unter-

ſcheidung ſchon bei Bartolus (c), vollſtändiger ausgebil-

det erſt gegen Ende des ſechszehnten Jahrhunderts (d).

 

Perſonalſtatuten ſollen diejenigen Geſetze ſein,

welche principaliter die Perſon und deren Zuſtände zum

Gegenſtande haben, mögen ſie auch nebenher Beſtimmungen

enthalten, die ſich auf das Vermögen beziehen.

 

Realſtatuten werden die Geſetze genannt, welche prin-

cipaliter von Sachen (und zwar von unbeweglichen) han-

deln, mögen auch nebenher die Perſonen erwähnt ſein.

 

Gemiſchte Statuten werden von Einigen die Geſetze

genannt, die keines von beiden (Perſon oder Sache) zum

Gegenſtand haben, ſondern vielmehr die Handlungen (e);

von Anderen die, welche beides (Perſon und Sache zugleich)

umfaſſen. Dieſe zwei Erklärungen ſind einander ſcheinbar

entgegengeſetzt, ſpielen jedoch in einander über.

 

Die praktiſche Bedeutung dieſer Begriffe iſt nun dieſe.

Man geht aus von der Frage, welche Geſetze auch außer

dem Staatsgebiet des Geſetzgebers anzuwenden ſind, und

man beantwortet dieſelbe in folgender Weiſe. Perſonalſtatuten

ſollen anzuwenden ſeyn auf alle Perſonen, die in dem Ge-

biete des Geſetzgebers ihren Wohnſitz haben, auch wenn

 

(c) Bartolus in L. 1 C. de

summa trin. Die Hauptſtelle iſt

excerpirt bei Wächter I. S. 272.

bis 274.

(d) Argentraeus Num. 5. 6.

7. 8. Eine kurze, klare Zuſammen-

ſtellung bei I. Voet. §. 2—4.

(e) Auch wohl mit engerer Be-

ſchränkung auf die Form der

Handlungen. I. Voet. § 4.

|0145 : 123|

§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)

ein auswärtiger Richter zu entſcheiden hat. Realſtatuten

auf alle in dem Gebiete des Geſetzgebers liegende Grund-

ſtücke, wiederum ohne Unterſchied, ob ein einheimiſcher oder

ein auswärtiger Richter zu entſcheiden hat; gemiſchte Sta-

tuten endlich auf alle in dem Gebiete des Geſetzgebers vor-

kommende Handlungen, es mag die Entſcheidung in demſelben

Lande zu geben ſeyn oder nicht. — So ſtellt ſich die An-

wendung im Großen und Ganzen, allein im Einzelnen fin-

den ſich unzählige abweichende Meinungen, indem die Grän-

zen der Begriffe ſelbſt, ſo wie der praktiſchen Anwendung

derſelben, bald ſo, bald anders gezogen werden.

Als ganz unwahr läßt ſich dieſe Lehre gewiß nicht ver-

werfen, da ſie der verſchiedenſten Deutungen und Anwen-

dungen empfänglich iſt, unter welchen ſich mitunter auch

ganz richtige wahrnehmen laſſen. Dagegen zeigt ſie ſich als

völlig ungenügend, ſowohl durch Unvollſtändigkeit, als durch

Vieldeutigkeit, und ſie iſt daher durchaus unbrauchbar, als

Grundlage für den bevorſtehenden Theil unſerer Unterſu-

chung zu dienen.

 

Manche neuere Schriftſteller haben behauptet, es ſey

dieſe Lehre als entſchiedenes allgemeines Gewohnheitsrecht

aufgenommen worden (f). Die Richtigkeit dieſer Behaup-

tung iſt nicht nur unerwieſen, ſondern ſogar unmöglich, da

die Meinungen der Schriftſteller, mit welchen auch die Ent-

ſcheidungen der Gerichte mehr oder weniger zuſammenhän-

 

(f) Thibaut Pandekten § 38. Kierulff S. 75—82.

|0146 : 124|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

gen, weit aus einander gehen, alſo nicht von einer über-

einſtimmenden Gewohnheit Zeugniß geben können. Als

wahren Beſtandtheil jener Behauptung können wir nur die

Thatſache anerkennen, daß faſt alle Schriftſteller, bis auf

ſehr neue Zeit hin, in der Behandlung unſerer Lehre die

erwähnten Kunſtausdrücke (Perſonal- und Realſtatuten,

nebſt gemiſchten) anwenden. Da ſie aber an dieſe Aus-

drücke ganz verſchiedene Begriffe und Regeln anknüpfen, ſo

iſt der übrig bleibende wahre Beſtandtheil der erwähnten

Behauptung ganz unbedeutend und gleichgültig.

Der oben erwähnte ſcharfe Unterſchied zwiſchen dem

unbeweglichen und dem übrigen Vermögen (§ 360 No. 3)

pflegt mit der ſo eben dargeſtellten Lehre in Verbindung

geſetzt zu werden, und zwar in der Art, daß die Verthei-

diger jenes Unterſchiedes ein beſonderes Gewicht auf den

Begriff der Realſtatuten legen, anſtatt daß für ihre

Gegner dieſer Begriff ein weit geringeres Intereſſe hat.

 

2. Jedes einzelne Rechtsverhältniß ſoll in der Regel,

im Zweifel, nach dem örtlichen Recht des Wohnſitzes

der Perſon beurtheilt werden, welche das Rechtsverhältniß

betrifft. Dieſes ſoll alſo geſchehen in allen Fällen, für

welche nicht eine beſondere Ausnahme nachgewieſen werden

kann (g).

 

(g) Eichhorn deutſches Recht

§ 34. Göſchen Vorleſungen B. 1

S. 111. Puchta Pandekten §. 113

und: Vorleſungen über die Pan-

dekten § 113. (Puchta nimmt dieſen

Grundſatz nur an bei der Colliſion

örtlicher Rechte deſſelben Staates).

— Gegen dieſen Grundſatz erklärt

ſich Wächter II. S. 9—12.

|0147 : 125|

§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rchtsverhältniſſen. (Fortſ.)

Auf den erſten Blick ſcheint dieſer Grundſatz im Zu-

ſammenhang zu ſtehen mit der ſehr allgemein, und auch

von mir, anerkannten Regel, nach welcher der Wohnſitz das

Band iſt, das eine Perſon mit einem beſtimmten Rechts-

gebiet verknüpft (§ 359. a). Bei genauerer Betrachtung

aber verhält es ſich damit ganz anders. Das für die Per-

ſon als ſolche geltende Recht gilt darum nicht auch für die

einzelnen Rechtsverhältniſſe, in welche ſich die Perſon be-

giebt, und durch die ſie in die verſchiedenſten Rechtsgebiete

eintreten kann (§ 360). Das örtliche Recht der Perſon

kann zugleich für irgend ein einzelnes Rechtsverhältniß

derſelben anwendbar ſein, und darum zeigt ſich jener Grund-

ſatz in manchen beſonderen Fällen als richtig. Aber ein

ſolches Zuſammentreffen iſt ganz zufällig, der Grundſatz

ſelbſt hat an ſich keinen Anſpruch auf allgemeine Anwend-

barkeit für die einzelnen Rechtsverhältniſſe, und wir können

uns bei dieſen nicht der Nothwendigkeit entziehen, für jedes

derſelben das ihm angemeſſene Rechtsgebiet mit völliger

Unbefangenheit beſonders zu ermitteln.

 

Dazu kommt noch der wichtige Umſtand, daß die meiſten

Rechtsverhältniſſe nicht eine einzelne Perſon allein, ſondern

mehrere Perſonen zugleich betreffen. In ſolchen Fällen

nun läßt uns jener Grundſatz ganz ohne Entſcheidung, in-

dem aus ihm nicht erkennbar iſt, welche unter dieſen meh-

reren, von dem Rechtsverhältniß betroffenen, Perſonen

durch ihren Wohnſitz das auf das Rechtsverhältniß anzu-

wendende örtliche Recht beſtimmen ſoll.

 

|0148 : 126|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Endlich muß auch noch Widerſpruch eingelegt werden

gegen die ganze Geſtalt, worin der erwähnte angebliche

Grundſatz auftritt. Er ſoll in der Regel, oder im Zweifel,

gelten, alſo nur dann nicht gelten, wenn die Anwendbar-

keit eines anderen örtlichen Rechts vollſtändig bewieſen

werden kann (h). Damit ſcheint die Geltung des Grund-

ſatzes bevorwortet zu werden für die zahlreichen Fälle, wo-

rin für eine oder die andere Meinung ſcheinbare Gründe,

gewichtige Autoritäten, Präjudizien der Gerichte, vorgebracht

werden. Es wird alſo hier gewiſſermaßen das Verfahren

des Civilprozeſſes angewendet, in welchem Jeder, dem die

Beweislaſt obliegt, den Prozeß verliert, wenn es ihm nicht

gelingt, den Beweis zu führen. Dieſe ganze Art der Be-

handlung kann ich nicht billigen. Vielmehr muß für jedes

einzelne Rechtsverhältniß das Rechtsgebiet, dem es nach

ſeiner Natur angehört, ſelbſtſtändig unterſucht und feſtge-

ſtellt werden, ſo daß in dieſe Unterſuchung keine allgemeine

Präſumtion, fördernd oder hindernd, eingemiſcht werden

darf. Dieſer Widerſpruch übrigens wird nicht blos gegen

den eben erwähnten vermeintlichen Grundſatz erhoben, ſon-

dern er iſt ganz eben ſo auch auf den nachfolgenden an-

wendbar.

 

3. Jedes einzelne Rechtsverhältniß ſoll in der Regel zu

beurtheilen ſein nach dem Ort des Gerichts, das heißt,

nach den Geſetzen des Landes, dem der darüber urtheilende

 

(h) So beſonders bei Puchta Pandekten § 113 Note b

|0149 : 127|

§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)

Richter angehört. Dieſer Grundſatz wird übrigens nur

aufgeſtellt für die Colliſion der Rechte verſchiedener Staa-

ten, nicht für die der Particularrechte deſſelben Staates (i).

An ſich aber würde kein Hinderniß ſein, dieſen Grundſatz,

wenn man ihn als wahr anerkennte, auch auf die collidi-

renden Particularrechte eines und deſſelben Staates anzu-

wenden.

Die ſcheinbare Wahrheit dieſes Grundſatzes liegt darin,

daß jeder Geſetzgeber ausſchließende Herrſchaft über ſein

Land hat, in dieſem Gebiet alſo die Einmiſchung irgend

eines fremden Rechts nicht zu dulden braucht; oder, was

von anderer Seite her Daſſelbe ſagt, daß jeder Richter nur

die Geſetze ſeines Staates anzuwenden berufen iſt (k). Dieſer

Grund würde entſcheidend ſein, wenn der vorherrſchende

Geſichtspunkt neuerer Geſetzgebung die eiferſüchtige Hand-

habung der eigenen Autorität wäre. Dieſes aber verſteht

ſich gewiß nicht von ſelbſt; vielmehr entſteht uns nun erſt

die Frage, ob die einheimiſche Geſetzgebung nach ihrem

Geiſt und ihrer Richtung die Anwendung jedes fremden

Rechts auf die mit mehreren Rechtsgebieten in Berührung

 

(i) Wächter I. S. 261 — 270

(deſſen ganze Schrift nur von den

Geſetzen verſchiedener Staaten han-

delt); Puchta Pandekten § 113.

Vorleſungen § 113. — Dieſe

Meinung wird beſtritten von

Schäffner § 24 — 29. Kori

Archiv B. 27. S. 312.

(k) Zugleich ſteht dieſer Grund-

ſatz ſcheinbar in Zuſammenhang

mit der oben (§ 360) geltend ge-

machten Verwandtſchaft zwiſchen

dem Gerichtsſtand und dem ört-

lichen Recht. Nur wird irriger-

weiſe von den Vertheidigern deſſel-

ben dieſe Verwandtſchaft in wirk-

liche Identität ausgebildet.

|0150 : 128|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſtehenden Rechtsverhältniſſe in der Regel ausſchließt (l).

Ein neuerer Schriftſteller giebt dieſer Anſicht folgenden ſehr

angemeſſenen Ausdruck. Wir wollen einräumen, ſagt er,

daß jeder Richter zunächſt die Geſetze ſeines Landes anzu-

wenden habe. Aber er ſoll ſie doch gewiß nur anwenden

auf die Perſonen und die Fälle, für welche ſie gegeben ſind;

ob nun aber der Geſetzgeber ſein Geſetz hat gelten laſſen

wollen für die an ſich zweideutigen Rechtsverhältniſſe, bei

welchen eine Colliſion örtlicher Rechte eintritt, dieſes her-

auszufinden (ſagt jener Schriftſteller), iſt der allein ſchwie-

rige Punkt (m).

Wenn wir nun die oben angeregte Frage unbefangen

erwägen, ſo müſſen wir uns überzeugen, daß der vorherr-

ſchende Geſichtspunkt der neueren Geſetzgebung und Praxis

nicht in der eiferſüchtigen Handhabung der ausſchließenden

eigenen Herrſchaft beſteht, ja daß ſie vielmehr gerade um-

gekehrt auf die Förderung einer wahren Rechtsgemeinſchaft

gerichtet iſt, alſo auf die Beurtheilung der Colliſionsfälle

nach dem inneren Weſen und Bedürfniß eines jeden ein-

zelnen Rechtsverhältniſſes, ohne Rückſicht auf die Gränzen

der Staaten und ihrer Rechtsgebiete (§ 348).

 

Erkennen wir aber dieſen vorherrſchenden Geſichtspunkt

der neueren Rechtsentwickelung (in Geſetzgebung und

 

(l) Dieſen Geſichtspunkt er-

kennt auch der Vertheidiger des

hier zu prüfenden Grundſatzes,

als wahr an. Wächter I. S. 262.

265.

(m) Thöl Handelsrecht B. 1

S. 28.

|0151 : 129|

§. 361. Uebergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)

Praxis) als wahr an, ſo müſſen wir nothwendig den hier

vorliegenden Grundſatz (daß der Richter in der Regel nach

den Geſetzen ſeines Landes zu entſcheiden habe, wo ihm

ein Colliſionsfall vorkommt) verwerfen. Dieſer Grundſatz

ſtört und hindert ſogar die wünſchenswerthe und annähe-

rungsweiſe zu erreichende Uebereinſtimmung der Ent-

ſcheidung von Colliſionsfällen in verſchiedenen Staaten.

Er könnte daher unmöglich in ein gemeinſames Geſetz aller

Staaten über die Colliſion der örtlichen Rechte (wenn ein

ſolches je verſucht werden ſollte) aufgenommen werden

(§ 360, S. 115).

Es kommt aber noch ein beſonderer Grund hinzu, der

die Anwendung jenes Grundſatzes ſehr bedenklich macht.

In vielen Colliſionsfällen findet ſich der Gerichtsſtand an

verſchiedenen Orten concurrirend begründet, ſo daß die

Wahl des Gerichtsſtandes im einzelnen Falle dem Kläger

frei ſteht. Dadurch wird, wenn jener Grundſatz gelten

ſoll, das in jedem einzelnen Fall anzuwendende örtliche

Recht abhängig gemacht, nicht allein von blos zufälligen

Umſtänden, ſondern ſelbſt von der einſeitigen Willkür einer

Partei. Ein Grundſatz aber, deſſen Anwendung zu dieſem

Erfolge führt, kann unmöglich als gerecht anerkannt wer-

den. Recht auffallend erſcheint die Härte und Willkür,

wozu die Anwendung jenes Grundſatzes führen kann, wenn

man dabei an die Länder denkt, worin der volle Land-

ſaſſiat eingeführt iſt (n).

 

(n) Eichhorn deutſches Recht § 75. — Als beſonderer Einwurf

VIII. 9

|0152 : 130|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Zum Schluß aber müſſen noch die wahren Beſtand-

theile des hier bekämpften Grundſatzes anerkannt werden,

um ſo mehr, als gerade dieſe Anerkennung vielleicht eine

Verſtändigung über die widerſtreitenden Meinungen erleich-

tern kann.

 

A. Wenn der Richter ein einheimiſches Geſetz über

die Colliſionsfrage vorfindet, ſo muß er die-

ſes unbedingt befolgen, ſelbſt wenn es mit ſeiner

eigenen theoretiſchen Anſicht nicht übereinſtimmen

ſollte (§ 347. 348). — Weit wird indeſſen die

Befolgung dieſer Regel nicht führen, da die Ge-

ſetze über die Behandlung der Colliſionen meiſt

nur der Ausdruck irgend einer unvollſtändigen,

ungenügenden Theorie ſind.

B. Der Richter kann niemals ein fremdes örtliches

Recht anwenden, wenn dieſe Anwendung durch

die oben gezogenen Gränzen für die Rechtsge-

meinſchaft unabhängiger Staaten ausgeſchloſſen

iſt (§ 349). Die wichtigſten Folgen dieſer Regel

werden unten in dem § 365 zuſammengeſtellt wer-

den. Dadurch wird es zugleich anſchaulich wer-

den, daß die praktiſche Verſchiedenheit zwiſchen

gegen den hier vorliegenden Grund-

ſatz wird auch noch der Umſtand

geltend gemacht, daß in dem Ge-

richtsſprengel des entſcheidenden

Richters mehrere örtliche Rechte

neben einander beſtehen können,

und daß es dann unentſchieden

bleibe, welches derſelben gelten

ſolle. Seuffert Archiv für Ent-

ſcheidungen der oberſten Gerichts-

höfe in den deutſchen Staaten B. 2

Num. 4.

|0153 : 131|

§. 361. Übergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)

der hier bekämpften und der von mir vertheidig-

ten Lehre in der That minder groß iſt, als ſie

auf den erſten Blick erſcheinen mag.

C. Der Richter muß ſtets das Recht ſeines eigenen

Landes anwenden, wenn nicht von einem Ver-

hältniß des materiellen Rechts, ſondern vielmehr

von der gerichtlichen Rechtsverfolgung die Rede

iſt. Dahin gehören nicht blos die für den eigent-

lichen Prozeß geltenden Formen und Regeln, ſon-

dern auch theilweiſe die Regeln des Actionen-

rechts. Hierin aber iſt die Gränzſcheidung oft

ſehr ſchwierig, es muß dabei mit großer Vorſicht

verfahren, und ſtets auf die wahre Natur und

Beſtimmung der einzelnen Rechtsinſtitute geachtet

werden. Gar manche Regel iſt nur ſcheinbar der

Rechtsverfolgung, in der That aber dem Rechts-

verhältniß ſelbſt angehörig.

4. Jedes Rechtsverhältniß ſoll nach dem örtlichen Recht

desjenigen Rechtsgebietes beurtheilt werden, worin es

exiſtent geworden iſt (o).

 

Dieſer Grundſatz iſt nicht nur willkürlich, weil der Ent-

ſtehungsort an ſich, und abgeſehen von möglichen vermit-

telnden Gründen, nicht das anzuwendende örtliche Recht

beſtimmen kann, ſondern er hat auch blos den Schein eines

materiellen Grundſatzes, während er in der That eine blos

 

(o) Schäffner § 32. — Vgl. dagegen Wächter II. S. 32.

9*

|0154 : 132|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

formelle Natur hat. Denn der Ort, wo das Rechtsver-

hältniß im juriſtiſchen Sinn exiſtent wird, kann nur durch

genaueres Eingehen in die individuelle Natur jedes Rechts-

verhältniſſes erkannt werden, und dabei iſt die vorherrſchende,

an die Spitze geſtellte Rückſicht auf den Entſtehungsort nur

ſtörend, nicht fördernd.

5. Es ſoll ſtets dasjenige örtliche Recht angewendet

werden, wodurch wohlerworbene Rechte aufrecht erhalten

werden (p).

 

Dieſer Grundſatz führt auf einen bloßen Zirkel. Denn

welche Rechte wohlerworben ſind, können wir nur erfahren,

wenn wir zuvor wiſſen, nach welchem örtlichen Rechte wir

den vollzogenen Erwerb zu beurtheilen haben.

 

In dieſer allgemeinen Ueberſicht ſollen zuletzt noch einige

der in neuerer Zeit erſchienenen umfaſſenden Geſetzbücher

für größere Europäiſche Staaten erwähnt werden.

 

Das Preußiſche Allgemeine Landrecht (q) erkennt den

Grundſatz der Rechtsgleichheit in der Behandlung der In-

länder und Ausländer ſehr beſtimmt an (r), und wo da-

von Ausnahmen vorkommen, da haben dieſe durchaus nicht

den Zweck, dem einheimiſchen Recht eine ausſchließende Herr-

ſchaft auch über Fremde zu verſchaffen, ſondern vielmehr

 

(p) Vgl. über dieſen Grundſatz Wächter II. S. 1—9.

(q) Vgl. A. L. R. Einleitung § 23—35.

(r) A. L. R. Ein-

leitung § 34, vgl. mit §. 23.

|0155 : 133|

§. 361. Übergang zu den einzelnen Rechtsverhältniſſen. (Fortſ.)

den wohlwollenden Zweck, unternommene Rechtsgeſchäfte

gegen die Ungültigkeit zu ſchützen, die etwa aus der Colli-

ſion örtlicher Rechte hergeleitet werden möchte (s). — Sicht-

baren Einfluß auf die Abfaſſung dieſer Stellen des Land-

rechts hat die damals allgemein herrſchende Lehre von Per-

ſonal- und Realſtatuten gehabt (t); und gerade die Man-

gelhaftigkeit dieſer Lehre iſt als Haupturſache der neuerlich

entſtandenen Zweifel und Streitigkeiten über eine der wich-

tigſten Anwendungen geworden, wovon unten in der Lehre

vom Erbrechte (§ 378) die Rede ſeyn wird.

Das Franzöſiſche Geſetzbuch enthält nur wenige Be-

ſtimmungen, die als entſcheidend für Colliſionsfragen ange-

ſehen werden können. Dennoch iſt auch hier die regelmäßig

anzuwendende Rechtsgleichheit in der Behandlung der Ein-

heimiſchen und der Fremden unzweideutig anerkannt (u).

 

Das Oeſterreichiſche Geſetzbuch (v) nähert ſich dem

Preußiſchen. Es erkennt die Rechtsgleichheit der Inländer

und Ausländer an und nimmt ähnliche wohlwollende Rück-

ſichten auf die Erhaltung der Rechtsgeſchäfte, wie das

Preußiſche Recht (w).

 

(s) A. L. R. Einleitung § 27.

35.

(t) Vornemann Preuß. Recht

Ausg. 2. B. 1 S. 52. Koch Preuß.

Recht B. 1 S 129.

(u) Code civil art. 3 art. 11.

bis 13. Vgl. oben § 358 Noten d

bis h.

(v) Oeſterreich. Geſetzbuch § 4.

§ 33—37.

(w) Ebendaſ. § 33. 34. § 35.

|0156 : 134|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

§. 362.

I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und

Handlungsfähigkeit.)

Auf die verſchiedenen Zuſtände der Perſon, wodurch die

Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit beſtimmt wird, iſt

nur eine reine, einfache Anwendung desjenigen örtlichen

Rechts möglich, welchem die Perſon ſelbſt durch ihren

Wohnſitz angehört (§ 359).

 

Dieſer Grundſatz iſt zwar auch nicht ganz ohne Wider-

ſpruch geblieben (a). Allein die Zahl der Anhänger deſſel-

ben iſt ſo überwiegend, daß man ihn dennoch als Gegen-

ſtand einer faſt allgemeinen Meinung bezeichnen kann, ja

daß er durch ein gemeines in Deutſchland geltendes Ge-

wohnheitsrecht beſtätigt worden iſt (b). Auch liegt darin

die eigentliche Bedeutung der Perſonalſtatuten, auf

deren Begriff in früherer Zeit ſo großer Werth gelegt

worden iſt (§ 361 Num. 1).

 

Indeſſen würden wir irren, wenn wir dieſe Ueberein-

ſtimmung allzu hoch anſchlagen wollten, da ſie großentheils

nur ſcheinbar iſt. Es iſt nämlich folgende Unterſcheidung

ſchon in früherer Zeit verſucht, neuerlich aber mit großem

Nachdruck geltend gemacht worden (c). Man will unter-

 

(a) So z. B. bei I. Voet,

§ 7. Andere Gegner ſiehe bei

Wächter II. S. 162. 163 und

Foelix p. 121.

(b) Wächter II. S. 162. 163.

175. 177.

(c) Hert. § 5. 8. 11. 22.

Meier, p. 14. Mittermaier

deutſches R. § 30 S. 118. Ausg. 7,

beſonders aber Wächter II. S 163.

S. 175—184.

|0157 : 135|

§. 362. I. Zuſtand der Perſon an ſich.

ſcheiden das bloße Daſeyn der rechtlichen Eigenſchaften

einer Perſon an ſich, und die rechtlichen Wir-

kungen dieſer Eigenſchaften, das heißt, die daraus entſprin-

genden Rechte und Beſchränkungen der Perſon. Die Eigen-

ſchaften an ſich ſollen beurtheilt werden nach dem örtlichen

Recht des Wohnſitzes; die rechtlichen Wirkungen aber nicht

nach dieſem, ſondern nach irgend einem anderen örtlichen

Recht; nach welchem Recht? Davon wird noch ferner die

Rede ſeyn. Von den Vertheidigern dieſer Unterſcheidung

wird daher auch die allgemein übereinſtimmende Meinung,

und das damit zuſammenhängende gemeine Gewohnheitsrecht,

auf die Eigenſchaften an ſich beſchränkt.

Der Sinn dieſer Unterſcheidung wird aus folgenden An-

wendungen klar werden. Zu den Eigenſchaften an ſich ge-

hören die Zuſtände des Bevormundeten, Unmündigen,

Minderjährigen, des Verſchwenders, ferner des Geſchlechts, der

Verheiratheten, der ehelich oder unehelich Gebornen u. ſ. w.

Ob alſo Jemand minderjährig iſt oder nicht, das heißt, die

Gränze der Minderjährigkeit, ſoll zu beurtheilen ſeyn nach dem

Recht des Wohnſitzes. Dagegen gehören die Rechte und

Beſchränkungen des Minderjährigen zu den rechtlichen

Wirkungen, und ſind daher (nach jener Lehre) nicht nach

dem Wohnſitz zu beurtheilen.

 

Zu allen Zeiten jedoch haben viele Schriftſteller eine

ſolche Unterſcheidung gar nicht gemacht, ſondern vielmehr

die rechtlichen Wirkungen, gerade ſo wie die Eigenſchaften

an ſich, lediglich nach dem durch den Wohnſitz der Perſon

 

|0158 : 136|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

beſtimmten örtlichen Rechte beurtheilt (d). Und mit dieſen

übereinſtimmend muß auch ich jene Unterſcheidung gänzlich

verwerfen. Ich halte ſie für willkürlich und inconſequent,

da es an einem inneren Grunde, eine ſolche Gränze zu

ziehen, gänzlich fehlt. Sehen wir die Sache genau an,

ſo finden wir keinen anderen Unterſchied, als daß manche

perſönliche Zuſtände mit beſonderen Namen bezeichnet

werden, andere aber nicht; dieſer ganz zufällige, gleichgül-

tige Umſtand nun kann unmöglich einen Grund abgeben,

verſchiedene örtliche Rechte anzuwenden.

Volljährig nennen wir Den, welcher die vollſtän-

digſte, durch das Alter erreichbare, Handlungsfähigkeit be-

ſitzt; das iſt alſo nur ein Name für gewiſſe rechtliche

Wirkungen, für die Verneinung früher vorhandener Be-

ſchränkungen der Fähigkeit. Eben ſo nennen wir minder-

jährig Den, welcher jene vollſtändige Fähigkeit noch

nicht beſitzt; es iſt ein Name für die Verneinung des Zu-

ſtandes vollſtändiger Fähigkeit. Wenn nun aber ein Geſetz

auch bei den Minderjährigen gewiſſe Stufen der Fähigkeit

aufſtellt, ohne dafür einen beſonderen Namen zu gebrauchen,

ſo iſt doch gewiß kein Grund einzuſehen, warum nicht dieſe

Stufen der Fähigkeit, eben ſo wie der Eintritt der voll-

ſtändigen Fähigkeit, nach dem Recht des Wohnſitzes beur-

 

(d) Argentraeus N. 47. 48.

49. Rodenburg T. 1 C. 3 § 4—10.

Boullenois T. 1 p. 145—198.

Huber § 12. Foelix p. 126 (An-

wendung auf Ehefrauen und Ge-

ſchlechtsvormundſchaft). Viele an-

dere Anhänger dieſer Meinung

ſ. bei Wächter II. S. 167.

|0159 : 137|

§. 362 I. Zuſtand der Perſon an ſich.

theilt werden ſollten. Durch folgendes Beiſpiel wird dieſe

Behauptung noch anſchaulicher werden. Die Vertheidiger

jener Unterſcheidung räumen ein, daß ein Franzoſe, der

21 Jahre alt iſt, auch in Preußen, wo ſonſt 24 Jahre, und

eben ſo in Ländern des Römiſchen Rechts, wo 25 Jahre erfor-

dert werden, als volljährig und völlig handlungsfähig gelten

muß; denn er hat ja durch den art. 488 des Franzöſiſchen

Geſetzbuchs den Titel als majeur erhalten, und daher hat

er eine Eigenſchaft an ſich, auf welche das Recht des

Wohnſitzes anzuwenden ſeyn ſoll. Allein daſſelbe Geſetzbuch

räumt den Minderjährigen theils mit 16, theils mit 15 und

18 Jahren, gewiſſe beſchränktere Fähigkeiten ein, ohne aus

ihnen eine beſondere Klaſſe mit eigenem Namen zu bilden (e).

Das iſt alſo nach jener Lehre keine Eigenſchaft an ſich,

ſondern blos eine rechtliche Wirkung, eine eigenthümlich

eingerichtete Beſchränkung der Perſon, und dabei ſoll das

Recht des Wohnſitzes nicht gelten.

Ein anderes Beiſpiel mag folgendes ſeyn. Nach

manchen Geſetzen bedürfen Frauen zu ihren Rechtsgeſchäften

der Zuziehung eines Geſchlechtsvormundes; nach anderen

Geſetzen bedürfen die Ehefrauen der Genehmigung des

Mannes. Wenn nun eine Frau im Ausland ein Geſchäft

eingeht, ſo müßte (bei conſequenter Anwendung jener

Lehre) nach dem Wohnſitz beurtheilt werden nur das Da-

ſeyn der perſönlichen Eigenſchaft an ſich, das heißt, die

 

(e) Code civil art. 903. 904. 477. 478.

|0160 : 138|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Frage, ob ſie eine Frau iſt (im Gegenſatz eines Mannes),

oder eine Ehefrau (im Gegenſatz einer Jungfrau oder

Wittwe). Dagegen wäre die nothwendige Zuziehung des

Geſchlechtsvormundes, ſo wie die Genehmigung des Ehe-

mannes, nicht nach dem Wohnſitz zu beurtheilen, da dieſe

Dinge zu den rechtlichen Wirkungen und Beſchränkungen

gehören (f).

Ich komme nun auf die Frage, welches andere örtliche

Recht, als das des Wohnſitzes, von den Vertheidigern jener

Unterſcheidung angewendet wird, wenn die rechtlichen Wir-

kungen der perſönlichen Eigenſchaften zu beurtheilen ſind.

Hierüber finden ſich folgende verſchiedene Meinungen.

 

In älterer Zeit verſuchte man auch hierin die Real-

ſtatuten anzuwenden, wenn von unbeweglichem Vermögen

die Rede war, ſo daß alſo eine und dieſelbe Perſon ganz

verſchiedene Handlungsfähigkeit haben konnte in Anſehung

ihrer auswärtigen Grundſtücke, und in Anſehung ihres

übrigen Vermögens. Dieſe Meinung findet jetzt in Deutſch-

land wenig Anklang mehr (g).

 

Andere nehmen an, die Wirkungen der perſönlichen

Eigenſchaften ſeyen zu beurtheilen nach dem Rechte des

Orts, an welchem ein Rechtsgeſchäft vorgenommen wird (h).

 

(f) So meint es in der That

Wächter II. S. 180, der dadurch

unmittelbar dahin geführt wird,

auf die im Ausland handelnden

einheimiſchen Frauen ganz andere

Colliſionsregeln anzuwenden, als

die wir den bei uns handelnden

Ausländerinnen einräumen.

(g) Wächter II. S. 163. 164.

(h) Meier p. 14. Dagegen

erklärt ſich Mittermaier deut-

ſches Recht § 31 S. 120.

|0161 : 139|

§. 362. I. Zuſtand der Perſon an ſich.

Dieſe Meinung iſt noch aus beſonderen Gründen, unabhän-

gig von dem allgemeinen Widerſtreite, zu verwerfen. Wenn

Der, welcher auswärts einen Vertrag ſchließt, an ſeinem

Wohnſitz mehr Handlungsfähigkeit hat, als am Ort des

Vertrags, ſo kann man nicht annehmen, daß er ſich habe

mit dieſem Vertrag einem örtlichen Rechte unterwerfen

wollen, nach welchem dieſer Vertrag ungültig wäre; die

freie Unterwerfung aber (die ſogenannte Autonomie) iſt ja

der einzige Grund, wodurch das am Ort des Vertrags gel-

tende Recht anwendbar gemacht werden ſoll. Hat aber

umgekehrt der Handelnde an ſeinem Wohnſitz weniger

Handlungsfähigkeit, als am Ort des Vertrags, ſo daß der

am Wohnſitz geſchloſſene Vertrag ungültig wäre, ſo würde

es inconſequent ſein, wenn das heimathliche Geſetz den

Vertrag an ſich verhindern, aber mit Hülfe einer kleinen

Reiſe zulaſſen wollte; vielmehr wird ihn jenes Geſetz eben

ſowohl an der Unterwerfung unter das fremde Recht, als

an dem Vertrag ſelbſt, verhindern. Dabei braucht gar

nicht einmal die Abſicht einer Umgehung des Geſetzes (in

fraudem legis) eingemiſcht zu werden.

Der neueſte Vertheidiger jener Unterſcheidung nimmt

dagegen an, daß die Wirkungen der perſönlichen Eigen-

ſchaften nach dem örtlichen Recht des in jedem einzelnen

Falle urtheilenden Richters zu beurtheilen ſeyen (Note c).

Gegen dieſe Meinung muß ich zunächſt die Gründe geltend

machen, die gegen die ganze Unterſcheidung zwiſchen den

Eigenſchaften an ſich und deren Wirkungen bisher ausge-

 

|0162 : 140|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

führt worden ſind; dann aber auch die anderen Gründe,

die überhaupt gegen das örtliche Recht des urtheilenden

Richters als durchgreifende Regel ſprechen (§ 361. Nr. 3).

Und hier beſonders muß daran erinnert werden, wie grell

ſich die Anwendung jener Meinung darſtellt in den Ländern,

worin der volle Landſaſſiat gilt. Denn da würde Jeder,

der einen unbedeutenden Grundbeſitz in einem ſolchen Lande

hat, durch die bloße Willkür ſeines Gegners, einem ihm

völlig fremden Rechte in der Beurtheilung der rechtlichen

Wirkungen ſeiner eigenen perſönlichen Zuſtände unterworfen

werden können.

Meine Meinung geht alſo vielmehr dahin, daß Jeder

in ſeinen perſönlichen Zuſtänden ſtets nach dem Recht ſeines

Wohnſitzes zu beurtheilen iſt; ohne Unterſchied, ob darüber

im Inland oder im Ausland geurtheilt werde; eben ſo

aber auch ohne Unterſchied, ob die perſönliche Eigenſchaft

an ſich, oder die rechtliche Wirkung derſelben, beurtheilt

werden ſoll.

 

Dabei ſollen jedoch keinesweges die praktiſchen Schwie-

rigkeiten verkannt werden, die mit der Anwendung dieſes

Grundſatzes in einzelnen Fällen verbunden ſeyn können.

Bei dem Vertrag mit einem Ausländer mag es zuweilen

ſchwer ſeyn, das örtliche Recht ſeiner Heimath ſicher zu

erkennen; allein dieſe Schwierigkeit wird auch durch die

hier verworfene Unterſcheidung nicht beſeitigt, nur im Um-

fang verringert. Es wird alſo Nichts übrig bleiben, als

in Fällen ſolcher Art genaue Erkundigungen einzuziehen,

 

|0163 : 141|

§. 363. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

die ja ohnehin für die individuellen Verhältniſſe des Aus-

länders unentbehrlich ſind, ganz unabhängig von dem

fremden örtlichen Recht. Wer aber etwa noch mehr Er-

leichterung und Sicherheit auf dieſem Gebiete verlangen

möchte, der kann dieſelbe nur auf dem Wege poſitiver Ge-

ſetzgebung erwarten. Was hierin geſchehen kann, wird ſo-

gleich bei der Ueberſicht neuerer Geſetze in unſerer Lehre

gezeigt werden.

§. 363.

I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und

Handlungsfähigkeit.) (Fortſetzung.)

Es ſoll nun zuſammengeſtellt werden, was ſich in den

wichtigſten neueren Geſetzbüchern über die hier vorliegende

Frage findet.

 

I. Das Preußiſche Allgemeine Landrecht ſtellt fol-

genden Grundſatz an die Spitze: „Die perſönlichen Eigen-

ſchaften und Befugniſſe eines Menſchen werden nach den

Geſetzen der Gerichtsbarkeit beurtheilt, unter welcher der-

ſelbe ſeinen eigentlichen Wohnſitz hat“ (a). Dieſe Be-

ſtimmung bezieht ſich auf die Preußiſchen Unterthanen, und

unterſcheidet nicht, ob ſie ihre Befugniſſe (wozu vor allen

die Handlungsfähigkeit gehört) ausüben an ihrem Wohnſitz

ſelbſt, oder an einem andern Ort des Inlandes, der viel-

 

(a) L. R. Einl. § 23. Die näheren Beſtimmungen folgen in den

§§ 24—27.

|0164 : 142|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

leicht ein anderes örtliches Recht über ſolche Befugniſſe

hat, oder endlich im Ausland.

Für die Ausländer lautet die Beſtimmung ſo: „Auch

Unterthanen fremder Staaten, welche in hieſigen Landen

leben, oder Geſchäfte treiben, müſſen nach obigen Be-

ſtimmungen beurtheilt werden“ (b).

 

So weit ſtimmt Alles mit den oben aufgeſtellten Grund-

ſätzen überein. Völlig gleiche Behandlung der Einheimiſchen

und der Fremden. Allgemeine Beurtheilung des perſönlichen

Zuſtandes, der Handlungsfähigkeit, nach dem örtlichen Recht,

das an dem Wohnſitz der Perſon beſteht, es mag dieſes

ein einheimiſches oder ein fremdes Recht ſeyn.

 

Daneben bleiben aber zwei Fragen zu erörtern, welche

ſchon oben für das gemeine Recht aufgeworfen worden ſind.

Zuerſt: Sind hier nur die Eigenſchaften an ſich gemeint,

oder ſollen auch die rechtlichen Wirkungen derſelben nach

dem Rechte des Wohnſitzes beurtheilt werden (§ 362)?

Wäre in dem § 23 blos geſagt: „die perſönlichen Eigen-

ſchaften“, ſo könnte man vielleicht die erſte, alſo die be-

ſchränkende, Bedeutung in jene Worte legen; da aber hin-

zugeſetzt wird: „und Befugniſſe“, ſo muß jene Vor-

ſchrift auch auf die rechtlichen Wirkungen der Eigen-

ſchaften bezogen werden, das heißt: es iſt für Jeden

nach dem Recht ſeines Wohnſitzes zu beſtimmen, nicht

blos, ob er minderjährig iſt oder nicht, ſondern auch,

 

(b) L. R. Einl. § 34.

|0165 : 143|

§. 363. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

was er als Minderjähriger vermag und nicht vermag.

Wollte man dieſe Behauptung noch bezweifeln, ſo würde

doch jeder Zweifel beſeitigt werden durch einige nachfolgende

Stellen des Geſetzes, worin der nach dem Recht des Wohn-

ſitzes zu beurtheilende Gegenſtand bezeichnet wird als Fä-

higkeit zu handeln (c), und zwar ſo, daß damit nicht

etwas Neues erwähnt, ſondern blos das Vorhergehende mit

einem willkürlich abwechſelnden, völlig gleichbedeutenden,

Ausdruck bezeichnet werden ſoll. Es iſt daher unzweifel-

haft, daß das Preußiſche Recht unter den perſönlichen Ei-

genſchaften und Befugniſſen gerade die Handlungsfähigkeit

mit begreift, und daß es alſo nicht blos die Eigenſchaften

an ſich, ſondern auch die rechtlichen Wirkungen derſel-

ben, nach dem örtlichen Rechte des Wohnſitzes beurtheilt

wiſſen will.

Zweitens iſt ſchon oben auf die praktiſche Schwierigkeit

aufmerkſam gemacht worden, die bei den Verträgen eines

Ausländers in unſerm Lande entſtehen kann, indem vielleicht

das im Auslande, an ſeinem Wohnſitz geltende, Recht bei

uns unbekannt iſt (§ 362). Dieſe Schwierigkeit beſeitigt

das Preußiſche Geſetz durch die Vorſchrift, daß die Hand-

lungsfähigkeit des Ausländers nach dem für das Beſtehen

des Vertrages günſtigſten Geſetz (alſo nach dem leichteſten)

beurtheilt werden ſoll, vorausgeſetzt, daß die Gegenſtände

 

(c) L. R. Einl. § 27. 35.

|0166 : 144|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

des Vertrags in unſerm Lande ſich befinden (d). Wird

alſo in Berlin ein ſolcher Vertrag geſchloſſen von einem

Franzoſen, der über 21 Jahre alt iſt, ſo iſt der Vertrag gül-

tig nach Franzöſiſchem Recht, welches die Volljährigkeit

auf 21 Jahre ſetzt. Wird der Vertrag ebendaſelbſt geſchloſ-

ſen von dem Einwohner eines unter dem Römiſchen Recht

ſtehenden Landes, welcher über 24 Jahre alt iſt, ſo iſt der

Vertrag gültig nach Preußiſchem Recht, welches 24 Jahre

als Gränze der Minderjährigkeit annimmt. Das erſte iſt dem

allgemeinen Grundſatz gemäß, das zweite iſt eine rein poſitive

Vorſchrift, gegeben in der Abſicht, die Inländer gegen die Folgen

eines unverſchuldeten Irrthums, vielleicht ſelbſt der Unredlichkeit

ihres Gegners, zu ſchützen. Eine gleichartige Beſtimmung

ließe ſich in den Geſetzen jedes Staates denken, und die

wünſchenswerthe Rechtsgemeinſchaft in der Beurtheilung

der Colliſionen würde dadurch nicht beeinträchtigt werden.

II. Das Oeſterreichiſche bürgerliche Geſetzbuch (1811)

beſchränkt ſich auf zwei hierher gehörende Beſtimmungen,

die mit den oben aufgeſtellten Grundſätzen übereinſtimmen.

 

Die Staatsbürger bleiben auch in Handlungen, die ſie

außer dieſem Staatsgebiete vornehmen, an dieſe Geſetze

 

(d) L. R. Einl. § 35 „Doch

wird ein Fremder, der in hieſigen

Landen Verträge über daſelbſt be-

findliche Sachen ſchließt, in An-

ſehung ſeiner Fähigkeiten, zu han-

deln, nach denjenigen Geſetzen be-

urtheilt, nach welchen die Hand-

lung am beſten beſtehen kann“.

Der § 26 enthält eine ähnliche,

aber weit weniger wichtige, Be-

ſtimmung. Beide Stellen fehlten

in dem Entwurf, und wurden erſt

ſpäter aufgenommen, mit Rückſicht

auf die oben erwähnte praktiſche

Schwierigkeit. Bornemann

Preuß. Recht B. 1 S. 53 Note l.

|0167 : 145|

§. 363. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

(alſo an die Geſetze ihres Wohnſitzes) gebunden, „inſoweit

als ihre perſönliche Fähigkeit, ſie zu unternehmen, dadurch

eingeſchränkt wird“ (e).

Eben ſo wird für Fremde beſtimmt: „Die perſönliche

Fähigkeit der Fremden zu Rechtsgeſchäften iſt insgemein

nach den Geſetzen des Ortes, denen der Fremde vermöge

ſeines Wohnſitzes ..... unterliegt, zu beurtheilen“ (f).

 

Aus dieſen Stellen, ſo allgemein ſie auch gehalten

ſind, geht doch unzweifelhaft hervor, daß für Inländer und

Ausländer der perſönliche Zuſtand nach gleichem Grundſatz,

und zwar nach dem örtlichen Rechte des Wohnſitzes zu be-

urtheilen iſt; ferner, daß dieſe Beurtheilung nicht blos zu

beziehen iſt auf die Eigenſchaften an ſich (z. B. ob Jemand

minderjährig iſt oder nicht), ſondern auch auf die rechtlichen

Wirkungen dieſer Eigenſchaften, da in beiden Stellen aus-

drücklich erwähnt wird, die „perſönliche Fähigkeit, ſie (die

Handlungen) zu unternehmen, die perſönliche Fähigkeit.....

zu Rechtsgeſchäften.“

 

Dagegen findet ſich hier eine beſondere Vorkehrung we-

gen des, vielleicht unbekannten, örtlichen Rechtes, dem der

Ausländer unterworfen ſein kann, nicht (g).

 

(e) Oeſterr. Geſetzbuch § 4.

(f) Ebendaſ. § 34.

(g) Zwar könnte man hierauf

beziehen den § 35, indem man ihn

in einem ähnlichen Sinne auffaßte,

wie die oben erwähnte Vorſchrift

des Preußiſchen Rechts (Note d.).

Allein bei einer unbefangenen Ver-

gleichung des § 34 mit § 35—37

muß man ſich überzeugen, daß nur

der § 34 von der perſönlichen

Handlungsfähigkeit ſpricht, anſtatt

daß die drei folgenden §§ von der

objectiven Natur und Gültigkeit

der Rechtsgeſchäfte reden.

VIII. 10

|0168 : 146|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

III. Das Franzöſiſche Geſetzbuch enthält über unſre

Frage nur folgende ganz kurze Stelle: „Les lois concer-

nant l’état et la capacité des personnes régissent les Fran-

çais même résidant en pays étranger“ (h). Allein aus

den vorhergegangenen Discuſſionen ſcheint unzweifelhaft her-

vorzugehen, daß man dabei vorausſetzte, auch die perſönliche

Handlungsfähigkeit der Ausländer müſſe nach dem Wohn-

ſitz derſelben, alſo nach dem ausländiſchen Rechte, beurtheilt

werden. Hierüber ſind Schriftſteller und Gerichte in ihren

Entſcheidungen übereinſtimmend (i).

 

Aus den angeführten Ausdrücken des Geſetzes iſt es

übrigens unzweifelhaft, daß daſſelbe nicht blos auf die Ei-

genſchaften an ſich (l’état), ſondern auch auf die rechtlichen

Wirkungen dieſer Eigenſchaften (et la capacité) zu beziehen

iſt (k). Ferner geht daraus ganz beſtimmt hervor, daß, ſo

lange die Eigenſchaft eines Français nicht aufgehoben iſt,

dieſe Eigenſchaft allein entſcheidet, ſelbſt wenn die Perſon

ihren Wohnſitz in das Ausland verlegt (même résidant en

pays étranger), ſo daß alſo das Franzöſiſche Geſetz den

Wohnſitz als Grundlage der Rechtsfähigkeit und Handlungs-

fähigkeit nicht unbedingt feſt hält (§ 359. e).

 

(h) Code civil art. 3.

(i) Foelix p. 44.

(k) Foelix

p. 126 (ſ. o. § 362. d).

|0169 : 147|

§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

§. 364.

I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und

Handlungsfähigkeit.) (Fortſetzung.)

Es iſt bisher der Grundſatz durchgeführt worden, daß

der perſönliche Zuſtand an ſich, der vorzugsweiſe in der

Handlungsfähigkeit beſteht, nach dem an dem Wohnſitz

der Perſon geltenden örtlichen Rechte beurtheilt werden

müſſe. Dieſem Grundſatz aber werden nicht ſelten von

Denen, die ihn im Allgemeinen anerkennen, mancherlei Ein-

ſchränkungen an die Seite geſtellt, die nunmehr zu prüfen

ſind, und die theilweiſe die Natur wahrer Ausnahmen an

ſich tragen, anſtatt daß andere nur auf der Anerkennung

natürlicher Gränzen beruhen, die nur vielleicht verkannt

werden möchten. Dieſe Einſchränkungen werden hier theils

als gegründet angenommen, theils aber verworfen werden

müſſen.

 

Von manchen Seiten wird ein Unterſchied behauptet

zwiſchen einer allgemeinen und beſonderen Fähigkeit

und Unfähigkeit zu juriſtiſchen Handlungen. Die erſte ſoll

ſich auf Rechtsgeſchäfte aller Art beziehen, und dabei ſoll

das örtliche Recht des Wohnſitzes zur Anwendung kommen;

die zweite ſoll nur auf beſtimmte, einzelne Rechtsgeſchäfte

gehen, und dabei ſoll nicht das Recht des Wohnſitzes an-

wendbar ſein, ſondern dasjenige örtliche Recht, in deſſen

 

10*

|0170 : 148|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Gebiet das einzelne Rechtsgeſchäft vorgenommen wird. —

Dieſe Unterſcheidung iſt aber an ſich willkürlich und grund-

los, da die an einen beſtimmten Zuſtand der Perſon ge-

knüpfte Unfähigkeit in beiden Fällen dieſelbe Natur hat;

auch iſt hierin eine feſte Gränzbeſtimmung, alſo eine ſichere

Anwendung kaum möglich (a). — In folgenden Fällen

etwa kann von dieſer Unterſcheidung Gebrauch gemacht

werden.

1. Nach dem Römiſchen Recht ſind Frauen, ihres bloßen

Geſchlechts wegen, unfähig zu wirkſamen Bürgſchaften

(Sc. Vellejanum). Wenn nun eine Frau in einem

fremden Lande eine Bürgſchaft übernimmt, ſo entſteht

die Frage, nach welchem örtlichen Rechte die Gültig-

keit derſelben zu beurtheilen iſt. Nach der eben dar-

geſtellten Unterſcheidung wäre die Bürgſchaft ungültig,

wenn am Ort des Vertrages das Römiſche Recht gälte,

möchte auch am Wohnſitz der Bürgin ein anderes Recht

beſtehen. Nach der richtigen Meinung iſt die Bürgſchaft

ungültig, wenn das Römiſche Recht am Wohnſitz der

Bürgin gilt, ohne Rückſicht auf das am Ort des Ver-

trags beſtehende Recht. Wollen wir hierin den früher

verbreiteten Kunſtausdruck anwenden, ſo müſſen wir

ſagen: Das Sc. Vellejanum iſt ein reines Perſonal-

ſtatut (b).

 

(a) Aus beiden Gründen ver-

wirft dieſe Unterſcheidung auch

Wächter II. S. 172.

(b) Dieſer Ausdruck wird in

der That gebraucht von folgenden

Schriftſtellern, welche die hier auf-

|0171 : 149|

§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

2. Gleichfalls nach dem Römiſchen Recht iſt jede in

väterlicher Gewalt ſtehende Perſon unfähig, ohne Wiſſen

des Vaters ein gültiges Gelddarlehen aufzunehmen (Sc.

Macedonianum). Dieſe Vorſchrift hat eine ganz ähn-

liche Natur, wie die eben erwähnte Vorſchrift über

die Bürgſchaft der Frauen: ſie iſt ein reines Perſonal-

ſtatut. Die Gültigkeit des Darlehens wird alſo davon

abhängen, ob am Wohnſitz des Schuldners das Sc.

Macedonianum als geltendes Recht beſteht. Das Recht

des Ortes, wo das Darlehen geſchloſſen wird, iſt dabei

gleichgültig.

 

3. Die wichtigſte und ſchwierigſte Anwendung jener

Unterſcheidung iſt die auf das Wechſelrecht. Denn für

kein Geſchäft beſtehen ſo verſchiedene örtliche Rechte,

wie über die perſönliche Wechſelfähigkeit, und kein

Rechtsgeſchäft verbreitet ſeine Wirkſamkeit in ſo ſchran-

kenloſer Ausdehnung Nach gemeinem Recht nun ſtellt

ſich die Sache ſo: Die Anhänger jener Unterſcheidung

müſſen die allgemeine Fähigkeit des Ausſtellers (z. B.

Volljährigkeit) nach dem Recht des Wohnſitzes, die be-

ſondere nach dem Recht des Ausſtellungsortes beſtimmen (c).

 

geſtellte Meinung (mit Widerlegung

der Gegner) vertheidigen: Boul-

lenois T. 1 p. 187. Chabot de

l’Allier questions transitoires

Paris 1809 T. 2 p. 352.

(c) Schäffner S. 120 hat

hierin eine abweichende Meinung.

Nach ihm muß der Ausſteller

wechſelfähig ſein: 1. am Ort der

Ausſtellung, 2. an ſeinem Wohn-

|0172 : 150|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Nach der richtigen Meinung wird das örtliche Recht des

Wohnſitzes allein entſcheiden.

Die ſo eben erwähnte ganz eigenthümliche Natur des

Wechſelgeſchäfts dürfte gerade hier ein erleichterndes Ein-

greifen poſitiver Geſetzgebung rechtfertigen, da es dem Käu-

fer eines Wechſels oft ſchwer, ja unmöglich ſein wird, die

verſchiedenen Geſetze über Wechſelfähigkeit zu kennen, unter

welchen die einzelnen durch den Wechſel bezeichneten

Schuldner (Ausſteller, Indoſſanten, Acceptanten) nach

ihrem Wohnſitz ſtehen, ſo wie die auf die Heimath be-

züglichen perſönlichen Verhältniſſe dieſer Schuldner (d).

Indeſſen iſt doch die Schwierigkeit im wirklichen Leben

geringer, als ſie auf den erſten Blick ſcheinen mag. Der

vorſichtige Käufer eines gezogenen Wechſels (e), wenn auch

dieſer durch mehrere Welttheile gelaufen und mit zahlreichen

Unterſchriften bedeckt iſt, wird meiſt nur auf wenige Unter-

ſchriften ſehen, die ihm aus eigener Erfahrung als ſicher

bekannt ſind, und neben welchen ihm alle übrigen gleich-

gültig ſein können. — Für ganz Deutſchland aber iſt die

Schwierigkeit ungemein vermindert worden durch die neue

 

ſitz, wenn er da verklagt werden

ſoll, weil ſonſt ein abſolutes Ge-

ſetz die Klage hindern würde. Er

iſt irre geführt worden durch un-

richtige Auffaſſung der Vorſchriften

des Preußiſchen Rechts, wovon

ſogleich die Rede ſeyn wird.

(d) Darauf gründet ſich im

Preußiſchen Recht eine abweichen-

de, das Wechſelgeſchäft erleichternde,

Beſtimmung über die perſönliche

Fähigkeit (ſ. u. Noten l. m.)

(e) Bei trockenen Wechſeln iſt

ohnehin, wegen der großen Ein-

fachheit des Geſchäfts, die Er-

mittelung der Wechſelfähigkeit we-

nig ſchwierig.

|0173 : 151|

§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

deutſche Wechſelordnung vom 27. November 1848 (f), die

gleich im erſten Artikel Jeden, der überhaupt Verträge

ſchließen kann, für wechſelfähig erklärt, alſo alle bisher be-

ſtehenden beſonderen Einſchränkungen der Wechſelfähigkeit

aufhebt (g). Im Verhältniß zum Ausland erkennt dieſe

Wechſelordnung den hier aufgeſtellten Grundſatz an, daß

die perſönliche Fähigkeit nach dem Wohnſitz jedes Ver-

pflichteten zu beurtheilen iſt; nur mit der ſehr zweckmäßigen

praktiſchen Erleichterung, daß Der, welcher im Auslande

eine Wechſelverpflichtung eingeht, vom Gericht dieſes Lan-

des als wechſelfähig zu behandeln iſt, wenn ihn auch nur

das Geſetz dieſes Landes als fähig annimmt (Art. 84).

Es würde übrigens ganz unrichtig ſein, den Fall eines

Wechſelſchuldners, dem das Recht ſeines Wohnſitzes die

Wechſelfähigkeit verſagt, mit dem Fall gleich zu ſtellen,

wenn am Ort des Wohnſitzes (oder auch am Ort der Aus-

ſtellung) kein Wechſelrecht gilt. In dieſem Fall iſt der

Ausſteller, Indoſſant, Acceptant, für wechſelfähig zu halten,

wenn er nur überhaupt handlungsfähig iſt. Aber eine

Wechſelklage freilich wird gegen Niemand angeſtellt

werden können an einem Orte, wo kein Wechſelrecht gilt,

weil bei der Wechſelklage Alles auf das örtliche Prozeßrecht

 

(f) Vgl. die Preußiſche Geſetz-

ſammlung 1849 S. 51. Das Ge-

ſetz hat in Preußen Geſetzeskraft

vom 1. Febr. 1849 ab.

(g) Der Art. 3 beſtimmt aus-

drücklich, daß jede auf einem

Wechſel befindliche Unterſchrift für

ſich verbindliche Kraft hat, unab-

hängig von der Gültigkeit der

übrigen Unterſchriften, welche Be-

ſtimmung beſonders für die per-

ſönliche Wechſelfähigkeit wichtig iſt.

|0174 : 152|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ankommt. Die aus dem ausgeſtellten Wechſel herzuleitende

perſönliche Verbindlichkeit ſelbſt wird dadurch nicht ausge-

ſchloſſen, wenngleich ſie nicht (wenigſtens am Wohnſitz des

Ausſtellers) im Wechſelprozeß verfolgt werden kann.

Eine beſondere Rückſicht verdient in dieſer Beziehung die

Preußiſche Geſetzgebung. Wenn wir die allgemeinen Regeln

derſelben über die perſönliche Handlungsfähigkeit (§ 363

Nr. I.) unbedingt anwenden auf die Wechſelfähigkeit, ſo

finden wir folgendes Ergebniß. Der Inländer iſt in ſeiner

Wechſelfähigkeit nach Preußiſchem Recht (dem Recht ſeines

Wohnſitzes) zu beurtheilen, er mag im Inland oder Ausland

ein Wechſelgeſchäft vornehmen. Der Ausländer, der in

Preußen Wechſelgeſchäfte vornimmt, wird nach dem hei-

mathlichen oder dem Preußiſchen Rechte beurtheilt, je nach-

dem das eine oder das andere die Gültigkeit des Geſchäfts

mehr begünſtigt (§ 363 d). — Bei dieſer reinen Anwen-

dung der allgemeinen Grundſätze auf das Wechſelgeſchäft

iſt nun aber unſere Geſetzgebung nicht ſtehen geblieben, ohne

jedoch ſtark davon abzuweichen. Zu einiger Abänderung

konnte ſie aber auch in der That bewogen werden, nicht

nur durch die oben dargelegte ganz eigenthümliche Natur

des Wechſelgeſchäfts überhaupt, ſondern auch durch die ganz

beſonderen Beſchränkungen der Wechſelfähigkeit, die ſie nö-

thig fand, und worin ſie einen eigenen Weg, verſchieden

von anderen Geſetzgebungen, einſchlug. Betrachten wir

zunächſt dieſe Beſchränkungen, wie ſie bis auf die neueſte

Zeit im Preußiſchen Recht beſtanden.

 

|0175 : 153|

§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

Wechſelfähig ſollten nur folgende Klaſſen von Perſonen

ſeyn: Die, welche die Rechte eines Kaufmannes hatten,

ferner Rittergutsbeſitzer, Domänenpächter, und Die, welchen

von ihrem perſönlichen Richter die Befugniß zum Wechſel-

geſchäft beſonders beigelegt war; alle übrige Einwohner

(alſo die ungeheure Mehrzahl aller Einwohner überhaupt)

ſollten nicht wechſelfähig ſeyn (h). Beſonders ſchwierig

aber wurde die Erkennbarkeit jener Eigenſchaft durch die

geſetzliche Beſtimmung, daß da, wo Innungen der Kaufleute

beſtanden, nur die Mitglieder dieſer Innungen kaufmänniſche

Rechte haben, alſo wechſelfähig ſeyn ſollten (i). Der Grund

dieſer ſehr eigenthümlichen Beſchränkung war ohne Zweifel

die vormundſchaftliche Fürſorge für Die, welche etwa aus

Leichtſinn Schulden zu machen geneigt ſeyn möchten. Das

Wechſelgeſchäft wurde, wegen der damit verbundenen ſtren-

gen Execution, als beſonders gefährlich angeſehen; und der

Gebrauch dieſes gefährlichen Inſtruments zur künſtlichen

Erhöhung des Credits ſollte allen Denen verſagt werden,

denen es nicht, wegen ihrer beſonderen gewerblichen Ver-

hältniſſe, unentbehrlich wäre (k).

 

(h) A. L. R. II. 8 § 715—747.

(i) A. L. R. II. 8 §. 480.

Dieſe Beſtimmung wurde außer

Kraft geſetzt durch das Gewerbe-

geſetz vom 7. Septbr. 1811, nach

welchem der Gewerbeſchein zu allen

kaufmänniſchen Rechten genügen

ſollte; dagegen wurde ſie für die-

jenigen Städte wiederhergeſtellt,

welche ein beſonderes Statut für

die Kaufmannſchaft erhielten, wie

Berlin, Stettin, Danzig, Königs-

berg, Magdeburg u. ſ. w. Vgl.

Ergänzungen des A. L. R. von

Gräff, Koch, Rönne, Simon,

Wentzel (häufig das Fünfmänner-

buch genannt) B. 4 S. 758—760

Ausg. 2.

(k) Koch Preuß. Recht B. 1

§ 415 B. 2 § 617 N. 2. 3. trennt

|0176 : 154|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Nach dieſer Vorbereitung gehe ich über zu den Beſtim-

mungen über das bei Beurtheilung der Wechſelfähigkeit

anzuwendende örtliche Recht. Zuerſt von den Inländern.

Wenn dieſe im Inlande Wechſelgeſchäfte vornehmen, ſo

ſind ſie natürlich an die Beſchränkungen des Preußiſchen

Rechts gebunden. Thun ſie es im Auslande, ſo müßte ei-

gentlich, nach dem allgemeinen Grundſatz, Daſſelbe gelten;

ſie müßten nach dem Rechte des Wohnſitzes beurtheilt werden,

alſo nach dem Preußiſchen Geſetz über die beſchränkte Wechſel-

fähigkeit. Dieſes aber ſoll hier anders gehalten werden; ihre

Wechſelfähigkeit ſoll beurtheilt werden nach dem Orte des verhan-

delten Geſchäftes (l), und nur ausnahmsweiſe nach Preußiſchem

Rechte, wenn nämlich beide Contrahenten Preußen ſind (m). —

Wie iſt es nun zu erklären, daß das Landrecht hier von dem allge-

 

bei Wechſeln gänzlich die allge-

meine Handlungsfähigkeit von der

Wechſelfähigkeit; dieſe letzte ſey

nach Preußiſchem Recht eine Ge-

werbsberechtigung, ein Privilegium

der Kaufleute. Dieſe Auffaſſung

ſcheint mir gezwungen, und erklärt

auch nicht einmal die beſonderen

Vorſchriften über das örtliche Recht

bei der Wechſelfähigkeit (ſ. u.

Note q).

(l) A. L. R. II. 8 § 936

„Außerhalb Landes vorgenommene

Wechſelgeſchäfte ſind nach den Ge-

ſetzen des Orts, wo ſie verhandelt

worden, zu beurtheilen“. Dieſe

Worte allein könnten auch etwa

blos von der Einrichtung des

Wechſels u. ſ. w., und nicht von

der perſönlichen Wechſelfähigkeit,

verſtanden werden. Die Beziehung

auf dieſe letzte aber wird unzweifel-

haft durch den augenſcheinlichen

Gegenſatz im § 938: „Hat aber

ein Landeseinwohner mit einem

andern Landeseinwohner,

welcher nicht wechſelfähig

iſt, ein Wechſelgeſchäft geſchloſſen:

ſo iſt ſelbiges nur eben ſo

zu beurtheilen, wie wenn

es innerhalb Landes ge-

ſchloſſen wäre“.

(m) A. L. R. II. 8 § 938

(abgedruckt in Note l). — Daß

dieſe Auffaſſung die richtige ſey,

wurde früherhin beſtritten, in

|0177 : 155|

§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

meinen Grundſatz des § 23 der Einleitung (§ 363. a) ab-

geht, und denſelben nur noch ausnahmsweiſe für den Fall

gelten läßt, wenn zwei Preußen mit einander ein Wechſel-

geſchäft abſchließen? Der Grund dieſer Abweichung liegt,

wie ich glaube, in der ganz eigenthümlichen Beſchaffenheit

der Preußiſchen Geſetzgebung über die Wechſelfähigkeit.

Wenn ein Berliner in Paris an einen Franzoſen einen

Wechſel ausſtellt, ſo wäre es gewiß höchſt unbillig, von

dem Franzoſen, der über die künftige Wechſelklage in Ber-

lin Gewißheit haben wollte, zu verlangen, nicht nur, daß

er jene Geſetze kenne (welches noch etwa auszuführen wäre),

ſondern auch daß er unterſuche, ob der Ausſteller Mitglied

der Berliner Kaufmannscorporation, oder Rittergutsbeſitzer,

oder Domänenpächter ſei, welche Eigenſchaften gewiß nicht

leicht erkennbar ſind. Eine ſolche Unbilligkeit würde ſich

aber ſogleich empfindlich beſtraft haben, indem dadurch der

Wechſelcredit der im Ausland befindlichen Preußen unter-

graben worden wäre. Daher war es räthlich, ja faſt noth-

wendig, in dieſem Fall den allgemeinen Grundſatz aufzuge-

ben (n). Dagegen mußte derſelbe ausnahmsweiſe beibehalten

neuerer Zeit iſt es allgemein aner-

kannt worden. Es ſpricht dafür:

1. Ein Gutachten des Staatsraths

von 1834, 2. Ein Erkenntniß des

Obertribunals vom 21. Nov. 1840,

Entſcheidungen des Obertribunals

von Simon B. 6 S. 288—300,

wo auch ein Auszug des vorher

erwähnten Staatsrathsgutachtens

S. 289 abgedruckt iſt.

(n) Anders wird dieſe Ab-

weichung erklärt in dem Staats-

rathsgutachten und dem Erkennt-

niß des Obertribunals (Note m),

indem an beiden Orten die Unter-

ſcheidung der allgemeinen und

beſonderen Bedingungen der

Handlungsfähigkeit zum Grunde

gelegt wird, gegen welche ich mich

im Eingang dieſes § ausgeſprochen

|0178 : 156|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

werden für den Fall von zwei mit einander im Ausland

verhandelnden Preußen, weil ſonſt das Preußiſche Geſetz

über die beſchränkte Wechſelfähigkeit durch eine Reiſe über

die Gränze allzuleicht umgangen werden konnte. — Es

muß aber noch hinzugefügt werden, daß die eben erwähnte

Abweichung von den allgemeinen Grundſätzen an die Ana-

logie einer anderen Beſtimmung unſeres Geſetzes ſich an-

ſchließt, nämlich des § 35 der Einleitung zum A. L. R.

Was hier für die Ausländer in Preußen vorgeſchrieben iſt,

wird dort auf die Preußen im Ausland übertragen, und

dazu war gerade im Wechſelrecht, wie ſo eben bemerkt,

dringender Grund vorhanden. Man hätte aber auch dieſe

Uebertragung allgemein vornehmen können, für alle Rechts-

verhältniſſe, ohne den Grundſätzen allzuviel zu vergeben.

Ich betrachte nun ferner die Beſtimmungen über die

Wechſelfähigkeit der Ausländer, die im Preußiſchen Staate

Wechſelgeſchäfte unternehmen wollen. Hier lauten die Be-

ſtimmungen des Geſetzes ſo:

 

§ 931. Fremde Reiſende ſind in Anſehung der Fähig-

keit, Wechſelverbindlichkeiten zu übernehmen, den

Einſchränkungen des hieſigen Wechſelrechts nicht

unterworfen.

habe. — Wieder anders erklärt ſie

Koch (Note k); da nämlich die

ausſchließende Wechſelfähigkeit der

Kaufleute in unſrem Geſetz als

Privilegium des Kaufmannsſtandes

gedacht werde, ſo könne davon

im Ausland keine Anwendung ein-

treten.

|0179 : 157|

§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

§ 932. Uebrigens aber werden die von ihnen in hieſigen

Landen vorgenommenen Wechſelgeſchäfte, nach

der Vorſchrift der Einleitung § 38. 39. (o) be-

urtheilt.

Es liegt blos an der nicht ganz glücklichen Faſſung,

daß der § 931 das Anſehen hat, und auch wohl von

Schriftſtellern ſo aufgefaßt worden iſt, als ſollte darin eine

Abweichung von den allgemeinen, in der Einleitung zum

A. L. R. aufgeſtellten Grundſätzen vorgeſchrieben werden.

Es iſt aber vielmehr eine reine Anwendung derſelben beab-

ſichtigt, beide Paragraphen waren eigentlich zu entbehren,

und ohne ſie würde ganz Daſſelbe eingetreten ſeyn, welches

aus ihnen hervorgehen ſoll. Der § 932 ſagt Dieſes für

die objectiven Erforderniſſe des Wechſels ausdrücklich. Aber

auch von der perſönlichen Wechſelfähigkeit, von welcher der

§ 931 ſpricht, muß Daſſelbe behauptet werden. Denn der

§ 931 enthält nur den negativen Satz, daß die Einſchrän-

kungen des hieſigen Wechſelrechts den Ausländer nicht

binden ſollen. Darin liegt aber gar nicht, daß er nun

unbedingt wechſelfähig ſeyn ſollte; vielmehr ſoll er (ganz

nach dem § 35 der Einleitung), in Anſehung der Wechſel-

fähigkeit, nach demjenigen Geſetz beurtheilt werden, welches

 

(o) Dieſes Allegat iſt falſch;

es muß heißen: 34. 35. Vgl.

Kamptz Jahrb. B. 43 S. 445.

Ergänzungen ꝛc. von Gräff ꝛc. B. 4

S. 804. — Der Irrthum beruht

nicht auf einem Druckfehler, ſondern

darauf, daß man die Paragraphen-

zahlen aus dem Geſetzbuch (1792)

beibehalten hatte, die aber im A.

L. R. (1794) hier, wie an mehreren

Orten, abgeändert worden waren.

|0180 : 158|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

die leichteſten Bedingungen ſtellt (p). Dieſe in der That

beabſichtigte Vorſchrift konnte ohne beſondere Gefahr ſo

ausgedrückt werden, wie es hier geſchehen iſt, weil man

im Voraus gewiß ſeyn konnte, daß kein fremdes Geſetz in

der Beſchränkung der perſönlichen Wechſelfähigkeit ſo weit

gehen würde, wie das Preußiſche. Unter dieſer Voraus-

ſetzung aber reichte der negative Satz des § 931 für den

praktiſchen Zweck völlig aus, obgleich ein einfacherer Aus-

druck der eigentlichen Abſicht wünſchenswerth geweſen wäre

zur Verhütung von Mißverſtändniſſen. — Iſt nun aber,

wie ich glaube, der § 931 keine abweichende Vorſchrift,

ſondern nur eine einfache Anwendung der allgemeinen

Grundſätze, ſo bedarf es für ihn auch keiner beſonderen

Erklärung und Rechtfertigung (q). Höchſtens könnte man

fragen, warum der vormundſchaftliche Schutz gegen die

Gefahren der Wechſelſtrenge, um deſſen Willen das Land-

(p) Vgl. Ergänzungen ꝛc. von

Gräff ꝛc. B. 4 S. 804. — Der

Unterſchied vom § 35 der Ein-

leitung muß allerdings eintreten,

daß bei dem Wechſel nicht die

Einſchränkung des § 35 hinzuge-

dacht werden darf, nach welcher

das Geſchäft nur die im Inland

befindlichen Sachen betreffen darf.

Dieſer Unterſchied liegt aber in

der Natur und dem Gegenſtand

des Wechſels.

(q) Die Anſicht von Koch

(ſ. o. Note k) iſt, wie ich glaube,

mit dieſer Beſtimmung nicht wohl

vereinbar. Es läßt ſich denken,

daß dem Preußiſchen Handelsſtand

der aus dem Wechſelgeſchäft zu

ziehende Vortheil als ein Privile-

gium, mit Ausſchließung der

übrigen Landeseinwohner, zugeſtan-

den worden wäre, welches nur in

der Abſicht geſchehen ſeyn könnte,

um den Handelsſtand zu begün-

ſtigen. Dann wäre es aber völlig

inconſequent geweſen, den in das

Land kommenden Ausländern (auch

den Nichtkaufleuten) den Mitgenuß

jenes Vortheils zu geſtatten,

während man ihn den gleichartigen

eigenen Unterthanen verſagte.

|0181 : 159|

§. 364. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

recht die meiſten Einwohner von der Wechſelfähigkeit aus-

ſchließt, nicht auch den Ausländern zu gut kommen ſolle.

Allein Dieſes rechtfertigt ſich hinreichend daraus, daß über-

haupt die Gränzen ſchützender Maaßregeln jedem Geſetz-

geber für die ihm unterworfenen Einwohner anheim geſtellt

bleiben. Wie alſo in Preußen der Franzoſe mit 21 Jahren

fähig erkannt wird, andere Verträge zu ſchließen, die ihm

Nachtheil bringen können, welches wir dem Preußen erſt

mit 24 Jahren geſtatten, ſo müſſen wir conſequenterweiſe

den Franzoſen für fähig halten, in Preußen Wechſelver-

bindlichkeiten zu übernehmen, ohne Kaufmann, Ritterguts-

beſitzer oder Domänenpächter zu ſeyn.

Alle hier erörterten Zweifel und Schwierigkeiten aber

haben im Preußiſchen Recht ihr Ende erreicht ſeit dem

1. Febr. 1849, an welchem Tage hier die neue deutſche

Wechſelordnung in Kraft getreten iſt, die Jeden, der über-

haupt Verträge ſchließen kann, auch für wechſelfähig erklärt

(Note f).

 

§. 365.

I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Rechtsfähigkeit und

Handlungsfähigkeit.) (Fortſetzung.)

Bisher iſt für die Handlungsfähigkeit das örtliche Recht

des Wohnſitzes als allgemein maaßgebend behauptet worden,

und zwar ſelbſt in ſolchen Fällen, die von manchen Schrift-

ſtellern anders angeſehen zu werden pflegen (§ 364). Es

ſind aber nun noch die Gränzen der Anwendung jenes

 

|0182 : 160|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Grundſatzes hinzuzufügen, alſo die Fälle, in welchen derſelbe

nicht anzuwenden iſt. Die Anerkennung dieſer Fälle kann

vielleicht auch eine Verſtändigung mit manchen von mir

bisher bekämpften Gegnern erleichtern, welche nicht ſelten

durch die Rückſicht auf ſolche Fälle dem Grundſatz ſelbſt

abgeneigt geworden ſeyn mögen.

Dieſe Fälle laſſen ſich auf zwei Klaſſen zurück führen.

 

A. Wenn ein den perſönlichen Zuſtand (Rechtsfähigkeit

oder Handlungsfähigkeit) betreffendes Geſetz unter diejenigen

abſoluten Geſetze gehört, die durch ihre anomale Natur

außer den Gränzen der Rechtsgemeinſchaft unabhängiger

Staaten liegen, ſo hat der Richter nicht das örtliche Recht

des Wohnſitzes der Perſon anzuwenden, ſondern vielmehr

das örtliche Recht des Landes, dem der Richter angehört.

Dieſer Grundſatz iſt oben (§ 349) ausführlich dargeſtellt

worden, und es kommt hier nur darauf an, einige der

wichtigſten Anwendungen deſſelben auf die Rechtsfähigkeit

und Handlungsfähigkeit, wovon gegenwärtig die Rede iſt,

anzugeben.

 

1. Wo die Polygamie als Recht beſteht, hat auch

Der, welcher in einer gegenwärtigen Ehe lebt, die

Fähigkeit, neben derſelben eine zweite und fernere Ehe

einzugehen. Der Richter eines chriſtlichen Staates aber

wird ihm dafür keinen Rechtsſchutz gewähren, alſo, in

Anſehung dieſer Art der Handlungsfähigkeit, nicht das

Recht des perſönlichen Wohnſitzes, ſondern das Recht des

eigenen Landes, zur Anwendung bringen.

 

|0183 : 161|

§. 365. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

2. Wenn Der, welchem als Ketzer das Recht ſeiner

Heimath die Rechtsfähigkeit verſagt, in einem Lande

Rechte erwerben und Handlungen vornehmen will, das

ein ſolches Ketzerrecht als unſittlich verwirft, vielleicht ſelbſt

der Religion dieſes ſogenannten Ketzers zugethan iſt, ſo

wird der Richter dieſes Landes nicht das am Wohnſitz der

Perſon geltende, ſondern das eigene, einheimiſche Recht zur

Anwendung bringen (a).

 

3. Wenn die Geſetze eines Landes die Erwerbsfähig-

keit kirchlicher Inſtitute (der todten Hand) einſchränken,

ſo werden daſelbſt von dieſer Einſchränkung auch die in

einem anderen Lande beſtehenden kirchlichen Inſtitute be-

troffen werden. Umgekehrt werden in dem anderen Lande,

das ſolche Geſetze nicht hat, die kirchlichen Inſtitute, die

in ihrer Heimath unter ſolchen Geſetzen ſtehen, ſolchen Ein-

ſchränkungen nicht unterliegen. Es wird alſo in beiden

Fällen die Handlungsfähigkeit zu beurtheilen ſeyn nach dem

Recht des Landes, dem der urtheilende Richter angehört,

nicht nach dem an dem Wohnſitz eines ſolchen Inſtituts

geltenden Recht.

 

4. Erklärt ein Landesgeſetz die Juden für unfähig

zum Erwerb des Grundeigenthums, ſo bindet daſſelbe

 

(a) Hert. § 8 Note 3. —

Anders verhält es ſich wohl mit

der Unfähigkeit auswärtiger Mönche

zum Erwerb von Erbſchaften,

welches Recht ihres Wohnſitzes,

als zur gewöhnlichen Handlungs-

fähigkeit gehörend, auch auf dem

freien Willen der Perſon beruhend,

in unſrem Staate anzuerkennen iſt.

Hert. §. 13. Bornemann Preuß.

Recht B. 1 S. 53 Note 1.

VIII. 11

|0184 : 162|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſowohl fremde als einheimiſche Juden; die einheimiſchen

Juden aber ſind dadurch nicht gehindert, in einem anderen

Lande, das ein ſolches Geſetz nicht hat, Grundeigenthum

zu erwerben. In beiden Fällen alſo kommt das am

Wohnſitz der Perſon geltende örtliche Recht nicht zur An-

wendung.

5. Ganz dieſelbe Bewandniß hat es mit einem be-

kannten Franzöſiſchen Geſetz, welches in einigen weſtlichen

(theilweiſe nachher an deutſche Staaten abgetretenen) De-

partements die Juden für unfähig erklärte, Schuldfor-

derungen anders, als unter gewiſſen, ſehr beſchränkenden,

Bedingungen zu erwerben. Dieſes Geſetz bindet inner-

halb eines ſolchen Landes alle Juden, einheimiſche und

fremde (b); die einheimiſchen werden davon in einem

anderen Lande nicht betroffen. Von dem örtlichen Recht

des Wohnſitzes iſt alſo dabei keine Rede.

 

Die hier zuſammengeſtellten Fälle gründen ſich darauf,

daß das anzuwendende Geſetz über die Rechtsfähigkeit oder

Handlungsfähigkeit eine ſtreng poſitive und zwingende Natur

hat (c). In folgenden Fällen wird eine gleichmäßige Aus-

nahme von der ſonſt geltenden Regel des Wohnſitzes des-

 

(b) Wächter II. S. 173.

Foelix p. 147. — Damit ſtimmt

überein ein Urtheil des O. A. G.

zu München. Seuffert Archiv

für Entſcheidungen der oberſten

Gerichte in den deutſchen Staaten

B. 1 N. 35.

(c) Es bedarf kaum der Er-

innerung, daß der Werth oder

Unwerth der hier beiſpielsweiſe

angeführten Geſetze für unſre Frage

gleichgültig iſt, alſo dahin geſtellt

bleibt.

|0185 : 163|

§. 365. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

wegen behauptet werden müſſen, weil in einem Staate

irgend ein Rechtsinſtitut des anderen Staates überhaupt

keine Anerkennung gefunden hat.

6. So verhält es ſich mit der aus dem bürgerlichen

Tod des Franzöſiſchen und des Ruſſiſchen Rechts hervor-

gehenden Rechtsunfähigkeit. Der Richter eines Staates,

dem das Inſtitut des bürgerlichen Todes fremd iſt, wird

davon keine Anwendung machen, alſo das Recht des

Wohnſitzes nicht beachten dürfen (§ 349. d).

 

7. Ganz Daſſelbe gilt von der Rechtsunfähigkeit eines

Negerſklaven, wenn dieſelbe zur Sprache kommt in einem

Staate, der die Sklaverei überhaupt nicht als ein Rechts-

inſtitut anerkennt (§ 349. e).

 

B. Andere Fälle, in welchen die Anwendbarkeit unſres

Grundſatzes verneint werden muß, haben den Grund der

Verneinung darin, daß in ihnen gar nicht von der Rechts-

fähigkeit oder Handlungsfähigkeit, die allein hierher gehört,

die Rede iſt, daß ſie alſo ihrer Natur nach außer den

Gränzen dieſer Lehre liegen, und nur durch täuſchenden

Schein dahin gezogen werden können. Dahin rechne ich

folgende Fälle:

 

1. In manchen Ländern hat der Adel gewiſſe eigen-

thümliche Rechte im Erwerb des Grundeigenthums oder

in der Erbfolge. Dieſe Privilegien haben mit unſrer

Lehre gar keinen inneren Zuſammenhang. Ob ſie blos

dem einheimiſchen Adel, oder auch dem auswärtigen, zu-

ſtehen ſollen, hängt von dem Inhalt der das Privilegium

 

11*

|0186 : 164|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

begründenden Rechtsnormen ab; aus einem allgemeinen

Rechtsgrundſatz läßt ſich dieſe Frage nicht entſcheiden (d).

2. Eine ganz ähnliche Bewandniß hat es mit den

Privilegien im Concurs, welche nach manchen Geſetzen

den Kirchen und Klöſtern, oder auch dem Fiscus, zukommen.

Was insbeſondere den Fiscus betrifft, ſo iſt damit nicht

der abſtracte Begriff eines Fiscus überhaupt, ſondern ſtets

nur der einheimiſche Fiscus gemeint. Alle ſolche Rechte

aber gehören nicht hierher, ſondern zur Lehre vom

Concurſe (e).

 

3. Zweifelhafter iſt die Reſtitution der Minderjähri-

gen, indem genau feſtgeſtellt werden muß, in welchem

Sinn das Recht derſelben in der Geſetzgebung ſelbſt

gedacht wird. Urſprünglich war dieſelbe aufgefaßt als

eine Beſchränkung der Handlungsfähigkeit, ſo daß ſie dem

Minderjährigen als ein Surrogat dienen ſollte für die

den Unmündigen ſchützende völlige Unfähigkeit. Seitdem

aber die Reſtitution auch auf die Handlungen der Cu-

ratoren angewendet, und in dieſer Geſtalt ſelbſt auf die

Tutoren der Unmündigen ausgedehnt worden iſt, hat

ſie jenen Charakter verloren (f). Sie gehört nun nicht

mehr hierher, zu der Einſchränkung der Handlungsfähigkeit,

muß vielmehr in Anſehung des anwendbaren örtlichen

 

(d) Wächter II. S. 172.

(e) Wächter II. S. 173. 181.

(f) S. o. B. 7 §. 322.

|0187 : 165|

§. 365. I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

Rechts ſo, wie andere Anfechtungsgründe der Rechts-

geſchäfte, behandelt werden (g).

4. Eben ſo muß auch behauptet werden, daß die

Begünſtigung der Minderjährigen, wodurch ſie gegen alle

Klagverjährungen unter 30 Jahren geſchützt ſind (und

zwar ſelbſt ohne Reſtitution) (h), mit der Handlungs-

fähigkeit keine Verbindung hat, alſo in Anſehung des

örtlichen Rechts nicht nach den hier aufgeſtellten Regeln

zu beurtheilen iſt (i), ſondern nach den für die Klagver-

jährung geltenden Regeln.

 

Zum Schluß dieſes Theils der Unterſuchung mögen noch

zwei allgemeine Bemerkungen folgen.

 

Es war hier die Rede von der Rechtsfähigkeit und

der Handlungsfähigkeit (§ 362—365). Unter dieſen

beiden Verhältniſſen gebührte im Römiſchen Recht der erſte

Rang der Rechtsfähigkeit, ſie war das Ueberwiegende. Im

heutigen Recht verhält es ſich umgekehrt, indem die Römi-

ſchen Einſchränkungen der Rechtsfähigkeit theils ganz ver-

ſchwunden, theils vermindert ſind. Verſchwunden iſt der

Einfluß der Freiheit und der Civität, vermindert der auf

die väterliche Gewalt gegründete Einfluß.

 

(g) Vgl. Wächter II. S. 174. 179.

(h) S. o. B. 7 § 32 4 N. 1.

(i) Wächter II. S. 179.

|0188 : 166|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Eine zweite Bemerkung betrifft den Wohnſitz, als den

hier anerkannten Beſtimmungsgrund für das in jedem ein-

zelnen Fall anwendbare örtliche Recht über den perſönlichen

Zuſtand. Der Wohnſitz aber hat eine veränderliche wech-

ſelnde Natur, und daher wird auch der perſönliche Rechts-

zuſtand in Folge des veränderten Wohnſitzes wandelbar

ſeyn, dergeſtalt, daß der Rechtszuſtand in jeder Zeit zu be-

urtheilen iſt nach dem örtlichen Recht des gegenwärtigen

Wohnſitzes, nicht nach dem des früheren, wenngleich dieſer

von der Geburt an beſtanden haben ſollte (k).

 

Als Regel iſt dieſer Satz ziemlich allgemein anerkannt

(l), und er wird namentlich, wenn auch nur auf indirecte

Weiſe, durch eine Stelle des Preußiſchen Landrechts beſtä-

tigt (m). Nach zwei Seiten bedarf derſelbe jedoch einer

genaueren Erwägung.

 

Erſtlich wird jener Satz leicht und allgemein anerkannt

werden von den Gerichten des neuen Wohnſitzes; eben ſo

auch von den Gerichten irgend eines dritten Ortes. Dage-

gen findet ſich nicht ſelten ein Widerſpruch von Seiten der

Gerichte des früheren Wohnſitzes, welche ihr eigenes ört-

 

(k) Dieſe ganze Frage gehört

zu den oben, § 344. e, vorbehaltenen.

(l) Story § 69 fg.

(m) A. L. R. Einl. § 24.

„Eine bloße Entfernung aus ſeiner

Gerichtsbarkeit, bei welcher die

Abſicht, einen andern Wohnſitz

zu wählen, noch nicht mit Zuver-

läſſigkeit erhellet, verändert die

perſönlichen Rechte und Pflichten

dieſes Menſchen nicht.“ Darin

liegt der unzweifelhafte Gegenſatz,

daß die zuverläſſige Wahl eines

neuen Wohnſitzes die perſönlichen

Rechte in der That verändert.

|0189 : 167|

§. 365 I. Zuſtand der Perſon an ſich. (Fortſ.)

liches Recht auch nach verändertem Wohnſitz der Perſon

feſt halten wollen, obgleich grundſätzlich dieſer Widerſpruch

nicht zu rechtfertigen iſt (n).

Zweitens verdient beſondere Erwägung eine vorzüglich

häufige und wichtige Anwendung jenes Satzes, die auf

den geſetzlichen Zeitpunkt der Volljährigkeit. Eine unbe-

dingte Anwendung der oben aufgeſtellten Regel würde hier

zwei entgegengeſetzte Folgen mit ſich führen. Das Preußiſche

Landrecht ſetzt die Volljährigkeit auf vier und zwanzig Jahre,

das in Cöln geltende Franzöſiſche Recht auf ein und zwanzig.

Wenn nun im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein

Berliner ſeinen Wohnſitz nach Cöln verlegt, ſo müßte er

augenblicklich volljährig werden. Verlegt dagegen im gleichen

Alter ein Cölner den Wohnſitz nach Berlin, ſo müßte er

wieder minderjährig werden, von Neuem unter Vormund-

ſchaft kommen, und noch zwei Jahre unter derſelben bleiben.

— Die erſte dieſer beiden Folgen hat auch kein Bedenken,

und wird ſchwerlich einen Widerſpruch erfahren. Die zweite

Folge aber, obgleich ſie von aͤlteren Schriftſtellern gleichfalls

vertheidigt wird (o), iſt aus folgenden Gründen zu ver-

werfen.

 

(n) Story a. a. O. führt ſo-

wohl Schriftſteller, als Amerika-

niſche und Engliſche Urtheils-

ſprüche, für die eine oder andere

Meinung an. Indeſſen ſpielen’ in

ſeiner ausführlichen Erörterung

zwei an ſich ſehr verſchiedene Fragen

in einander: Die Colliſion des

alten und neuen Wohnſitzes, und

die Colliſion des Wohnſitzes über-

haupt mit dem Ort, wo ein

Rechtsgeſchäft (z. B. eine Ehe)

geſchloſſen wird.

(o) Lauterbach de domici-

lio § 69, Dissert. Vol. 2 p. 1353.

Hert. § 5 am Ende des §.

|0190 : 168|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Für den Minderjährigen, der an ſeinem Wohnſitz das

geſetzliche Alter der Volljährigkeit erreicht, hat die dadurch

erlangte Selbſtſtändigkeit ganz die Natur eines erworbenen

Rechts, welches ihm alſo durch die blos zufällige Verände-

rung des Wohnſitzes nicht wieder entzogen werden kann.

Dieſe Auffaſſung erhält eine beſondere Beſtätigung durch

die Vergleichung mit dem Fall, wenn die Volljährigkeit an

dem früheren Wohnſitz nicht durch das Alter, ſondern durch

venia aetatis, erworben, und nachher der Wohnſitz verlegt

wird. Die Folgen einer ſolchen landesherrlichen Verleihung

können ihm unmöglich wieder entzogen werden (p). Es

würde aber unnatürlich und willkürlich ſein, der auf das

Geſetz der früheren Heimath gegründeten Volljährigkeit ge-

ringere Kraft und Dauer zuzuſchreiben, als der aus Ver-

leihung entſtandenen.

 

Die hier aufgeſtellte Behauptung iſt im Preußiſchen

Recht, ſowohl durch die Praxis der Gerichte, als durch

Schriftſteller, unzweifelhaft anerkannt (q).

 

(p) Dieſes Letzte wird auch

anerkannt in der Uebereinkunft

zwiſchen Preußen und Sachſen

vom J. 1821 § 3 (Geſ. Samml.

S. 39). Desgleichen wird es

anerkannt von Hert § 8, der

alſo hierin ganz inconſequent iſt

(Note n).

(q) Bornemann Preuß. Recht

B. 1 S. 53 Note 1. Num. 2.

Koch Preuß. Recht § 40 Note 11.

Beide geben mehrere Reſcripte des

Juſtizminiſterii an, wodurch die

Praxis der Gerichte außer Zweifel

geſetzt wird.

|0191 : 169|

§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.

§. 366.

II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.

Indem wir jetzt zu den Rechten an einzelnen Sachen,

oder den dinglichen Rechten, übergehen, um das Rechtsge-

biet, dem ſie angehören, zu ermitteln, werden wir ſchon

durch den Gegenſtand derſelben zur Beſtimmung dieſes Ge-

bietes hingeführt. Denn da ihr Gegenſtand ſinnlich wahr-

nehmbar iſt, alſo einen beſtimmten Raum erfüllt, ſo iſt der

Ort im Raum, an welchem ſie ſich befinden, zugleich der

Sitz jedes Rechtsverhältniſſes, deſſen Gegenſtand ſie ſeyn

ſollen. Wer an einer Sache ein Recht erwerben, haben,

ausüben will, begiebt ſich zu dieſem Zweck an ihren Ort

und unterwirft ſich freiwillig für dieſes einzelne Rechts-

verhältniß dem in dieſem Gebiet herrſchenden örtlichen Recht.

Wenn alſo behauptet wird, daß die dinglichen Rechte nach

dem örtlichen Recht der gelegenen Sache (lex rei sitae)

zu beurtheilen ſeyen, ſo beruht dieſe Behauptung auf dem-

ſelben Grunde, wie die Anwendung der lex domicilii auf

den perſönlichen Zuſtand. Beides entſpringt aus freiwilli-

ger Unterwerfung.

 

Auch hier zeigt ſich der ſchon oben hervorgehobene

innere Zuſammenhang des Gerichtsſtandes mit dem ört-

lichen Recht (a). Zwar war im älteren Römiſchen Recht

 

(a) S. o. § 360 Num. 1. Ueber das forum rei sitae iſt im

Allgemeinen zu vergleichen: Bethmann Hollweg, Verſuche

S. 69 — 77, wo die hier folgenden Sätze weiter ausgeführt ſind.

|0192 : 170|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

das forum rei sitae ganz unbekannt (b). Allein es wurde

ſchon frühe für die Eigenthumsklage eingeführt (c), und

ſpäter auf andere Klagen in rem ausgedehnt (d). Es gilt

jedoch nicht als ausſchließender Gerichtsſtand, ſondern ſo,

daß der Kläger die Wahl hat zwiſchen dem (ſpeciellen) fo-

rum rei sitae und dem (allgemeinen) forum domicilii. Allein

eine ſolche, von einſeitiger Willkür abhängige, Unbeſtimmt-

heit würde für die Beſtimmung des örtlichen Rechts, das

einer feſten Regel bedarf, nicht anwendbar ſein. Daher

muß für dieſen Zweck Eines von Beiden ausſchließend

gelten, und dieſes Eine wird nur das örtliche Recht der

gelegenen Sache (lex rei sitae) ſein können, indem daſſelbe

durch den ſpeciellen, gerade auf dieſes einzelne Rechtsver-

hältniß gerichteten, Willen gerechtfertigt wird. Dieſer Vor-

zug wird auch noch durch einen anderen Grund unterſtützt.

Zu demſelben Recht auf eine einzelne Sache können meh-

rere Perſonen in Beziehung ſtehen, deren jede einen beſon-

deren Wohnſitz haben kann. Sollte nun das Recht des

(b) Vatic. fragm. § 326. —

Das Gegentheil folgt nicht aus

L. 24 § 2 de jud. (5. 1), welche

Stelle nicht vom forum rei sitae

ſpricht, ſondern von dem forum

originis, das jeder Römiſche Bür-

ger in der Stadt Rom, noch neben

ſeiner beſonderen Heimath, hatte,

dem ſich aber die Legaten entziehen

konnten (§ 352. k).

(c) L. 3. C. ubi in rem

(3. 19).

(d) Nov. 69. — Ob dieſe Aus-

dehnung hier als ganz neues Recht

eingeführt, oder nur anerkannt

werden ſollte, während ſie ſchon

früher in die Praxis Eingang ge-

funden hatte, iſt in Ermangelung

von Quellen nicht zu entſcheiden.

Mühlenbruch Archiv B. 19

S. 377 behauptet wohl zu be-

ſtimmt, daß jenes Geſetz nichts

Neues enthalten ſollte.

|0193 : 171|

§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.

Wohnſitzes maaßgebend ſein für die dinglichen Rechte, ſo

würde in einem ſolchen Fall der Zweifel übrig bleiben,

welcher Wohnſitz zu entſcheiden hätte. Dieſer Zweifel ver-

ſchwindet von ſelbſt durch den Vorzug der lex rei sitae,

die ſtets eine einfache, ausſchließende Natur hat.

Der hier aufgeſtellte Grundſatz hat denn auch im All-

gemeinen von jeher Anerkennung gefunden, und es ſteht

damit in Verbindung der oben erwähnte Begriff der Real-

ſtatuten (§ 361 Nr. 1.), durch welchen eben ausgedrückt

werden ſollte, daß die Geſetze, welche zunächſt und haupt-

ſächlich über das Recht an Sachen Verfügung treffen, an-

zuwenden ſeyen auf alle im Gebiet dieſes Geſetzgebers lie-

gende Sachen, ohne Rückſicht darauf, ob einheimiſche oder

fremde Perſonen zu dieſen Sachen in Beziehung treten

möchten. Jedoch wurde lange Zeit hindurch die Anerken-

nung dieſer richtigen Lehre durch folgende willkürliche Unter-

ſcheidung verkümmert, die ihr alle innere Haltung und

Conſequenz entzog. Der Grundſatz ſollte nämlich nur gel-

ten in Anwendung auf unbewegliche Sachen; dagegen

ſollten die beweglichen beurtheilt werden, nicht nach der

lex rei sitae, ſondern nach der lex domicilii, indem vermöge

einer Fiction angenommen werden müſſe, daß bewegliche

Sachen, auch wenn ſie anderwärts ſich befänden, doch ſo

angeſehen werden müßten, als befänden ſie ſich an dem

Wohnſitz der Perſon (e).

 

(e) Neuere Schriftſteller be-

zeichnen nicht ſelten dieſe Anſicht

durch die Formel: mobilia ossibus

inhaerent, und zwar in ſolcher

|0194 : 172|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Dieſe Unterſcheidung iſt eigentlich entſtanden auf dem

Gebiete des Erbrechts, wo davon eine ſehr wichtige, und

zwar ganz irrige, Anwendung gemacht worden iſt. Von

da iſt ſie erſt übertragen worden auf die Rechte an ein-

zelnen Sachen, wozu ſie aber großentheils ſo entſchieden

nicht paßt, daß ihre conſequente Anwendung auf die ding-

lichen Rechte oft ganz unhaltbar iſt, und auch ſchwerlich

Vertheidiger finden wird. Grundſätzlich iſt dieſe Unterſchei-

dung in beiden hier erwähnten Gebieten der Anwendung

zu verwerfen, ſo daß überall ein und daſſelbe örtliche

Recht auf bewegliche und unbewegliche Sachen anzuwenden

iſt. Jedoch muß gleich hier darauf aufmerkſam gemacht

werden, daß in dieſen beiden Anwendungen die Parteimei-

nungen auf ganz verſchiedene, ja entgegengeſetzte Weiſe ein-

ander gegenüber ſtehen. — Im Erbrecht iſt, der richtigen

Meinung nach, das örtliche Recht des Wohnſitzes auf

Sachen aller Art anzuwenden. Die Gegner geben Dieſes

zu bei den beweglichen, wollen aber bei den unbeweglichen

ein anderes Recht, das Recht der gelegenen Sache, zur

Anwendung bringen. — Umgekehrt iſt im Sachenrecht, der

richtigen Meinung nach, das örtliche Recht der gelegenen

Sache, und zwar bei Sachen aller Art, anzuwenden. Die

Gegner geben dieſes zu bei den unbeweglichen Sachen,

 

Weiſe, daß man glauben möchte,

dieſe Formel fände ſich bei den

älteren auf jeder Seite. So Story

§ 362. Schäffner § 65. Dieſes

iſt aber nicht richtig, und ich weiß

auch den Urſprung jener Formel

nicht anzugeben.

|0195 : 173|

§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.

wollen aber bei beweglichen Sachen das am Wohnſitz der

Perſon geltende örtliche Recht anwenden.

Bei der gegenwärtig (für das Sachenrecht) vorliegenden

Frage nach dem Werth jener Unterſcheidung wollen wir

zunächſt erwägen, wohin die in verſchiedenen Zeitaltern ent-

ſprungene Geſetzgebung neigt. Und hier können wir nicht

in Abrede ſtellen, daß die älteren Deutſchen Rechtsbücher,

der Sachſenſpiegel und Schwabenſpiegel, allerdings eine

beſondere Rückſicht auf unbewegliche Sachen zu nehmen

ſcheinen, inſofern alſo die hier bekämpfte Unterſcheidung

ſcheinbar begünſtigen (f). Indeſſen ſind die darauf bezüg-

lichen Stellen ſo ſchwankend und unbeſtimmt, und es bleibt

beſonders ſo zweifelhaft, welche Gegenſätze dabei im Hin-

tergrunde liegen, daß durchaus keine ſichere Behauptung

darauf gebaut werden kann.

 

Die Bairiſche Geſetzgebung aus der Mitte des achtzehn-

ten Jahrhunderts erklärt ſich entſchieden gegen jene Unter-

ſcheidung, und will bei beweglichen und unbeweglichen

Sachen das örtliche Recht der gelegenen Sache gelten

laſſen (g).

 

(f) Sachſenſpiegel I. 30, III.

33. Schwabenſpiegel Kap. 87.

130. 405.

(g) Cod. Bavar. Maximil.

P. 1. C. 2. § 17 „ſo ſoll … in

realibus vel mixtis auf die

Rechten in loco rei sitae ohne

Unterſchied der Sachen, ob ſie

beweglich oder unbeweglich …

geſehen und erkannt werden.“ Die

ganze Stelle iſt abgedruckt bei

Eichhorn deutſches Recht § 34

Note d.

|0196 : 174|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Dagegen haben ſich die in neuere Zeiten fallende Ge-

ſetzbücher der zur Zeit ihrer Abfaſſung herrſchenden Unter-

ſcheidung angeſchloſſen, jedoch in ſo abſtracter und unbe-

beſtimmter Weiſe, daß daraus ein ſicherer Schluß, insbe-

ſondere auf die beabſichtigte Behandlung der dinglichen

Rechte, durchaus nicht gezogen werden kann. Dieſes gilt

vom Preußiſchen Recht (h), und in noch höherem Grade

vom Oeſterreichiſchen (i). Das Franzöſiſche Geſetzbuch

aber deutet ſeine Zuſtimmung zu der herrſchenden Unter-

ſcheidung nur ſtillſchweigend an, indem es für unbewegliche

Sachen die Anwendung des örtlichen Rechts der gelegenen

Sache vorſchreibt, von den beweglichen Sachen aber gar

Nichts ſagt (k). Alle dieſe Geſetzbücher ſagen nur, daß gewiſſe

Sachen nach dieſen oder jenen Geſetzen beurtheilt wer-

den, ihnen unterworfen ſind u. ſ. w. Solche allge-

meine Ausſprüche aber ſind vereinbar mit den verſchiedenſten

Deutungen in Beziehung auf die Art und die Gränze einer

ſolchen Beurtheilung oder Unterwerfung.

 

(h) A. L. R. Einleitung § 28.

„Das bewegliche Vermögen eines

Menſchen wird … nach den Ge-

ſetzen der ordentlichen Gerichts-

barkeit deſſelben beurtheilt“

(d. h. nach dem Wohnſitz § 23). —

§ 32 „In Anſehung des unbeweg-

lichen Vermögens gelten, ohne

Rückſicht auf die Perſon des Eigen-

thümers, die Geſetze der Ge-

richtsbarkeit, unter welcher ſich

daſſelbe befindet.“

(i) Oeſterr. Geſ. § 300 „Un-

bewegliche Sachen ſind den Ge-

ſetzen des Bezirks unterworfen,

in welchem ſie liegen; alle übrige

Sachen hingegen ſtehen mit der

Perſon ihres Eigenthümers unter

gleichen Geſetzen.

(k) Code civil art. 3. „Les

immeubles, même ceux possé-

dés par des étrangers, sont

régis par la loi française.“

|0197 : 175|

§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.

Ich gehe nun über zu den Meinungen der Schriftſteller

über die hier vorliegende Frage.

 

In der älteren Zeit erklären ſich die meiſten und ange-

ſehenſten derſelben entſchieden für die eben erklärte Unter-

ſcheidung der beweglichen und unbeweglichen Sachen (l),

und dieſe Meinung hat ſich auch noch bis in ſehr neue

Zeit hin erhalten (m). Indeſſen iſt ſie doch bei mehreren

der neueſten Zeit angehörigen Rechtslehrern mehr ſcheinbar,

als in der Wirklichkeit anzutreffen. Sie tragen jene Lehre

zwar in denſelben allgemein lautenden Formen vor, wie

ihre Vorgänger, und ſchließen ſich alſo dieſen ſcheinbar

an (n), wo es aber darauf ankommt, dieſelbe auf die

Rechte an einzelnen Sachen wirklich anzuwenden, gehen ſie

wieder davon ab, und werden alſo dem eigenen Grundſatz

untreu (o).

 

Dagegen wird dieſe Unterſcheidung von den meiſten

neueren Schriftſtellern völlig verworfen, alſo eine gleiche

 

(l) Argentraeus Num. 30. —

Rodenburg Tit. 1 C. 2 —

P. Voet. Sect. 4 C. 2 § 8. —

I. Voet. §. 11. (dieſer jedoch mit

der ſehr beachtenswerthen Ein-

ſchränkung, daß Geſetze von poli-

zeilicher Natur, z. B. über Getreide-

ausfuhr, eine ſtreng territoriale

Einwirkung auch auf die beweg-

lichen Sachen im Lande haben

müßten).

(m) Story Chap. 9. 10 und

§ 362. — Foelix p. 72 — 75

p. 80. — Schäffner § 54 — 56

§ 65 — 68. — Story § 386 be-

merkt jedoch, daß die Gerichte von

Louifiana auch bei beweglichen

Sachen die lex rei sitae (nicht

domicilii) als anwendbar be-

trachten.

(n) Foelix und Schäffner

(Note m).

(o) Foelix p. 78. —

Schäffner § 66, welcher geradezu

behauptet, für die Rechte an ein-

zelnen Sachen gebe es gar keine

allgemeine Regel.

|0198 : 176|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Regel für bewegliche und unbewegliche Sachen (das örtliche

Recht der gelegenen Sache) behauptet (p), für welche Mei-

nung auch ich mich bereits ausgeſprochen habe.

Die ſchwächſte Seite jener unterſcheidenden Meinung,

welche auf die beweglichen Sachen nicht die lex rei sitae,

ſondern die lex domicilii anwenden will, wird von den

Vertheidigern derſelben meiſt umgangen oder verhüllt. Man

ſagt, der Wohnſitz der Perſon ſolle über das anzuwen-

dende örtliche Recht entſcheiden; welche Perſon aber iſt

damit gemeint (q)? Ohne Zweifel die bei dem Rechts-

verhältniß zu dieſer Sache betheiligte Perſon; dieſes iſt

aber ein ſehr vieldeutiger Begriff, und dadurch wird die

ganze Behauptung ſelbſt, auch wenn man ſie zugeben wollte,

in hohem Grade unbeſtimmt und ſchwankend. Man kann

unter dem Betheiligten den Eigenthümer verſtehen (r);

daneben aber bleibt es zweifelhaft, ob bei einer Uebertra-

gung des Eigenthums der alte oder der neue Eigenthümer

gemeint ſein ſoll; eben ſo, bei einem Streite über das Ei-

genthum, welche der beiden ſtreitenden Parteien, deren jede

das Eigenthum ſich zuſchreibt. — Man kann aber auch

 

(p) Mühlenbruch doctrina

Pand. §. 72. Meißner vom

ſtillſchweigenden Pfandrecht. Ganz

beſonders aber Wächter I. S. 292.

— 298. II. S. 199 — 200. S. 383.

— 389, wo auch I. 293 Note 130

noch mehrere Vertheidiger dieſer

Meinung angeführt werden.

(q) Dieſe Einwendung iſt ſehr

gut hervorgehoben von Wächter

I. S. 293.

(r) So wird es aufgefaßt in

der Preußiſchen und der Oeſterreichi-

ſchen Geſetzgebung, ſ. o. Noten

h. und i.

|0199 : 177|

§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.

den Gedanken an den Eigenthümer ganz aufgeben, und

dafür den Beſitzer annehmen, wodurch allerdings die Aus-

führung vereinfacht und erleichtert wird. — Außer dem

Eigenthum endlich kommen noch verſchiedene andere dingliche

Rechte in Betracht, und jedes derſelben, wenn es vorhan-

den iſt, oder auch nur behauptet wird, führt wieder auf eine

neue bei dieſer Sache betheiligte Perſon. — So iſt alſo die

auf den Wohnſitz der Perſon gerichtete Behauptung,

ſelbſt wenn ſie an ſich Grund hätte, doch eine ſehr viel-

deutige, indem jede der hier genannten Perſonen einen ver-

ſchiedenen Wohnſitz haben kann; und daher iſt die behaup-

tete Regel nicht dazu geeignet, eine praktiſche Löſung der

Aufgabe herbei zu führen.

Die Hauptfrage aber bleibt immer die, ob denn ein in-

nerer Grund vorhanden iſt, die dinglichen Rechte an be-

weglichen Sachen nach einem anderen örtlichen Recht zu

beurtheilen, als die an unbeweglichen. Gerade Dieſes muß

durchaus verneint werden. Vielleicht iſt eine Einigung

über die ganze Frage bisher am meiſten dadurch verhindert

worden, daß man die Frage ſelbſt zu abſtract aufgefaßt

hat. Ich will es verſuchen, anſchaulich zu machen, wie

ſich die Sache im wirklichen Leben auf ganz verſchiedene

Weiſe geſtaltet. Dieſe Betrachtung wird zugleich dahin

führen, die Entſtehung der Meinung, die ich für irrig halte,

zu erklären, und das in ihr enthaltene wahre Element nach-

zuweiſen.

 

VIII. 12

|0200 : 178|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Wenn wir die räumliche Lage beweglicher Sachen be-

trachten, ſo können wir dabei zwei äußerſte, völlig entge-

gengeſetzte, Fälle unterſcheiden, zwiſchen welchen viele an-

dere Fälle, mit mancherlei Abſtufungen, in der Mitte

liegen.

 

Erſtlich kann die räumliche Lage der beweglichen Sache

in ſolchem Grade unbeſtimmt und wechſelnd ſeyn, daß da-

durch ein beſtimmtes Bewußtſeyn dieſer Lage, ſo wie des

Landgebiets worin das örtliche Recht beſteht, folglich auch

die Annahme einer freiwilligen Unterwerfung unter dieſes

örtliche Recht, völlig ausgeſchloſſen wird. Dahin gehören

etwa folgende Fälle. Ein Reiſender, der ſich mit ſeinen

Sachen in einem Eilwagen oder auf einer Eiſenbahn be-

wegt, kann in Einem Tage mehrere Landgebiete durchſchnei-

den, ohne auch nur daran zu denken, in welchem derſelben

er ſich augenblicklich befindet. Derſelbe Fall tritt ein, wenn

ein Kaufmann Waaren auf weite Strecken hin verſendet,

ſo lange als dieſe Waaren auf dem Wege ſind; beſonders

im Seehandel, wenn die Waaren nach verſchiedenen Häfen,

vielleicht nach verſchiedenen Welttheilen, verſchifft werden,

damit irgendwo ein vortheilhafter Verkauf bewirkt werde. —

In ſolchen Fällen kann man von dem örtlichen Recht der

gelegenen Sache allerdings keine Anwendung machen;

man wird vielmehr in Gedanken irgend einen Ruhepunkt

aufſuchen müſſen, an welchem ſolche Sachen auf längere,

vielleicht unbeſtimmte Zeit zu bleiben beſtimmt ſind. Ein

ſolcher Ruhepunkt kann vielleicht aus dem erweislichen

 

|0201 : 179|

§. 366 II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.

Willen des Eigenthümers unzweifelhaft hervorgehen; in

andern Fällen wird er mit dem Wohnſitz des Eigenthümers

zuſammen fallen. Dieſes Letzte wird unter Anderm anzu-

nehmen ſeyn bei dem Reiſegepäck, das nach vollendeter Reiſe

in die Heimath zurück zu kehren pflegt; oft aber auch bei

den in Fracht gehenden Waaren, die der Eigenthümer, wenn

kein Verkauf zu Stande kommt, vielleicht nach ſeinem Wohn-

ſitz kommen läßt, um ſie da bis zu einer günſtigeren Zeit

aufzubewahren. Die einſeitige Rückſicht auf Fälle ſolcher

Art ſcheint die oben dargeſtellte Behauptung veranlaßt oder

unterſtützt zu haben, nach welcher das örtliche Recht des

Wohnſitzes bei beweglichen Sachen überhaupt anwendbar

ſein ſoll (s).

Der zweite, völlig entgegengeſetzte, Fall ſetzt voraus,

daß bewegliche Sachen eine Beſtimmung erhalten haben,

die ſie an einem bleibenden Aufenthalt feſt bindet. So

geſchieht es mit dem Mobiliar eines Hauſes, mit einer da-

ſelbſt aufgeſtellten Bibliothek oder Kunſtſammlung, mit

dem Inventar eines Landgutes. Zwar kann auch bei ſol-

chen Sachen die Abſicht geändert, ſie können an einen an-

deren Ort, in ein anderes Land gebracht werden; allein

dieſe Veränderungen ſind zufällig, und liegen außer dem

 

(s) Daraus erklärt es ſich auch

wohl, warum Amerikaniſche Ge-

richte u. Schriftſteller (wie Story)

dieſer Meinung ſehr zugethan ſind,

denn bei dieſen iſt die vorherrſchende

Rückſicht auf den Seehandel ſehr

natürlich.

12*

|0202 : 180|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

gegenwärtigen Bewußtſeyn und Willen des Beſitzers (t).

Es verhält ſich damit genau, wie mit dem Wohnſitz einer

Perſon, welcher gleichfalls als bleibend gedacht wird, und

dennoch in der Zukunft ſtets veränderlich bleibt (§ 353).

— Bei Sachen dieſer Art nun iſt auch nicht einmal ein

ſcheinbarer Grund vorhanden, ſie anders zu behandeln, als

unbewegliche Sachen, vielmehr ſind ſie ohne allen Zweifel,

eben ſo wie dieſe, nach demjenigen örtlichen Recht zu be-

urtheilen, welches durch ihre gegenwärtige Lage (nicht durch

den Wohnſitz des Eigenthümers oder Beſitzers) beſtimmt

wird. Dieſes wird denn auch von mehreren Schriftſtellern

anerkannt, die außerdem die Unterſcheidung beweglicher und

unbeweglicher Sachen grundſätzlich vertheidigen, die alſo

für die angegebene Klaſſe von Sachen eine Ausnahme ihrer

Regel behaupten, und inſofern eine mittlere Meinung ver-

treten (u).

Zwiſchen den hier dargeſtellten Klaſſen beweglicher Sachen

liegen endlich viele andere in der Mitte, und zwar in den

verſchiedenſten Abſtufungen. Als Beiſpiele können gelten

die Kaufmannswaaren, die der Eigenthümer an einem an-

deren Ort, als an ſeinem Wohnſitz, auf unbeſtimmte Zeit

 

(t) Dieſes Verhältniß beweg-

licher Sachen von bleibender räum-

licher Beſtimmung wird auch im

Römiſchen Recht öfter erwähnt,

wenngleich aus anderen juriſtiſchen

Veranlaſſungen, als der hier vor-

liegenden. L. 35 pr. § 3 — 5 de

her. inst. (28. 5), L. 17 de act.

emt. (19. 1), L. 32 de pign.

(20. 1), L. 203 de V. S. (50. 16).

(u) I. Voet. ad Pand. I. 8.

§. 14, Story § 382, und mehrere

andere bei Wächter I. S. 296

Note 133 angeführte Schriftſteller.

|0203 : 181|

§. 366. II. Sachenrecht. Gemeinſame Regeln.

aufbewahren läßt, das Reiſegeräthe bei einem vorübergehenden

Aufenthalt des Eigenthümers an einem fremden Orte u. ſ. w.

Bei dieſen wird es von den Umſtänden abhängen, ob ſie der

erſten oder der zweiten Klaſſe von Sachen beigezählt werden

ſollen. Es wird Dieſes nicht blos von dem kürzeren oder

längeren Aufenthalt ſolcher Sachen abhängen, ſondern auch

von der Natur der Rechtsregel, deren Anwendbarkeit gerade

in Frage geſtellt wird. So z. B. wird bei der Frage nach

der Form der Veräußerung (Tradition oder bloßer Vertrag)

auch ſchon ein ſehr kurzer Aufenthalt an einem beſtimmten

Orte hinreichen, um das örtliche Recht der gelegenen Sache

für anwendbar zu erachten, anſtatt daß die Erſitzung viel-

leicht anders anzuſehen ſein wird. Im Allgemeinen aber

müſſen wir die Anwendung des örtlichen Rechts der gele-

genen Sache als Regel feſthalten, ſo daß uns eine ab-

weichende Behandlung der oben dargeſtellten erſten Klaſſe

von Sachen nur als eine (verhältnißmäßig ſeltnere) Aus-

nahme gelten darf.

§. 367.

II. Sachenrecht. Eigenthum.

Ich will hier die einzelnen, das Eigenthum betreffenden,

Rechtsfragen der Reihe nach durchgehen, bei welchen von

der Anwendbarkeit verſchiedener örtlicher Rechte die Rede

ſeyn kann.

 

1. Die Fähigkeit einer Perſon, Eigenthum zu erwerben,

und eben ſo die Fähigkeit einer Perſon, das ihr gehörende

 

|0204 : 182|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Eigenthum aufzugeben, iſt zu beurtheilen nach dem örtlichen

Recht, welches am Wohnſitz der einen oder der anderen

Perſon gilt (§ 362), alſo nicht nach dem Recht der gele-

genen Sache, weil jede dieſer Fähigkeiten nur ein einzelner

Zweig der allgemeinen Rechtsfähigkeit und Handlungs-

fähigkeit iſt, alſo zum perſönlichen Zuſtand gehört.

Dieſe Regel iſt von folgenden irrigen Standpunkten

aus beſtritten worden, welche ſchon oben ihre Erledigung

gefunden haben. Manche ſagen, jene Fähigkeiten gehörten

nicht zu den Eigenſchaften der Perſon an ſich, ſondern zu

den rechtlichen Wirkungen jener Eigenſchaften; dabei aber

ſoll nicht das Recht des Wohnſitzes zur Anwendung

kommen, ſondern das Recht des jedesmal urtheilenden

Richters (a).

 

Andere laſſen zwar im Allgemeinen das Recht des

Wohnſitzes gelten, behaupten aber eine Ausnahme für den

Fall unbeweglicher Sachen. Hier ſoll auch die perſönliche

Fähigkeit nach der lex rei sitae beurtheilt werden, das heißt,

es ſoll das Realſtatut zur Anwendung kommen (b).

 

Allerdings aber muß eine Ausnahme jener Regel be-

hauptet werden, wenn eine Beſchränkung der Erwerbs-

fähigkeit vorgeſchrieben wird durch ſtreng poſitive, zwingende

 

(a) Von dieſer Meinung iſt

oben ausführlich gehandelt worden

§. 362.

(b) Vgl. oben § 362 Note g.

Dieſe irrige Meinung hat Story

§ 430 — 434, der viele Schriftſteller

anführt; die richtige Meinung hat

Huber § 12.

|0205 : 183|

§. 367. II. Sachenrecht. Eigenthum.

Geſetze, wie die, welche einen polizeilichen Charakter an ſich

tragen. Solche Geſetze kommen zur Anwendung bei allen

im Gebiete dieſes Geſetzgebers befindlichen Sachen, und es

iſt dabei auf das Recht des Wohnſitzes der Perſon, die

erwerben will, nicht zu ſehen (§ 365).

2. Die Fähigkeit einer Sache, dem Privateigenthum

unterworfen zu werden, alſo nicht unter die res quarum

commercium non est zu gehören, iſt zu beurtheilen nach

dem Geſetz des Ortes, an welchem die Sache liegt.

 

3. Dieſelbe Regel gilt für den Umfang der herrenloſen

Sachen, alſo für die Zuläſſigkeit oder Beſchränkung des

Eigenthumserwerbs durch Occupation an Sachen mancher

Art. Dahin gehören die Geſetze über die Regalität des

Bernſteins, ſo wie mancher Arten von Mineralien. Niemand

bezweifelt, daß hierin die lex rei sitae allein entſcheidet,

alſo auch auf bewegliche Sachen anzuwenden iſt. Iſt

jedoch nach dieſem Geſetz das Eigenthum einer ſolchen

Sache einmal erworben, ſo muß dieſes Eigenthum auch

in jedem anderen Staate anerkannt werden, wenngleich

dieſer Staat eine gleichartige Erwerbung innerhalb ſeiner

Gränzen nicht anerkannt haben möchte.

 

4. In den Formen der Veräußerung, das heißt, der

freiwilligen Uebertragung des Eigenthums an eine andere

Perſon, kommen ſehr verſchiedene Rechtsregeln vor, und

nach dem oben aufgeſtellten Grundſatz müſſen wir die am

Ort der gelegenen Sache geltende Rechtsregel anwenden,

ohne Rückſicht auf den Wohnſitz der einen oder der anderen

 

|0206 : 184|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Perſon, und ohne Rückſicht auf den Ort des geſchloſſenen

Vertrages.

So beruht nach dem Römiſchen Recht die Veräußerung

auf der Uebergabe der Sache. Nach dem Preußiſchen Recht

gleichfalls auf der Uebergabe (c). Nach dem Franzöſiſchen

Recht wird dagegen die Uebertragung des Eigenthums ſchon

durch den bloßen Vertrag bewirkt (d).

 

Die Anwendung dieſer Regeln wird durch folgende Bei-

ſpiele anſchaulich werden. Wenn ein Pariſer ſein in Berlin

befindliches Mobiliar einem Pariſer in Paris verkauft, ſo

geht das Eigenthum nur durch Tradition über. Wenn

aber umgekehrt ein Berliner ſeine in Paris ſtehende Sachen

einem Berliner in Berlin verkauft, ſo überträgt ſchon der

bloße Vertrag das Eigenthum. Ganz Daſſelbe wird ein-

treten, wenn wir in dieſen Beiſpielen die Stadt Köln an

die Stelle von Paris ſetzen.

 

Für die Anwendung dieſer Regel wird es genügen,

wenn der Aufenthalt der Sache auch nur ein vorübergehen-

der, kurz dauernder, ſeyn ſollte (e), da in jedem Fall die

Uebertragung des Eigenthums auf einer augenblicklichen

Handlung beruht, alſo keinen längeren Zeitraum erfüllt.

 

(c) A. L. R. I. 10. § 1. Vgl.

Koch Preuß. Recht B. 1 § 252.

255. 174. Selbſt die bedeutenden

praktiſchen Erleichterungen bei der

unter Abweſenden durch Ueberſen-

dung vor ſich gehenden Tradition

(I. 11 § 128 — 133) ändern an

jenem Grundſatz Nichts.

(d) Code civil art. 1138.

Dieſes Recht gilt alſo auch in der

Preußiſchen Rheinprovinz.

(e) S. o. § 366 S. 181.

|0207 : 185|

§. 367. II. Sachenrecht. Eigenthum.

Anders wird es ſich nur verhalten in den Ausnahmefällen,

in welchen der augenblickliche Aufenthalt der Sache in

ſolchem Grade unbeſtimmt iſt, daß auf denſelben ein ſicheres

Bewußtſeyn der handelnden Perſonen gar nicht gerichtet

ſeyn kann. In ſolchen Fällen werden wir als Ort der

gelegenen Sache denjenigen Ort zu betrachten haben, an

welchem die Sache zunächſt zu bleiben beſtimmt iſt, welches

häufig der Wohnſitz des gegenwärtigen Eigenthümers (des

Veräußerers) ſeyn wird (f).

In allen hier unterſchiedenen Fällen kommt es unzwei-

felhaft nur auf den Ort an, an welchem ſich die Sache

zur Zeit der Uebertragung befindet. Iſt dieſe Uebertragung

einmal geſchehen, ſo iſt für das Schickſal des Eigenthums

jede ſpätere Veränderung des Aufenthalts der Sache gleich-

gültig, indem das einmal erworbene Eigenthum durch eine

ſolche räumliche Veränderung nicht berührt werden kann.

 

5. Der Erwerb des Eigenthums durch Erſitzung un-

terſcheidet ſich weſentlich von dem Erwerb durch Tradition

darin, daß er nicht, wie die Tradition, durch eine augen-

blickliche, ſondern durch eine über einen längeren Zeitraum

verbreitete Thatſache bedingt iſt.

 

(f) S. o. § 366 S. 179. Bei

der Veräußerung von Kaufmanns-

gütern kommen noch die ſehr zwei-

felhaften Fragen von dem kauf-

männiſchen Zeichen, und (wenn die

Waaren im Transport begriffen

ſind) von der Wirkung des über-

tragenen Connoſſements in Be-

tracht. Vgl. Thöl Handelsrecht

§ 79. 80.

|0208 : 186|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Bei unbeweglichen Sachen nun iſt die Anwendung des

Rechts der gelegenen Sache ganz unbeſtritten. Dagegen

gehen, in Anſehung der Erſitzung beweglicher Sachen, die

Meinungen ſehr auseinander (g). Hier aber iſt die Frage

dadurch beſonders wichtig, daß die Geſetze verſchiedener

Länder ſehr von einander abweichen. Das Römiſche Recht

erfordert einen Beſitz von drei Jahren, das Preußiſche von

zehn Jahren (h), das Franzöſiſche endlich erfordert gar

keinen fortgeſetzten Beſitz, ſondern ſchließt ſchon mit dem

Anfang deſſelben die Eigenthumsklage des früheren Eigen-

thümers aus; Dieſes jedoch mit Ausnahme verlorener und

geſtohlener Sachen, deren Schutz aber mit dem Ablauf von

drei Jahren aufhört (i). Durch dieſe letzte Beſtimmung

ſchließt ſich im praktiſchen Erfolg das Franzöſiſche Recht

dem Römiſchen nahe an.

 

Gerade hier nun erſcheint die Anwendung der lex rei

sitae vorzugsweiſe gewiß durch den Umſtand, daß die Grund-

lage aller Erſitzung der fortwährende Beſitz iſt. Der Beſitz

aber, als ein, ſeinem Weſen nach, ganz thatſächliches Ver-

hältniß, iſt noch unzweifelhafter, als jedes dingliche Recht,

nach der lex rei sitae zu beurtheilen (§ 368).

 

(g) Mühlenbruch doctr.

Pand. § 73 nimmt ganz richtig

die lex rei sitae an. Meier

p. 37 die lex domicilii, und zwar

nach dem Wohnſitz des Uſucapien-

ten, weil dieſer während der lau-

fenden Uſucapion das prätoriſche

Eigenthum ſchon habe. Schäff-

ner §. 67 läßt Alles ungewiß.

(h) A. L. R. I. 9 §. 620.

(i) Code civil art. 2279.

|0209 : 187|

§. 367. II. Sachenrecht. Eigenthum.

Ein Zweifel kann noch entſtehen für die Fälle, in wel-

chen der Aufenthalt der beweglichen Sache, während der

Erſitzungszeit, innerhalb verſchiedener Landgebiete geweſen

iſt. Es kann nicht zweifelhaft ſein, daß alle dieſe Zeiten

des Beſitzes zuſammengerechnet werden müſſen. Der Ab-

lauf der Erſitzung aber, alſo der vollendete Erwerb des

Eigenthums, muß nach dem Recht des Orts beurtheilt

werden, an welchem zuletzt die Sache ſich befindet, weil

erſt mit dem Ablauf des ganzen Zeitraums die Veränderung

im Eigenthum eingetreten, vorher aber eine ſolche nur

erſt vorbereitet worden iſt (k). Iſt einmal nach dieſem

Recht durch Erſitzung das Eigenthum erworben, ſo muß

daſſelbe auch in jedem anderen Lande anerkannt werden,

wenngleich das Geſetz dieſes Landes einen längeren Zeit-

raum erfordern möchte.

 

6. Die Verfolgung des Eigenthums durch Klage, mit

allen dazu gehörenden näheren Beſtimmungen, iſt zu beur-

theilen nach dem Recht des Ortes, an welchem der Prozeß

geführt wird (l).

 

Dieſes kann der Ort der gelegenen Sache ſein, wegen

des an dieſem Orte begründeten Gerichtsſtandes (§ 366. a);

alsdann iſt die lex rei sitae anwendbar. Es kann aber

auch der Wohnſitz des Beklagten ſein, weil nach gemeinem

 

(k) Es gilt alſo bier derſelbe

Grundſatz, wie bei der zeitlichen

Colliſion der Uſucapionsgeſetze

(§ 391. b).

(l) S. o. § 361 Num. 3 C.

|0210 : 188|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Recht beide Arten des Gerichtsſtandes in der Art concur-

riren, daß der Kläger zwiſchen beiden die Wahl hat; als-

dann iſt die lex domicilii des Beklagten anzuwenden auf

alle, die Eigenthumsklage betreffende, Rechtsfragen. Es iſt

nicht zu verkennen, daß durch dieſe alternative Regel eine

bedenkliche Willkür in die Hand des Klägers gelegt wird;

ſie iſt aber hier unvermeidlich.

Eine große Verſchiedenheit zwiſchen den Geſetzgebungen

findet ſich in Anſehung der Beſchränkung der Eigenthums-

klage. Das Römiſche Recht läßt die Klage unbedingt zu ge-

gen jeden Beſitzer, der nicht Eigenthümer iſt, und zwar ohne

Anſpruch dieſes Beſitzers auf Erſatz des ausgelegten Kauf-

preiſes. — Das Preußiſche Recht läßt gleichfalls die un-

bedingte Vindication zu, jedoch mit Vorbehalt des eben

erwähnten Erſatzes an den redlichen Beſitzer (m). — Das

Franzöſiſche Recht läßt in der Regel gar keine Vindication

beweglicher Sachen zu, und macht davon nur einige Aus-

nahmen: bei geſtohlenen oder verlorenen Sachen binnen

drei Jahren, und bei verkauften, noch unbezahlt gebliebenen

Sachen, die gegen den Käufer binnen acht Tagen vindicirt

werden können (n). Der eine oder der andere dieſer Grund-

ſätze wird zur Anwendung kommen müſſen, je nachdem an

dem Ort des Gerichts, vor welchem der Prozeß geführt

wird, das Römiſche, das Preußiſche, das Franzöſiſche

Recht gilt.

 

(m) A. L. R. I. 15 § 1. 26.

art. 2102 N. 4.

(n) Code civil art. 2279.

|0211 : 189|

§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.

Der eingeleitete Prozeß über das Eigenthum kann be-

ſondere Folgen mit ſich führen, insbeſondere wegen der

Früchte, wegen des durch den Untergang oder die Beſchä-

digung der vindicirten Sache begründeten Schadenerſatzes

u. ſ. w. (o). Alle darauf bezügliche Fragen ſind gleichfalls

nach dem am Orte des Gerichts geltenden Recht zu ent-

ſcheiden.

 

§. 368.

II. Sachenrecht. Jura in re.

Auf die dinglichen Rechte außer dem Eigenthum (jura

in re) ſind meiſt ähnliche Grundſätze anzuwenden, wie auf

das Eigenthum.

 

1. Daß die Prädialſervituten nur nach der lex rei

sitae beurtheilt werden können, wird von keiner Seite be-

ſtritten.

 

Eben ſo verhält es ſich mit den perſönlichen Servituten,

deren Gegenſtand in einer unbeweglichen Sache beſteht.

 

Iſt der Gegenſtand eine bewegliche Sache, ſo wird von

Vielen die lex domicilii eben ſo, wie bei dem Eigenthum

an beweglichen Sachen, mit Unrecht für anwendbar gehal-

ten. Der Parteiſtreit über dieſe Frage im Allgemeinen iſt

ſchon oben ausführlich abgehandelt worden (§ 366).

 

2. Die Emphyteuſe und die Superficies ſind keinem

Zweifel unterworfen, da ſie nur an unbeweglichen Sachen

 

(o) S. o. B. 6 § 260 fg.

|0212 : 190|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

vorkommen können, alſo, wie alle Parteien annehmen, nach

dem Recht der gelegenen Sache zu beurtheilen ſind.

3. Das Preußiſche Recht giebt dem Miether, Pächter,

und ähnlichen Inhabern fremder Sachen zum Zweck eige-

ner Benutzung, ein dingliches Recht mit einer Klage in rem

gegen den dritten Beſitzer, vorausgeſetzt, daß ihnen die

Sache übergeben iſt (a). Im Römiſchen Recht kommt

bekanntlich ein ſolches dingliches Recht nicht vor.

 

Ohne Zweifel wird nun ein dingliches Recht dieſer Art

entſtehen, wenn die Sache, ſie mag beweglich oder unbe-

weglich ſeyn, im Preußiſchen Staat zur Zeit der Uebergabe

ſich befindet; liegt ſie zu jener Zeit in einem, dem Römi-

ſchen Recht folgenden Lande, ſo entſteht das dingliche

Recht nicht.

 

Geſetzt aber, dieſes dingliche Recht wird im Preußiſchen

Staat durch Uebergabe einer gemietheten beweglichen Sache

begründet, und der Beſitzer bringt die Sache in ein Land

des Römiſchen Rechts, ſo könnte man annehmen, er könne

auch hier das einmal erworbene Recht gegen einen dritten

Beſitzer geltend machen. Ich glaube jedoch, Dieſes verneinen

zu müſſen, weil ſein Anſpruch auf einem ganz eigenthüm-

lichen Rechtsinſtitut beruht, das in jenem Lande über-

haupt nicht anerkannt iſt (b). — Uebrigens iſt dieſe Frage

 

(a) A. L. R. I. 2 § 135—137.

I. 7. § 169. 170. Vgl. Koch

Preuß. Recht B. 1 §. 317. 318.

(b) S. o. § 149. B. Dieſer

Meinung iſt auch Wächter II.

S. 388. 389, zwar nicht in dem

hier angeführten beſonderen Fall,

wohl aber in dem ganz gleichar-

|0213 : 191|

§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.

nicht von praktiſcher Erheblichkeit, weil das hier erwähnte

dingliche Recht überhaupt nur bei unbeweglichen Sachen

in wichtigen Folgen hervortritt.

4. Das Pfandrecht iſt nicht nur von ausgedehnterer

Wirkſamkeit, als die bisher genannten jura in re, ſondern

auch in der hier vorliegenden Frage größeren Zweifeln und

Streitigkeiten unterworfen.

 

Auch hier muß das örtliche Recht der gelegenen Sache

als Regel feſtgehalten werden, und die meiſten dagegen er-

hobenen Bedenken beruhen auf bloßem Schein.

 

Ich will damit anfangen, eine Ueberſicht der wichtigſten,

dieſes Rechtsinſtitut im Ganzen betreffenden, Verſchieden-

heiten zu geben, die in deutſchen Staaten wahrzunehmen

ſind.

 

Das Römiſche Recht beruht auf folgenden Grundſätzen.

a. Das Pfandrecht entſteht, als dingliches, gegen jeden

dritten Beſitzer verfolgbares Recht, durch bloßen Vertrag,

auch ohne übergebenen Beſitz (c). b. Der Vertrag kann

auch ſtillſchweigend geſchloſſen werden, indem, neben mehre-

ren obligatoriſchen Rechtsgeſchäften, vermöge einer allge-

meinen Rechtsregel fingirt wird, es ſey zur Sicherheit der

 

tigen Fall des Pfandrechtes, von

welchem ſogleich die Rede ſeyn

wird.

(c) Ich beſchränke mich hier

abſichtlich auf das Pfandrecht in

ſeinem eigentlichen Sinn, als jus

in re, das heißt, ein vom Eigen-

thum abgezweigtes Recht, mit

Uebergehung der künſtlicheren An-

wendung deſſelben auf Obligatio-

nen u. ſ. w.

|0214 : 192|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Forderung zugleich eine Verpfändung verabredet worden (d).

c. Bewegliche und unbewegliche Sachen werden, als Ge-

genſtände einer Verpfändung, nicht unterſchieden. d. Der

ausdrückliche ſowohl, als der ſtillſchweigende Vertrag kann

ſich beziehen, nicht nur auf einzelne Sachen, ſondern auch

auf ein ganzes Vermögen. Die Verpfändung dieſer letzten

Art hat den Sinn, daß ſie alle zu dieſem Vermögen jetzt

gehörende, und alle in daſſelbe künftig eintretende Sachen

umfaßt, alſo auch ſolche Sachen, die nicht einzeln bezeich-

net, ja nicht einmal einzeln zum Bewußtſeyn der Parteien

gebracht werden. Mit Unrecht hat man als den Gegen-

ſtand eines ſolchen Pfandrechts das Vermögen in ſeinem

idealen Begriff, abſtrahirt von allem Inhalt, anſehen, und

daher die juriſtiſchen Begriffe der universitas und successio

per universitatem, ähnlich den Verhältniſſen des Erbrechts,

darauf anwenden wollen (e); in der That iſt dabei nur

von einer indirecten Bezeichnung und Begränzung der Ge-

genſtände die Rede, die als einzelne Sachen mit dem

Pfandrecht behaftet ſeyn ſollen.

(d) L. 3 in quib. caus.

(20. 2), „.. tacitam conven-

tionem de inveetis illatis ..“

L. 4 pr. eod. „.. quasi id taci-

te convenerit ..“ L. 6 eod.

„.. tacite solet conventum ac-

cipi, ut perinde teneantur in-

vecta et illata, ac si specialiter

convenisset ..“ L. 7 pr. eod.

„.. tacite intelliguntur pignori

esse .. etiamsi nominatim id

non convenerit.“ Der bei

neueren Schriftſtellern übliche Aus-

druck des geſetzlichen Pfandrechts

(pignus legale) verdunkelt die

wahre Natur des Rechtsinſtituts.

(e) Ueber dieſe Begriffe vgl.

oben B. 3 § 105.

|0215 : 193|

§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.

Unter den verſchiedenen Ländern nun, welche im Ganzen

das Römiſche Recht befolgen, kommen gerade im Pfand-

recht, neben der eben dargeſtellten gemeinſamen Grundlage,

manche untergeordnete Abweichungen vor. Hauptſächlich

betreffen dieſe den Umfang des ſtillſchweigenden Pfandrechts,

welches, je nach den einzelnen Landesgeſetzgebungen, bald

mehr bald weniger Fälle von Obligationen umfaßt, die

mit der Fiction eines Pfandvertrages verbunden ſeyn ſollen.

 

Geſetzt nun, es ſey von zwei, das Römiſche Recht im

Ganzen befolgenden, Ländern die Rede. In dem einen

gelte auch die Regel des Römiſchen Rechts, nach welchem

das Verſprechen, eine Brautgabe zu beſtellen, ſtets durch

ſtillſchweigende Verpfändung des ganzen Vermögens ge-

ſichert iſt (f); in dem anderen Lande ſey dieſe Regel auf-

gehoben. Wenn nun zwei Einwohner jenes erſten Landes

einen ſolchen Dotalvertrag ſchließen, der Schuldner aber

beſitzt in dem zweiten Lande ein Grundſtück, ſo fragt es

ſich, ob dieſes Grundſtück dem ſtillſchweigenden Pfandrecht

unterworfen ſey. Man könnte dieſe Frage verneinen wollen,

indem man die lex rei sitae zur Anwendung brächte; aber

mit Unrecht. Denn auch das zweite Land erkennt die

Möglichkeit einer Verpfändung durch bloßen Vertrag, und

ſelbſt durch ſtillſchweigenden Vertrag, an. Ob nun im

vorliegenden Fall ein ſolcher Pfandvertrag vorhanden iſt,

das iſt eine thatſächliche Frage, die nur nach demjenigen

 

(f) L. un § 1 C. de rei ux. act. (5. 13).

VIII. 13

|0216 : 194|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

örtlichen Recht entſchieden werden kann, unter welchem

überhaupt das hier geſchloſſene Rechtsgeſchäft ſteht (g).

Nach dieſem Recht aber wird fingirt, es ſey eine ausdrück-

liche Verpfändung des ganzen Vermögens, alſo auch jenes

auswärtigen Grundſtücks, vorgenommen worden, und daher

muß das Grundſtück als mitverpfändet gelten (h). Wäre

der Dotalvertrag in dem zweiten Lande, von Einwohnern

deſſelben, geſchloſſen worden, ſo würde weder das Grund-

ſtück, noch das übrige Vermögen des Schuldners, als

verpfändet anzuſehen ſeyn.

Eine ungleich größere Verſchiedenheit aber findet ſich

zwiſchen den deutſchen Ländern, die das Römiſche Pfand-

recht im Ganzen anerkennen, und denen, die das Pfand-

recht auf eine ganz neue Grundlage ſtellen. Ich will als

Typus dieſer letzten die Preußiſche Geſetzgebung annehmen,

worin ein ſolches neues Recht am vollſtändigſten ausgebildet

erſcheint. Einzelne Beſtandtheile davon finden ſich auch in

anderen Ländern, und es wird nicht ſchwer ſeyn, die hier

folgenden Regeln auch auf dieſe anzuwenden.

 

Das Preußiſche Recht verſagt dem bloßen Vertrag all-

gemein die Kraft, ein Pfandrecht als dingliches Recht zu

 

(g) Welches örtliche Recht als

ſolches anzuſehen iſt, wird in dem

gleich folgenden Abſchnitt (Obli-

gationenrecht) feſtgeſtellt werden

(§ 374. D.).

(h) Dieſelbe Entſcheidung ge-

ben Meier p. 39 — 41. Meißner

vom ſtillſchweigenden Pfandrecht

§ 23. 24, aber aus einem Grunde,

den ich nicht als richtig anerkenne.

Das Recht des Wohnſitzes, als

ſolches, ſoll entſcheiden, gerade wie

bei Fragen des Erbrechts, weil

hier das ideale Vermögen, die

universitas, Gegenſtand der Ver-

pfändung ſey.

|0217 : 195|

§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.

erzeugen. Es unterſcheidet ferner unbewegliche und beweg-

liche Sachen. Bei den unbeweglichen entſteht das dingliche

Recht nur durch die Eintragung in das Hypothekenbuch (i).

Ein Vertrag über die Eintragung eines beſtimmten Grund-

ſtücks iſt ein Titel, auf deſſen Grund die Eintragung ſelbſt

gefordert werden kann, ein allgemeiner Pfandvertrag über

das ganze Vermögen giebt einen ſolchen Anſpruch für ein-

zelne Grundſtücke nicht (k). — An beweglichen Sachen ent-

ſteht ein dingliches Pfandrecht nur durch die Uebergabe (l);

ein Vertrag über die Verpfändung beſtimmter einzelner

Sachen iſt ein Titel zum Anſpruch auf dieſe Uebergabe (m).

Wenn nun in einem Lande, worin das Römiſche Recht

gilt, eine Verpfändung durch Vertrag ausdrücklich oder

ſtillſchweigend vorgenommen wird, ſo kann dieſe an den in

Preußen befindlichen Sachen des Schuldners kein Pfand-

recht erzeugen. Sie kann höchſtens als Titel gelten, um

an jenen Sachen die Beſtellung eines Pfandrechts (durch

Eintragung oder Uebergabe) zu fordern, und auch das nur

unter den ſo eben angegebenen beſonderen Bedingungen

(Noten k. m.). — Wird aber umgekehrt in Preußen ein

Pfandvertrag über einzelne Sachen oder über ein ganzes

Vermögen geſchloſſen, und hat der Schuldner Vermögens-

 

(i) A. L. R. I. 20 § 411. 412.

(k) Ebendaſ. § 402. 403.

(l) Ebendaſ. § 111.

(m) Ebendaſ. § 109. 110. —

Ein allgemeiner Verpfändungsver-

trag giebt dieſen Anſpruch nur in

den beſonderen Fällen, worin auch

eine Cautionsleiſtung gefordert

werden kann. Ebendaſ. § 112.

13*

|0218 : 196|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſtücke, die in einem Lande des Römiſchen Rechts liegen, ſo

iſt kein Hinderniß vorhanden, dieſe Vermögensſtücke als

gültig verpfändet zu behandeln, da das Römiſche Recht die

Verpfändung durch Vertrag weder von einem beſtimmten

Ort des geſchloſſenen Vertrags, noch von einem beſtimmten

Wohnſitz des Verpfänders abhängig macht. Es kann und

muß alſo hier die lex rei sitae ungeſtört zur Anwendung

kommen (n).

Nur folgender Fall bleibt dabei noch zu erwägen übrig.

Wenn in einem Lande des Römiſchen Rechts eine beweg-

liche Sache durch Vertrag, ſey es ausdrücklich oder ſtill-

ſchweigend, gültigerweiſe verpfändet, die Sache aber nach-

her nach Preußen gebracht wird; wirkt nun das Pfandrecht

fort, ſo daß die Sache auch hier mit einer Klage gegen

jeden Beſitzer (ſey es der Schuldner oder ein Dritter) ver-

folgt, und eben ſo von dem Pfandberechtigten, wenn dieſer

durch Zufall, ohne Uebergabe, den Beſitz erlangt, veräußert

werden kann? Man möchte geneigt ſein, dieſe Frage zu

bejahen, weil ſcheinbar das einmal erworbene Recht durch

 

(n) Eine buchſtäbliche Anwen-

dung des Allg. Landrechts Einl.

§ 28 würde dahin führen, daß ein

Berliner in Stralſund (wo Rö-

miſches Recht gilt) ſeine bewegliche

Sache nicht durch bloßen Vertrag

verpfänden könnte, ſo daß dieſe Ver-

pfändung in Stralſund wirkſam

wäre (§ 366. h). Die Widerſinnig-

keit dieſer Behauptung wird beſon-

ders einleuchtend, wenn man den

Fall umgekehrt denkt. Denn ſo müßte

auch der Stralſunder ſeine beweg-

liche Sache durch bloßen Vertrag

in Berlin dergeſtalt verpfänden

können, daß die Verpfändung in

Berlin wirkſam wäre. Dieſe letzte

Behauptung wird ſchwerlich irgend

einen Vertheidiger finden, und

doch folgt auch ſie aus der völlig

buchſtäblichen Anwendung des § 28.

|0219 : 197|

§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.

die Veränderung des Orts ſeine Kraft nicht verlieren

kann.

Dennoch glaube ich, die Frage verneinen zu müſ-

ſen. Es iſt nämlich in einem ſolchen Fall nicht von

einem und demſelben Pfandrecht die Rede, das nur in

mehreren Ländern auf verſchiedene Weiſe erworben werden

möchte, etwa ſo, wie das Eigenthum hier durch Tradition,

dort durch bloßen Vertrag erworben wird, und dennoch

überall gleichmäßig anerkannt, als Eigenthum wirkt.

Vielmehr iſt das Pfandrecht durch bloßen Vertrag ein

ganz anderes Rechtsinſtitut, als das, welches nur durch

Uebergabe begründet werden kann, und beide haben nur

den Namen und den allgemeinen Zweck mit einander ge-

mein. Wenn daher die oben erwähnte bewegliche Sache in

das Gebiet der Preußiſchen Geſetzgebung hereingebracht

wird, und hier das anderwärts durch bloßen Vertrag be-

gründete Pfandrecht geltend gemacht werden ſoll, ſo beruft

ſich der angebliche Pfandgläubiger auf ein im Preußiſchen

Staat nicht anerkanntes Rechtsinſtitut und ein ſolches Ver-

fahren iſt ſchon oben als unzuläſſig nachgewieſen wor-

den (o). Dagegen kann umgekehrt der Pfandgläubiger,

 

(o) S. o. § 349. B. — Die-

ſelbe Meinung wird vertheidigt in

den Ergänzungen zum A. L. R.

von Gräff u. ſ. w. B. 1 S. 116.

— Eben ſo auch von Wächter

II. S. 386. 388. 389, in Bezie-

hung auf das Württembergiſche

Recht, welches hierin mit dem

Preußiſchen übereinſtimmt. Er

giebt als Grund an, daß das Ge-

ſetz hier das Pfandrecht an Mo-

bilien in Entſtehung und im

Fortbeſtehen nur in der Form

des Fauſtpfandes anerkenne. Dieſe

|0220 : 198|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

welchem in Preußen eine bewegliche Sache durch Uebergabe

verpfändet worden iſt, ſein Recht auch in einem Lande des

Römiſchen Rechts geltend machen, da er alle Bedingungen

in ſich vereinigt, die hier zu einem wirkſamen Pfandrechte

erfordert werden.

Die Rangordnung mehrerer an derſelben Sache begrün-

deter Pfandrechte iſt nach der lex rei sitae zu beurtheilen.

Dieſe Rangordnung kann beſonders auch im Concurſe zur

Sprache kommen, und von dieſem Falle wird noch unten

gehandelt werden (§ 374).

 

5. Was hier von den dem Römiſchen Recht angehö-

renden, und den ihnen durch neuere Geſetzgebung nachge-

bildeten dinglichen Rechten geſagt worden iſt, muß eben ſo

von den rein germaniſchen gelten. Das Recht an Lehen

und Fideicommiſſen iſt ſtets ein Recht an beſtimmten Grund-

ſtücken, und wird alſo beherrſcht von dem Geſetz des Ortes,

an welchem die Grundſtücke liegen.

 

Im Laufe dieſer Unterſuchung über das Geſetz, welchem

die dinglichen Rechte unterworfen ſind, habe ich an jedem

gehörigen Orte ſogleich die oben (§ 344. e) vorbehaltene

Frage eingeſchaltet, inwiefern das anwendbare Geſetz durch

 

Begründung iſt weſentlich dieſelbe,

wie die von mir verſuchte, und nur

in der Ausdrucksweiſe davon ver-

ſchieden.

|0221 : 199|

§. 368. II. Sachenrecht. Jura in re.

eine Veränderung in dem Aufenthalt der beweglichen Sache,

die den Gegenſtand eines dinglichen Rechts bildet, ſo oder

anders beſtimmt werden müſſe.

Der Beſitz gehört zwar nicht unter die dinglichen

Rechte, jedoch wird an der gegenwärtigen Stelle, neben

den dinglichen Rechten, die Frage nach dem auf den Beſitz

anwendbaren örtlichen Recht zweckmäßiger, als an irgend

einer anderen Stelle, behandelt werden können.

 

Der Beſitz ſelbſt iſt, ſeiner Natur nach, ein rein that-

ſächliches Verhältniß (p), und als ſolches kann er nur dem

örtlichen Recht der gelegenen Sache unterworfen ſeyn, er

mag ſich auf bewegliche oder unbewegliche Sachen beziehen.

Nach dieſem Recht allein alſo iſt die Frage nach dem Er-

werb und Verluſt irgend eines Beſitzes, alſo nach dem

Daſeyn deſſelben, zu entſcheiden, ohne Unterſchied, um wel-

ches Zweckes und Erfolges Willen dieſe Frage irgendwo

aufgeworfen werden möge. An den Beſitz aber knüpfen ſich

zwei rechtliche Folgen, die Uſucapion und die poſſeſſoriſchen

Interdicte. Die erſte hat gar keine ſelbſtſtändige Natur,

fällt vielmehr mit dem Eigenthum zuſammen, und gehört

mit dieſem zur lex rei sitae (§ 367 Num. 5). — Die

poſſeſſoriſchen Interdicte, als die zweite Folge des Beſitzes,

gehören unter die obligationes ex delicto (q), ſtehen alſo

 

(p) Savigny Recht des Beſitzes § 5.

a. a. O. §. 6. 37.

(q) Savigny

|0222 : 200|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

unter dem örtlichen Rechte des Gerichts, vor welchem der

Rechtsſtreit geführt wird (r). Indeſſen iſt dieſer Satz von weit

geringerer Erheblichkeit, als man ihm auf den erſten Blick

zuſchreiben möchte. Er betrifft nämlich nur das eigentlich

delictartige Element in den Beſitzklagen, alſo ihre Straf-

natur, welches der bei weitem geringere Beſtandtheil ihres

juriſtiſchen Gehaltes iſt. Der weit wichtigere Beſtandtheil,

die Frage nach dem Daſeyn und der Anerkennung des Be-

ſitzes, iſt aber von jedem Richter, wie ſo eben bemerkt

wurde, lediglich nach der lex rei sitae zu entſcheiden.

§. 369.

III. Obligationenrecht. Einleitung.

Bei den Obligationen, wie bei den dinglichen Rechten,

tritt die Perſon aus ihrer abſtracten Perſönlichkeit heraus

in das örtliche Rechtsgebiet eines einzelnen Rechtsverhält-

niſſes (§ 345. 360. 366). Auch hier alſo haben wir die

ſtets wiederkehrende Frage zu beantworten, wo der wahre

Sitz jeder Obligation iſt, an welchem Ort im Raum ſie ihre

Heimath hat. Denn aus dieſem Sitz der Obligation, aus

dieſer ihrer Heimath, werden wir zugleich den beſonderen

 

(r) S. u. § 374. C. Dieſes

kann nun allerdings das forum

rei sitae ſeyn, welches unſtreitig

für die Beſitzklagen ſtets begründet

iſt. L. un C. ubi de poss. (3. 16),

Nov. 69. C. 1. Es kann aber auch

das davon vielleicht verſchiedene

forum domicilii ſeyn, indem dieſes

mit jenem electiv concurrirt (§ 371

Note n. und p.).

|0223 : 201|

§. 369. III. Obligationenrecht. Einleitung.

Gerichtsſtand derſelben, ſo wie das örtliche Recht erkennen

nach welchem ſie zu beurtheilen iſt.

Die Beantwortung dieſer Frage iſt gerade bei den Obli-

gationen aus folgenden Gründen, mehr als anderwärts,

ſchwierig und zweifelhaft.

 

Erſtlich hat die Obligation einen Gegenſtand von un-

ſichtbarer Natur, in Vergleichung mit dem dinglichen Recht,

welches an einem ſinnlich wahrnehmbaren Gegenſtand, einer

Sache, haftet. Wir müſſen uns alſo jenes Unſichtbare in

der Obligation erſt zu verkörpern ſuchen.

 

Ferner bezieht ſich jede Obligation weſentlich auf zwei

verſchiedene Perſonen; in der einen erſcheint ſie als erweiterte

Freiheit, als Herrſchaft über einen fremden Willen: in der

anderen als beſchränkte Freiheit, als Abhängigkeit von

einem fremden Willen (a). Nach welchem dieſer beiden,

zwar eng verbundenen, dennoch verſchiedenen, Verhältniſſe

ſollen wir nun den Sitz der Obligation beſtimmen? — Ohne

Zweifel nach dem Verhältniß des Schuldners, da die in

der Perſon des Schuldners vorhandene Nothwendigkeit

einer Handlung das eigentliche Weſen der Obligation aus-

macht. Dieſe Annahme wird beſtätigt durch den unbeſtrit-

tenen großen Einfluß des Orts der Erfüllung auf den

Gerichtsſtand, indem die Erfüllung vorzugsweiſe in einer

Thätigkeit des Schuldners beſteht, neben welcher eine Thä-

tigkeit des Glaubigers entweder gar nicht, oder doch nur

 

(a) S. o. B. 1 § 56.

|0224 : 202|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

in untergeordneter, mitwirkender Weiſe vorkommt. Ferner

durch den inneren Zuſammenhang des örtlichen Rechts mit

dem Gerichtsſtand, welcher letzte ſtets auf die Perſon des

Beklagten, hier alſo des Schuldners, ſich bezieht.

Endlich entſteht noch eine Schwierigkeit aus der Gegen-

ſeitigkeit, welche, wenn auch nicht bei allen, doch bei vielen

Obligationen vorkommt. Wo dieſe vorhanden iſt, da iſt

jede der beiden Perſonen als Schuldner anzuſehen, nur in

Beziehung auf verſchiedene Handlungen, weshalb die ſo

eben aufgeſtellte Regel der überwiegenden Berückſichtigung

des Schuldners nicht mehr auszureichen ſcheint. Allein in

jeder gegenſeitigen Obligation laſſen ſich die beiden getrenn-

ten Schuldverhältniſſe ſtets als getrennte behandeln, ſo daß

uns auch hier Nichts hindert, für jede der beiden, durch

dieſe Trennung entſtehenden, Hälften, den Gerichtsſtand und

das örtliche Recht nach der Perſon des Schuldners zu be-

ſtimmen. Ja ſogar iſt dieſe abſondernde Auffaſſung als

die urſprüngliche und natürliche anzuſehen, die zuſammen-

faſſende Behandlung und Bezeichnung als eine abgeleitete

und künſtliche, welche jedoch in der innigen Verbindung der

beiden Obligationen ihre Rechtfertigung findet. Die Rich-

tigkeit der hier aufgeſtellten Anſicht wird beſtätigt durch die

bei den Römern ſehr gewöhnliche Abſchließung eines Kauf-

vertrags u. ſ. w. durch zwei getrennte Stipulationen (b).

 

(b) Es ſoll dabei nicht geleugnet

werden, daß in manchen Fällen

dieſe abſondernde Behandlung bei-

der Hälften einer zweiſeitigen Obli-

gation, namentlich in Beziehung

auf das örtliche Recht, Zweifel und

|0225 : 203|

§. 369. III. Obligationenrecht. Einleitung.

Bei den Obligationen finden wir wieder den ſchon öfter

hervorgehobenen Zuſammenhang zwiſchen dem Gerichtsſtand

und dem Recht (§ 360. Num. 1). Derſelbe zeigt ſich aber

hier wichtiger und einflußreicher, als anderwärts, weil im

Römiſchen Recht der für die Obligationen geltende beſon-

dere Gerichtsſtand ſorgfältig ausgebildet erſcheint, anſtatt

daß das örtliche Recht faſt gar nicht erwähnt wird. Den-

noch paſſen die den Gerichtsſtand beſtimmenden Gründe

durchaus auch auf das örtliche Recht, indem Beides auf

dem gleichmäßigen Gehorſam gegen verſchiedene Zweige der

örtlichen öffentlichen Zuſtände beruht. Wir können daher

aus den Beſtimmungen des Römiſchen Rechts über den

Gerichtsſtand der Obligationen mit Sicherheit abnehmen,

in welchem Sinne das örtliche Recht der Obligationen auf-

zufaſſen iſt.

 

Der ſpecielle Gerichtsſtand, wie das örtliche Recht der

Obligationen, beruht auf einer freiwilligen Unterwerfung

(§ 360. Num. 2), die in den meiſten Fällen nicht ausdrück-

lich erklärt wird, ſondern nur aus den Umſtänden zu

ſchließen iſt, eben deshalb aber auch durch eine entgegenge-

ſetzte ausdrückliche Erklärung ausgeſchloſſen wird (c). Die

Umſtände alſo, unter welchen eine Obligation entſteht, kön-

 

Verwickelungen mit ſich führen

kann. Grundſätzlich aber iſt ſie

darum nicht weniger richtig, und

ſie wird auch von Anderen für

mehrere Fälle der Anwendung be-

hauptet. Vgl. Wächter II. S. 45.

(c) L. 19 § 2 de jud. (5. 1)

„.. nisi alio loci, ut defen-

deret, convenit“ …

|0226 : 204|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

nen oft in Anderen eine beſtimmte wohlbegründete Erwar-

tung erregen, und dieſe Erwartung ſoll dann auch nicht

getäuſcht werden. Das iſt der Geſichtspunkt, von welchem

aus ſowohl der Gerichtsſtand der Obligationen, als das

örtliche Recht derſelben, aufgefaßt werden muß.

Freiwillige Unterwerfung iſt nun auch der Grund des

prorogirten Gerichtsſtandes, und daher iſt eine Verwandt-

ſchaft zwiſchen dieſem und dem Gerichtsſtand der Obliga-

tionen unzweifelhaft, obgleich dieſer letzte eine mehr objective,

der prorogirte eine mehr ſubjective Natur hat, die Rückſicht

auf ein beſtimmtes Gericht, oft auch auf beſtimmte Gerichts-

perſonen. Den Gerichtsſtand der Obligation als eine reine

Anwendung des prorogirten, als einen einzelnen Fall deſſel-

ben, aufzufaſſen, iſt wohl nicht gerechtfertigt (d). Das

eigentliche Intereſſe dieſer Frage möchte etwa darin beſte-

hen, daß es nach Römiſchem Recht zweifelhaft iſt, ob die

Prorogation ſtreng bindet (e). Der Gerichtsſtand der

 

(d) Über dieſe Frage wird

geſtritten zwiſchen Bethmann

Hollweg Verſuche S. 20—27

S. 50 und Linde Abhandlungen

B. 2 S. 75 ſg. Der letzte aber

irrt offenbar darin, daß er bei den

Obligationen nicht blos den Aus-

druck des prorogirten Gerichts-

ſtandes verwirft, ſondern ſelbſt die

freiwillige Unterwerfung als Rechts-

grund. — Die Hauptſtellen über

den prorogirten Gerichtsſtand ſind:

L. 1 L. 2 pr. § 1 de jud. (5. 1),

L. 15 de jurisdict. (2. 1), L. 1 C.

de jurisdict. (3. 13).

(e) Nach L. 29 C. de pact.

(2. 3) ſcheint ſie bindend, nach

L. 18 de jurisdict. (2. 1) wider-

ruflich. Die letzte Stelle ſetzt wohl

ein nudum pactum voraus, ſo

daß die Stipulation allerdings

bindend war, und eben ſo das

pactum adjectum neben einem

b. f. contractus (Cato de re

rust. 149). Vgl. auch Holl-

weg Verſuche S. 12.

|0227 : 205|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

Obligation dagegen iſt ganz gewiß bindend für den Beklag-

ten, und eben ſo gewiß nicht bindend für den Kläger, der

zwiſchen dieſem ſpeciellen Gerichtsſtand und dem forum

domicilii des Beklagten freie Wahl hat (f).

§. 370.

III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

Schriftſteller.

Linde Archiv für civiliſtiſche Praxis Band 7. S. 59—

79 (1824).

Abhandlungen B. 2. S. 75—121 (1829),

v. Bethmann Hollweg Verſuche Num. I. S. 1—77

(1827).

Mühlenbruch Archiv B. 19. S. 337—384 (1836).

Albrecht Programm über das Motiv des forum con-

tractus. Würzburg 1845.

Es ſind oben drei in ſich zuſammenhängende Fragen auf-

geworfen worden (§ 369): Wo iſt der Sitz einer Obliga-

tion? Wo iſt der beſondere Gerichtsſtand derſelben? Wo iſt

 

(f) Vgl. unten § 371. Der

Grund des ſpeciellen Gerichtsſtan-

des der Obligationen iſt alſo gewiß

nicht die Begünſtigung des Be-

klagten (wie Linde annimmt,

Archiv VII. S. 67), ſondern des

Klägers. Dieſem ſoll der Beweis

und die Execution erleichtert wer-

den, vielleicht auch die Prozeßfüh-

rung ſelbſt, indem er dadurch oft

an dem eigenen Wohnſitz klagen

kann, nicht blos an dem des Be-

klagten.

|0228 : 206|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

das örtliche Recht aufzuſuchen, welches auf ſie angewendet

werden muß? Die erſte dieſer drei Fragen hat eine theo-

retiſche Natur, und dient blos als Grundlage für die rich-

tige Beantwortung der beiden anderen, weshalb ſie mit der

zweiten Frage ſogleich zuſammen gefaßt werden kann.

Dieſe zweite, den Gerichtsſtand der Obligation betreffende,

Frage hat im Römiſchen Recht zu einer Reihe von prak-

tiſchen, ſehr in das Einzelne gehenden Entſcheidungen ge-

führt, weshalb die Meinungsverſchiedenheiten unſrer Schrift-

ſteller weniger den Inhalt der Rechtsregeln, als deren An-

ordnung und Begründung betreffen, alſo eine mehr theore-

tiſche, als praktiſche Natur haben.

Der beſondere Gerichtsſtand der Obligation (zuſammen

fallend mit dem wahren Sitz der Obligation) beruht auf

freier Unterwerfung der Parteien, die jedoch meiſt nicht in

einer ausdrücklichen, ſondern in einer ſtillſchweigenden Wil-

lenserklärung liegt, und daher ſtets durch eine entgegenge-

ſetzte ausdrückliche Erklärung ausgeſchloſſen wird (§ 369).

Wir haben alſo zu erforſchen, auf welchen Ort die Erwar-

tung der Parteien gerichtet war, welchen Ort ſie ſich als

den Sitz der Obligation gedacht haben? An dieſem Ort

haben wir den beſonderen Gerichtsſtand der Obligation,

vermöge freier Unterwerfung, anzunehmen. Da aber die

Obligation an ſich, als Rechtsverhältniß, ein unkörperliches,

nicht räumliches Daſeyn hat, ſo müſſen wir in dem natür-

lichen Entwickelungsgang derſelben ſichtbare Erſcheinungen

aufſuchen, an welche wir das unſichtbare Weſen der Obli-

 

|0229 : 207|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

gation anknüpfen können, um ihr gleichſam einen Körper

zu verſchaffen.

Nun finden wir in jeder Obligation vorherrſchend und

gleichförmig zwei ſolche ſichtbare Erſcheinungen, die wir

als leitend anſehen könnten. Jede Obligation entſteht näm-

lich aus ſichtbaren Thatſachen: jede Obligation wird aber

auch erfüllt durch ſichtbare Thatſachen; beide müſſen an

irgend einem Orte vorkommen. Wir können daher entwe-

der den Entſtehungsgrund der Obligation, oder die

Erfüllung derſelben, als Anhalt wählen, um darauf den

Sitz der Obligation, ſo wie den beſonderen Gerichtsſtand

derſelben, zu beſtimmen; entweder den Anfang oder das

Ende der Obligation. Welchem von beiden Punkten wer-

den wir nach allgemeiner Betrachtung den Vorzug zu geben

haben?

 

Nicht dem Entſtehungsgrund. Dieſer iſt an ſich zu-

fällig, vorübergehend, dem Weſen der Obligation und ihrer

ferneren Entwickelung und Wirkſamkeit fremd. Sollte dem

Ort, wo die Obligation entſtand, in den Augen der Par-

teien eine bleibende, in die Zukunft hin wirkende, Wichtig-

keit zugeſchrieben werden, ſo könnte Dieſes gewiß nicht aus

dem Entſtehungsgrund an ſich hervorgehen, ſondern nur

aus der Verbindung deſſelben mit äußeren, ihm ſelbſt fremd-

artigen Umſtänden, durch welche eine beſtimmte Erwartung

der Parteien gerade auf dieſen Ort gerichtet werden

möchte.

 

|0230 : 208|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Ganz anders verhält es ſich mit der Erfüllung, die mit

dem eigenſten Weſen der Obligation zuſammen fällt. Denn

die Obligation beſteht eben darin, daß irgend Etwas, das

früher in der Willkür einer Perſon ſtand, in ein Nothwen-

diges, das bisher Ungewiſſe in ein Gewiſſes, verwandelt

wird, und dieſes nothwendig und gewiß Gewordene iſt ge-

rade die Erfüllung. Auf dieſe alſo iſt die ganze Erwar-

tung der Parteien gerichtet, und es liegt daher im Weſen

der Obligation, daß der Ort der Erfüllung als Sitz der

Obligation gedacht, daß an dieſen Ort der beſondere Ge-

richtsſtand der Obligation durch freie Unterwerfung verlegt

werde. — Bevor aber dieſer Gedanke im Einzelnen durch-

geführt wird, ſcheint es räthlich, einen vorläufigen Blick

auf die unter den neueren Schriftſtellern vorherrſchenden

Auffaſſungen der hier vorliegenden Frage zu werfen.

 

Die meiſten Schriftſteller haben von jeher den beſon-

deren Gerichtsſtand der Obligation an den Ort geſetzt,

an welchem die Obligation entſtanden iſt. Da nun

die meiſten Obligationen aus Verträgen entſtehen, ſo ſollte

der Ort, an welchem der Vertrag geſchloſſen wurde, be-

ſtimmend ſeyn für den Gerichtsſtand, und daraus erklärt

ſich der ſehr allgemein verbreitete, keinesweges quellen-

mäßige, Kunſtausdruck forum contractus für den beſonde-

ren Gerichtsſtand der Obligationen. — Die Erklärung und

ſcheinbare Rechtfertigung dieſer Lehre liegt in einigen Haupt-

ſtellen des Römiſchen Rechts, in welchen durch ungründ-

liche Auslegung das wahre Verhältniß der Regel zur Aus-

 

|0231 : 209|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

nahme, des Mittelpunktes zu den untergeordneten Beſtim-

mungen, verkannt und verſchoben wurde. Die praktiſchen

Irrthümer, wozu jener Grundſatz führen konnte, wurden

nun eben abgewendet durch eine Reihe beigefügter Ausnah-

men, die aber den Grundſatz ſelbſt großentheils in bloßen

Schein auflöſten (a). — Nach der oben aufgeſtellten An-

ſicht müſſen wir dieſe Lehre im Ganzen verwerfen, weil

ſie eines inneren Grundes, der nur aus dem Weſen der

Obligation entnommen werden könnte, völlig ermangelt.

Was aber an partieller Wahrheit in ihr enthalten iſt, wird

in der unten folgenden Lehre ſeine wahre Stellung finden,

und nach Gebühr anerkannt werden.

Andere Schriftſteller dagegen haben in neuerer Zeit je-

nen Grundſatz aufgegeben, und den Gerichtsſtand der Obli-

gation vielmehr an den Erfüllungsort anzuknüpfen verſucht.

Mit dieſer Grundlage habe ich mich bereits im Allgemeinen

einverſtanden erklärt. Der richtige Erfolg dieſes Verfah-

rens hängt aber ab von der Art, wie der Erfüllungsort

feſtgeſtellt werden ſoll. Dieſes kann zunächſt geſchehen

 

(a) Vgl. oben B. 1 Vorrede

S. XLV. — Jene Stellen ſind:

L. 3 de reb. auct. jud. (42. 5),

L. 21 de O. et A. (44. 7), vor-

züglich aber L. 19 § 2 de jud.

(5. 1), welche allerdings auf den

erſten Blick ſo ausſieht, als wolle

ſie ſo, wie es von den Neueren

zu geſchehen pflegt, Regel und

Ausnahme neben einander ſtellen,

anſtatt daß ſie in der That nur

verſuchsweiſe einen ſcheinbar allge-

meinen Satz an die Spitze ſtellt,

dann aber durch hinzugefügte Be-

ſchränkungen den Leſer dahin führt,

die wahre Regel, die ſie nicht un-

mittelbar ausſpricht, durch Ab-

ſtraction zu finden; ganz wie es

der Methode der alten Juriſten

angemeſſen iſt.

VIII. 14

|0232 : 210|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

durch den für dieſe beſondere Obligation ausgeſprochenen

Willen der Parteien. Daß nun an einem ſolchen Ort der

Gerichtsſtand der Obligation anzunehmen ſey, iſt niemals

bezweifelt worden. Allein der hier vorausgeſetzte Fall iſt

gerade der ſeltnere, und es bleibt daher für die meiſten

Fälle zu unterſuchen übrig, welcher Ort in Ermangelung

eines ſolchen beſonderen ausgeſprochenen Willens als Er-

füllungsort, und (an dieſen anknüpfend) zugleich als beſon-

derer Gerichtsſtand der Obligation angenommen werden ſoll.

Hierüber wird von manchen Schriftſtellern folgender

Grundſatz aufgeſtellt: In Ermangelung des Privatwillens

entſcheidet das Geſetz. Für jede Obligation alſo giebt es

ſtets einen feſt beſtimmten Erfüllungsort; dieſer beruht ent-

weder auf dem beſonderen Willen der Parteien, oder, in

deſſen Ermangelung, auf der Vorſchrift des Geſetzes. Der

eine wie der andere beſtimmt zugleich den beſonderen Ge-

richtsſtand der Obligation.

 

Ich halte dieſe Lehre für völlig verwerflich, will aber

die Widerlegung derſelben erſt verſuchen, nachdem ich eine

andere durchgeführt haben werde. Dieſe läßt ſich in we-

nigen Worten ſo ausdrücken:

Der Erfüllungsort wird ſtets beſtimmt durch den

beſonderen Willen der Parteien; dieſer kann aber

entweder ausdrücklich erklärt werden, oder

ſtillſchweigend; in beiden Fällen beſtimmt

er zugleich den beſonderen Gerichtsſtand der

 

 

|0233 : 211|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

Obligation, der alſo ſtets auf freier Unterwerfung

beruht (§ 369) (b).

Die hier angedeutete Lehre alſo unterſcheidet ſich von

der vorher angegebenen und verworfenen darin, daß an die

Stelle des geſetzlich beſtimmten Erfüllungsortes der

durch ſtillſchweigende Uebereinkunft beſtimmte ge-

ſetzt wird.

 

Ich gehe nun zur genaueren Darſtellung dieſer Lehre

über.

 

I. Der erſte mögliche Fall, den wir zu berückſichtigen

haben, ſetzt voraus den an ſich zufälligen Umſtand, daß der

beſondere Wille der Parteien einen Ort der Erfüllung feſt-

geſtellt hat. Dieſes kann etwa dadurch geſchehen, daß der

Vertrag, worin die Auszahlung einer Geldſumme ver-

ſprochen wird, zugleich die Stadt geradezu benennt, worin

dieſe Handlung vorgenommen werden ſoll. Daß nun in

einem ſolchen Fall dieſer Ort als der beſondere Ge-

richtsſtand der Obligation gelten ſoll, iſt in unſern Rechts-

quellen ſo deutlich und zugleich ſo vielfältig geſagt (c),

 

(b) Weſentlich ſtimmt damit

überein Albrecht S. 13—27,

deſſen Ausführung ich ganz als

richtig anerkenne. Er geht aber

in dem ſpäteren Theil ſeiner Ab-

handlung (S. 28—35) wieder in

die oben erwähnte irrige Lehre

über, wovon noch unten die Rede

ſeyn wird (Note aa).

(c) L. 19 § 4 de jud. (5. 1),

L. 1. 2. 3 de reb. auct. jud. (42. 5),

L. 21 de O. et A. (44. 7) „con-

traxisse … in eo loco intelli-

gitur“, C. 17 X. de foro comp.

(2. 2). — Es gehört dahin auch

L. 1 de eo quod certo loco

(13. 4). Denn indem dieſe Stelle

ſagt, daß eigentlich (d. h. abgeſehen

14*

|0234 : 212|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

daß darüber zu keiner Zeit ein Zweifel erhoben worden

iſt (d).

Jedoch würde man dieſen Fall in zu enge Gränzen ein-

ſchließen, wenn man ihn auf die Geſtalt beſchränken wollte,

die ſo eben an einem Beiſpiel anſchaulich gemacht worden

iſt. Um Dieſes klar zu machen, iſt es nöthig, den natür-

lichen Unterſchied unter den Handlungen hervor zu heben,

die als Gegenſtände von Obligationen vorkommen können.

Einige dieſer Handlungen, und zwar die meiſten, ſind ſo

beſchaffen, daß ſie an jedem Orte vorgenommen werden

können. Dahin gehören perſönliche Dienſtleiſtungen, ferner

die Bearbeitung beweglicher Sachen, eben ſo die Beſitz-

übertragung beweglicher Sachen, insbeſondere die Zahlung

von baarem Gelde. Für dieſe Handlungen nun kann ein

beſtimmter Erfüllungsort nur in der oben beiſpielsweiſe be-

merkten Geſtalt feſtgeſtellt werden, nämlich durch wörtliche

Bezeichnung des Ortes, wo ſie geſchehen ſollen. — Andere

 

von der actio arbitraria) an

keinem anderen, als dem be-

dungenen Erfüllungsort geklagt

werden könne, liegt darin gewiß

vor Allem die Regel, daß an

dieſem Ort die Klage zuläſſig iſt.

(d) Manche haben den wahren

Geſichtspunkt verdunkelt, indem ſie

dieſen Fall als forum solutionis

bezeichnet, und dadurch als weſent-

lich verſchieden von den folgenden

Fällen mit Unrecht angegeben

haben. Andere haben dieſe ver-

meintliche Verſchiedenheit bis zu

dem praktiſchen Irrthum getrieben,

neben dieſem Gerichtsſtand gleich-

zeitig ein zweites forum contrac-

tus am Ort des geſchloſſenen Ver-

trages anzunehmen. So Linde

Abhandl. II. S. 112—114. (Vgl.

Hollweg S. 46). Allerdings be-

ſteht neben dieſem beſonderen Ge-

richtsſtand ſtets das allgemeine

forum domicilii, ſo daß zwiſchen

beiden der Kläger die Wahl hat

(§ 371).

|0235 : 213|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

Handlungen dagegen ſind ſchon ihrer Natur nach ſo aus-

ſchließend an einen einzelnen Ort gebunden, daß ſie nur an

dieſem gedacht werden können. Dahin gehört jede Bearbei-

tung eines beſtimmten Grundſtücks, der Aufbau oder die

Ausbeſſerung eines Hauſes, Vermiethung, Verpachtung,

Verkauf eines Hauſes oder Landgutes. Denn bei jedem

Verkauf beſteht die Verpflichtung des Verkäufers in der

Beſitzübertragung (e), dieſe aber iſt an einem Grundſtück

nur denkbar da, wo dieſes liegt (f). Daher wäre es eine

ganz müſſige, überflüſſige Förmlichkeit, in dem Verkauf zu

verſprechen, daß die Uebergabe des verkauften Hauſes gerade

in der Stadt, worin das Haus liegt, vorgenommen werden

ſolle. Von dieſer Förmlichkeit die Anwendung unſeres

Grundſatzes abhängig zu machen, iſt durchaus kein Grund

vorhanden, und wir müſſen alſo vielmehr behaupten, daß

die Feſtſtellung des Erfüllungsortes mit ihren Folgen be-

wirkt wird nicht nur durch die wörtliche Bezeichnung eines

Ortes, ſondern ganz eben ſo auch durch die Natur einer

ſolchen Handlung, die nur an dieſem Orte denkbar iſt (g).

Ja es würde ſelbſt ungenau ſein, in dieſem Fall eine nur

ſtillſchweigende Willenserklärung annehmen zu wollen. Denn

unter dieſer verſtehen wir die auslegende Folgerung aus

(e) L. 11 § 2 de act. emti

(19. 1).

(f) Die Apprehenſion iſt nur

durch die Gegenwart des Beſitz-

erwerbers möglich (Savigny

Recht des Beſitzes § 15), anſtatt

daß der bisherige Beſitzer auch ab-

weſend ſeyn kann (Ebendaſ. S. 239).

(g) Anderer Meinung hierüber

iſt Bethmann Hollweg S. 47.

—50.

|0236 : 214|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

einer zu anderen Zwecken, als der Willenserklärung, be-

ſtimmten Handlung, welche Folgerung ſtets durch eine ent-

gegengeſetzte ausdrückliche Erklärung ausgeſchloſſen werden

kann (h). Wenn aber Jemand ein Haus verkauft, das

heißt, zu übergeben verſpricht, ſo iſt der beſondere Umſtand,

daß dieſe Uebergabe gerade da, wo das Haus liegt, geſche-

hen ſolle, ſchon in dem Verſprechen ſelbſt unmittelbar

enthalten, indem eine Uebergabe an anderem Orte unmög-

lich iſt, ſo daß auch eine entgegengeſetzte ausdrückliche

Erklärung über dieſen Nebenpunkt völlig widerſinnig ſeyn

würde.

Wir gehen jetzt über zu den weit häufigeren und ſehr

mannichfaltigen Fällen, in welchen ein feſt beſtimmter Er-

füllungsort der Obligation nicht vorhanden iſt; dieſe Fälle

aber werden ſich nur beziehen können auf Handlungen, die

ihrer Natur nach überall vorkommen können, alſo nicht mit

einer beſtimmten Oertlichkeit zuſammen hängen, weil ſonſt,

wie ſo eben gezeigt wurde, eben dieſer Zuſammenhang den

Erfüllungsort mit ſich führen würde. Für alle dieſe Fälle

nun haben wir zu unterſuchen, an welchem Orte von den

Parteien die Erfüllung gedacht und erwartet ſeyn möge;

dieſen Ort haben wir als den wahren Sitz der Obligation

und als ihren beſonderen Gerichtsſtand zu betrachten, indem

 

(h) S. o. B. 3 § 131.

|0237 : 215|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

in jener durch die Umſtände begründeten Erwartung eine

ſtillſchweigende Feſtſtellung des Erfüllungsortes, alſo

auch eine ſtillſchweigende Unterwerfung des Beklagten unter

den Gerichtsſtand dieſes Ortes, enthalten iſt. Aus dieſer

Annahme einer ſtillſchweigenden Uebereinkunft und Unter-

werfung folgt aber von ſelbſt, daß der durch die folgenden

Betrachtungen feſtzuſtellende beſondere Gerichtsſtand der

Obligation ſtets ausgeſchloſſen werden kann durch eine ent-

gegengeſetzte ausdrückliche Willenserklärung (§ 369. b).

Dieſer Grundſatz nun findet ſich im Römiſchen Recht nirgend

wörtlich ausgeſprochen; allein alle einzelne Entſcheidungen

der Römiſchen Juriſten laſſen ſich ungezwungen auf ihn,

und nur auf ihn, zurückführen, auch ſteht er in unverkenn-

barem Zuſammenhang mit der freien Unterwerfung (§ 369),

die ja in dieſer ganzen Lehre überall als beſtimmend anzu-

ſehen iſt.

Wir werden alſo nunmehr zurückgeführt auf die That-

ſachen, die der Obligation ihre Entſtehung gegeben haben,

und wir haben, der Reihe nach, diejenigen äußeren Um-

ſtände anzugeben, unter deren Vorausſetzung der Entſtehungs-

ort der Obligation von den Parteien zugleich als Erfüllungs-

ort zu erwarten war. Wenn wir uns bei dieſer Unter-

ſuchung an die Ausſprüche der Römiſchen Juriſten halten,

welches, vom Standpunkt des gemeinen Rechts aus, als

richtig und nothwendig nicht bezweifelt werden kann, ſo

dürfen wir dabei nicht überſehen, welcher Natur jene Aus-

ſprüche ſind. Sie enthalten nicht etwa Vorſchriften des

 

|0238 : 216|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

poſitiven Rechts, ſondern leitende Geſichtspunkte, aus

welchen der wahrſcheinliche, natürliche Gedanke der Parteien

zu erkennen iſt, neben welchen alſo ſtets die beſonderen Um-

ſtände jedes einzelnen Falles zu beachten ſind. Wo alſo

dieſe Umſtände auf eine andere Entſcheidung führen möchten,

da handeln wir ganz im Sinn jener Römiſchen Ausſprüche,

wenn wir ſie nicht zur Anwendung bringen. Von häu-

figem Einfluß wird jedoch dieſe Bemerkung gewiß nicht

ſeyn.

II. Um den erſten Fall dieſer Art deutlich zu machen,

iſt eine vorläufige Betrachtung nöthig über die verſchiedene

Beſchaffenheit und äußere Erſcheinung der Thatſachen, aus

welchen Obligationen entſtehen. Die meiſten Obligationen

entſtehen aus einzelnen, vorübergehenden Handlungen. So

verhält es ſich mit dem häufigſten aller Entſtehungsgründe,

dem Vertrag, der zwar nicht ſelten lange vorbereitet wird,

deſſen wirklicher Abſchluß aber ſtets eine augenblickliche

Erſcheinung darbietet, alſo einen kaum merklichen Zeitraum

erfüllt. Dagegen giebt es andere, allerdings ſeltnere, Obli-

gationen, die aus einer fortgeſetzten, zuſammenhängenden

Thätigkeit des Schuldners entſpringen, einer Thätigkeit, die

ſtets einen längeren Zeitraum erfüllt, und zugleich mit einer

beſtimmten Oertlichkeit in Verbindung ſteht. Wir können

eine Thätigkeit ſolcher Art, aus welcher, im Laufe der Zeit,

mehr oder weniger einzelne Obligationen zu entſtehen pflegen,

mit dem gemeinſamen Namen der Geſchäftsführung be-

zeichnen. Eine Ueberſicht der wichtigſten Fälle ſolcher Art,

 

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§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

wie ſie in unſeren Rechtsquellen erwähnt werden, mit An-

erkennung des dadurch begründeten Gerichtsſtandes, wird

die Sache anſchaulich machen (i).

Es gehören dahin folgende Fälle. Die Tutel über Un-

mündige, ſo wie jede Art von Curatel. Ferner die Be-

ſorgung der Geſchäfte eines Anderen, ſey es aller ſeiner

Geſchäfte (Generalmandat), ſey es einer gewiſſen Klaſſe

derſelben, etwa einer Fabrik, Handlung u. ſ. w.; ſey es

in Folge eines Vertrags (Mandat oder operae locatae),

oder aber aus einſeitigem Willen (negotiorum gestio) (k).

Endlich ein fortlaufendes eigenes Bank- und Commiſſions-

geſchäft (argentaria). Aus dieſer Ueberſicht ergiebt es ſich,

daß ſowohl eigene, als fremde Geſchäftsführung dieſen

Gerichtsſtand begründen kann, ferner ſowohl ein Vertrag,

als ein Quaſicontrakt, welcher der fremden Geſchäftsführung

zum Grunde liegt. Die weſentliche Vorausſetzung beſteht

nur darin, daß die fortgehende Geſchäftsführung an eine

beſtimmte Oertlichkeit bleibend geknüpft iſt (l). In den

 

(i) L. 19. § 1 de jud. (5. 1),

L. 36 § 1 L. 45 pr. eod., L. 4 § 5

de ed. (2. 13), L. 54 § 1 de proc.

(3. 3), L. 1. 2 C. ubi de ratio-

cin. (3. 21). — Der Grund der

freiwilligen Unterwerfung wird aus-

drücklich angegeben bei der nego-

tiorum gestio in L. 36 § 1 de

jud. (5. 1) „non debet judicium

recusare … cum sua sponte

sibi hanc obligationem con-

traxerit“.

(k) Nicht jedes Mandat, und

nicht jede negotiorum gestio ge-

hören in dieſe Kategorie; denn

beide können auch ein einzelnes,

vorübergehendes Geſchäft zum Ge-

genſtand haben, wovon hier nicht

die Rede iſt.

(l) L. 19 § 1 de jud. (5. 1)

Si quis tutelam … vel quid

aliud, unde obligatio oritur,

certo loci administravit, etsi

ibi domicilium non habuit, ibi

se debebit defendere“.

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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

meiſten Fällen tritt dieſer beſondere Gerichtsſtand deswegen

nicht merklich hervor, weil die Geſchäftsführung mit dem

Wohnſitz zuſammenfällt; beide können aber auch getrennt

ſeyn, und dann zeigt ſich dieſer Gerichtsſtand wirkſam

(Note l).

Manche Schriftſteller haben dieſen Gerichtsſtand als

einen ganz eigenthümlichen betrachten wollen unter dem

Namen forum gestae administrationis, verſchieden von dem

ſogenannten forum contractus. Ganz mit Unrecht, da beide

auf demſelben Grunde beruhen, auf der in den Umſtänden

begründeten Erwartung der Parteien, daß die aus der Ge-

ſchäftsführung entſtehenden Obligationen auch an dem Ge-

ſchäftsort ihre Erledigung finden werden, zu welcher Er-

wartung die dauernde Natur einer ſolchen Verwaltung

gewiß hinreichenden Grund darbietet; denn in dieſer Ge-

ſchäftsführung hat die Geſammtheit der aus ihr entſprin-

genden Obligationen gleichſam ein räumliches, ſichtbares

Daſeyn gewonnen, ſie erſcheint darin wie verkörpert. Will

man alſo überhaupt den Kunſtausdruck forum contractus

anwenden, ſo muß man dieſen Fall durchaus darunter be-

ziehen. Nur darf hier der Entſtehungsort der Obligation

nicht da gedacht werden, wo etwa der Vertrag wegen

Uebernahme des Geſchäfts geſchloſſen worden iſt; noch auch

da, wo die einzelnen Kaufverträge, Geldeinnahmen u. ſ. w.

Statt gefunden haben, aus welchen der Geſchäftsführer

dem Herrn des Geſchäfts verantwortlich geworden ſeyn

mag. Dieſe beiden Orte verſchwinden hier als unterge-

 

|0241 : 219|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

ordnet, und das Geſchäft ſelbſt, als dauerndes Ganze, muß

als die gemeinſame Grundlage der daraus entſpringenden

einzelnen Obligationen angeſehen werden (m). Auf den

bleibenden Sitz dieſes Geſchäfts war der Gedanke, die Er-

wartung, die freie Unterwerfung der Parteien gerichtet.

III. Es bleiben jetzt noch übrig diejenigen Obligationen,

denen weder ein beſtimmter Erfüllungsort angewieſen iſt

(Num. I.), noch eine fortgeſetzte Thätigkeit an einem be-

ſtimmten Orte als Grundlage dient (Num. II.). Dieſe

müſſen alſo insgeſammt auf Handlungen, die überall vor-

kommen können, gerichtet ſeyn, und zugleich aus einzelnen,

vorübergehenden Handlungen entſpringen; denn ſonſt wür-

den ſie den früher aufgeſtellten Kategorieen anheim fallen.

Bei dieſen alſo haben wir zu unterſuchen, unter welchen

Vorausſetzungen die Rückſicht auf den Entſtehungsort die

Erwartung begründet, daß dieſer zugleich der Erfüllungs-

ort, und daher der wahre Sitz der Obligation, ſeyn

werde.

 

Der nächſte Fall, auf welchen wir in dieſer Reihe von

Betrachtungen geführt werden, beſteht darin, daß ein Schuld-

ner in ſeinem perſönlichen Wohnſitz in eine Obligation

eintritt. Dadurch unterwirft er ſich dem Gerichte dieſes

Ortes als dem beſonderen Gerichtsſtande dieſer Obligation.

Es ſcheint auf den erſten Blick überflüſſig, ja widerſprechend,

den Gerichtsſtand, der ohnehin für dieſe Perſon als der

 

(m) Vgl. Albrecht S. 23.

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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

allgemeine begründet iſt, nun noch als etwas Neues, als

einen beſonderen Gerichtsſtand, anſehen zu wollen, indem

man annehmen möchte, es ſey ausreichend, in einem ſolchen

Fall blos die gewöhnliche Wirkung des ohnehin geltenden

forum domicilii anzuerkennen.

Allein die praktiſche Wichtigkeit der hier aufgeſtellten

Unterſcheidung bezieht ſich auf die Fälle möglicher Verände-

rungen. Wenn jener Schuldner willkürlich ſeinen Wohnſitz

ändert, oder wenn er ſtirbt, ſo hat ſein bisheriges forum

domicilii, als ſolches, gänzlich aufgehört. Aber in der hier

aufgeſtellten Eigenſchaft, als beſonderer Gerichtsſtand der

Obligation, dauert er fort: er folgt dem Auswandernden

in ſeinen neuen Wohnſitz nach, er bindet im Fall des To-

des den Erben, wenngleich dieſer einen anderen Wohnſitz

hat (n).

 

Der Grund dieſer eigenthümlichen Beſtimmung liegt

darin, daß der Schuldner durch die hier übernommene Obli-

gation die Erwartung erregt hat, er werde ſich an dem-

ſelben Orte auch den Folgen derſelben unterwerfen (§ 369);

 

(n) L. 19 pr. de jud. (5. 1),

L. 2 C. de jurisdict. (3. 13).

Vgl. Bethmann Hollweg

S. 24. Dieſer wichtige Satz ſteht

in Verbindung mit dem oben

gemachten Vorbehalt § 344. e.

— Aus dieſem Satz iſt auch zu

erklären L. 45. de jud. (5. 1),

welche folgenden Fall vorausſetzt.

Eine Einwohnerin von Rom nimmt

in ihrer Heimath ein Darlehen auf.

Nach ihrem Tode wird ſie beerbt

von ihrer Tochter, deren Wohnſitz

in eine Provinz kommt. Hier

werden die Vormünder im Namen

der Mündel verurtheilt. Dennoch,

ſagt Ulpian, gehört die judicati

actio wieder nach Rom, weil die

Erblaſſerin daſelbſt den Gerichts-

ſtand der Obligation begründet hatte.

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§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

dieſe Erwartung ſoll nicht getäuſcht werden, der Schuldner

ſoll alſo zwar nicht gehindert werden, ſeinen Wohnſitz will-

kürlich zu ändern, er ſoll aber die an dem alten Wohnſitz

übernommenen Obligationen ebendaſelbſt abwickeln.

IV. Aber auch außer ſeinem Wohnſitz kann Jemand

als Schuldner in eine Obligation eintreten unter ſolchen

Umſtänden, welche die natürliche Erwartung erregen, daß der

Entſtehungsort der Obligation zugleich ihr Erfüllungsort

ſeyn werde.

 

Eine ſolche Erwartung erregt Der, welcher außer ſeinem

Wohnſitz ein gewerbliches Geſchäft von einiger Dauer be-

gründet, und dabei Einrichtungen trifft, aus welchen abzu-

nehmen iſt, er werde die Waaren, die er hier verkauft,

auch eben daſelbſt abliefern. Dadurch unterwirft er ſich

dem beſondern Gerichtsſtand der Obligation an dem Ort

des geſchloſſenen Vertrags. Dieſes wird von Ulpian

ausführlich angegeben, und zwar als Warnung gegen die

unbedingte Annahme eines Gerichtsſtandes blos deswegen,

weil an irgend einem Orte ein Vertrag geſchloſſen worden

ſey; er begründet dieſe Warnung durch die Erwähnung

eines Durchreiſenden, der einen Vertrag ſchließe, und von

welchem man doch gewiß nicht werde behaupten wollen,

daß er ſich einem Gerichtsſtand am Ort des Vertrags un-

terwerfe (o).

 

(o) L. 19 § 2 de jud. (5. 1)

„.. durissimum est, quotquot

locis quis navigans, vel iter

facicns, delatus est, tot locis

se defendi. At si quo consti-

tit, non dico jure domicilii, sed

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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Aber das hier erwähnte gewerbliche Verhältniß iſt über-

haupt nur als Beiſpiel, keinesweges als ausſchließende Be-

dingung, eines Gerichtsſtandes der Obligation anzuſehen.

Werden nämlich während eines Aufenthaltes außer dem

Wohnſitz Verträge geſchloſſen, ſo muß aus dem Inhalt

derſelben abgenommen werden, welchen Gedanken über die

Erfüllung die Parteien damit wahrſcheinlich verbunden ha-

ben mögen. Wenn alſo ein Beamter in Folge eines Amts-

geſchäfts, oder ein Abgeordneter zu einer legislativen Ver-

ſammlung, Monate lang an demſelben Orte verweilt, und

daſelbſt Schulden contrahirt, die ſich auf ſeinen täglichen

Lebensunterhalt beziehen, ſo iſt an der Begründung des

beſonderen Gerichtsſtandes der Obligation nicht zu zweifeln.

Eben ſo, wenn bei einem Badeaufenthalt Schulden zu ähn-

lichen Zwecken entſtehen. Wenn dagegen bei einem Bade-

aufenthalt Verträge über Handelsgeſchäfte geſchloſſen wer-

den, deren weitere Entwickelung nur von der Heimath aus

zu erwarten iſt, ſo muß ein ſolcher Gerichtsſtand für den

Ort des geſchloſſenen Vertrages verneint werden (p). Da

hier Alles auf die wahrſcheinliche Abſicht der Parteien an-

kommt, ſo kann nach Umſtänden auch ſchon ein ſehr kurzer

 

tabernulam … officinam con-

duxit, ibique distraxit, egit:

defendere se eo loci debebit.“

— L. 19. § 3 eod. — L. un. C.

de nund. (4. 60) verneint das

forum contractus nur gegen Die,

welche einen öffentlichen Markt zu

einzelnen Kaufgeſchäften als Rei-

ſende beſuchen, nicht gegen Die,

auf welche die oben von Ulpian

angegebenen Kennzeichen paſſen.

(p) Bethmann Hollweg

S. 24. 25. Vgl. Seuffert Ar-

chiv B. 2 N. 119.

|0245 : 223|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

Aufenthalt zur Begründung jenes Gerichtsſtandes hin-

reichen. So wird dieſe Begründung angenommen werden

dürfen gegen einen Reiſenden, der im Gaſthauſe ſeine Rech-

nung nicht bezahlen will, da bei dieſem Geſchäft die unver-

zügliche Erfüllung allgemein üblich iſt, alſo von Jedem er-

wartet werden kann. Es kommt alſo Alles darauf an, in

welchem Verhältniß die Natur und die Dauer des Aufent-

halts zu dem Inhalt der Obligation ſteht.

Wenn wir die bisher aufgeſtellten Regeln (Num. II. III. IV.)

mit der oben dargeſtellten und verworfenen Meinung ver-

gleichen, ſo ergiebt ſich folgendes Verhältniß beider Auf-

faſſungen. Jene Meinung betrachtete den Ort der obliga-

toriſchen Handlung an ſich als den Grund des Gerichts-

ſtandes der Obligation (nur mit Ausnahmen); die hier

vorgetragene Lehre knüpft dieſe Wirkung nicht an die obli-

gatoriſche Handlung an ſich, ſondern nur in Verbindung

mit anderen, ihr zum Grund liegenden und vorhergehenden

Umſtaͤnden (q).

 

V. Es bleibt endlich noch übrig, den Sitz der Obliga-

tion für diejenigen Fälle zu beſtimmen, in welchen alle bis-

her angegebene Vorausſetzungen nicht ausreichen, indem

 

(q) Mühlenbruch beurtheilt

die unter der Num. IV. zuſammenge-

ſtellten Fälle an ſich richtig, und

mit praktiſcher Einſicht in die Ver-

hältniſſe des wirklichen Lebens

(S. 355—357. 360—361. 365—

375), allein er irrt in der theore-

tiſchen Begründung derſelben, in-

dem er in dieſen Fällen ein Qua-

ſidomicil oder ein temporäres Do-

micil annimmt, und ſie alſo mit

dem Fall Num. III. in Verbindung

ſetzt. Dieſe Verbindung iſt ge-

zwungen und unfruchtbar.

|0246 : 224|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

weder ein feſt beſtimmter Erfüllungsort vorhanden iſt

(Num. I.), noch der Entſtehungsort der Obligation durch

begleitende Umſtände geeignet erſcheint, zugleich als Erfül-

lungsort von den Parteien gedacht zu werden (Num. II. III.

IV.). Dahin wird alſo namentlich der von Ulpian an-

gegebene Fall zu zählen ſeyn, wenn ein Durchreiſender

während ſeines ganz vorübergehenden Aufenthaltes einen

Vertrag ſchließt (Note o). Fehlt es hier an jeder Andeu-

tung irgend eines beſtimmten Erfüllungsortes, ſo muß an-

genommen werden, daß der Wohnſitz des Schuldners, an

den er doch immer wieder zurückkehrt, als Erfüllungsort

gedacht worden iſt. Ein ſolcher Fall iſt alſo gerade ſo zu

beurtheilen, wie wenn der Vertrag nicht auf der Reiſe,

ſondern in dem eigenen Wohnſitz, von dem Schuldner ge-

ſchloſſen worden wäre (Num. III.).

Dieſer Fall wird am häufigſten in folgender Geſtalt

auftreten, die noch einer beſonderen Erwähnung wegen der

zweideutigen Natur des Inhalts der Obligation bedarf.

Wenn der Eigenthümer einer Fabrik oder Handlung um-

her reiſt oder ſeinen Diener reiſen läßt, um Beſtellungen zu

ſammeln, alſo Verträge über Lieferung von Waaren abzu-

ſchließen, ſo kann es zweifelhaft ſcheinen, worin eigentlich

der Inhalt der von ihm übernommenen Obligation beſteht,

und davon wird zugleich der Erfüllungsort abhängig ſein.

Die Lieferung iſt nämlich ein zuſammengeſetztes, Zeit er-

füllendes Geſchäft. Die Waare wird zuerſt vom Verkäu-

fer abgeſendet, bleibt dann einige Zeit auf dem Wege, und

 

|0247 : 225|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

kommt endlich in den Beſitz des Käufers. Dabei könnte man

als wahren Inhalt der Obligation denken entweder die Ab-

ſendung, ſo daß die Empfangnahme blos eine ſpätere Folge

der vollendeten Erfüllung wäre, oder aber die Empfang-

nahme, ſo daß die Abſendung blos als Vorbereitung der

wirklichen Erfüllung gelten könnte. Im erſten Fall würde

als Erfüllungsort der Wohnſitz des Verkäufers gedacht, im

zweiten Fall der Wohnſitz des Käufers. Welche dieſer bei-

den Anſichten iſt nun nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen

vorzuziehen? Ich halte die erſte für richtig, nach welcher

die eigentliche Erfüllung in der Abſendung beſteht, der Er-

füllungsort alſo an dem Wohnſitz des Verkäufers anzuneh-

men iſt. Dafür ſprechen, wie ich glaube, zwei Beſtimmun-

gen des Römiſchen Rechts. Erſtlich der Uebergang der

Gefahr des zufälligen Untergangs auf den Käufer vom Au-

genblick des geſchloſſenen Kaufs an, alſo noch ehe das Ei-

genthum durch Uebergabe erworben iſt (r). Zweitens die

allgemeinere Regel, nach welcher die verſprochene Uebergabe

einer beweglichen Sache nur an dem Orte gefordert werden

kann, wo gerade jetzt die Sache liegt (s). — Im Preußi-

ſchen Recht iſt dieſe Anſicht noch unzweifelhafter anerkannt.

Denn hier geht mit der Abſendung nicht blos die Gefahr,

(r) § 3 J. de emt. (3. 23).

(s) L. 12 § 1 depos. (16. 3).

Von dieſem Satze wird ſogleich

noch ausführlicher die Rede ſeyn.

In Verbindung mit demſelben be-

hauptet auch Thöl Handelsrecht

§ 78 Note 5. 6, die Uebergabe

einer Waare müſſe in der Regel

da erfolgen, wo der Verkäufer ſeine

gewöhnliche Waarenniederlage habe.

VIII. 15

|0248 : 226|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſondern ſelbſt ſchon das Eigenthum auf den Käufer über,

vorausgeſetzt, daß die Art der Abſendung durch den Käufer

entweder angeordnet war, oder durch unterlaſſenen Wider-

ſpruch genehmigt worden iſt (t).

Unter dieſelbe Kategorie glaube ich auch ſtellen zu

müſſen den Fall der L. 65 de judiciis (5. 1) von einer

Dos, über welche der künftige Ehegatte einen ſchriftlichen

Vertrag ſchließt außer ſeinem Wohnſitz (etwa im Wohnſitz

der Braut, oder ihres Vaters). Die Klage auf Rückgabe

der Dos, ſagt Ulpian, iſt künftig nicht anzuſtellen an dem

Ort des geſchloſſenen Dotalvertrags, ſondern an dem Wohn-

ſitz des Mannes. Denn dieſer iſt zugleich der Sitz der

Ehe, alſo der Aufenthalt der Dos, und von dieſem Orte

aus mußte daher die künftige Rückgabe der Dos erwartet

werden.

 

Der bequemeren Ueberſicht wegen will ich die hier aus-

führlich erörterten Regeln über den beſonderen Gerichtsſtand

der Obligation kurz zuſammenſtellen. Dieſer Gerichtsſtand

iſt in folgenden verſchiedenen Fällen als begründet anzu-

nehmen.

 

I. An dem Orte, welcher als Erfüllungsort durch den

Willen der Parteien beſonders feſtgeſtellt iſt; ohne

Unterſchied, ob dieſe Feſtſtellung bewirkt wird durch

(t) A. L. R. I. 11 § 128—133.

|0249 : 227|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

die wörtliche Bezeichnung irgend eines Ortes, oder

durch die Natur der durch die Obligation herbei

zu führenden Handlung, welche nur an einem ein-

zigen Orte möglich iſt.

II. In Ermangelung eines feſtgeſtellten Erfüllungsortes

kann der Gerichtsſtand dadurch begründet werden,

daß eine Obligation entſpringt aus der an einen

beſtimmten Ort gebundenen Geſchäftsführung des

Schuldners.

III. Der Gerichtsſtand wird ferner begründet durch den

Entſtehungsort der Obligation, wenn dieſer mit

dem Wohnſitz des Schuldners zuſammen fällt.

IV. Auch außer dem Wohnſitz des Schuldners kann

der Entſtehungsort der Obligation den Gerichts-

ſtand begründen, wenn durch die Umſtände die

Erwartung begründet wird, daß an demſelben

Orte auch die Erfüllung eintreten werde.

V. Wenn keine der angegebenen Vorausſetzungen vor-

handen iſt, ſo iſt der Gerichtsſtand der Obligation

an dem Wohnſitz des Schuldners.

Alle dieſe Fälle, ſo verſchiedenartig ſie ausſehen, und

ſo zufällig ihre Verbindung erſcheint, laſſen ſich doch auf

einen gemeinſamen Grundſatz zurück führen. Es iſt überall

der Erfüllungsort, welcher den beſonderen Gerichtsſtand

beſtimmt; entweder der ausdrücklich feſtgeſtellte (Num. I.),

oder der auf ſtillſchweigender Erwartung beruhende (Num.

II. — V.). In beiden Fällen iſt eine freie Unterwerfung

 

15*

|0250 : 228|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

des Beklagten unter dieſen Gerichtsſtand anzunehmen,

wenn nicht eine entgegengeſetzte ausdrückliche Erklärung

ihn ausſchließt.

Die hier vorgetragene Lehre iſt oben zuſammengeſtellt

worden mit einer anderen, theilweiſe ähnlichen, deren Prüfung

und Widerlegung nun noch nachgeholt werden muß

(S. 210). Dieſe andere Lehre lautet, auf eine conſequente

Spitze getrieben, alſo. Für jede Obligation läßt ſich ſtets

ein beſtimmter Ort angeben, an welchem ſie erfüllt werden

muß. Dieſer kann durch den Willen der Parteien feſtge-

ſtellt ſeyn; wo dieſe Feſtſtellung fehlt, da ſorgt das Geſetz

für einen beſtimmten Erfüllungsort. In beiden Fällen iſt

der Gerichtsſtand der Obligation an dieſem Erfüllungsort

begründet.

 

Dieſe ganze Lehre ſteht und fällt mit der Behauptung,

daß es für jede Obligation einen geſetzlichen Erfüllungs-

ort gebe; prüfen wir alſo vor Allem die Richtigkeit dieſer

Behauptung. Es ließe ſich etwa denken, daß geſetzlich be-

ſtimmt wäre, jede Obligation müſſe da erfüllt werden, wo

ſie entſtanden wäre; dann wäre das forum contractus im

buchſtäblichen Sinne dadurch begründet, daß der Ort des

geſchloſſenen Vertrags als Erfüllungsort vorgeſchrieben

wäre (u), und an innerem Zuſammenhang würde es dann

 

(u) So nahm es früher Linde (Archiv S. 61—63 S. 75), er

|0251 : 229|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

jener Lehre nicht fehlen. Allein weder dieſe, noch irgend

eine ähnliche Regel über den geſetzlichen Erfüllungsort iſt

wahr. Vielmehr lautet die wahre Regel ſo, daß in Er-

mangelung eines vertragsmäßigen Erfüllungsorts der

Schuldner erfüllen muß da, wo er gerade verklagt wird

(ubi petitur) (v), ſo daß es ganz in der Willkür des

Klägers ſteht, an welchem Ort er die Erfüllung erzwingen

will, natürlich vorausgeſetzt, daß er an dieſem Ort einen

Gerichtsſtand findet, welchen der Beklagte anzuerkennen

verpflichtet iſt. Anſtatt alſo daß nach jener Lehre der ge-

ſetzliche Erfüllungsort den Gerichtsſtand beſtimmen ſollte,

wird gerade umgekehrt der geſetzliche Erfüllungsort beſtimmt

durch jeden irgendwo begründeten Gerichtsſtand, ſobald nur

der Gläubiger beſchließt, des einen oder des anderen Ge-

richtsſtandes ſich zu bedienen. Nach Römiſchem Recht nun

war für jeden Schuldner ſowohl das forum originis be-

gründet, als das forum domicilii, welche beide ganz ver-

ſchieden ſeyn konnten; ja der Schuldner konnte in mehreren

Städten Bürger ſeyn, auch in mehreren Städten einen

wahren Wohnſitz haben. Dann hatte der Kläger freie

Wahl, an welchem unter dieſen vielen Orten er

klagen wollte, und wo er immer klagte, da war zugleich

wurde aber ſelbſt ſpäter irre an

dieſem Grundſatz (Abhandlungen II.

S. 111). Daß er ihn theilweiſe

beibehalten hat, wird ſogleich ge-

zeigt werden.

(v) L. 1 de ann. leg. (33. 1),

L. 38 de jud. (5. 1), L. 47 § 1

de leg. 1 (30. un.), L. 4 de cond.

trit. (13. 3), L. 22 de reb. cred.

(12. 1).

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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

der geſetzliche Erfüllungsort. So wird alſo durch jene

Lehre das wahre Sachverhältniß geradezu umgekehrt; denn

nach der wirklichen Lehre des Römiſchen Rechts iſt der Er-

füllungsort nicht das Beſtimmende für den Gerichtsſtand,

ſondern vielmehr das von dem Gerichtsſtand Abhängige.

Wäre nun die eben angegebene Regel des Römiſchen

Rechts allein vorhanden, ſo würde ein ſo handgreiflicher

Zirkel nicht verkannt worden ſeyn, und die erwähnte irrige

Lehre hätte ſchwerlich Vertheidiger gefunden. Allein jener

Regel iſt im Römiſchen Recht eine Beſchränkung hinzuge-

fügt worden, und dieſe Beſchränkung hat das ganze Miß-

verſtändniß verſchuldet. In vollſtändigem Zuſammenhang

ſteht nun die Sache alſo.

 

Allerdings kann in der Regel jeder Glaubiger die Er-

füllung einer Forderung an jedem Ort erzwingen, wo er einen

Gerichtsſtand des Schuldners findet. Wenn aber die Forderung

auf Uebergabe einer individuell beſtimmten beweglichen

Sache, einer certa species, gerichtet iſt, ſo tritt für den

Schuldner die Erleichterung ein, daß er ſich frei machen

kann durch die Uebergabe an dem Orte, wo ſich gerade jetzt

die Sache zufällig befindet, daß er ſie alſo nicht auf ſeine

Koſten und Gefahr an den Ort der Klage zu bringen ver-

pflichtet iſt. Nur verliert er dieſen Vortheil, wenn die

Sache nicht durch Zufall, ſondern durch ſeine unredliche

Handlung anderwärts iſt. Ferner gilt dieſe Erleichterung

nicht bei allen Schuldklagen, ſondern nur bei Klagen aus

 

|0253 : 231|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

bonae fidei Contracten (w), oder aus einem Teſtament auf

Entrichtung eines Legates (x); namentlich alſo nicht bei der

Condiction aus einer Stipulation (y). Dagegen gelten

dieſelben Sätze auch bei Klagen in rem, namentlich der Eigen-

thumsklage, und eben ſo bei der actio ad exhibendum,

welche beide arbiträre Klagen ſind (z).

Faßt man dieſe exceptionelle Vorſchrift ſo auf, wie es

hier geſchehen iſt, als eine bloße Begünſtigung des Schuld-

ners, auf Billigkeit gegründet, ſo iſt es einleuchtend, daß

ſie mit dem Erfüllungsort, und einem auf denſelben zu

gründenden Gerichtsſtand, gar Nichts zu ſchaffen hat; denn

dieſe ſind gerade umgekehrt bindend und beſchränkend für

den Schuldner. Die Richtigkeit meiner Auffaſſung aber

geht daraus hervor, daß durch den Dolus des Schuldners

die exceptionelle Maaßregel ausgeſchloſſen ſeyn ſoll, welches

nur Sinn hat, wenn dieſe Maaßregel als Begünſtigung des

Schuldners anzuſehen iſt. Daraus folgt aber, daß die

 

(w) L. 12 § 1 depos. (16. 3).

(x) L. 38 de jud. (5. 1), L. 47

pr. §. 1 de leg. 1 (30. un.). Es

kann auffallen, daß hier die per-

ſönliche Legatenklage mit den b. f.

actiones gleich geſtellt wird, da

ſie ſelbſt doch eine Condiction war

(S. o. B. 5 S. 540). Wahrſchein-

lich bezogen ſich jene Stellen ur-

ſprünglich blos auf das sinendi

modo legatum, in deſſen Begriff

dieſe Begünſtigung ſchon lag, und

das auch in anderen Beziehungen

von Julian den Fideicommiſſen

gleich, alſo ſehr frei, behandelt

wurde (Gajus II. § 280.). Mit

der hier vorliegenden Streitfrage

hat dieſes Bedenken gewiß keinen

Zuſammenhang.

(y) L. 137 § 4 de V. O. (45. 1)

„.. ut sie non multum referre

videatur, Ephesi daturum se,

an (quod Ephesi sit, cum

ipse Romae sit) dare spon-

deat …“

(z) L. 10. 11. 12 de rei vind.

(6. 1), L. 38 in f. de jud. (5. 1),

L. 11 §. 1 ad exhib. (10. 4).

|0254 : 232|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Vertheidiger der hier bekämpften Lehre im Irrthum ſind,

wenn ſie in dieſer Maaßregel einen geſetzlichen Erfüllungs-

ort ſehen, und darauf einen beſonderen Gerichtsſtand der

Obligation gründen wollen, nämlich eben an dem Orte, wo

die bewegliche Sache ſich zufällig befindet (aa). Vollends

dieſe letzte Folgerung (worauf hier Alles ankommt) iſt ſchon

deswegen durchaus verwerflich, weil darin ein forum rei

sitae für perſönliche Klagen liegen würde, das wohl Nie-

mand behaupten wird.

Die hier bekämpfte Meinung iſt noch durch folgenden

Umſtand unterſtützt worden. Bei Fideicommiſſen (womit

gewiß das fideicommissum hereditatis gemeint iſt) beſteht

die, auf billige Schonung des belaſteten Erben gegründete,

Vorſchrift, daß er ſie nur da zu entrichten braucht, wo der

größere Theil der Erbſchaft liegt. An dieſem Ort ſoll da-

für auch ein beſonderer Gerichtsſtand begründet ſein (bb).

Eine ähnliche billige Rückſicht ſoll auch gelten zum Vortheil

 

(aa) Linde Abhandlungen II.

S. 118. Albrecht S. 29—32.

Dieſer legt mit Unrecht Werth auf

ſolche Ausdrücke, wie: ibi dari

debet, ubi est in L. 38 de jud.

(5. 1). Nach dem ganzen Zu-

ſammenhang heißt das: „er iſt

nur ſchuldig, an dieſem Ort zu

übergeben“, wie die gleich darauf

folgende Ausnahme deutlich macht;

er braucht alſo nicht die Trans-

portkoſten daran zu wenden „nisi

dolo malo heredis subductum

fuerit, tunc enim ibi dari

debet, ubi petitur.“ — So

heißt es ja auch in L. 38 de jud.

(5. 1) „per in rem actionem

… ibi peti debet, ubi res

est.“ Und doch hat der Kläger

ſtets die Wahl zwiſchen dem forum

rei sitae und dem forum domi-

cilii. Bethmann Hollweg

S. 70.

(bb) L. 50 pr. de jud. (5. 1),

L. un. C. ubi fideicomm. (3. 17).

|0255 : 233|

§. 370. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

des Fideicommiſſarerben, welcher aus Erbſchaftsſchulden be-

langt wird (cc). Ganz irrig hat man dieſe, was den Ge-

richtsſtand betrifft, ſehr poſitive Vorſchriften in ſolche Ver-

bindung geſetzt mit der vorher erörterten Regel über die

Ablieferung beweglicher Sachen an dem Orte, wo ſie liegen,

daß man daraus auch bei dieſen einen beſonderen Gerichts-

ſtand hat ableiten wollen (dd). Noch weit irriger aber

war es, dieſe ſehr willkürliche Vorſchriften zur Unterſtützung

eines allgemeinen Rechtsgrundſatzes über den Gerichtsſtand

der Obligationen benutzen zu wollen. Die ganz poſitive

und vereinzelte Natur der erwähnten Vorſchriften ergiebt

ſich theils aus dem ſehr unbeſtimmten Begriff der major

pars hereditatis, der gewiß nicht auf die Ableitung aus

einer allgemeinen Rechtsregel hindeutet, theils aus der ge-

ſchichtlichen Entwickelung der Fideicommiſſe überhaupt, die,

geſchützt durch extraordinaria cognitio, ſtets einer viel freieren

und durchgreifenderen Einwirkung der Geſetzgebung unter-

worfen waren, als die Obligationen (ee).

§. 371.

III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand der Obligation.

(Fortſetzung).

Die hier aufgeſtellten Regeln über den beſonderen Ge-

richtsſtand der Obligation bedürfen noch einiger Ergänzun-

 

(cc) L. 66 § 4 ad Sc. Treb. (36. 1).

(dd) Albrecht S 20.

(ee) Vgl. Bethmann Hollweg S. 32—35. S. 48.

|0256 : 234|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

gen und näheren Beſtimmungen, die nunmehr hinzugefügt

werden ſollen.

Nach einer früher ſehr verbreiteten Meinung, die ſelbſt

dem Kunſtausdruck forum contractus zum Grunde liegt,

ſoll jener Gerichtsſtand in der Regel an dem Orte ange-

nommen werden, an welchem die obligatoriſche Handlung,

alſo der thatſächliche Entſtehungsgrund der Obligation, vor-

genommen worden iſt (§ 370). Dieſe Meinung mußte

zwar verworfen werden, indem nicht jene Handlung an ſich

ſelbſt, ſondern nur in Verbindung mit anderen, ihr zum

Grund liegenden und vorhergehenden Umſtänden, dazu geeig-

net iſt, einen ſolchen Gerichtsſtand zu begründen (S. 208).

Dennoch muß, auch nach dieſer umgebildeten Anſicht, der

obligatoriſchen Handlung noch immer ein wichtiger Einfluß

auf die Begründung jenes Gerichtsſtandes zugeſtanden wer-

den. Und ſo erſcheint uns auch jetzt noch die Frage von

Bedeutung: Wo iſt der wahre Ort einer obligatoriſchen

Handlung? oder mit anderen Worten: Wo entſteht eine

Obligation? Die Beantwortung dieſer Frage, die oft nicht

ohne Schwierigkeit iſt, ſoll hier nach den drei wichtigſten

Arten obligatoriſcher Handlungen verſucht werden: Ver-

träge, einſeitige erlaubte Handlungen, Delicte.

 

A. Verträge. Dieſe werden meiſt geſchloſſen in per-

ſönlicher Zuſammenkunft beider Parteien; dann iſt der Ort

dieſer Zuſammenkunft zugleich der Entſtehungsort der Obli-

gation. Es können aber folgende Abweichungen von dieſem

einfachſten und gewöhnlichſten Hergang eintreten.

 

|0257 : 235|

§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)

Zuerſt kann die Gültigkeit des Vertrags durch geſetzliche

Vorſchrift, oder auch durch den Willen der Parteien, abhän-

gig gemacht werden von der Beobachtung einer beſonderen

Form, etwa von ſchriftlicher, notarieller, gerichtlicher Ab-

faſſung. Dann iſt der Ort, an welchem dieſe Form vollen-

det wird, der wahre Ort des Vertrags, weil bis zu dieſer

Vollendung kein Theil gebunden iſt (a).

 

Weit häufiger und ſchwieriger aber iſt der Fall, wenn

ein Vertrag nicht in perſönlicher Zuſammenkunft beider

Theile geſchloſſen wird, ſondern durch einen Boten, durch

eine an verſchiedenen Orten von Beiden unterzeichnete Ur-

kunde, oder, welches das Häufigſte iſt, durch bloßen Brief-

wechſel. Hier iſt der wahre Ort des Vertrags ungemein

beſtritten. Für dieſen Fall entſtehen eigentlich drei, an ſich

verſchiedene, Fragen, die jedoch von den Meiſten vermiſcht

behandelt werden: Wo iſt der Vertrag geſchloſſen? Welcher

Ort gilt für den Gerichtsſtand? Welcher für das örtliche

Recht? Die erſte Frage beantworte ich unbedenklich dahin,

daß der Vertrag da geſchloſſen iſt, wo der erſte Brief em-

pfangen und von dem Empfänger die zuſtimmende Antwort

abgeſendet wird; denn an dieſem Ort iſt es zu einer über-

einſtimmenden Willenserklärung gekommen. Der Abſender

des erſten Briefes iſt demnach ſo zu betrachten, als ob er

ſich durch eine Reiſe zu dem Anderen hinbegeben, und deſſen

 

(a) L. 17 C. de fide instr. (4. 21). Vgl. Meier p. 58.

|0258 : 236|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Zuſtimmung eingeholt hätte (b). Dieſe Meinung iſt auch

von Mehreren angenommen worden (c). Manche aber

haben dabei folgendes Bedenken geltend gemacht. Der zu-

ſtimmende Brief, meinen ſie, könne ja vor der Ankunft wie-

der zurückgeholt oder durch einen Widerruf entkräftet wer-

den; daher ſey der Vertrag erſt vollendet an dem Orte, wo

der Abſender des erſten Briefes die Antwort empfangen,

alſo von der Zuſtimmung ein Bewußtſeyn erhalten habe (d).

Es iſt aber ganz verwerflich, den richtigen Grundſatz durch

die Rückſicht auf ſolche, ohnehin ſehr ſeltene, Fälle entkräf-

ten zu wollen. In den allermeiſten Fällen werden beide

Erklärungen abgegeben werden ohne ein ſolches Schwanken

der Entſchlüſſe, wo aber ein ſolches einmal vorkommt, da

kann die Frage nur durch Berückſichtigung der ſehr man-

nichfaltigen einzelnen Umſtände entſchieden werden, ſo daß

(b) Daſſelbe iſt alſo bei dem

Boten anzunehmen an dem Orte,

wo dieſem die Zuſtimmung ausge-

ſprochen wird; bei der doppelt

unterſchriebenen Urkunde an dem

Orte, wo die letzte Unterſchrift er-

folgt; bei einem Wechſel an jedem

Orte, an welchem Einer acceptirt

oder indoſſirt.

(c) Hommel obs. 409 N. 17.

18. Meier p. 59 (Beide bei Ge-

legenheit der Frage nach dem gel-

tenden örtlichen Recht). Wening

Archiv f. civ. Praxis B. 2

S. 267—271 (der zunächſt nur

von dem Zeitpunkt des vollen-

deten Vertrags, ſpricht jedoch ſo,

daß ſeine Entſcheidung zugleich

auf den Ort zu beziehen iſt).

Lauterbach de nuncio § 25

(Diss. T. 3 N. 107), wo zunächſt

von dem Boten die Rede iſt, dieſer

aber dem Briefe ganz gleich geſtellt

wird.

(d) Hert de commeatu lite-

rarum § 16—19 in Comment.

Vol. I p. 243. Haſſe Rhein.

Muſeum II. 371—382. Wächter

Archiv B. 19 S. 116. Etwas

zweideutig iſt I. Voet. V. 1 § 73.

|0259 : 237|

§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)

dann auch jene von den Gegnern aufgeſtellte ſehr willkür-

liche Regel keinesweges ausreicht (e).

Ich gehe nun zu der zweiten Frage über: Wo iſt der

Gerichtsſtand der Obligation bei einem durch Briefwechſel

geſchloſſenen Vertrage? Man möchte, nach der eben aufge-

ſtellten Behauptung, glauben, an dem Orte, wo der erſte

Brief empfangen und zuſtimmend beantwortet wurde. Die-

ſes muß aber entſchieden verneint werden (f). Denn der

Abſender des erſten Briefes kann doch höchſtens verglichen

werden mit einem Durchreiſenden, gewiß nicht mit Einem,

der einen bleibenden Aufenthalt an dem Wohnſitz des Geg-

ners aufgeſchlagen hat; alſo hat er ſich auch nicht dem Ge-

richtsſtand dieſes Ortes unterwerfen wollen (§ 370. o).

Vielmehr iſt für jede der beiden Parteien der durch Brief-

wechſel geſchloſſene Vertrag zu betrachten als an ihrem

Wohnſitz geſchloſſen, und hier muß ſie den beſonderen Ge-

richtsſtand der Obligation für ſich anerkennen (§ 370 Nr. V.)

Iſt aber in dem Vertrag ein beſtimmter Erfüllungsort an-

gegeben, ſo wird durch dieſen zugleich der Gerichtsſtand

der Obligation begründet. — Das eigenthümliche Bedürf-

niß des Wechſelgeſchäfts (Note b) kann ſtarke Modifica-

tionen dieſer Grundſätze über den Gerichtsſtand rechtferti-

gen. So iſt denn auch in der Preußiſchen Einführungs-

 

(e) Wening a. a. O. macht

dafür praktiſche Vorſchläge. Die

für eine andere, aber verwandte,

Frage gegebenen Vorſchriften des

A. L. R. I. 5 § 90 fg. könnten

dabei benutzt werden.

(f) So erklärt ſich auch Müh-

lenbruch S. 348. 351.

|0260 : 238|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ordnung zur neueſten Deutſchen Wechſelordnung (g) vorge-

ſchrieben worden, daß nicht blos der Zahlungsort und der

Wohnſitz den Gerichtsſtand begründe, ſondern daß an den

Ort der einmal angeſtellten Wechſelklage auch andere Wech-

ſelſchuldner herangezogen werden können.

Die dritte Frage, wegen des bei einem Vertrag durch

Briefwechſel geltenden örtlichen Rechts, kann erſt weiter un-

ten (§ 373) beantwortet werden.

 

B. Einſeitige erlaubte Handlungen.

 

Daß dieſe hier ganz auf gleiche Weiſe wie Verträge zu

beachten ſind, iſt in unſeren Rechtsquellen klar ausge-

ſprochen (h); auch iſt von dieſem Satz ſchon oben Anwen-

dung gemacht worden auf die wichtigen Obligationen, die

aus einer Geſchäftsführung u. ſ. w. entſtehen (§ 370 Nr. II.).

Nur Ein Fall bedarf jedoch noch einer beſonderen Er-

wähnung.

 

Der Erbe, der eine Erbſchaft antritt, übernimmt dadurch

Obligationen verſchiedener Art, insbeſondere gegen die Erb-

ſchaftsglaubiger und gegen die Legatare. Dieſe Obliga-

tionen werden in unſern Rechtsquellen als contractähn-

liche bezeichnet (i). Daher haben mehrere neuere Schrift-

 

(g) § 5, ſ. Geſetzſamml. 1849.

S. 50.

(h) L. 20 de jud. (5. 1)

„Omnem obligationem pro

contractu habendam, existi-

mandum est …“, ohne Zweifel

mit Hinſicht auf den Gerichtsſtand

ſo ausgeſprochen.

(i) §. 5 J. de obl. quasi ex

contr. (3. 27), L. 3 § 3, L. 4

quib. ex caus. (42. 4), L. 5 § 2

de O. et A. (44. 7), L. 19 pr.

de R. J. (50. 17).

|0261 : 239|

§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)

ſteller für einen ſolchen Fall ein forum contractus ange-

nommen, und zwar bald an dem Ort, wo der Antritt der

Erbſchaft erklärt worden ſey, bald an dem, wo die Erbſchaft

liege, oder am Wohnſitz des Verſtorbenen (k). Dieſe

Meinung aber iſt zu verwerfen, und es iſt ein ſolcher Ge-

richtsſtand nicht anzunehmen. Nur ausnahmsweiſe, durch

ganz poſitive Vorſchrift, iſt ein ſolcher Gerichtsſtand be-

gründet für Fideicommiſſe, und zwar an dem Orte, wo der

größte Theil der Erbſchaft liegt (l). Der oben erwähnte

Ausdruck der Rechtsquellen bezieht ſich nur auf den per-

ſönlichen Eintritt des Erben in das obligatoriſche Verhält-

niß zu Glaubigern und Legataren, nicht auf deſſen eigent-

liche Entſtehung und juriſtiſche Beſchaffenheit.

C. Delicte.

 

Der durch ein Delict begründete beſondere Gerichtsſtand

iſt dem älteren Römiſchen Recht fremd, und erſt in der

Kaiſerzeit entſtanden (m). Dann aber hat er eine ſo all-

gemeine Anerkennung gefunden, daß er nunmehr auch in

Geſetzen auf gleiche Linie mit dem forum domicilii, con-

tractus, rei sitae geſtellt wird (n). — Es würde aber un-

richtig ſeyn, dieſen Gerichtsſtand als eine einzelne Anwen-

dung des Gerichtsſtandes der Obligation, des ſ. g. forum

 

(k) Linde Abhandlung B. 2

S. 101 — 109, Mühlenbruch

S. 379—382.

(l) Bethmann Hollweg

Verſuche S. 32—35. S. 48. Vgl.

oben § 370 am Ende des §.

(m) Bethmann Hollweg

Verſuche S. 29. 52.

(n) Nov. 69 C. 1. — C. 20.

X. de foro comp. (2. 2).

|0262 : 240|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

contractus, zu betrachten (o). Denn das forum delicti

entſteht nicht durch eine präſumtive freiwillige Unterwer-

fung, und daher gelten für daſſelbe auch nicht die Be-

ſchränkungen, welche oben für den Gerichtsſtand der Obli-

gation aufgeſtellt worden ſind (§ 370). Zur Begründung

dieſes Gerichtsſtandes iſt weder Wohnſitz, noch irgend ein

anderer hinzutretender äußerer Umſtand, erforderlich, viel-

mehr entſteht derſelbe aus der Verübung des Delicts an

ſich, auch bei einem ganz zufälligen und vorübergehenden

Aufenthalt. — Es hat demnach dieſer Gerichtsſtand eine

ganz eigenthümliche Natur, indem er begründet wird nicht

durch freiwillige, ſondern durch nothwendige Unterwerfung;

dieſe aber iſt eine unmittelbare Folge der Rechtsverletzung,

deren ſich der Thäter ſchuldig gemacht hat. — Der Ge-

richtsſtand aus dem Delict iſt übrigens eben ſo wenig aus-

ſchließend, als der aus dem Contract, vielmehr hat der

Kläger ſtets die Wahl zwiſchen dieſem beſonderen und dem

allgemeinen, auf den Wohnſitz des Schuldners gegründeten

Gerichtsſtand. Dieſes liegt ſchon in der wörtlichen Er-

wähnung jenes Gerichtsſtandes in den angeführten Ge-

ſetzen (Note n); noch mehr aber folgt es daraus, daß der-

ſelbe ganz gewiß nicht zum Vortheil des Beklagten, ſondern

vielmehr des Klägers, eingeführt iſt (o¹).

(o) In der angeführten Stelle

des canoniſchen Rechts werden

beide auch wörtlich unterſchieden

und einander coordinirt.

(o¹) Linde Lehrbuch des Pro-

zeſſes § 93 Note 10.

|0263 : 241|

§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)

Man hat die Frage aufgeworfen, ob der Gerichtsſtand

der Obligation blos begründet ſey für die Klagen, die zur

natürlichen Entwickelung der Obligation gehören, alſo zur

Erfüllung derſelben führen, oder vielmehr auch für die, welche

die umgekehrte Richtung haben, indem ſie die Auflöſung der

Obligation bezwecken, oder Das rückgängig machen wollen,

welches in Erfüllung der Obligation ſchon geſchehen iſt.

Hier muß nun in der Regel die erſte, beſchränktere Anwen-

dung jenes Gerichtsſtandes behauptet werden (p). Die

zweite, ausgedehntere Anwendung des Gerichtsſtandes kann

nur ausnahmsweiſe in den ſeltneren Fällen eintreten, in

welchen die Auflöſung der Obligation mit der Entſtehung

derſelben einen gemeinſchaftlichen Urſprung hat, alſo wenn die

Auflöſung einer durch Vertrag gegründeten Obligation ab-

geleitet wird aus einem dieſem Vertrag hinzugefügten

Nebenvertrag (q).

 

Der beſondere Gerichtsſtand der Obligation ſchließt den

allgemeinen, aus dem Wohnſitz entſpringenden, Gerichts-

ſtand nicht aus, vielmehr hat der Kläger freie Wahl, an

dem einen oder dem andern eine Klage anzuſtellen (r).

 

(p) L. 2 C. ubi et apud quem

(2. 47).

(q) Glück B. 6 S. 301—303.

Unbedingt wird dieſe Anwendung

des Gerichtsſtandes verneint von

Linde Archiv B. 7 S. 67—69.

(r) L. 19 § 4 de jud. (5. 1),

(wo geleſen werden muß: habeat

VIII. 16

|0264 : 242|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Manche haben mit Unrecht dieſes Wahlrecht auf den Fall

einſchränken wollen, wenn der Gerichtsſtand durch einen

beſonders verabredeten Ort der Erfüllung begründet ſey.

Das Wahlrecht gilt vielmehr in der That auch, wenn der

Gerichtsſtand ſich gründet auf den Vertrag an ſich (ohne

Erfüllungsort) (s), oder aber auf eine geführte Verwal-

tung (t).

Gerade umgekehrt mußte für den Fall eines durch Sti-

pulation beſtimmten Erfüllungsortes urſprünglich behauptet

werden, daß nur an dieſem Ort geklagt werden könne,

indem der Glaubiger durch den beſonderen Inhalt dieſer

Stipulation darauf verzichtet hatte, den allgemeinen perſön-

lichen Gerichtsſtand ſeines Schuldners für die Klage zu be-

 

anſtatt habuit, ſ. Hollweg

S. 46), L. 1. 2. 3 de reb. auct.

jud. (42. 5), L. un C. ubi conv.

(3. 18) C. 17 X. de foro comp.

(2. 2). — Nach Römiſchem Recht

konnte der Kläger auch noch in

dem forum originis klagen (§ 355).

(s) L. 2 C. de jurisdict.

(3. 13). In den Worten: ubi

domieilium reus habet“ liegt

der Accent nicht auf domicilium,

ſondern auf reus. Es ſoll alſo

geſagt werden, des Beklagten

Wohnfitz (nicht des Klägers) be-

ſtimme den Gerichtsſtand; das

zeigen die Anfangsworte der Stelle.

Damit ſoll aber dem Kläger nicht

benommen ſeyn, das forum con-

tractus vorzuziehen, wo ein ſolches

begründet iſt.

(t) Das ſ. g. forum gestae

administrationis hat überhaupt

keine eigenthümliche Natur (§ 370.

II.). Auch wird das Wahlrecht

ausdrücklich anerkannt im Fall

des Argentarius. L. 4 § 5 de ed.

(2. 13). Und gerade für dieſen Fall

hat man es verneinen wollen wegen

L. 45 pr. de jud. (5. 1). Allein

hier heißt „conveniri oportet“:

er muß ſich gefallen laſſen, daß

er verklagt werde. Die richtige

Meinung haben: Struben Be-

denken III. 96. Gönner Hand-

buch B. 1 Abh. X I; die irrige

Meinung: Leyser 73. 8, Weber

Beiträge B. 2 S. 35, Linde

Archiv B. 7 S. 73.

|0265 : 243|

§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)

nutzen. Weil aber dieſes zu einer völligen Verſagung des

Rechtsſchutzes führen konnte, wenn etwa der Schuldner die

Vorſicht gebrauchte, an dem bedungenen Erfüllungsorte nicht

zu erſcheinen, ſo wurde eine beſondere Klage eingeführt, die

nun auch an dem perſönlichen Gerichtsſtand angeſtellt wer-

den konnte, nur mit Berückſichtigung des vielleicht verſchie-

denen örtlichen Intereſſe der Leiſtung (u). Durch dieſe

Klage iſt alſo ſelbſt für ſolche Fälle das Wahlrecht des

Klägers begründet worden.

Dagegen iſt es nicht zu rechtfertigen, wenn Manche

auch ein Wahlrecht des Klägers annehmen wollen zwiſchen

dem auf ausdrückliche und dem auf ſtillſchweigende Verabre-

dung eines Erfüllungsortes gegründeten Gerichtsſtande (v);

denn die Annahme einer ſolchen ſtillſchweigenden Verabredung

wird durch das Daſeyn einer ausdrücklichen ſtets aus-

geſchloſſen.

 

 

(u) L. 1 de eo quod certo

loco (13. 4). „Alio loco, quam

in quem sibi dari quisque sti-

pulatus esset, non videbatur

agendi facultas competere. Sed

quia iniquum erat, si promis-

sor ad eum locum, in quem

daturum se promisisset, nun-

quam accederet, quod vel data

opera faceret, vel quia aliis

locis necessario distringeretur,

non posse stipulatorem ad

suum pervenire, ideo visum

est, utilem actionem in eam

rem comparare“ Was hier von

der Stipulation geſagt iſt, gilt

eben ſo von jeder anderen mit

einem beſtimmten Erfüllungsort

verſehenen Obligation, ſobald dieſe

eine Condiction erzengt (wie Dar-

lehen und Legat), nur nicht von

den b. f. obligationes, wobei die

Contractsklage ſelbſt ſchon aus-

reichte. L. 7 eod.

(v) So daß alſo der Kläger

bald an dem bedungenen Er-

füllungsort, bald an dem Ort des

geſchloſſenen Vertrages, nach Be-

lieben ein forum contractus gel-

tend machen könnte (§ 370).

16*

|0266 : 244|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Der beſondere Gerichtsſtand der Obligation kann nur

geltend gemacht werden, wenn der Schuldner in dieſem Ge-

richtsſprengel entweder perſönlich anweſend iſt, oder

Vermögensſtücke beſitzt, in welchem letzten Fall durch missio

in possessionem der Zwang gegen ihn durchgeführt wird.

Dieſe alternative Bedingung iſt nach dem älteren Römi-

ſchen Recht unzweifelhaft (w). Nach einem Geſetz von

Juſtinian könnte man dieſelbe für aufgehoben anſehen (x).

Allein dieſes Geſetz iſt ſo allgemein und unbeſtimmt gefaßt,

und wirft ſo ſehr die verſchiedenen Gerichtsſtände ohne Un-

terſcheidung durch einander, daß die Abſicht, das frühere

Recht zu verändern, daraus nicht mit Sicherheit entnom-

men werden kann. Daher hat denn auch eine Decretale

darauf keine Rückſicht genommen, ſich vielmehr ganz an

das frühere Römiſche Recht, und ſelbſt an die Ausdrücke

deſſelben, angeſchloſſen (y). Die überwiegende Praxis der

neueren Zeit iſt dieſer Meinung beigetreten (z), ſo daß

 

(w) L. 1 de eo qui certo

loco (Note u) „.. si nunquam ac-

cederet“. L. 19 pr. de jud.

(5. 1) „si ibi inveniatur“. § 1

eod. „si non defendat … bona

possideri patietur“. Aehnlich

lautet die Beſtimmung für das

forum rei sitae in L. 2 C. ubi

in rem (3. 19).

(x) Nov. 69 C. 1. 2.

(y) C. 1 § 3 de foro comp.

in VI. (2. 2) „… nisi inve-

niantur ibidem (vgl. Note w)

trahere coram se non debent

invitos, licet in possessionem

bonorum, quae ibi habent,

… possint missionem facere“.

Von Mehreren wird dieſe Stelle

ſehr gezwungen ſo ausgelegt, der

Richter ſolle den Abweſenden nicht

durch eigene Gewalt (ſondern nur

durch Requiſition ſeines Richters)

zwingen. Cocceji jus controv. V.

1 qu. 15. Glück VI. S. 304.

Linde Archiv VII. S. 69. 70.

(z) Dieſe überwiegende Praxis

|0267 : 245|

§. 371. III. Obligationenrecht. Gerichtsſtand ꝛc. (Fortſ.)

alſo der Gerichtsſtand der Obligation gegen einen Abwe-

ſenden durch bloße Requiſition eines fremden Gerichts nicht

geltend gemacht werden kann. — Es iſt nicht zu verkennen,

daß durch dieſe beſchränkende Bedingung der beſondere Ge-

richtsſtand der Obligation einen großen Theil ſeiner Wich-

tigkeit verliert.

In neueren Geſetzgebungen hat der Gerichtsſtand der

Obligation, wie zu erwarten war, diejenige Geſtalt ange-

nommen, die zur Zeit ihrer Abfaſſung unter den Schrift-

ſtellern herrſchend war, alſo theilweiſe nicht in Ueberein-

ſtimmung mit dem wirklichen Römiſchen Recht, dem man

ſich doch anzuſchließen glaubte. So ſetzt das Preußiſche

Recht jenen Gerichtsſtand zunächſt an den Ort der verab-

redeten Erfüllung, und, wo ein ſolcher nicht vorhanden iſt,

an den Ort des geſchloſſenen Vertrags (aa), ohne

Rückſicht auf die beſchränkenden Bedingungen, unter welchen

allein das Römiſche Recht den Ort des geſchloſſenen Ver-

trags als entſcheidend anſieht. Das Wahlrecht des Klä-

gers wird auch hier anerkannt, und zugleich wird der Be-

klagte, im Sinn der neueren Praxis (Note z), nur dann

 

wird ſelbſt von den Gegnern ein-

geräumt. Cocceji l. c. Glück VI

S. 304—306. Linde S. 69.

(aa) Allg. Ger. Ordn. I. 2

§ 148—152. Eben ſo iſt dieſer

Gerichtsſtand anerkannt in Ver-

trägen mit vielen Nachbarſtaaten,

z. B. Weimar 1824 Art. 29, Ge-

ſetzſammlung 1824 S. 153.

|0268 : 246|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

an dieſen Gerichtsſtand gebunden, wenn er ſich an einem

ſolchen Orte antreffen läßt.

§. 372.

III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.

Die Lehre vom Gerichtsſtande der Obligation iſt bisher

deshalb ſo genau in ihren Einzelheiten dargeſtellt worden

(§ 370. 371), weil ſie allein einen ſicheren Halt gewährt

für die Frage nach dem bei den Obligationen anwendbaren

örtlichen Recht, für welche Frage es an quellenmäßigen

Beſtimmungen des Römiſchen Rechts eigentlich ganz fehlt.

Gerade hier iſt der innere Zuſammenhang zwiſchen dem

Gerichtsſtand und dem örtlichen Recht eben ſo ergiebig und

fruchtbar, als wohl begründet, indem dieſelbe präſumtive

Unterwerfung, welche den Sitz der Obligation und mit ihm

den Gerichtsſtand beſtimmt, auch für das anwendbare ört-

liche Recht als beſtimmend anerkannt werden muß (a).

 

Ich nehme die ganze Reihe praktiſcher Regeln, wie ſie

oben für den Gerichtsſtand aufgeſtellt worden ſind, ohne

Bedenken zugleich als maaßgebend für das anwendbare

örtliche Recht an (§ 370). Daſſelbe iſt alſo, je nach

Verſchiedenheit der Fälle, auf folgende Orte zurück zu

führen (S. 226. 227).

 

(a) Auch Eichhorn deutſches

Recht § 37 b wendet die von dem

Gerichtsſtand redenden Stellen des

Römiſchen Rechts unmittelbar auf

das örtliche Recht an.

|0269 : 247|

§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.

I. Wenn die Obligation einen feſt beſtimmten Erfül-

lungsort hat: auf dieſen Erfüllungsort.

II. Wenn die Obligation hervorgegangen iſt aus einer

fortlaufenden Geſchäftsführung des Schuldners: auf

den Ort, an welchem dieſe Geſchäftsführung ihren

bleibenden Sitz hat.

III. Wenn die Obligation aus einer einzelnen Handlung

des Schuldners an deſſen Wohnſitz entſtanden iſt:

auf den Ort dieſer Handlung, ſo daß die ſpätere

Aenderung des Wohnſitzes hierin Nichts ändert.

IV. Wenn die Obligation aus einer einzelnen Handlung

des Schuldners außer deſſen Wohnſitz, aber unter

ſolchen Umſtänden entſtanden iſt, welche eben-

daſelbſt die Erfüllung erwarten laſſen: auf den Ort

dieſer Handlung.

V. Wenn keine dieſer Vorausſetzungen vorhanden iſt,

auf den Wohnſitz des Schuldners (b).

(b) Es könnte ſcheinen, als

wollte ich mich hier anſchließen an

den oben verworfenen Grundſatz

(§ 361. g), nach welchem das ört-

liche Recht des Wohnſitzes ſubſi-

diäre Gültigkeit haben ſollte für

alle Fälle, in welchen nicht ein

anderes örtliches Recht beſonders

nachgewieſen werden kann. Dieſes

iſt aber nicht der Fall. Denn auf

das Recht des Wohnſitzes wird

hier zurück gegangen, nicht weil

kein anderes Recht begründet

werden kann, ſondern weil in

dieſem Fall die Parteien die Er-

füllung der Obligation an dem

Wohnſitz des Schuldners, natür-

licher als an jedem anderen Ort,

zu erwarten haben. Dieſer Grund

aber, der blos eine einzelne An-

wendung der allgemeinen Regel

über den Sitz der Obligation iſt,

paßt für den Gerichtsſtand (§ 370

Num. V.) nicht mehr und nicht

weniger, als für das örtliche Recht.

|0270 : 248|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Inſofern alſo fällt die Beſtimmung des örtlichen Rechts

ganz zuſammen mit der Beſtimmung des Gerichtsſtandes.

Nur darin iſt ein wichtiger Unterſchied wahrzunehmen, daß

neben dem beſonderen Gerichtsſtand der Obligation auch

noch der allgemeine Gerichtsſtand des Wohnſitzes wirkſam

bleibt, mit freiem Wahlrecht des Klägers; anſtatt daß das

anwendbare örtliche Recht einem ſolchen einſeitigen Wahl-

recht nicht unterworfen ſeyn kann, ſondern ausſchließend

durch den feſt beſtimmten Erfüllungsort, in deſſen Erman-

gelung durch den Ort der Entſtehung der Obligation, oder

durch den Wohnſitz des Schuldners, je nach Verſchieden-

heit der Fälle, beſtimmt werden muß.

 

Die Ableitung der hier aufgeſtellten Regeln aus der

vermutheten freiwilligen Unterwerfung des Schuldners un-

ter ein beſtimmtes örtliches Recht hat einige wichtige prak-

tiſche Folgen, die hier zuſammengeſtellt werden ſollen.

 

A. Dieſes örtliche Recht tritt zurück, wenn es in

Widerſpruch ſteht mit einer am Ort des urtheilenden Rich-

ters geltenden zwingenden, ſtreng poſitiven Rechtsregel

(§ 349), indem in ſolchen Fällen der freie Wille der

Parteien überhaupt keinen Einfluß haben kann (b¹).

 

B. Das angegebene örtliche Recht tritt gleichfalls

zurück, wenn die Vermuthung der freiwilligen Unterwerfung

 

(b¹) Vgl. Wächter II. S. 397—405. Foelix p. 145.

|0271 : 249|

§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.

ausgeſchloſſen wird durch eine ausdrückliche abweichende

Willenserklärung (c).

C. Von manchen Seiten iſt behauptet worden, daß

unter mehreren an ſich denkbaren örtlichen Rechten dasje-

nige jedesmal angewendet werden müſſe, nach welchem das

vorliegende Rechtsgeſchäft am beſten aufrecht erhalten wer-

den könne (d). Aus dem beſtehenden Recht läßt ſich dieſer

Satz in ſolcher Allgemeinheit wohl nicht begründen, dage-

gen könnte man darauf kommen, ihn als neues poſitives

Geſetz aufzuſtellen (e). Allein in folgendem Sinn läßt ſich

der Satz dennoch vertheidigen. Wenn die Anwendung der

oben aufgeſtellten Regeln dahin führen würde, den Vertrag

einem örtlichen Recht (etwa des Erfüllungsortes) zu unter-

werfen, nach welchem er ungültig ſeyn würde, anſtatt daß

er nach dem Rechte des Wohnſitzes gültig wäre, ſo iſt ge-

wiß nicht zu vermuthen, daß ſich die Parteien einem ört-

lichen Recht haben unterwerfen wollen, das mit ihrer Abſicht

völlig im Widerſpruch ſtände (e¹).

 

(c) L. 19 § 2 de jud. (5. 1)

„.. nisi alio loci, ut defen-

deret, convenit ..“. Was hier

von dem Gerichtsſtand geſagt wird,

muß eben ſo von dem örtlichen

Recht gelten, ſoweit deſſen Be-

ſtimmungen durch Privatwillkür

abgeändert werden können. Vgl.

oben § 369. b. und § 370.

(d) Eichhorn deutſches Recht

§ 37. Noten f. g.

(e) Für einen einzelnen Fall

iſt er im Preußiſchen A. L. R. auf-

geſtellt (I. 5 § 113), nämlich für

den Fall verſchiedener geſetzlicher

Formen bei einem durch Brief-

wechſel geſchloſſenen Vertrage.

(e¹) So aufgefaßt, ſtimmt der

Satz ganz überein mit einer be-

kannten Auslegungsregel bei zwei-

deutig gefaßten Rechtsgeſchäften.

L. 12 de reb. dub. (34. 5).

|0272 : 250|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Wenngleich nun durch die hier aufgeſtellten Regeln der

Sitz der Obligation, und mit dieſem zugleich das örtliche

Recht derſelben, im Ganzen ſicher beſtimmt ſeyn meg, ſo

ſoll damit doch nicht behauptet werden, daß alle bei Gele-

genheit einer Obligation möglicherweiſe eintretende Rechts-

fragen eben nur nach dieſem örtlichen Rechte zu entſcheiden

ſeyn möchten. Dazu iſt eine tiefer eingehende Erwägung

ſolcher Rechtsfragen in ihrem vollſtändigen Zuſammenhang

nöthig, die der Fortſetzung dieſer Unterſuchung (§ 374)

vorbehalten bleiben muß (f).

 

Von der hier aufgeſtellten Lehre über das bei den Obli-

gationen anwendbare örtliche Recht weichen die Mei-

nungen unſerer Schriftſteller in folgenden zwei Haupt-

punkten ab.

 

Erſtlich knüpfen faſt Alle das anwendbare örtliche Recht

an den Ort der obligatoriſchen Handlung an ſich, ohne

zugleich die im Römiſchen Recht hinzugefügten beſonderen

Vorausſetzungen zu berückſichtigen (§ 370), obgleich doch

im Allgemeinen die Meiſten auf dem Boden des Römiſchen

Rechts zu ſtehen vermeinen. Dieſes iſt aber um ſo mehr

zu mißbilligen, als die erwähnten Vorausſetzungen des Rö-

 

(f) Auf die verſchiedenartige

Beurtheilung ſolcher einzelnen

Rechtsfragen haben ſchon hinge-

wieſen: Leyser 73. 3, Foelix

p. 142—145. Dieſe Schriftſteller

kann ich daher nicht als meine

Gegner in der Aufſtellung des

Grundſatzes anſehen; es wird

darauf ankommen, bei den einzelnen

Rechtsfragen ſich mit einander zu

verſtändigen. Ein ähnliches Ver-

fahren iſt ſchon oben in der

Lehre vom Eigenthum eingeſchla-

gen worden (§ 367).

|0273 : 251|

§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.

miſchen Rechts, wodurch die Sache eine andere Geſtalt

gewinnt, nicht auf willkürlichen poſitiven Vorſchriften

beruhen, ſondern vielmehr auf der in der Natur der

Sache beruhenden Erwägung, in welchen Fällen eine frei-

willige Unterwerfung unter ein beſtimmtes örtliches Recht

mit Wahrſcheinlichkeit angenommen werden kann oder nicht.

Zweitens findet ſich ein ſehr häufiger Widerſpruch gegen

die hier angenommene Meinung, nach welcher vorzugsweiſe

ein verabredeter Erfüllungsort zugleich das anwendbare

örtliche Recht beſtimmen ſoll. Hierin ſind jedoch die Mei-

nungen ſehr getheilt. Ein Theil der Schriftſteller, und

zwar der größere Theil, ſtimmt mit der hier vorgetragenen

Lehre überein (g). Ein anderer Theil dagegen behauptet,

das örtliche Recht dürfe lediglich nach dem Ort der obliga-

toriſchen Handlung beſtimmt werden; der verabredete Er-

füllungsort habe darauf gar keinen Einfluß, indem die von

dieſem redenden Stellen des Römiſchen Rechts lediglich auf

den Gerichtsſtand, gar nicht auf das örtliche Recht, zu be-

ziehen ſeyen (h).

 

Bei dieſer Streitfrage kommt es auf die Erklärung der

hier einſchlagenden Stellen des Römiſchen Rechts an, die

ich, der leichteren Ueberſicht wegen, voranſtelle.

 

(g) Christinaeus Vol. I.

Dec. 283 N 8. 11. P. Voet.

Sect. 9 C. 2 § 12. 15. Mühlen-

bruch doctr. Pand. § 73. not. 17.

Foelix p. 142—145. Story

§ 280. 299.

(h) Hert. § 10 ampl. 2.

Meier p. 57. 58. Wächter II.

S. 41—47.

|0274 : 252|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

1. L. 6 de evict. (21. 2.) „Si fundus venierit,

ex consuetudine ejus regionis, in qua negotium

gestum est, pro evictione caveri oportet.”

2. L. 21 de oblig. et act. (44. 7.) „Contraxisse

unusquisque in eo loco intelligitur, in quo, ut

solveret, se obligavit.”

3. L. 1. 2. 3. de reb. auct. jud. (42. 5.) „Venire

bona ibi oportet, ubi quisque defendi debet, id

est — ubi domicilium habet — aut ubi quisque

contraxerit. Contractum autem non utique eo

loco intelligitur, quo negotium gestum sit, sed

quo solvenda est pecunia.”

Dieſe Stellen werden von den Gegnern auf folgende

Weiſe erklärt. Die erſte Stelle, ſagen ſie, ſpreche allein

vom örtlichen Recht, und wolle bei dieſem ausſchließend

den Ort beachtet wiſſen, an welchem die obligatoriſche Hand-

lung vorgenommen worden ſey (in qua negotium gestum

est), wodurch alſo die Beachtung des Erfüllungsortes ver-

neint werde. Die zweite und dritte Stelle dagegen ſollen

lediglich von dem Gerichtsſtand reden, nicht von dem ört-

lichen Recht; für den Gerichtsſtand aber fordern ſie die

Beachtung des Contractsorts, und als Contractsort bezeich-

nen ſie nicht den Ort der obligatoriſchen Handlung, ſon-

dern den der Erfüllung. So werden, ſagen ſie, in dieſen

Stellen der Gerichtsſtand und das örtliche Recht ſcharf un-

terſchieden, und nach entgegengeſetzten Regeln behandelt.

 

|0275 : 253|

§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.

Dieſe Erklärung hat Schein, aber keine Wahrheit.

Allerdings ſpricht die dritte Stelle von dem Gerichtsſtand,

nicht von dem örtlichen Recht; die zweite aber redet ſo

allgemein, daß ſie eben ſo gut auf das Eine, wie auf das

Andere, anzuwenden iſt. Sind nun die oben aufgeſtellten

Gründe für den inneren Zuſammenhang des örtlichen Rechts

mit dem Gerichtsſtand überzeugend, ſo muß eine praktiſche

Verſchiedenheit in der Behandlung beider Fragen ſo lange

verneint werden, als nicht beſtimmte Zeugniſſe für dieſe

Verſchiedenheit aufgewieſen werden können; dieſe eben ſollen

in den oben angegebenen Stellen liegen, und es wird jetzt

hauptſächlich darauf ankommen, durch die Erklärung der

erſten Stelle zu zeigen, daß dieſe den praktiſchen Gegenſatz

gegen die zwei anderen Stellen, den man darin finden will,

in der That nicht enthält.

 

Von der erſten Stelle nun, der L. 6 de evict., iſt ſchon

oben bemerkt worden, daß ſie eigentlich gar nicht von dem

anzuwendenden örtlichen Recht ſpricht, ſondern von that-

ſächlichen Gewohnheiten, die gar nicht Rechtsregeln begrün-

den (§ 356. i. k.). Indeſſen können wir über dieſes Be-

denken hinweggehen, und einen indirecten Gebrauch dieſer

Stelle für unſere Frage willig einräumen. Denn dieſelbe

Wahrſcheinlichkeit, die dafür ſpricht, daß die Parteien ge-

wiſſe factiſche Gewohnheiten des Orts ſtillſchweigend be-

folgen wollten, läßt ſich auch geltend machen für ihre frei-

willige Unterwerfung unter das örtliche Recht deſſelben

Orts. Wir wollen alſo die Stelle ganz ſo behandeln, als

 

|0276 : 254|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ob ſie über das örtliche Recht entſcheiden wollte, und nur

noch fragen, für welchen beſtimmten Ort ſie entſcheidet.

Offenbar will ſie in den Worten: ejus regionis, in qua

negotium gestum est, irgend einen anderen denkbaren Ort

ausſchließen; welches iſt nun dieſer von ihr ausgeſchloſſene

Ort? Um die verſchiedenen Möglichkeiten, die dabei in

Betracht kommen können, zur Anſchauung zu bringen, will

ich folgendes Beiſpiel wählen. Zwei Einwohner von Pu-

teoli, deren Einer in dieſer Stadt ein Grundſtück beſitzt,

treffen zuſammen im Bade von Bajä, und ſchließen daſelbſt

einen Kaufcontract über jenes Grundſtück; hinterher ent-

ſteht ein Streit über die Evictionsleiſtung, und es fragt

ſich, welches örtliche Recht dabei angewendet werden ſoll.

Nach der Erklärung der Gegner müßte es das Recht von

Bajä ſeyn (regionis, in qua negotium gestum est), nicht

das von Puteoli, und dieſes letzte eben ſollte durch den

Ausſpruch des Juriſten verneint werden. Ich gebe nun

zu, daß es möglich wäre, der alte Juriſt hätte an den auf

einem ſo verwickelten Fall beruhenden Gegenſatz gedacht,

und darüber eine Entſcheidung geben wollen; aber in der

Stelle ſelbſt findet ſich darauf nicht die entfernteſte Hin-

deutung, und eine unbefangene Erklärung muß vielmehr

darauf führen, folgenden viel einfacheren Fall vorauszu-

ſetzen. Die zwei Einwohner von Puteoli haben in ihrer

Vaterſtadt ſelbſt den Kaufvertrag geſchloſſen (i); in dieſem

(i) So erklärt die Stelle auch

C. Molinaeus, Conclusiones

de statutis in dem Comm. in

Codicem hinter L. 1 C. de

|0277 : 255|

§. 372. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht.

Stadtgebiet aber gilt bei Evictionen eine eigenthümliche

Gewohnheit, abweichend von der anderwärts üblichen. An-

ſtatt nämlich, daß die allgemeine Gewohnheit anderer Orte

dahin führte, für den Fall der Eviction den doppelten Kauf-

preis zurück zu zahlen (k), war es in Puteoli üblich,

einen anderen Erſatz, etwa den anderthalbfachen, oder den

dreifachen Kaufpreis eintreten zu laſſen. Der Ausſpruch

des Juriſten geht alſo dahin, in einem ſolchen Fall nicht

die allgemeine, anderwärts übliche, Höhe des Erſatzes gel-

ten zu laſſen, ſondern die an dieſem Ort hergebrachte,

weil wahrſcheinlich dieſe den Parteien vorgeſchwebt haben

werde. Geſetzt nun, es wäre ihm die weitere Frage vor-

gelegt worden, wie es zu halten ſey, wenn der Ver-

trag nicht in Puteoli ſelbſt, ſondern in Bajä geſchloſ-

ſen worden wäre (wovon übrigens die Stelle ſelbſt keine

Spur enthält), ſo würde er ohne Zweifel auch wieder auf

die Gewohnheit von Puteoli verwieſen haben, weil der

Vertrag in dieſer Stadt und nicht in Bajä zu erfüllen war;

nur würde er dann nicht mehr den Ausdruck gebraucht

haben: in qua negotium gestum est, weil dieſer, wenn ein

ſolcher Gegenſatz in Frage geſtanden hätte, faſt nothwendig

summa trin. (p. 6. 7 ed. Hanov.

1604. f) „quod est intelligen-

dum non de loco contractus

fortuiti, sed domicilii, prout

crebrius usu venit, immobilia

non vendi peregre, sed in loco

domicilii. Lex autem debet

adaptari ad casus vel hypo-

theses, quae solent frequenter

accidere: nec extendi ad casus

raro accidentes.“

(k) L. 31 § 20 de aedil. ed.

(21. 1), L. 2. L. 37 de evict.

(21. 2).

|0278 : 256|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

mißverſtanden werden mußte. — Wird nun dieſe Erklärung

der Stelle angenommen, die ganz bei ihren Worten ſtehen

bleibt, und ihr keine fremdartige Vorausſetzungen aufdrängt,

ſo enthält ſie durchaus keinen Grund, das örtliche Recht

nach einer andern Regel zu beſtimmen, als den Gerichts-

ſtand.

§. 373.

III. Obligationenrecht. Örtliches Recht (Fortſetzung).

Es ſind nun für das örtliche Recht der Obligation

einige Nebenfragen zu erörtern, meiſt anſchließend an ähn-

liche Nebenfragen, die ſchon oben für den Gerichtsſtand der

Obligation unterſucht worden ſind (§ 371).

 

In mehreren Fällen nämlich wird das örtliche Recht,

eben ſo, wie der Gerichtsſtand der Obligation, begründet

durch den Entſtehungsort derſelben (§ 372 Num. III. IV),

und es kann dann die genauere Beſtimmung dieſes Ent-

ſtehungsortes wichtig, zuweilen aber auch zweifelhaft ſeyn.

Mit Rückſicht auf ſolche Zweifel ſollen hier mehrere beſon-

dere Fälle angegeben und einer Prüfung unterworfen

werden, in ähnlicher Weiſe wie Dieſes bereits bei dem

Gerichtsſtand geſchehen iſt.

 

A. Verträge:

 

Der zweifelhafteſte und beſtrittenſte Fall iſt der eines

Vertrages, welcher durch Briefwechſel geſchloſſen wird.

Mit dieſem Fall aber iſt auf völlig gleiche Linie zu ſtellen

der Vertrag, der durch eine an verſchiedenen Orten unter-

 

|0279 : 257|

§. 373. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht. (Fortſ.)

zeichnete Urkunde, oder durch die mündliche Willenserklärung

vermittelſt eines Boten, zu Stande kommt (§ 370. b). —

Hierüber nun kann nur wiederholt werden, was oben

(S. 235) über den Gerichtsſtand in ſolchen Fällen geſagt

worden iſt. Der Vertrag durch Briefwechſel iſt als ge-

ſchloſſen anzuſehen an dem Orte, wo der Brief empfangen

und zuſtimmend beantwortet wird. Käme es alſo blos

darauf an, ſo müßte durch dieſen Ort auch das örtliche

Recht beſtimmt werden, und dieſes iſt in der That die

Meinung mehrerer Schriftſteller (a). Dieſe Meinung muß

aber verworfen werden, weil der Verfaſſer des Briefes

höchſtens einem Reiſenden zu vergleichen iſt, der ſich auf

einen Augenblick zu dem Empfänger hinbegeben hat, um

den Vertrag zu ſchließen; durch einen ſolchen ganz vorüber-

gehenden Aufenthalt aber wird, auch wenn darin ein Ver-

trag zu Stande kam, der Sitz der Obligation mit ſeinen

rechtlichen Folgen nicht begründet. Daher iſt hier das

örtliche Recht der Obligation zu beurtheilen vor Allem

nach dem Erfüllungsort, wenn ein ſolcher feſt beſtimmt iſt;

fehlt es an einer ſolchen Beſtimmung, ſo gilt für jede

Partei das Recht ihres Wohnſitzes (b). — Ganz abweichend

von dieſen verſchiedenen Anſichten haben andere Schriftſteller

angenommen, der durch Briefwechſel geſchloſſene Vertrag

(a) Hommel rhaps., obs. 409

N. 17. 18, Meier p. 59.

(b) Wächter II. S. 45 nimmt

das Recht des Wohnſitzes allge-

mein an, ohne Rückſicht auf den

Erfüllungsort.

VIII. 17

|0280 : 258|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

müſſe nach dem Naturrecht beurtheilt werden (c); wobei

nur zu bedauern iſt, daß ſie nicht zugleich das naturrecht-

liche Syſtem angegeben haben, welches ſie angewendet

wiſſen wollen. — Das Preußiſche Geſetzbuch entſcheidet

die hier vorliegende Frage nur in der beſchränkten An-

wendung auf den Fall, wenn am Wohnſitz beider Parteien

ein verſchiedenes Recht über die Form des Vertrags gelte;

dann ſoll dasjenige Recht angewendet werden, bei welchem

der Vertrag am beſten beſtehen kann (d). In dem Sinn

dieſer Vorſchrift aber liegt es, auch in anderen Beziehungen

(wo es nicht auf das Beſtehen des Vertrags, ſondern auf

die Art der Wirkung ankommt) das Recht des Wohnſitzes

über die Schuld jedes Theiles entſcheiden zu laſſen.

Die wichtigſte Anwendung dieſer Streitfrage iſt die auf

das Wechſelrecht. Nach dem aufgeſtellten Grundſatze müſſen

wir annehmen, daß die Verpflichtung jedes einzelnen Unter-

zeichners eines Wechſels nach dem Recht ſeines Wohnſitzes

zu beurtheilen iſt. Das ganz eigenthümliche Bedürfniß

dieſes Geſchäfts aber kann eine abweichende poſitive Be-

ſtimmung wohl rechtfertigen. Das neueſte deutſche Wechſel-

recht beſtimmt im Art. 85 Folgendes. Jede Wechſel-

erklärung iſt zu beurtheilen nach dem Geſetz des Orts, an

welchem ſie erfolgt iſt. Iſt ſie jedoch nach dieſem Geſetz

mangelhaft, genügt aber den Anforderungen des inländiſchen

 

(c) Grotius de j. belli Lib. 2 C. 11 § 5 N. 3. Hert. de com-

meatu literarum § 16 — 19 (Comm. Vol. I pag. 243).

(d) A. L. R. I. 5 § 113. 114.

|0281 : 259|

§. 373. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht. (Fortſ.)

Geſetzes, ſo ſind die ſpäter im Inland auf den Wechſel

geſetzten Wechſelerklärungen gültig. Eben ſo ſind gültig

die Wechſelerklärungen, die ein Inländer einem anderen

Inländer im Auslande giebt, wenn ſie nur dem inländiſchen

Geſetze entſprechen (e).

B. Einſeitige erlaubte Handlungen.

 

Aus dieſer Kategorie kommen hier hauptſächlich in

Betracht die mannichfaltigen Verpflichtungen, die aus dem

Klagenrecht hervorgehen, insbeſondere aus der Litisconte-

ſtation (Anſtellung der Klage), dem gerichtlichen Geſtändniß,

dem rechtskräftigen Urtheil. Hierüber waren früher viele

Zweifel und Meinungsverſchiedenheiten wahrzunehmen, die

ſich jedoch allmälig immer mehr dem richtigen Grundſatz

angenähert haben, nach welchem das am Ort des Gerichts

(und zwar der erſten Inſtanz) beſtehende örtliche Recht als

anwendbar gelten muß, auch wenn an anderen Gerichten

dieſe Frage ſpäterhin vorkommt (f).

 

Es muß jedoch bemerkt werden, daß hier eigentlich zwei,

wenngleich verwandte, dennoch an ſich verſchiedene Fragen

zu entſcheiden ſind, deren Sinn am anſchaulichſten werden

wird, wenn ich ſie ſogleich auf den wichtigſten Fall der

Anwendung, das rechtskräftige Urtheil, beziehe. Die erſte,

allerdings wichtigſte, Frage iſt die, ob überhaupt das aus-

 

(e) Preußiſche Geſetz-Sammlung 1849 S. 68. Aehnliche Be-

ſtimmungen enthält das A. L. R. II. 8 § 936—938.

(f) Huber

§ 6. Meier p. 29. Story § 584 fg.

17*

|0282 : 260|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

geſprochene rechtskräftige Urtheil auch anderwärts, ſelbſt in

einem anderen Lande, anzuerkennen iſt. Die zweite Frage

betrifft die Modalitäten in den Bedingungen und Wirkungen

des rechtskräftigen Urtheils, die in den Geſetzen verſchie-

dener Länder verſchieden beſtimmt ſeyn können. Unſere

Schriftſteller denken meiſt nur an die erſte Frage. Wer

aber dieſe zum Vortheil der Gültigkeit des rechtskräftigen

Urtheils beantwortet, muß conſequenterweiſe auch auf die

Modalitäten das Geſetz des Orts anwenden, an welchem

das Urtheil geſprochen wurde, da man doch überhaupt das

Urtheil nur in dem Sinn kann anwenden wollen, in welchem

der urtheilende Richter daſſelbe erlaſſen hat.

Dieſer Gegenſatz tritt hervor in der Faſſung vieler Ver-

träge, die von der Preußiſchen Regierung mit Nachbarſtaa-

ten geſchloſſen worden ſind (g). Nach der wörtlichen

Faſſung dieſer Verträge könnte man annehmen, wenn ein

in Weimar geſprochenes Urtheil in einem Preußiſchen Ge-

richt vorgebracht werde, ſo müſſe die exceptio rei judicatae

ſo angewendet werden, wie es den Preußiſchen Regeln

über dieſe Exception, nicht, wie es den Weimarſchen (ge-

meinrechtlichen) entſpreche. An dieſen feineren Gegenſatz

 

(g) Vertrag mit Weimar Art. 3

(ſ. o. § 348) „Ein von einem zu-

ſtändigen Gericht gefälltes rechts-

kräftiges Erkenntniß begründet vor

den Gerichten des andern Staates

die Einrede des rechtskräftigen Ur-

theils (exceptio rei judicatae)

mit denſelben Wirkungen,

als wenn das Urtheil von einem

Gericht desjenigen Staates, in

welchem ſolche Einrede geltend ge-

macht wird, geſprochen wäre“. —

Eben ſo mit mehreren anderen

Nachbarſtaaten.

|0283 : 261|

§. 373. III. Obligationenrecht. Örtliches Recht. (Fortſ.)

aber hat man dabei ſchwerlich gedacht, um ſo weniger, als

bei jenen Verhandlungen gewiß nicht die möglichen Ver-

ſchiedenheiten in der Theorie der exceptio rei judicatae er-

wogen worden ſind. Die Meinung ging vielmehr unzwei-

felhaft blos dahin, daß die Exception aus einem Urtheil

des Nachbarlandes eben ſo gewiß, wie aus einem inlän-

diſchen Urtheil, geltend gemacht, alſo nicht etwa wegen der

ausländiſchen Stellung des früheren Richters zurückgewie-

ſen werden könne.

C. Delicte.

 

Der Gerichtsſtand am Ort des begangenen Delicts hat

nach den Geſetzen und nach der Praxis keinen Zweifel, ob-

gleich er auf andere Weiſe begründet werden muß, als der

Gerichtsſtand anderer Obligationen (§ 371. C.). Für das

örtliche Recht aber muß eine andere Regel gelten. Indeſſen

wird es zweckmäßiger ſeyn, dieſe Frage in einem anderen

Zuſammenhang zu behandeln (§ 374. C.), weshalb ſie hier

einſtweilen ausgeſetzt bleibt.

 

Die neueren Geſetzgebungen enthalten nur ſehr unvoll-

ſtändige Beſtimmungen über das örtliche Recht der Obli-

gationen. Das Preußiſche Landrecht giebt eine Vorſchrift

über die durch Briefwechſel geſchloſſenen Verträge (Note d).

Es erkennt ferner bei der Frage über Maaß und Gewicht,

ſo wie über die Münzſorte, die in einem Vertrag gemeint

ſeyn mögen, den Grundſatz an, daß der örtliche Gebrauch

 

|0284 : 262|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

des vertragsmäßigen Erfüllungsortes anwendbar ſey (h);

dieſe Vorſchrift nun bezieht ſich zwar eigentlich nicht auf

das örtliche Recht, ſondern auf die davon verſchiedene

Auslegung der Verträge (§ 374. f); ich halte es aber für

unbedenklich, den hier anerkannten Grundſatz auch auf das

örtliche Recht über die Wirkungen der Verträge im Sinne

des Landrechts anzuwenden, da in demſelben der erwähnte

ſcharfe Unterſchied ſchwerlich vorausgeſetzt werden darf.

Das Oeſterreichiſche Geſetzbuch legt vorzugsweiſe Ge-

wicht auf den Ort, wo ein Vertrag geſchloſſen iſt, um das

anwendbare örtliche Recht zu beſtimmen, und fügt nur die

natürliche Ausnahme hinzu, wenn die Parteien erweislich

die Anwendung eines anderen örtlichen Rechts beabſichtigt

haben (i).

 

(h) A. L. R. I. 5 § 256. 257.

— Koch Preuß. Recht B. 1

S. 133 ſtellt den ganz richtigen

Grundſatz auf, es müſſe das ört-

liche Recht gelten, dem ſich die

Parteien haben unterwerfen wollen,

nimmt aber ohne hinreichenden

Grund an, daß dieſes meiſtens

der locus contractus ſeyn werde.

Auch Bornemann B. 1 S. 65

nimmt dieſen Ort als vorherr-

ſchende Regel an. — Von der

Form der Verträge wird noch

unten die Rede ſeyn bei der Regel:

locus regit actum. Vgl. auch

die oben in der Note e angeführten

Geſetzſtellen.

(i) Oeſterreichiſches Geſetzbuch

§. 36. 37.

|0285 : 263|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

§. 374.

III. Obligationenrecht. Örtliches Recht. Einzelne

Rechtsfragen.

Die bisher aufgeſtellten Grundſätze betrafen das örtliche

Recht der Obligation im Allgemeinen. Es wurde aber

dabei anerkannt, daß dieſes örtliche Recht nicht gerade auf

alle einzelne, bei Gelegenheit einer Obligation etwa vor-

kommende Rechtsfragen anwendbar ſeyn müſſe, und es

wurde die beſondere Prüfung dieſer einzelnen Rechtsfragen

noch vorbehalten (§ 372. S. 250). Zu dieſer Prüfung

gehe ich jetzt über.

 

A. Die erſte dieſer Rechtsfragen betrifft die perſön-

liche Fähigkeit des in einer Obligation auftretenden

Glaubigers oder Schuldners zu dieſem beſonderen Rechts-

verhältniß.

 

Gerade dieſe erſte Frage nun iſt gar nicht nach dem

örtlichen Recht der Obligation als ſolchem zu entſcheiden,

ſondern lediglich nach dem örtlichen Recht, welches an dem

Wohnſitz der Perſon gilt. Es muß Dieſes unbedingt be-

hauptet werden, da der von Vielen aufgeſtellte Unterſchied

zwiſchen der allgemeinen und beſonderen Handlungsunfä-

higkeit durchaus unhaltbar iſt (§ 364).

 

Es gilt dieſes namentlich nach gemeinem Recht in Beziehung

auf die perſönliche Wechſelfähigkeit, welche ſtets nach dem Rechte

des Wohnſitzes des bei einem Wechſel betheiligten Unterzeichners

zu beurtheilen iſt. Jedoch würde es irrig ſeyn, die perſönliche

Wechſelunfähigkeit zu verwechſeln mit dem an irgend einem Orte

 

|0286 : 264|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

nicht geltenden Wechſelrecht. An einem ſolchen Orte näm-

lich kann nur keine Wechſelklage mit Erfolg angeſtellt wer-

den, ſelbſt aus einem an ſich vollgültigen Wechſel; dagegen

hat das Recht eines ſolches Ortes auf die Gültigkeit der

an demſelben ausgeſtellten Wechſel keinen Einfluß, ſo daß

dieſe an anderen, mit Wechſelrecht verſehenen Orten aller-

dings wechſelmäßig eingeklagt werden können (§ 364).

B. Eine andere Rechtsfrage betrifft die Auslegung

der Rechtsgeſchäfte, insbeſondere der Verträge, aus welchen

Obligationen entſtehen (a).

 

Man kann dieſe Frage mit mehreren Schriftſtellern in

einem ſo weiten Sinne auffaſſen, daß ſie alle andere Fra-

gen über das örtliche Recht in ſich aufnimmt, indem die

Anwendung irgend einer örtlichen Rechtsregel auf einen

Vertrag ſtets ſo verſtanden werden kann, daß ſie nach dem

wahrſcheinlichen Willen der Parteien zu dem Vertrag hinzu

gedacht werden müſſe. Das läßt ſich als ergänzende Aus-

legung bezeichnen, ſo wie ſie überhaupt den vermittelnden

Rechtsregeln zum Grunde liegt (b). Allein ſo allgemein

aufgefaßt, verliert die Frage nach der Auslegung alle eigen-

thümliche Bedeutung. Soll ihr dieſe erhalten werden, ſo

müſſen wir ſie in einem engeren Sinne auffaſſen, indem

wir ſie auf die Zweifel beziehen, die aus der ungewiſſen

 

(a) Schriftſteller über dieſe

Frage: Boullenois T. 2 obs. 46

dixième règle. p. 489—538.

Story § 272 fg. 280 fg. Wäch-

ter Archiv für civil. Praxis B. 19

S. 114 bis 125.

(b) S. o. B. 1 § 16.

|0287 : 265|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Faſſung eines Vertrags, alſo aus den Ausdrücken deſſelben,

entſpringen. Das iſt eine thatſächliche Frage, eben ſo wie

bei der Geſetzauslegung; ſie iſt hier und dort gerichtet auf

die Erkenntniß des wahren Gedankens, den die gebrauchte

mündliche oder ſchriftliche Rede in ſich enthält (c). Bei

dieſer Frage nun iſt gar nicht die Rede von der Anwen-

dung irgend eines örtlichen Rechts, wohl aber kann der

örtliche Sprachgebrauch oft dazu dienen, den Gedanken

der Perſon erkennen zu laſſen, von welcher die Willens-

erklärung herrührt. Fragen wir nun nach dem Ort, deſſen

Sprachgebrauch zu berückſichtigen iſt, ſo können dabei die

Regeln über das anwendbare örtliche Recht nicht maaßge-

bend ſeyn, und es iſt ganz grundlos, wenn Manche auf

den Entſtehungsort oder den Erfüllungsort der Obligation

blos deswegen verweiſen, weil ſich nach dieſen Orten das

anwendbare örtliche Recht in vielen Fällen richtet.

So wird bei einem durch Briefwechſel geſchloſſenen

Vertrag in der Regel der Sprachgebrauch des Ortes zu

beachten ſeyn, an welchem der Verfaſſer des erſten Schrei-

bens wohnt, nicht der Ort des Empfanges und der An-

nahme, obgleich an dieſem letzten Ort der Vertrag als ab-

geſchloſſen anzuſehen iſt (S. 235) (d); denn es iſt anzu-

 

(c) S. o. B. 3 S. 244. —

So drücken ſich auch die Römiſchen

Juriſten aus. L. 34 de R. J.

(50. 17) „id sequimur, quod

actum est“. L. 114 eod. „In

obscuris inspici solere, quod

verisimilius est, aut quod ple-

rumque fieri solet“.

(d) Wächter a. a. O., S. 117.

Er erläutert dieſen Satz durch

folgenden Rechtsfall. Eine Leip-

ziger Verſicherungsgeſellſchaft hatte

|0288 : 266|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

nehmen, daß der Verfaſſer des Schreibens den ihm geläu-

figen Sprachgebrauch vor Augen gehabt haben wird.

Wenn ferner ein mündlicher oder ſchriftlicher Vertrag

im Wohnſitz beider Parteien geſchloſſen wird, ſo iſt unſtrei-

tig der Sprachgebrauch dieſes Ortes anwendbar. Dagegen

läßt ſich Dieſes nicht unbedingt behaupten, wenn der Ver-

trag an einem Orte geſchloſſen wird, der für eine der Par-

teien oder für beide nicht der eigene Wohnſitz iſt. Hier

muß in jedem einzelnen Fall erwogen werden, ob anzuneh-

men iſt, daß der Fremde, der an dem Vertrage Theil nahm,

dieſen örtlichen Sprachgebrauch kannte, und ſich ihn wahr-

ſcheinlich aneignen wollte (e).

 

Aus denſelben Gründen können wir auch nicht den

Sprachgebrauch des verabredeten Erfüllungsortes unbedingt

zum Grunde legen bei der Auslegung eines Vertrages,

 

in ihren gedruckten Bedingungen

den Fall einer Zerſtörung durch

Aufruhr ausgenommen. Bei einer

auswärts vorgekommenen Feuers-

brunſt entſtand nun die Frage, ob

dabei der juriſtiſche Begriff des Auf-

ruhrs anwendbar ſey, indem die Ge-

ſetze verſchiedener Länder dieſen

Begriff nicht gleichmäßig beſtimmen.

Wächter entſcheidet ganz richtig,

es müſſe auf den Sprachgebrauch

des Sächſiſchen Geſetzes geſehen

werden, weil in dem Bereich deſſel-

ben die Bedingungen abgefaßt

waren, auf deren Grund die Ver-

ſicherungen ausgeſtellt und ange-

nommen wurden.

(e) Man könnte dieſe Be-

hauptung widerlegen wollen durch

L. 34 de R. J. (50. 17) „id

sequamur, quod in regione,

in qua actum est, frequenta-

tur.“ Allein dieſe Stelle will ge-

wiß keine willkürliche Vorſchrift

geben, muß alſo unter der natür-

lichen Vorausſetzung verſtanden

werden, daß die verhandelnden

Perſonen an dieſem Orte ein-

heimiſch ſind; ganz eben ſo wie

die L. 6 de evict. (21. 2), ſ. o.

§. 372. i.

|0289 : 267|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

wenngleich das örtliche Recht einer Obligation ſtets nach

dem Erfüllungsort ſich richtet. Auch hier wird es darauf

ankommen, ob die Parteien den Sprachgebrauch dieſes

Ortes kannten und ſich aneignen wollten. Für manche

Stücke in dem Inhalt eines Vertrages werden wir freilich

den Sprachgebrauch des Erfüllungsortes allgemein bei der

Auslegung zum Grunde legen können. Wenn nämlich an

einem fremden Orte eine Geldſumme ausgezahlt, eine Waare

nach Maaß und Gewicht abgeliefert, oder ein Grundſtück

nach dem beſtimmten Umfang eines Landmaaßes übergeben

werden ſoll, in dem Vertrage aber für die Geldſorte, das

Maaß oder das Gewicht Ausdrücke gebraucht ſind, die in

verſchiedener Bedeutung, in verſchiedenem Umfang und

Werth vorzukommen pflegen, ſo iſt der Sprachgebrauch des

Erfüllungsortes zum Grunde zu legen, nicht blos, weil an-

zunehmen iſt, daß die Parteien an das dort übliche Geld,

Maaß, Gewicht gedacht haben werden, ſondern auch, weil

es in jenem Orte oft an der Möglichkeit fehlen wird, die

Erfüllung nach anderen Gewichten u. ſ. w. abzumeſſen und

zu vollziehen (f).

Man könnte glauben, die hier aufgeſtellten Regeln über

die Auslegung der Verträge ſtänden im Widerſpruch mit

gewiſſen Vorſchriften des Römiſchen Rechts. Nach dieſen

nämlich ſoll die Auslegung eines zweifelhaften Vertrages

 

(f) Boullenois p. 496—498. So iſt es auch ausdrücklich in dem

Preußiſchen Geſetze beſtimmt. A. L. R. I. 5 § 256. 257.

|0290 : 268|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſtets ausfallen zum Nachtheil des Stipulator bei einer Stipula-

tion (g); eben ſo zum Nachtheil des Verkäufers oder des Vermie-

thers, wenn von dieſen anderen Verträgen die Rede iſt (h).

Als Grund wird dabei der Umſtand angegeben, daß dieſe

Perſonen es in ihrer Macht hatten, den Zweifel durch an-

dere Faſſung zu verhüten, welches ſo viel ſagen will, daß

ſie entweder durch ihre Nachläſſigkeit oder gar durch un-

redliche Abſicht den Zweifel verſchuldet haben. Eben dieſer

Grund aber deutet darauf hin, daß ein ganz anderer Fall,

als bei der hier vorliegenden Frage, vorausgeſetzt wird.

Jene Ausſprüche beziehen ſich überdem ganz ausdrücklich

auf dunkle, zweideutige Ausdrücke (i), anſtatt daß in un-

ſerer Frage von Ausdrücken die Rede iſt, die an ſich weder

dunkel noch zweideutig ſind, ſondern nur an verſchiedenen

Orten eine andere Bedeutung mit ſich führen, welche aber

an jedem dieſer Orte für ſich klar und gewiß iſt.

Die hier erörterte Frage wegen der Auslegung der

Verträge iſt von jeher von den meiſten Schriftſtellern auf

andere Weiſe, als hier geſchehen, aufgefaßt, und vielmehr

auf die Grundſätze des örtlichen Rechts zurückgeführt wor-

den. Hiernach hat man gewöhnlich angenommen, daß die

Auslegung geſchehen müſſe nach dem Sprachgebrauch des

 

(g) L. 26 de reb. dub. (34. 5),

L. 38 § 18, L. 99 pr. de V. O.

(45. 1).

(h) L. 39 de pactis (2. 14),

L. 21. 33 de contr. emt. (18. 1),

L. 172 pr. de R. J. (50. 17).

(i) L. 39 de pactis (2. 14),

L. 21. 33 de contr. emt. (18. 1),

L. 26 de reb. dub. (34. 5), L. 172

pr. de R. J. (50. 17).

|0291 : 269|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Vertragsortes, oder des Erfüllungsortes, wenn ein ſolcher

verabredet ſey (k). Mehrere aber haben völlig richtig die

Aufgabe erkannt, nicht ſowohl eine juriſtiſche Regel feſtzu-

ſtellen, als vielmehr die wahre Abſicht der Parteien nach

den für die Auslegung überhaupt geltenden Grundſätzen

für jeden einzelnen Fall zu erforſchen (l).

C. Die Gültigkeit einer Obligation iſt abhängig

theils von formellen, theils von materiellen Bedingungen.

Die formellen Bedingungen werden weiter unten, in Ver-

bindung mit den bei anderen Rechtsverhältniſſen anwend-

baren Formen, erwogen werden, da, wo von der Regel:

locus regit actum die Rede ſeyn wird (§ 381). Hier iſt

für die materiellen Bedingungen der Gültigkeit das örtliche

Recht feſtzuſtellen, nach welchem ſie beurtheilt werden

müſſen.

 

Als Regel müſſen wir annehmen, daß die Gültigkeit

der Obligation abhängt von dem örtlichen Recht, dem die

Obligation überhaupt unterworfen iſt (§ 372); alſo, je nach

Verſchiedenheit der Fälle, von dem Recht des Erfüllungs-

ortes, oder des Entſtehungsortes der Obligation, oder des

Wohnſitzes des Schuldners. Von dieſer Regel aber muß

eine Ausnahme behauptet werden in allen Fällen, in wel-

chen ein am Ort der angeſtellten Klage geltendes Geſetz

von ſtreng poſitiver, zwingender Natur entgegenſteht.

 

(k) So Story § 272. 280 und die daſelbſt angeführten Schrift-

ſteller.

(l) So Boullenois a. a. O., beſonders p. 494—498,

und Wächter a. a. O.

|0292 : 270|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Die hier aufgeſtellte Regel wird denn auch von den

meiſten Schriftſtellern anerkannt, natürlich mit Vorbehalt

ſehr verſchiedener Anwendungen, gegründet auf die Mei-

nungsverſchiedenheiten über das örtliche Recht der Obliga-

tion ſelbſt (m).

 

Dieſe Uebereinſtimmung jedoch beſchränkt ſich auf den

durchgreifenden Gegenſatz einer durchaus gültigen oder

durchaus ungültigen (nichtigen) Obligation. Zwiſchen die-

ſen beiden äußerſten Fällen finden ſich mannichfaltige Mit-

telglieder, und über das örtliche Recht, nach welchem dieſe

beurtheilt werden ſollen, gehen die Meinungen ſehr aus-

einander.

 

Zunächſt ſind hier die Fälle zu beachten, in welchen

einer an ſich nicht ungültigen Obligation blos die Rechts-

hülfe der Klage verſagt wird (naturalis obligatio); ferner

die weit häufigeren Fälle, in welchen eine klagbare Obli-

gation durch entgegenſtehende peremtoriſche Einreden ent-

kräftet wird. Manche Schriftſteller haben hier die Klagen

und Einreden als Prozeßinſtitute behandelt, und daher auf

alle Fälle ſolcher Art das Geſetz, welches am Ort der an-

geſtellten Klage gilt, anzuwenden verſucht (n). Dieſe Mei-

nung aber iſt ganz verwerflich; alle Rechtsregeln der hier

erwähnten Art beſtimmen nur verſchiedene Stufen und

 

(m) Voet. Pand. IV. 1. § 29.

Hert. § 66. Story § 332 fg.

Wächter II. S. 397. 403. 404.

(n) Weber natürliche Ver-

bindlichkeit § 62. 95. Foelix

p. 146.

|0293 : 271|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Formen unvollſtändiger Gültigkeit einer Obligation (o), und

gehören daher eben ſo, wie die Regeln über völlige Gültig-

keit oder Ungültigkeit dem materiellen Rechte an, nicht dem

Prozeßrecht (p). Es iſt alſo ganz inconſequent, beide Ar-

ten von Rechtsregeln nach verſchiedenen Grundſätzen zu

behandeln. Beſonders bedenklich aber muß es erſcheinen,

wenn dieſe Behandlung auf neuere Geſetzgebungen ange-

wendet werden ſoll, welchen ſcharf begränzte Begriffe und

Kunſtausdrücke oft fehlen, worauf allein jene Unterſcheidung

gegründet werden könnte.

Die hier aufgeſtellte Regel iſt alſo namentlich anzuwen-

den auf die exceptio non numeratae pecuniae; denn ob-

gleich in dieſer zunächſt von einer eigenthümlichen Beweis-

regel die Rede iſt, die dem Prozeßrecht anzugehören ſcheint,

ſo iſt dieſelbe dennoch ganz in dem materiellen Recht ge-

wiſſer Arten von Obligationen gegründet. Ferner gehört

dahin die exceptio excussionis; imgleichen die auf das

beneficium competentiae gegründete Einrede. — Dagegen

ſind nicht unter dieſe Regel zu beziehen die exceptio Sc.

 

(o) S. o. B. 4 § 202. 203.

Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die

hier aufgeſtellte Regel nur an-

wendbar iſt auf Einreden, die

einen materiellen Rechtsgrund haben

(alſo auf alle peremtoriſche), nicht

auf die, welche blos in Prozeß-

vorſchriften gegründet ſind, und

die ſtets eine nur dilatoriſche Natur

haben. S. o. B. 5 § 227 S. 171.

175. Dieſe letzten richten ſich ge-

wiß nach dem am Ort der Klage

geltenden Recht, und vielleicht hat

die Verwechſelung beider Arten da-

zu beigetragen, die falſche Lehre

zu befeſtigen.

(p) Eichhorn deutſches Recht

§ 36 Note n. Wächter II.

S. 401. 402.

|0294 : 272|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Macedoniani und Sc. Vellejani, da dieſe Einreden nicht

auf der mangelhaften Natur der Obligation an ſich, ſon-

dern auf der unvollſtändigen Handlungsfähigkeit der be-

theiligten Perſonen beruhen, folglich, ſo wie alle dieſen Ge-

genſtand betreffenden Rechtsverhältniſſe, nach dem an dem

Wohnſitz ſolcher Perſonen geltenden Rechte beurtheilt werden

müſſen (§ 364).

Eben ſo, wie mit den Einreden, verhält es ſich auch

mit den Klagen, wodurch eine Obligation angefochten und

entkräftet werden ſoll; ſie ſind zu beurtheilen nach dem

Recht des Ortes, dem die Obligation überhaupt unter-

worfen iſt (q).

 

Anwendungen dieſer Regel ſind folgende: Die An-

fechtung eines Verkaufs wegen Verletzung über die Hälfte.

— Die Anfechtung eines Kaufs durch die redhibitoriſche

Klage oder die actio quanti minoris. — Ferner jede Re-

ſtitution gegen einen obligatoriſchen Vertrag (r).

 

(q) Das örtliche Recht der

Obligation iſt alſo allgemeiner und

unbedingter auf die Anfechtungs-

klagen anzuwenden, als der Ge-

richtsſtand der Obligation, indem

dieſer letzte nur zur Aufrechthaltung

und Durchführung der Obligation

beſtimmt iſt (§ 371).

(r) Auch ſelbſt wenn die Re-

ſtitution auf der Minderjährigkeit

beruht, da dieſe, nach ihrer all-

mäligen Entwickelung im Rö-

miſchen Recht, nicht mehr als

reine Folge der Handlungsunfähig-

keit betrachtet werden kann, ſon-

dern als ein die Obligation als

ſolche entkräftendes Rechtsmittel

(§ 365. B. 3).

|0295 : 273|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Unter den hier erwähnten Einreden, wodurch eine Obli-

gation entkräftet werden kann, iſt die allgemeinſte in der

Anwendung, und darum auch die wichtigſte, die Einrede

der Klagverjährung, und dieſe bedarf noch einer ab-

geſonderten Erwägung, weil ſich gerade darüber die Schrift-

ſteller auf ſehr verſchiedene Weiſe ausgeſprochen haben,

jedoch ſo daß der allgemeine Gegenſatz der Meinungen, der

bereits bei den Einreden überhaupt erwähnt worden iſt, hier

nur in etwas ſchärferer Weiſe hervortritt. Wenn nun ins-

beſondere verſchiedene Verjährungszeiten gelten an dem ver-

abredeten Erfüllungsort, wo wir den Sitz der Obligation

annehmen, und an dem Ort der wirklich angeſtellten Klage

(etwa dem Wohnſitz des Schuldners), ſo entſteht die Frage,

welche Verjährungszeit angewendet werden ſoll.

 

Viele behaupten, die Verjährungsgeſetze ſeyen Prozeß-

geſetze, und müßten daher angewendet werden auf alle in

ihrem Bereiche angeſtellte Klagen, ohne Rückſicht auf das

örtliche Recht der Obligation (s).

 

Nach der richtigen Lehre muß das örtliche Recht der

Obligation über die Verjährungszeit entſcheiden, nicht das

des Klageorts; und dieſe Regel, die ſo eben für die Ein-

 

(s) Huber § 7. Weber na-

türliche Verbindlichkeit § 95 S 413

und S. 419. Story § 576 fg.

Foelix p. 147—149. (der ſich

jedoch ſchwankend erklärt). Weber

fügt eine inconſequente Ausnahme

hinzu für den Fall, wenn der

Schuldner aus einem Orte von

langer Verjährung an einen Ort,

wo kurze Verjährung gilt, ſeinen

Wohnſitz verlegt; hier ſoll der

Lauf der kurzen Verjährung erſt

anfangen mit der Gründung des

neuen Wohnſitzes.

VIII. 18

|0296 : 274|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

reden überhaupt aufgeſtellt worden iſt, wird bei der Ver-

jährung noch dadurch beſtätigt, daß die verſchiedenen Gründe,

worauf dieſelbe beruht, mit dem Weſen der Obligation ſelbſt

in Zuſammenhang ſtehen (t). Dieſe Meinung iſt denn

auch zu allen Zeiten von nicht wenigen Schriftſtellern als

richtig anerkannt worden (u).

Dieſe Lehre iſt aber auch nicht blos grundſätzlich richtig,

ſondern ſie empfiehlt ſich zugleich durch eine gewiſſe Billig-

keit, indem durch die aus ihr folgende feſte Beſtimmung

des Verjährungsgeſetzes jede einſeitige Willkür einer Partei

zum Nachtheil des Gegners ausgeſchloſſen wird. So kann

nun nicht etwa bei concurrirenden Gerichtsſtänden der Klä-

ger gerade den Ort zur Klage ausſuchen, an welchem die

längſte Verjährungszeit gilt. Eben ſo kann umgekehrt nicht

der Beklagte durch willkürliche Verlegung des Wohnſitzes

an einen Ort von kurzer Verjährung den Vortheil derſel-

ben ſich zuwenden, indem für die am vorigen Wohnſitz von

ihm contrahirte Schuld das örtliche Recht, ſo wie der be-

ſondere Gerichtsſtand der Obligation, unabänderlich feſtge-

 

(t) S. o. B. 5 § 237.

(u) Hert. § 65. Schäffner

§ 87. Wächter II. S. 408—412,

wo auch noch andere Schriftſteller

angeführt werden. Es verſteht

ſich von ſelbſt, daß die hier be-

hauptete Uebereinſtimmung nur von

dem Grundſatz gilt, nicht von allen

Anwendungen; denn das örtliche

Recht der Obligation wird ja eben

von dieſen Schriftſtellern nicht auf

gleiche Weiſe beſtimmt. — Der

Grundſatz iſt auch anerkannt in

einem Urtheil des Berliner Revi-

ſionshofs von 1843. Seuffert

Archiv B. 2 Num. 120. — Für das

Preußiſche Recht ſtimmen bei:

Koch I. S. 133 Note 23. Bor-

nemann I. S. 65.

|0297 : 275|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

ſtellt iſt (v). — Man kann auch keine Härte für den Glau-

biger darin finden, daß bei einem verabredeten Erfüllungs-

ort, der vielleicht eine ſehr kurze Verjährungszeit hat, der

Schuldner während dieſer Zeit willkürlich vermeiden kann,

an dieſem Ort zu erſcheinen, wodurch die Klage an

dieſem Ort einſtweilen ausgeſchloſſen wird (§ 371. z).

Denn der Glaubiger iſt ja nicht gehindert, zu jeder Zeit

an dem Wohnſitz des Schuldners zu klagen (§ 371. r).

Wäre freilich der Gerichtsſtand am Erfüllungsort aus-

ſchließend, ſo würde in einem ſolchen Fall dem Glaubiger

nur durch die Mittel zu helfen ſeyn, die überhaupt gegen

die Klagverjährung in Fällen gehemmter Rechtsverfolgung

ſchützen (w).

Die oben aufgeſtellte Regel, nach welcher die Gültig-

keit einer Obligation beurtheilt werden ſoll nach dem Rechte

des Ortes, welchem die Obligation überhaupt unterworfen

iſt (S. 269), muß durch eine wichtige Ausnahme beſchränkt

werden. Wenn nämlich der Gültigkeit der Obligation ein

Geſetz von ſtreng poſitiver, zwingender Natur entgegen-

 

(v) Vgl. oben § 370 Num. III.

§ 372 Num. III. Wäre dieſes

nicht, ſo brauchte nur der Schuld-

ner während der Dauer jener kurzen

Verjährung das Betreten des

früheren Wohnſitzes zu vermeiden

(§ 371. z), um ſich von der Schuld

ſchneller zu befreien. Wie hier-

gegen Weber helfen will, iſt oben

in der Note s bemerkt worden.

(w) Nämlich durch Reſtitution,

oder auch durch Anſtellung der

Klage vor dem Statthalter, De-

fenſor u. ſ. w. S. o. B. 7 § 328.

18*

|0298 : 276|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

geſetzt wird, ſo iſt nicht das eben erwähnte örtliche Recht,

ſondern vielmehr das am Ort der angeſtellten Klage geltende

Recht, das Recht des jetzt urtheilenden Richters, anzu-

wenden (x).

Dieſe Ausnahme iſt die bloße Folge eines ſehr allge-

meinen Grundſatzes über die Anwendbarkeit zwingender Ge-

ſetze (§ 349. 372. A). Sie iſt anzuwenden ſowohl poſitiv,

als negativ: das heißt, indem der Richter das für ihn gel-

tende zwingende Geſetz anzuwenden hat, auch wenn es am

Sitz der Obligation nicht gilt; eben ſo aber auch, indem

er das anderwärts (am Sitz der Obligation) geltende zwin-

gende Geſetz nicht anzuwenden hat, wenn es für ihn nicht

als Geſetz beſteht.

 

Die erwähnte Ausnahme kommt vor ſowohl bei Ver-

trägen, als bei Delicten.

 

Unter die Verträge dieſer Art gehören die durch Wucher-

geſetze verbotene. Wird alſo eine Zinſenſchuld eingeklagt,

die dem für dieſen Richter geltenden Geſetz widerſpricht, ſo

muß er ſie als ungültig behandeln, auch wenn am Sitz

der Obligation ein gleichmäßig einſchränkendes Wuchergeſetz

nicht vorhanden ſeyn mag; denn der Sinn eines ſolchen

Geſetzes geht dahin, daß kein unter ihm lebender Richter

ſeine Amtsgewalt zur Durchführung eines ſo unſittlichen,

gemeinſchädlichen Unternehmens, wie der wucherliche Ver-

trag angeſehen wird, anwenden ſoll. — Eben ſo aber wird

 

(x) Damit ſtimmt überein Wächter II. S. 389—405.

|0299 : 277|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

auch umgekehrt der Richter, in deſſen Amtsſprengel ein

Verbot der vor ihm eingeklagten Zinſen nicht beſteht, die

Zinſen als gültig anzuſehen haben, ohne Rückſicht auf das

etwa anderwärts (am Sitz der Obligation) geltende Verbot.

Dieſe negative Behauptung wird nicht nur durch die Con-

ſequenz der erſten, poſitiven gefordert, ſondern auch aus

folgendem Grunde. Die Anwendbarkeit eines beſtimmten

örtlichen Rechtes auf eine Obligation gründet ſich überhaupt

auf die anzunehmende freie Unterwerfung; eine ſolche Unter-

werfung kann aber durchaus nicht angenommen werden,

wenn ſie auf ein Geſetz führen würde, welches gerade die

hier vorliegende Obligation entkräften müßte (§ 372. C).

Dieſelbe Behauptung, wie bei den wucherlichen Ver-

trägen, muß auch aufgeſtellt werden für die Spielſchulden,

wenn dieſe nach dem einen Geſetze als gültig, nach dem

anderen als ungültig, anzuſehen ſeyn ſollten. Das Geſetz

des Ortes, an welchem geklagt wird, kann allein über die

Gültigkeit der Obligation entſcheiden.

 

Eben ſo verhält es ſich mit der Lex Anastasiana bei

Schuldforderungen, die unter ihrem Nominalwerth verkauft

werden. Dieſes Geſetz beruht auf der Vorausſetzung, daß

ein ſolcher Handel für den Schuldner gefährlich und be-

drückend werden könne, und ſucht ihn als unſittlich und

gemeinſchädlich zu verhüten durch die Vorſchrift, daß eine

unter ſolchen Bedingungen erworbene Forderung nur bis

auf die Höhe des bezahlten Kaufpreiſes geltend gemacht

 

|0300 : 278|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

werden dürfe (y). Die Anwendbarkeit dieſes Geſetzes hängt

davon ab, ob daſſelbe an dem Orte der angeſtellten Klage

gilt oder nicht gilt; das am Ort der entſtandenen Forderung

oder der Ceſſion geltende Recht iſt dabei gleichgültig (z).

Scheinbar gehört dahin auch das Franzöſiſche Geſetz

über die Forderungen der Juden an Chriſten; in der That

aber gehört daſſelbe vielmehr zu der die Handlungsfähigkeit

betreffenden Frage, und iſt auch bei dieſer ſchon oben er-

wähnt worden (§ 365. A. Num. 5). Die praktiſche Be-

handlung des Falles fällt mit der hier angegebenen zu-

ſammen.

 

Die angegebene Ausnahme iſt nun ferner anzuwenden

auf die Obligationen aus Delicten, und zwar ganz allgemein,

da die auf Delicte bezüglichen Geſetze ſtets unter die zwin-

genden, ſtreng poſitiven, zu rechnen ſind.

 

Bei dieſen alſo iſt ſtets zu ſehen auf das am Orte der

Klage geltende Geſetz, nicht auf das, unter welchem das

Delict begangen wurde (z¹). Auch hier gilt der Satz, wie

bei den Verträgen, ſowohl poſitiv als negativ, das heißt,

für und wider die Anwendung eines Geſetzes, das eine

 

(y) L. 22 C. mandati (4. 35).

(z) Abweichend davon wird in

einem Urtheil des Münchener O.

A. G. von 1845 angenommen, es

ſey zu ſehen auf das Recht, unter

welchem die Forderung urſprünglich

entſtanden ſey. Seuffert Archiv

B. 1 N. 402.

(z¹) Dieſes iſt alſo namentlich

anzuwenden auf die poſſeſſoriſchen

Interdicte, jedoch hier in ſehr be-

ſchränkter Weiſe, ſ. o. § 368 am

Ende des §.

|0301 : 279|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Obligation aus einem Delicte anerkennt. Dieſe Frage iſt

bei keiner Art von Obligationen ſo häufig aufgeworfen, be-

zweifelt, beſtritten worden, als bei den aus dem außerehe-

lichen Beiſchlaf abgeleiteten Obligationen. Es wird die

Frage beſonders anſchaulich machen, wenn ich dabei von

der ſehr unbedingten Vorſchrift des Franzöſiſchen bürger-

lichen Geſetzbuchs ausgehe, welches im Art. 340 ſo lautet:

la recherche de la paternité est interdite. Dieſes Geſetz

beruht augenſcheinlich auf der Ueberzeugung, daß im

Intereſſe der Sittlichkeit jeder Anſpruch und Rechtsſtreit,

gegründet auf außerehelichen Beiſchlaf, verhindert werden

müſſe (aa); andere Geſetzgebungen beruhen auf der entgegen-

geſetzten Ueberzeugung. Beide alſo ſind von zwingender,

ſtreng poſitiver Natur. Wird nun vor einem Gericht, das

unter jenem Franzöſiſchen Geſetze ſteht, ein ſolcher Anſpruch

geltend gemacht, ſo iſt er zurückzuweiſen, auch wenn der

angebliche Beiſchlaf vorgekommen ſeyn ſoll an einem Ort,

deſſen Geſetz einen ſolchen Anſpruch zuläßt und begünſtigt.

Umgekehrt aber muß von dem Gericht eines ſolchen Ortes

der Anſpruch zugelaſſen werden, ſelbſt wenn der Beiſchlaf

an einem Orte des Franzöſiſchen Rechts Statt gefunden

haben ſoll. Was nun hier von dem äußerſten Gegenſatz,

der unbedingten Verwerfung oder Zulaſſung, gilt, muß

eben ſo auch behauptet werden, wenn die Geſetze der ver-

(aa) Dieſe Abſicht des Fran-

zöſiſchen Geſetzes iſt unzweideutig

ausgeſprochen in dem an die

Richter gerichteten unbedingten

Verbot aller Procedur.

|0302 : 280|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſchiedenen Orte in geringerem Maaße von einander ab-

weichen, etwa in den Bedingungen oder dem Umfang der

Anſprüche. — Die Entſcheidungen der Gerichte über dieſe

Frage ſind ſehr verſchieden (bb).

Dieſe ganze Frage iſt verwandt mit der Frage des

Strafrechts, ob ein auswärts begangenes Verbrechen von

unſren Gerichten zu beſtrafen iſt, und mit welcher Strafe.

Dennoch dürfen beide Fragen nicht identificirt werden, da

in dem Strafrecht, als einem Beſtandtheil des öffentlichen

Rechts, Rückſichten zu nehmen ſind, von welchen bei den

Obligationen aus Delicten nicht die Rede iſt.

 

Aus den eben aufgeſtellten Grundſätzen über das örtliche

Recht in den Fällen zwingender Geſetze folgt nun allerdings,

daß in ſolchen Fällen ſehr häufig eine bedeutende Macht in

die Hände des Klägers gelegt wird, indem dieſer oft die

Wahl zwiſchen mehreren Gerichten hat, alſo auch dadurch

beſtimmen kann, welches unter mehreren örtlichen Rechten

zur Anwendung kommen ſoll. Dieſes iſt indeſſen die unver-

meidliche Folge der beſonderen Natur dieſer Klaſſe von Ge-

ſetzen. Auch wird die Gefahr für den Beklagten vermindert

durch die ſehr beſchränkende Bedingungen, an welche

 

(bb) Für den Ort der Klage

(welcher meiſt zuſammen fallen

wird mit dem Wohnſitz des Be-

klagten): Obertribunal zu Stutt-

gart. Seuffert Archiv für Ent-

ſcheidungen der oberſten Gerichte

in den deutſchen Staaten B. 2

N. 4. — Für den Ort des Bei-

ſchlafs: O. A. G. zu München,

und zwei Urtheile aus Jena.

Seuffert B. 1 N. 153 B. 2

N. 118.

|0303 : 281|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

jeder beſondere Gerichtsſtand der Obligation gebunden iſt

(§ 371. z).

D. Die Wirkung einer Obligation, und insbeſondere

der Umfang dieſer Wirkung, iſt ſtets zu beſtimmen nach

dem Recht des Orts, welcher überhaupt als Sitz der Obli-

gation zu betrachten iſt; ja es iſt dieſes die hauptſächliche

Bedeutung des örtlichen Rechts der Obligation. Gerade

deshalb iſt auch dieſe einzelne Frage am wenigſten Veran-

laſſung zu Zweifel und Streit geworden. Wenige Beiſpiele

werden zur Erläuterung der Frage hinreichen.

 

Nach manchen örtlichen Geſetzen hat der Verkäufer das

Recht des Rücktritts bis zur vollzogenen Uebergabe, welcher

Satz dem gemeinen Rechte fremd iſt. Hier wird es darauf

ankommen, ob ein ſolches Geſetz an dem Orte gilt, an wel-

chem das Grundſtück liegt, ohne Rückſicht auf den Ort des

geſchloſſenen Vertrags oder den Ort der Klage; denn da

der Verkauf eines Grundſtücks ſtets einen beſtimmten Er-

füllungsort hat, ſo iſt dieſer zugleich der Sitz der Obliga-

tion, der das örtliche Recht derſelben beſtimmt (§ 370. 372).

— Eben ſo verhält es ſich mit einem örtlichen Geſetz,

welches bei Grundſtücken die ſtillſchweigende Wiederverpach-

tung eines Landgutes auf einen Zeitraum von drei Jahren

anſetzt. Auch dieſes Geſetz wird anzuwenden ſeyn auf alle

in ſeinem Bereiche liegende Grundſtücke, und zwar aus dem

bei dem vorigen Fall angeführten Grunde (cc).

 

(cc) Beide Fälle werden angeführt von Boullenois T. 2 p. 452 fg.

Er entſcheidet den letzten Fall, ſo wie es hier geſchieht, findet aber bei

dem erſten ohne Noth Bedenken.

|0304 : 282|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Die Höhe der Verzugszinſen iſt nach gemeinem Recht

abhängig von dem zu jeder Zeit geltenden Zinsfuße, alſo

von dem thatſächlichen Gebrauche, Wenn aber an manchen

Orten ein geſetzlicher Maaßſtab, und zwar ein verſchiede-

ner, für die Verzugszinſen vorgeſchrieben iſt, ſo wird bei

jeder Obligation das Geſetz des Ortes, der als Sitz der-

ſelben gilt, anzuwenden ſeyn, alſo, bei einem verabredeten

Zahlungsorte, das Geſetz dieſes Ortes (dd).

 

Oie Obligation kann mit einem ſtillſchweigenden Pfand-

recht (bald einem allgemeinen, bald einem ſpeciellen) ver-

bunden ſeyn. Ob ein ſolcher ſtillſchweigender Pfandvertrag

anzunehmen iſt, das hängt von dem örtlichen Recht ab,

unter welchem überhaupt dieſe Obligation ſteht. Ob dem-

ſelben die Wirkung eines Pfandrechts beizulegen iſt, kann

dagegen nur nach dem Recht des Orts beſtimmt werden,

an welchem die Sache ſich befindet (§ 368).

 

E. Die Stellung der Obligationen im Concurſe

bedarf einer beſonderen Erwägung, da gerade hierin die

größten Verſchiedenheiten in den einzelnen Geſetzgebungen

vorkommen. Es iſt dabei nöthig, vor Allem die eigenthüm-

liche Natur des Concurſes in’s Auge zu faſſen.

 

(dd) Voet. Pand. XXII. 1

§ 11. — In L. 1 pr. de usur.

(22. 1) heißt es: „ex more re-

gionis, ubi contractum est“.

Dabei wird der gewöhnlichſte Fall

vorausgeſetzt, daß zwei Einwohner

derſelben Stadt in dieſer Stadt

einen Vertrag ſchließen; von einem

Vertrag außer dem Wohnſitz, oder

von einem anderwärts beſtimmten

Zahlungsort, iſt da nicht die Rede.

|0305 : 283|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Der Concurs ſetzt voraus einen zahlungsunfähigen Schuld-

ner, welchem mehrere Glaubiger gegenüber ſtehen, alſo einen

Fall, in welchem eine vollſtändige Execution aller ausge-

ſprochenen oder noch auszuſprechenden Schuldurtheile nicht

möglich iſt, ſo daß der Zweck darauf beſchränkt bleiben

muß, die Execution theilweiſe, ſo weit ſie möglich iſt, zu

bewirken. Dieſes geſchieht, indem das gerade jetzt vorhan-

dene Vermögen des Schuldners geſammelt, durch Verkauf

in baares Geld verwandelt, und dann nach irgend einer

Regel unter die Glaubiger vertheilt wird. So erſcheint

alſo der Concurs, ſeinem Weſen nach, als ein bloßes Exe-

cutionsverfahren über eine beſtimmte Vermögensmaſſe, und

die Aufgabe des Richters beſteht in der Ausgleichung der

Anſprüche der einzelnen Glaubiger auf dieſe Maſſe. Auf

das endliche Schickſal der Forderungen hat der Concurs

keinen Einfluß, ſo daß jeder Glaubiger, der in demſelben

ganz oder theilweiſe ausfällt, ſein Recht noch immer gegen

den Schuldner geltend machen kann, wenn dieſer etwa ſpä-

terhin neues Vermögen erwirbt.

 

Da der Concurs eine Ausgleichung unter mehreren

Glaubigern bezweckt, ſo iſt er nur an Einem Orte möglich,

und zwar an dem Wohnſitz des Schuldners, ſo daß hier

der beſondere Gerichtsſtand der Obligation von dem allge-

meinen perſönlichen Gerichtsſtand verdrängt wird.

 

Die richterliche Thätigkeit bei Gelegenheit eines Concur-

ſes zerfällt in zwei an ſich verſchiedene Theile: vorbereitende

Handlungen, und der Concurs ſelbſt.

 

|0306 : 284|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Zu den vorbereitenden Handlungen gehört theils die

Feſtſtellung der Forderungen ſelbſt (Liquidation), theils die

Bildung und Feſtſtellung der Concursmaſſe durch Ausſchei-

dung aller zum Vermögen des Schuldners nicht gehören-

den Stücke (Vindicanten, Separatiſten), durch Auf-

ſammlung aller zu dieſem Vermögen wirklich gehörenden

Beſtandtheile, und durch Verwandlung derſelben in baares

Geld vermittelſt des Verkaufs. — Dabei gelten, in Anſe-

hung des anwendbaren örtlichen Rechts, ganz die allge-

meinen Grundſätze über dingliche Rechte und Obligationen.

Die zufällige Veranlaſſung durch einen Concurs macht da-

bei keinen Unterſchied. — Was aber insbeſondere den erſten

Punkt betrifft, die Feſtſtellung der Forderungen, ſo bleibt

es nicht dem Zufall überlaſſen, welche Glaubiger ſich mel-

den wollen, vielmehr werden alle durch öffentliche Vorla-

dung zur Anmeldung bis zu einer beſtimmten Friſt vorge-

laden. Wer dieſe Friſt nicht einhält, wird durch Erkennt-

niß präcludirt, und verliert dadurch nicht etwa ſeine For-

derung ſelbſt, wohl aber den Anſpruch auf Befriedigung

in dieſem Concurſe, aus dieſer Maſſe. Die Vorladung

bindet ſelbſt die Glaubiger, die bereits Schuldklagen ander-

wärts angeſtellt, aber noch nicht zu Ende geführt haben,

ſo daß der Concursprozeß die anderwärts ſchwebenden

Schuldklagen an ſich zieht (ee).

 

(ee) Wernher Obss. T. 2 P. 10 obs. 297. Leyser Sp. 478

med. 8.

|0307 : 285|

§ 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Der Concurs ſelbſt hat zum Gegenſtand die Ausglei-

chung der einzelnen Glaubiger in ihren Anſprüchen an die

vorhandene Activmaſſe (Claſſification). Da nun dieſe Aus-

gleichung zu dem oben erwähnten Executionsverfahren ge-

hört, welches eine rein prozeſſualiſche Thätigkeit iſt, ſo kann

darauf kein anderes örtliches Recht angewendet werden, als

das am Ort des Concursgerichts geltende: mittelbar alſo

das örtliche Recht am Wohnſitz des Schuldners (ff).

 

Mit dieſer einfachen Regel könnte die ganze Frage er-

ledigt ſeyn, wenn nicht viele, und meiſt die wichtigſten, An-

ſprüche der Glaubiger eine gemiſchte Natur hätten: gemiſcht

aus Obligation und dinglichem Recht, dem Hypothekenrecht.

Darin liegt die hauptſächliche Schwierigkeit.

 

Die Sache wird anſchaulicher werden durch die Anwen-

dung auf das gemeine Concursrecht, ſo wie es ſich, gegrün-

det auf die Vorſchriften des neueſten Römiſchen Rechts, in

der Theorie und Praxis der neueren Zeit ausgebildet hat.

 

Sämmtliche Glaubiger werden nach fünf Klaſſen geord-

net: 1. Abſolut privilegirte, 2. Privilegirte Hypotheken,

3. Gemeine Hypotheken, 4. Perſönlich privilegirte, 5. Alle

übrigen (gg). — Unter dieſen fünf Klaſſen enthalten die

erſte, vierte und fünfte, reine Obligationen, und für dieſe

entſcheidet ausſchließend das am Ort des Concursgerichts

geltende örtliche Recht, ohne Rückſicht auf das vielleicht

 

(ff) Leyser 478. 10.

(gg) Die genauere Ausführung

dieſer Claſſification liegt außer dem

hier vorliegenden Zweck. Vgl.

Mühlenbruch I. § 173. Göſchen

Vorleſungen II. 2 § 424.

|0308 : 286|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

abweichende Recht des Entſtehungsorts und des Erfüllungs-

orts der Obligation. Es bleiben alſo nur noch die zweite

und dritte Klaſſe, enthaltend die hypothekariſchen Glaubi-

ger, zu näherer Betrachtung übrig.

Jeder hypothekariſche Glaubiger hat in der That ein

zuſammengeſetztes Recht, deſſen beide Beſtandtheile eine

ganz verſchiedene Natur haben; er iſt wahrer Glaubiger,

hat aber daneben zur Sicherheit ſeiner Forderung ein ding-

liches Recht. Um es nun klar zu machen, wie dieſe un-

gleichartigen Rechte in die Einheit des Concurſes eingefügt

werden können, iſt es nöthig, zuvor einen ergänzenden Blick

rückwärts zu werfen auf die oben erwähnte Bildung der

Concursmaſſe, und die hypothekariſchen Glaubiger einſtweilen

noch auf ſich beruhen zu laſſen.

 

Die Bildung der Concursmaſſe durch Aufſammlung und

Verkauf der Vermögensſtücke macht keine Schwierigkeit,

wenn dieſe ſämmtlich in dem Bezirk des Concursgerichts

ſich befinden. Dagegen iſt die Behandlung der Sache in

hohem Grade beſtritten in Anſehung der Vermögensſtücke,

die in anderen Gerichtsbezirken, oder gar in einem fremden

Lande liegen. Ich will ſogleich dieſen letzten Fall, als den

äußerſten, in’s Auge faſſen. Für denſelben wird von Vie-

len folgende Behauptung aufgeſtellt. Der fremde Landes-

herr und deſſen Richter braucht die Verfügungen unſers

Concursgerichts nicht zu befolgen, entzieht ſich ihnen auch,

 

|0309 : 287|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

der Erfahrung nach, in der That ganz gewöhnlich (hh).

Daher bleibt nach jener Meinung keine andere Aushülfe

übrig, als daß unſer Concursrichter auf Heranziehung des

auswärts liegenden Vermögens verzichtet, die Glaubiger

aber in jenem fremden Lande gleichfalls gegen den Schuld-

ner klagen können, wodurch dann neben dem erſten Concurs

ein zweiter, eben ſo vielleicht noch ein dritter oder vierter

Concurs, bei einem ſehr zerſtreuten Vermögen, ſoll veran-

laßt werden können.

Ich kann weder die erwähnte Aushülfe, noch die Schwie-

rigkeit ſelbſt, die ihr zum Grund liegen ſoll, als richtig

einräumen. — Was die Aushülfe betrifft, ſo ſetzt ſie vor-

aus, daß jede Schuldklage überall angeſtellt werden könne,

wo ein Schuldner Vermögen beſitzt; oder, mit andern Wor-

ten, ſie nimmt ein allgemeines forum rei sitae an für per-

ſönliche Klagen. Gerade Dieſes nun muß entſchieden ver-

worfen werden, und deshalb iſt auch ein mehrfacher Con-

curs in verſchiedenen Ländern nicht zuläſſig. Inwiefern

etwas dieſem Aehnliches in Folge von Hypotheken vor-

kommen kann, wird ſogleich bemerkt werden. — Aber auch

die Schwierigkeit iſt geringer, als man gewöhnlich an-

nimmt. Indem der gerichtlich beſtellte Curator des Ver-

 

(hh) Man giebt zu, daß dieſe

Schwierigkeit ſich ſehr vermindert

bei Sachen in einem anderen Ge-

richtsbezirk deſſelben Landes, in-

dem hier geholfen werden kann

theils durch bloße Requiſition unter

gleich ſtehenden Gerichten, theils

durch die bei einer gemeinſamen

Oberbehörde von dem Concurs-

gericht extrahirte Verfügung an

das andere Gericht.

|0310 : 288|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

mögens (ii), unter Aufſicht des Concursrichters, die

Sachen des Schuldners verkauft, beſorgt er nur eine der

Handlungen, die zur Execution eines Urtheils gehören, ſey

es eines ſchon geſprochenen, oder eines bevorſtehenden, noch

zu erwartenden. Nun gehört es zu der oben erwähnten,

ſeit längerer Zeit ſtets fortſchreitenden, Rechtsgemeinſchaft

unabhängiger Staaten unter einander, daß ſie ſich gegen-

ſeitig gleiche Rechtshülfe leiſten (§ 348). Dazu gehört die

Execution der in einem Staate geſprochenen Urtheile inner-

halb jedes anderen Staates (§ 373. B.), alſo auch die

Unterſtützung des Curators bei den ſo eben erwähnten

Maaßregeln, die zum Verkauf der auswärtigen Vermögens-

ſtücke, folglich zur Bildung der Concursmaſſe, führen.

Wollte man ihm dieſe Unterſtützung verſagen, ſo würde

darin eine völlige Rechtsverweigerung liegen, indem ſo

eben bemerkt worden iſt, daß in dieſem fremden Lande ein

Gerichtsſtand gegen den Schuldner für perſönliche Klagen

gar nicht begründet iſt.

Die hier aufgeſtellte Behauptung iſt denn auch ſchon

längſt von mehreren Schriftſtellern als richtig anerkannt

worden (kk). Andere nehmen das Gegentheil an, aber

 

(ii) Tit. D. de curatore bonis

dando (42. 7), beſonders in L. 2

tit. cit.

(kk) I. Voet. § 17, und Comm.

ad Pand. XX. 4 § 12 (wo er

dieſe Regel gerade aus der oben

erwähnten comitas ableitet).

Pufendorf T. 1 obs. 217 (mit

einer Beſchränkung für den Fall

von Hypotheken, wovon ſogleich

die Rede ſeyn wird). Dabelow

Lehre vom Concurſe S. 746—765

(der nur ſeine richtige Ausführung

durch die Bemerkung am Schluſſe

|0311 : 289|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

nicht in Folge eines juriſtiſchen Grundſatzes, ſondern nur,

weil die fremden Landesherrn ihre Mitwirkung verſagen

ſollen (ll). In den Engliſchen Gerichten werden die aus-

wärts liegenden beweglichen Sachen mit zum Concurſe am

Wohnſitz gezogen, die unbeweglichen nicht; in den meiſten

Amerikaniſchen Gerichten weder die beweglichen, noch die

unbeweglichen Sachen (mm).

Allerdings entſteht nun eine eigenthümliche Verwicklung und

Schwierigkeit in den Fall, wenn die im Ausland befindlichen

Sachen mit einem Pfandrecht behaftet ſind, und die Rück-

ſicht auf dieſen ſehr gewöhnlichen Fall hat ohne Zweifel

auf die eben erwähnte abweichende Anſicht mancher Schrift-

ſteller und Gerichte Einfluß gehabt, obgleich offenbar beide

Fragen an ſich verſchieden ſind, und eine getrennte Be-

handlung derſelben für den Erfolg der Unterſuchung vor-

theilhafter iſt.

 

Dieſer letzte Fall unterſcheidet ſich von dem vorherge-

henden, in welchem die auswärts befindlichen Sachen als

unverpfändet gedacht wurden, zunächſt darin, daß die

Pfandglaubiger ihre Hypothekarklagen im Gerichtsſtand der

gelegenen Sache anſtellen können. Wird nun die Hypo-

 

entkräftet, daß die Praxis entge-

genſtehe, und alſo mehrere Con-

curſe nothwendig ſeyen).

(ll) Struben Bedenken I.

118, V. 27.

(mm) Story § 403 fg. Er

ſelbſt zieht die Engliſche Praxis

der Amerikaniſchen vor. Daß er

blos von beweglichen Sachen

ſprechen will, ergiebt ſich ſchon

daraus, daß er dieſe ganze Frage

in dem Chap. IX. personal

property (bewegliches Vermögen)

behandelt.

VIII. 19

|0312 : 290|

Buch III Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

thekarklage gegen einen anderen Pfandglaubiger angeſtellt,

der die Sache beſitzt, oder von zwei Pfandglaubigern gleich-

zeitig gegen einen dritten Beſitzer, ſo hat der Richter über

die Priorität nach denſelben Grundſätzen zu entſcheiden,

wie es auch im Concurſe geſchieht (nn), und dieſe Regel

iſt anwendbar, ohne Unterſchied, ob die verpfändeten

Sachen in denſelben Lande liegen oder nicht Dennoch

wäre es ganz unrichtig, dieſes Verfahren als einen beſon-

deren Concurs aufzufaſſen, indem die Formen des Con-

curſes dabei gar nicht vorkommen. — Indeſſen iſt auch kein

Hinderniß vorhanden, die verpfändeten auswärtigen Sachen

mit in den Concurs am Wohnſitz des Schuldners zu ziehen,

wenn nur dafür geſorgt wird, daß Jeder, der an einer

ſolchen auswärts befindlichen Sache ein Pfandrecht hat,

an dem Kaufpreis dieſer Sache diejenige Priorität erhält,

die ihm nach dem Recht des Orts, wo ſich die Sache zur

Zeit des Verkaufs befindet, gebührt, indem die lex rei

sitae auch über die Priorität entſcheidet (§ 368).

Es mag zuweilen ſchwer ſeyn, dieſen Zweck zu erreichen;

unmöglich iſt es nicht, und es wird beſonders zur Erleich-

terung der Sache dienen, wenn aus dem Kaufpreis der

einzelnen, auswärts aufgefundenen Sachen beſondere

 

(nn) L. 12 pr. § 7 qui pot.

(20. 4). Vgl. P. Voet. Sect. 10

C. un. § 5. — Die neueſte

Preußiſche Geſetzgebung geſtattet

jedem Pfand- und Hypotheken-

glaubiger, auch wo nicht von

einem Verhältniß zum Ausland die

Rede iſt, ſeine Befriedigung aus

der Sache unmittelbar einzuklagen,

ohne ſich in den Concurs einzu-

miſchen. Geſetzſammlung 1842

S. 4.

|0313 : 291|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Specialmaſſen gebildet werden. Indem Dieſes von dem-

ſelben Richter geſchieht, wird gewiß die Einheit der zu-

ſammentreffenden Anſprüche ſicherer erreicht, als es durch

die Einleitung mehrerer Concurſe in verſchiedenen Gerichten

geſchehen könnte (oo).

Daß nun überhaupt eine ſolche Behandlung der Sache

möglich iſt, ergiebt ſich am ſicherſten aus dem Umſtand,

daß dieſelbe in einer bedeutenden Zahl von Staatsverträgen

der Preußiſchen Regierung mit benachbarten Staaten wirk-

lich feſtgeſetzt iſt. Die Grundlage dieſer Verträge bildet

das Preußiſche Concursgeſetz. Nach dieſem giebt es ſtets

nur Einen Concurs, und zwar am Wohnſitz des Gemein-

ſchuldners. Der Concursrichter veranlaßt die inländiſchen

Gerichte, in deren Sprengel Theile des Vermögens liegen,

durch Requiſition zur Mitwirkung. — Liegen Vermögens-

ſtücke im Auslande, ſo hat der Richter zunächſt zu erforſchen,

ob Staatsverträge vorhanden ſind. In Ermangelung der-

ſelben ſoll er dem ausländiſchen Richter vorſchlagen, auf

ähnliche Weiſe, wie es ſo eben von anderen inländiſchen

Gerichten erwähnt worden iſt, auf die Mitwirkung zu dem

inländiſchen Concurſe einzugehen. Mißlingt Dieſes, ſo hat

der Curator bei dem auswärtigen Specialconcurſe das In-

tereſſe der inländiſchen Glaubiger wahrzunehmen (pp). —

 

(oo) Pufendorf (Note kk)

erachtet die Feſthaltung der Prio-

rität in einem fremden Gerichte

für ſo ſchwierig, daß er es vorzieht,

einen beſonderen Concurs am Ort

der gelegenen Sache zu eröffnen,

ſobald Dieſes die Pfandglaubiger

verlangen.

(pp) Allg. Ger. Ordnung I.

50 § 25—32 § 647—671.

19*

|0314 : 292|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Alle ſpäterhin wirklich geſchloſſene Verträge beruhen nun

auf dem Grundſatz, daß nur Ein Concurs Statt finden

ſoll, und zwar in der Regel am Wohnſitz des Schuldners.

Die in dem anderen Staate befindlichen Sachen des Ge-

meinſchuldners ſollen veräußert, und der erlöſte Kaufpreis

ſoll an das Concursgericht abgeliefert werden. Bei dieſem

müſſen ſich alle Glaubiger einlaſſen. Die Rangordnung

unter den Glaubigern iſt für die blos perſönlichen For-

derungen nach den Geſetzen des Gerichtsortes zu beſtimmen,

für alle dingliche Rechte nach den Geſetzen des Ortes

der belegenen Sache (qq). Nur darin findet ſich eine

Verſchiedenheit, daß nach den neueren Verträgen (ſeit 1839)

die dinglichen Anſprüche auf die außer dem Land des Con-

curſes liegenden Sachen auch an dem Ort der gelegenen

Sache, vor ihrer Ausantwortung an den Concursrichter,

erhoben werden können. Geſchieht Dieſes von Hypotheken-

glaubigern, ſo ſind die verpfändeten Sachen dort zu ver-

kaufen, das Kaufgeld iſt den Glaubigern auszuzahlen, und

nur der etwa bleibende Ueberſchuß iſt an das Concurs-

gericht abzuliefern.

Was nun hier durch Verträge feſtgeſtellt iſt, darf keines-

weges als eine neue, willkürliche Erfindung angeſehen

werden; es iſt blos der Ausdruck der ohnehin in neuerer

 

(qq) Vertrag mit Weimar

1824 Art. 18—22. dann gleich-

lautend mit Altenburg, Koburg-

Gotha, Reuß-Gera. — Späterhin

mit Königreich Sachſen 1839

Art. 19—21, und gleichlautend mit

Rudolſtadt, Bernburg, Braun-

ſchweig (S. o. § 348. S. 31).

|0315 : 293|

§. 374. III. Obligationenrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Zeit ſtets wachſenden Rechtsgemeinſchaft (§ 348). Daher

hat es auch kein Bedenken, daß derſelbe Grundſatz auch

anderwärts in Staatsverträgen feſtgeſtellt, ja ſelbſt ohne

ſolche Verträge von den darin übereinſtimmenden Gerichten

verſchiedener Staaten, unter ausdrücklicher oder ſtillſchwei-

gender Genehmigung ihrer Regierungen, geltend gemacht

werden könnte.

Der Inhalt der hier angegebenen Verträge iſt aber nicht

blos unmittelbar wichtig für das Verhältniß zwiſchen Preußen

und den dabei betheiligten Staaten, und mittelbar für das

Verhältniß zu anderen fremden Staaten als Grundlage

einer gütlichen Unterhandlung mit denſelben, wie ſo eben

bemerkt wurde. Vielmehr können dieſe Verträge, indem

ſie Aufſchluß geben über den Sinn unſrer Geſetzgebung,

zugleich dazu dienen, eine auf das innere Verhältniß unſrer

verſchiedenen Landestheile bezügliche Rechtsfrage zu beant-

worten. Wenn in Berlin ein Concurs eröffnet wird, zum

Vermögen des Schuldners aber Grundſtücke und beweg-

liche Sachen gehören, die ſich in Neuvorpommern befinden

(wo das Römiſche Recht gilt), und dort durch bloßen

Vertrag verpfändet ſind, ſo fragt ſich, wie ſich der Werth

dieſer Sachen zu jenem Concurſe verhalte. Ständen die

Richter jenes Landestheils unter der Preußiſchen Gerichts-

ordnung, ſo müßten ſie den Werth der erwähnten Sachen,

(oder die beweglichen Sachen in Natur) dem Berliner

 

|0316 : 294|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Concursrichter einliefern (rr), der das erlöſte Geld nach

der Preußiſchen Claſſification behandeln würde. Dabei

würden jene Glaubiger ſehr in Nachtheil kommen, indem

ihre Forderungen weder auf die zweite, noch auf die dritte

Klaſſe der Preußiſchen Concursordnung Anſpruch haben.

Allein jene Richter ſind durch die angeführten Geſetze nicht

gebunden, und die erwähnten Forderungen und Pfandrechte

ſind demnach ſo zu behandeln, wie wenn ſie dem Auslande

angehörten, und zwar einem ſolchen Auslande, deſſen Be-

hörden gegen unſre Behörden zu gegenſeitiger Unterſtützung

nach billigen Grundſätzen bereit wären. Dieſes führt nun

dahin, die Grundſätze der oben erwähnten Verträge anzu-

wenden. Hiernach würden die Neuvorpommerſchen Gerichte

die in ihrem Bereiche liegenden Vermögensſtücke zu ver-

kaufen und das Kaufgeld an den Berliner Concursrichter

abzuliefern haben. Die Glaubiger aber, die an jenen

Sachen Pfandrechte hatten, würden in dem Berliner Con-

curs, ſo weit dieſes Kaufgeld reicht, dieſelbe Priorität ver-

langen können, die ihnen zugekommen wäre, wenn der

Concurs in Neuvorpommern Statt gefunden hätte.

(rr) Allg. Ger. Ordnung I. 50 § 648. Geſetz vom 28. Dec.

1840 § 2 (Geſetzſammlung 1841 S. 4).

|0317 : 295|

§ 375. IV. Erbrecht.

§. 375.

IV. Erbrecht.

Wir haben zunächſt für das Erbrecht, ſo wie es für an-

dere Rechtsinſtitute bereits geſchehen iſt, zu unterſuchen,

welchem örtlichen Recht daſſelbe nach ſeiner beſonderen Na-

tur angehört, alſo wo es ſeinen eigentlichen Sitz hat (§ 360).

Um Dieſes zu erkennen, müſſen wir zurückſehen auf die

oben angedeutete Natur des Erbrechts (B. 1 § 57). Es

beſteht in dem Uebergang eines Vermögens, bei dem Tode

des Inhabers, auf andere Perſonen. Darin liegt eine

künſtliche Erſtreckung der Macht, alſo auch des Willens,

eines Menſchen über die Gränze des Lebens hinaus, wel-

cher fortwirkende Wille bald ein ausdrücklicher ſeyn kann

(in dem Teſtament), bald ein ſtillſchweigender (in der In-

teſtaterbfolge) (a). Dieſes Verhältniß nun ſchließt ſich ganz

und unmittelbar an die Perſon des Verſtorbenen an, ge-

rade ſo, wie es oben von der Rechtsfähigkeit bemerkt wor-

den iſt (§ 362), und wie es ſpäterhin bei der Familie ge-

zeigt werden wird. Iſt nun dieſe Auffaſſung der Sache

richtig, ſo muß behauptet werden, daß das Erbrecht ſich

im Allgemeinen richtet nach dem örtlichen Recht des Wohn-

ſitzes, welchen der Verſtorbene zur Zeit ſeines Todes

 

(a) Dieſe zweite Art des fortwirkenden Willens ſteht zugleich in

Zuſammenhang mit der Fortſetzung der Individualität des Menſchen

durch die Verwandtſchaft, ſ. o. B. 1 § 53.

|0318 : 296|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

hatte (b). — Um dieſe Behauptung an oben erklärte Kunſt-

ausdrücke anzuknüpfen, müſſen wir ſagen, daß die Geſetze

über das Erbrecht zu den Perſonalſtatuten gehören,

indem ſie principaliter die Perſon, und nur mittelbar auch

Sachen, zum Gegenſtand haben (§ 361).

Die Richtigkeit dieſer Behauptung wird noch durch fol-

gende Betrachtungen beſtätigt. Wollte man den Wohnſitz

des Erblaſſers nicht als beſtimmend anſehen für das örtliche

Recht, ſo bliebe kein anderer Ort übrig, an den wir das

Erbrecht anknüpfen könnten, als der Ort, wo ſich das hin-

terlaſſene Vermögen, die Erbſchaft, befindet, ſo daß dann

die lex rei sitae entſcheiden müßte. Wo iſt nun aber dieſer

Ort? Das Vermögen als Ganzes iſt ein ideales Object

von völlig unbeſtimmtem Inhalt (c), möglicherweiſe beſte-

hend aus Eigenthum und anderen Rechten an einzelnen

Sachen, aus Forderungen und Schulden, welche letzte Be-

ſtandtheile ſogar ein völlig unſichtbares Daſeyn haben.

Dieſes Vermögen alſo iſt überall und nirgend, ſo daß ein

locus rei sitae dafür gar nicht aufzufinden iſt. Es wäre

ein ganz willkürlicher Behelf, wenn man den Ort annehmen

wollte, wo der größere Theil der Erbſchaft liegt, denn theils

iſt dieſer Begriff völlig ſchwankend, theils hat der kleinere

 

(b) S. o. § 359. Nach Rö-

miſchem Recht war vielmehr das

Recht der origo zunächſt ent-

ſcheidend (§ 357). — Bei dem

Tode eines Vagabunden, der keinen

Wohnſitz hat, entſcheidet das Recht

ſeiner Herkunft, und, wenn auch

dieſe nicht zu ermitteln iſt, das

Recht des letzten Aufenthalts, d. h.

des Ortes wo er ſtarb (§ 359).

(c) S. o. B. 1 § 56.

|0319 : 297|

§. 375. IV. Erbrecht.

Theil eben ſo viel Anſpruch auf Beachtung, als der größere.

Geben wir aber Dieſes auf, ſo bliebe dann nur noch übrig,

den Ort der Erbſchaft überall anzunehmen, wo ſich irgend

eine einzelne, zum Vermögen gehörende, Sache befindet.

Dieſes aber würde wieder dahin führen, bei einem ausge-

dehnten und zerſtreuten Vermögen, viele von einander un-

abhängige Erbſchaften anzunehmen, die vielleicht ganz ver-

ſchiedenen Geſetzen unterworfen wären, und damit doch nur

einen Theil der Erbſchaft (die dinglichen Rechte) zu treffen,

den andern Theil aber (die Obligationen) unberührt zu

laſſen. Es iſt einleuchtend, daß dieſes Verfahren völlig

willkürlich und grundſatzlos iſt, ja auf einen leeren Schein,

ohne Wahrheit, führt. Dennoch hat daſſelbe zahlreiche An-

hänger gefunden, wovon ſogleich weiter die Rede ſeyn

wird.

Die Grundlage des Römiſchen Erbrechts iſt die Suc-

cessio per universitatem, die bei jeder Erbfolge angenom-

men werden muß, und neben welcher alle andere Rechts-

verhältniſſe als bloße Nebenſache erſcheinen. Dieſe iſt aber

nur die juriſtiſche Form, unter welche das eben erklärte

Weſen des Erbrechts gebracht wird, und von dieſem Stand-

punkt aus müſſen wir noch beſonders vom Römiſchen Recht

behaupten, daß nach demſelben die hier aufgeſtellte Behaup-

tung über den Sitz des Erbrechts völlig zweifellos erſcheint.

Ganz verwerflich aber iſt die Anſicht mancher neueren

Schriftſteller, nach welcher die Univerſalſucceſſion ein eigen-

thümliches Rechtsinſtitut der Römer ſeyn ſoll, im Gegenſatz

 

|0320 : 298|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

anderer (germaniſcher) Geſetzgebungen, die davon, wie man

behauptet, Nichts wiſſen wollen. Das wahre Verhältniß iſt

vielmehr ſo aufzufaſſen, daß im poſitiven Recht vieler Staaten

das Erbrecht auf einer niederen Stufe der Entwickelung ſtehen

geblieben iſt, anſtatt daß daſſelbe bei den Römern, in Folge

eines glücklichen Taktes, ſchon von früher Zeit an,

die ſeiner eigenthümlichen Natur allein angemeſſene

Behandlung erfahren hat, wohin dann auch jedes

abweichende poſitive Recht unaufhaltſam hinſtrebt (d).

Es würde auch unrichtig ſeyn, dieſe Verſchiedenheit als

eine blos theoretiſche aufzufaſſen, über deren Werth oder

Unwerth man etwa ſo oder anders denken möchte. Viel-

mehr iſt es gerade das praktiſche Bedürfniß neuerer Zeit,

das nur in der ausgebildeten Univerſalſucceſſion ſeine volle

Befriedigung findet, da in dem ungeheuren Aufſchwung

aller Vermögensverhältniſſe die Obligationen eine ſtets zu-

nehmende Wichtigkeit erlangen.

§. 376.

IV. Erbrecht. (Fortſetzung.)

Ich gehe nun über zur Darſtellung der wichtigſten Mei-

nungsverſchiedenheiten über die auf das Erbrecht anwend-

baren Geſetze, ſo wie ſie ſich unter den Schriftſtellern, und,

damit zuſammenhängend, in der Praxis verſchiedener Län-

 

(d) S. o. B. 1 § 57. S. 382. 383.

|0321 : 299|

§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

der und Zeiten, allmälig ausgebildet haben. Dieſe Mei-

nungen laſſen ſich auf drei Hauptklaſſen zurück führen.

Die eine iſt die oben dargeſtellte, nach welcher das Erb-

recht allgemein beherrſcht wird von dem Geſetz des Ortes,

an welchem der Erblaſſer zur Zeit des Todes ſeinen Wohn-

ſitz gehabt hat. Sie hält die Geſetze über das Erbrecht

für Perſonalſtatuten.

 

Eine andere, völlig entgegengeſetzte, die auch ſchon an-

gedeutet worden iſt, geht dahin, daß das Erbrecht ſich rich-

tet nach dem Ort, an welchem die Sachen der Erbſchaft

ſich befinden. Dieſe Meinung führt auf die Möglichkeit,

daß die Beſtandtheile der Erbſchaft nach verſchiedenen Rech-

ten beurtheilt werden; ſie läßt ferner die in dem Vermö-

gen befindlichen Forderungen und Schulden zunächſt unbe-

ſtimmt, mit dem natürlichen Vorbehalt, darüber in jedem

einzelnen Fall das praktiſche Bedürfniß durch irgend eine

beliebige Auskunft zu befriedigen.

 

Eine letzte Meinung endlich ſteht zwiſchen den beiden

eben angegebenen in der Mitte. Sie nimmt für das un-

bewegliche Eigenthum die lex rei sitae an, für alles übrige

Vermögen (bewegliches Eigenthum und Obligationen) das

am Wohnſitz des Erblaſſers geltende Geſetz. Dieſe Mei-

nung iſt von der praktiſchen Schwäche der vorhergehenden

theilweiſe frei, da man nach ihr beſtimmt weiß, wer die

Forderungen bekommen ſoll; aber auch nur theilweiſe, in-

dem die Schulden in jedem Fall auf dem ganzen Vermö-

gen haften müſſen, auch auf den ausländiſchen Immobilien,

 

|0322 : 300|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſo daß die Schulden vielleicht von ſehr verſchiedenen Perſo-

nen zu tragen ſind (a). — Man kann dieſe Meinung nach

dem oben erklärten Kunſtausdruck kurz ſo bezeichnen, daß

ſie Geſetze über das Erbrecht für Realſtatuten er-

klärt (§ 361) (b).

Ich werde dieſe drei Meinungen jetzt einzeln darſtellen,

und zwar nach der Zeitfolge ihrer Entſtehung und vorherr-

ſchenden Geltung.

 

A. Die älteſte Meinung iſt die, nach welcher die

Erbſchaft in alle Sachen, bewegliche und unbewegliche, le-

diglich unter dem Geſetz des Landes ſtehen ſoll, in welchem

die Sache liegt (c); dieſe Meinung iſt eine einzelne An-

wendung des ſtrengen Rechts der Territorialität (§ 348).

 

Die älteſte und ſchroffſte Geſtalt derſelben ging dahin,

daß alle im Lande befindliche Erbſchaftsſtücke (bewegliche

und unbewegliche) an ausländiſche Erben gar nicht kom-

men, ſondern an deren Stelle dem Landesherrn (oder Vog-

 

(a) Dieſe ungemeine Schwierig-

keit in der Ausführung wird auch

von den Schriftſtellern nicht ver-

kannt, und es werden Vorſchläge

zur Aushülfe gemacht, die ſich

großentheils willkürlich und unzu-

reichend zeigen. Vgl. Hert. § 29.

Es liegt darin aber nur ein Kenn-

zeichen der inneren Unwahrheit

dieſes ganzen Syſtems. Derſelbe

Vorwurf trifft natürlich auch die

vorhergehende Meinung, nur noch

in weit höherem Grade.

(b) Dieſe Bezeichnung würde

noch in höherem Grade auf die

vorhergehende Meinung paſſen,

wenn es nicht üblich wäre, den

Ausdruck der Realſtatuten auf

Immobilien zu beſchränken.

(c) Schriftſteller für dieſe Mei-

nung ſind in großer Zahl ange-

führt bei Wächter I. 275. 276.

II. 192.

|0323 : 301|

§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

teiherrn) zufallen ſollten (d). Die mildere Form unter-

wirft dieſe Erbſchaftsſtücke nur unbedingt dem inländiſchen

Geſetz, ohne Rückſicht auf den Wohnſitz des Erblaſſers,

aber auch ohne zwiſchen inländiſchen und ausländiſchen

Erbberechtigten zu unterſcheiden.

Die Gründe gegen dieſe Lehre ſind bereits oben ausge-

führt worden; ich will dieſen Gründen aber jetzt noch fol-

gende praktiſche Bemerkung hinzufügen. Wäre dieſer Grund-

ſatz überall anerkannt und durchgeführt, ſo müßte jeder vor-

ſichtige Hausvater, wenn er auswärts Vermögen beſitzt,

irgend einen Schutz ſuchen gegen unerwünſchte Erben, ſo

wie gegen die drohende Verwirrung in Beziehung auf

Schuldverhältniſſe. Dieſen Schutz gegen den Druck jenes

Grundſatzes könnte er nur darin finden, daß er in Zeiten

alles auswärts liegende Eigenthum veräußerte, oder auch

die beweglichen Sachen in das Land ſeines Wohnſitzes

herein brächte. Auch in dieſem natürlichen Bedürfniß und

Beſtreben liegt ein untrügliches Zeichen der aus jenem

Grundſatz hervorgehenden grundloſen Härte.

 

B. Die vermittelnde Meinung ſchließt ſich ganz der

vorhergehenden an, nur mit Einſchränkung derſelben auf

das zur Erbſchaft gehörende unbewegliche Eigenthum; das

bewegliche Eigenthum überläßt ſie dem am Wohnſitz des

Erblaſſers geltenden Recht, auch wenn es im Ausland ſich

befinden ſollte. Alle Gründe, welche gegen die vorherge-

 

(d) Droit d’aubaine. Vgl. Eichhorn deutſches Recht § 75.

|0324 : 302|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

hende Meinung aufgeſtellt worden ſind, gelten auch gegen

dieſe Meinung, nur in geringerem Grade, indem ſie in

einem minderen Umfang von der richtigen Behandlung

abweicht.

Dieſe Meinung hat ſich beſonders vom ſechszehnten

Jahrhundert an geltend gemacht (e). In Deutſchland iſt

ſie ſeit dem achtzehnten Jahrhundert mehr und mehr ver-

drängt worden. Dagegen hat ſie ſich bis auf unſere Zeit

erhalten in England und Amerika (f), ſo wie in Frank-

reich (g). Sie ſteht im Zuſammenhang mit dem allgemei-

nen Unterſchied, welcher in den erwähnten Ländern zwiſchen

dem beweglichen und unbeweglichen Vermögen feſt gehalten

zu werden pflegt (§ 360. Num. 3).

 

C. Die von mir vertheidigte Meinung endlich, nach

welcher der Wohnſitz allgemein entſcheidet, iſt vom achtzehn-

ten Jahrhundert an beſonders in Deutſchland ſtets zuneh-

mend zur allgemeinen Anerkennung gelangt, nachdem ſie zu-

erſt vorzugsweiſe für die Inteſtaterbfolge angenommen wor-

den war (h). Sie wird nicht blos von Romaniſten ver-

 

(e) Schriftſteller werden in

großer Zahl angeführt bei Wäch-

ter II. S. 188—192. Foelix

p. 72—85.

(f) Story Chap. 11. 12.

(g) Foelix (Note e). —

Daſſelbe erwähnt von Holland

Vinnius sel. quaest. II. 19, na-

türlich für ſeine Zeit.

(h) Schriftſteller in großer

Zahl werden angeführt von

Wächter II. 192—198 und

Schäffner § 130. Auszeichnung

verdienen: Pufendorf I. Obs. 28.

Glück Inteſtaterbfolge § 42.

Martin Rechtsgutachten der Hei-

delberger Fakultät B. 1 S. 175—

186. — Wächter, der ſich ſelbſt

zu dieſer Meinung bekennt, recht-

fertigt dieſelbe II. 198. 199. 363.

|0325 : 303|

§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

theidigt (wie man vielleicht glauben könnte in Beziehung

auf die Univerſalſucceſſion), ſondern auch, im richtigen Ge-

fühl des praktiſchen Bedürfniſſes, eben ſo von Germa-

niſten (i); auch hat ſich die Praxis der höheren Gerichte dafür

entſchieden (k). — Die eigentliche Begründung dieſer Meinung

liegt in der oben entwickelten Natur des Erbrechts über-

haupt, und dieſe Begründung iſt auf Teſtamente eben ſo

anwendbar, wie auf die Inteſtaterbfolge. Bei der Inteſtat-

erbfolge aber kommt noch folgende Rückſicht in Betracht.

Dieſelbe beruht überhaupt auf dem präſumtiven, alſo ſtill-

ſchweigenden, Willen des Verſtorbenen; nicht als ob von

dieſer beſtimmten Perſon für ihre individuellen Verhältniſſe

ein ſolcher Wille als ſichere Thatſache behauptet würde,

ſondern indem jedes poſitive Recht eine allgemeine Vermu-

thung aufſtellt, ſo wie ſie der Natur der Familienverhält-

niſſe angemeſſen erſcheint. Daß nun eine ſolche Präſum-

tion in verſchiedenen Geſetzgebungen ſo oder anders ange-

nommen werden kann, iſt ganz natürlich. Dagegen würde

es ſehr unnatürlich ſeyn, in einem einzelnen gegebenen Fall

ganz richtig auf folgende Weiſe:

der Staat wolle durch die Erbfolge-

geſetze nicht das Schickſal der Ob-

jecte (der Güter) reguliren, ſondern

das der Subjecte, der Perſonen;

daher richte er ſolche Geſetze an

die Staatsangehörigen (die Ein-

wohner), und die Erbfolge in

das Vermögen verſtorbener Aus-

länder ſey ihm gleichgültig. —

Das iſt nur ein anderer Ausdruck

dafür, daß Erbfolgegeſetze als

Perſonalſtatute beabſichtigt werden,

nicht als Realſtatute.

(i) Eichhorn deutſches Recht

§ 35. Mittermaier deutſches

Recht § 32.

(k) O. A. Gericht zu Caſſel

1840. Seuffert Archiv B. 1

N. 92.

|0326 : 304|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

der Erbfolge, dem Erblaſſer für verſchiedene Vermögens-

ſtücke einen verſchiedenen Willen durch Präſumtion unterzu-

legen, alſo etwa anzunehmen, daß er für ſein Haus eine

andere Perſon, als für ſein Landgut oder ſein baares Geld,

als Erben zu haben wünſche, wenn er ſich nicht darüber

(durch Teſtament) beſonders erklärt hat.

In Beziehung auf die unter B. dargeſtellte vermittelnde

Meinung, welche zwiſchen beweglichem und unbeweglichem

Vermögen unterſcheidet, ſind noch zwei Anſichten zur

Sprache gekommen, deren genauere Prüfung vielleicht zur

Annäherung der Meinungen beitragen kann.

 

Ein neuerer Schriftſteller tadelt es, daß ſich Andere

überhaupt für die eine oder andere Meinung allgemein aus-

ſprächen, da doch jede derſelben unter gewiſſen Voraus-

ſetzungen richtig ſey (l). In den Ländern, welche das Erb-

recht (nach Römiſchem Grundſatz) als Univerſalſucceſſion

behandelten, ſey der Wohnſitz für das ganze Vermögen ent-

ſcheidend; in den Ländern dagegen, welche das Erbrecht

nicht als Univerſalſucceſſion anſähen (wie England und

Amerika) müſſe die Erbfolge in Immobilien nach der lex

rei sitae beurtheilt werden. — Bei dieſer Anſicht liegt das

Mißverſtändniß zum Grunde, als ob die Annahme oder

Verwerfung der Univerſalſucceſſion etwas für ſich Beſtehen-

des wäre, woraus dann weiter auf den Sitz des Erbrechts

und das bei demſelben geltende örtliche Recht gefolgert werden

 

(l) Schäffner § 57—59, § 126—152.

|0327 : 305|

§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

könnte. In der That aber iſt Beides identiſch, und die Univer-

ſalſucceſſion iſt nur die juriſtiſche Form und der Kunſtaus-

druck für die Auffaſſung des Erbrechts, die den Sitz deſſel-

ben allgemein (ohne Unterſchied der Beſtandtheile des Ver-

mögens) in den Wohnſitz verlegt. So aufgefaßt, muß alſo

die aufgeſtellte Unterſcheidung unter folgenden Ausdruck ge-

bracht werden: Vom Standpunkte der Länder und der

Schriftſteller aus, die das Erbrecht auf das Vermögen als

Ganzes beziehen, iſt die lex domicilii entſcheidend auch für

Immobilien, von einem anderen Standpunkt aus iſt ſie es

nicht. In dieſem Sinn aber wird die Unterſcheidung auch

gewiß von keiner Seite bezweifelt werden.

Weit wichtiger iſt folgender Grund, der nicht ſelten zur

Rechtfertigung der vermittelnden Meinung (unter B.) gel-

tend gemacht wird. Es giebt gewiſſe Arten von Grund-

ſtücken, ſagt man, von welchen Jeder zugiebt, daß bei ihnen

die Erbfolge nach der lex rei sitae zu beurtheilen iſt; da-

hin gehören namentlich Lehen und Fideicommiſſe. Was nun

bei dieſen allgemein eingeräumt wird, muß conſequenter-

weiſe auch bei allen anderen Grundſtücken gelten. — Be-

trachten wir dieſen Grund etwas genauer.

 

Mit den Lehen und Fideicommiſſen verhält es ſich auf

ähnliche Weiſe, wie mit dem Römiſchen Niesbrauch: ſie

gehören nicht zum Vermögen, alſo auch nicht zur Erbſchaft.

Der Niesbraucher hat ein lebenslängliches Recht des Frucht-

genuſſes; dieſes allein iſt in ſeinem Vermögen, mit dem Tode

verſchwindet es, alſo iſt in der Erbſchaft keine Spur mehr

 

VIII. 20

|0328 : 306|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

davon vorhanden. Ganz ähnlich das Fideicommiß, und

eben ſo das Lehen. Der Fideicommißbeſitzer hat ein lebens-

längliches Recht des Fruchtgenuſſes, mit ſeinem Tode ver-

ſchwindet daſſelbe, und das Gut fällt an den Eigenthümer,

die fideicommißberechtigte Familie, zurück; nur nicht ſo, wie

bei dem Niesbrauch, als freies Eigenthum, mit willkürlicher

Verfügung durch Theilung oder Verkauf, ſondern ſo, daß

das durch die Fideicommißſtiftung bezeichnete Familienglied

in den durch den Tod frei gewordenen Fruchtgenuß, wiede-

rum als in ein lebenslängliches Recht, eintritt. Indem

alſo die Lehen und Fideicommiſſe, ihrer Natur nach, gar

nicht zu einer Erbſchaft gehören können, werden ſie auch

gar nicht berührt von den Erbſchaftsgeſetzen, weder des

Landes, worin der jetzt verſtorbene Beſitzer wohnte, noch des

Landes, worin ſie liegen. Es ſind ſpecielle Rechtsinſtitute

an beſtimmten, einzelnen Grundſtücken, und dieſe können

überall nur von der lex rei sitae beherrſcht werden (§ 366.

§ 368. Num. 5). Wir können dieſen Satz auch ſo aus-

drücken: Die Geſetze über die Nachfolge in Lehen und Fidei-

commiſſe ſind Realſtatute. Oder mit anderen Worten:

Jeder Geſetzgeber über Lehen und Fideicommiſſe will Etwas

beſtimmen über die in ſeinem Lande liegenden Güter ſolcher

Art, nicht über die auswärtigen Güter, deren zeitige Be-

ſitzer nur in ſeinem Lande wohnen.

Etwas verſchieden iſt das Verhältniß mancher anderen

Klaſſen von Grundſtücken, und dennoch iſt der Erfolg der-

ſelbe. — Wenn ein Landesgeſetz die Erhaltung eines wohl-

 

|0329 : 307|

§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

habenden Bauernſtandes dadurch zu befördern ſucht, daß

es, ohne Einſchränkung des Eigenthums und namentlich

des Rechts der Veräußerung, nur die Erbfolge in Bauer-

güter dahin beſtimmt, daß ſtets der älteſte (oder auch der

jüngſte) Sohn als einziger Erbe eintreten ſoll, ſo hat die-

ſes Geſetz folgende Natur. Es ſchließt aus die teſtamen-

tariſche Erbfolge, die Theilung des Gutes, das Erbrecht

der Töchter, ſo lange Söhne vorhanden ſind. Es iſt alſo

zwar ein Erbfolgegeſetz, hat aber einen politiſchen, außer

dem reinen Rechtsgebiet liegenden, Zweck, und iſt daher ein

Geſetz von zwingender, ſtreng poſitiver Natur (§ 349). Ein

ſolches Geſetz iſt ein Realſtatut, und umfaßt alle im Lande

liegenden Bauergüter, ohne Rückſicht auf den Wohnſitz des

gegenwärtigen Eigenthümers. Es bezieht ſich aber gar

nicht auf die Bauergüter, die etwa ein Einwohner des Lan-

des im Ausland beſitzen möchte. Es will daher nicht,

wie gewöhnliche Erbfolgegeſetze, dem Vermögen verſtorbener

Einwohner das angemeſſenſte Schickſal anweiſen, ſondern

es will gewiſſe Staatszwecke fördern durch das einer be-

ſtimmten Klaſſe von Grundſtücken angewieſene Schickſal.

— Aehnliche Beſtimmungen, und mit völlig gleichem Erfolg

kommen auch bei adeligen Gütern vor, zum Zweck der Er-

haltung wohlhabender adeliger Familien. Ein ſolches Ge-

ſetz war im Herzogthum Weſtphalen die Erblandesvereini-

gung von 1590, welche den Töchtern des Beſitzers die Erb-

folge in adelige Güter verſagte. Ueber die Anwendung

dieſes Geſetzes entſtand im J. 1838 ein merkwürdiger

20*

|0330 : 308|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Rechtsſtreit, welcher vom Oberlandesgericht zu Münſter,

und eben ſo vom Obertribunal in Berlin, ganz richtig

dahin entſchieden wurde, daß das Geſetz ein Realſtatut

ſey, anwendbar auf die im Herzogthum liegenden adeligen

Güter, ohne Rückſicht auf den Wohnſitz der betheiligten

Perſonen (m).

Alle hier angeführte Fälle, ſo verſchieden ſie an ſich

ſeyn mögen, kommen darin überein, daß die Geſetze über

die Nachfolge nicht darauf ausgehen, das Vermögen eines

Verſtorbenen einer angemeſſenen Richtung zuzuweiſen, ſon-

dern vielmehr das Schickſal beſtimmter einzelner Grundſtücke,

oder auch Klaſſen von Grundſtücken, zu regeln; daher

müſſen ſie als Realſtatute angeſehen werden, nicht als

Perſonalſtatute (n). Die aufgeſtellte Behauptung ſteht alſo

gar nicht im Widerſpruch mit der oben angegebenen Regel

über die Behandlung reiner Erbfolgegeſetze, und ſie kann

alſo auch nicht dazu benutzt werden, die erwähnte Regel

zweifelhaft zu machen.

 

Bei den bisher abgehandelten einzelnen Rechtsverhält-

niſſen iſt ſtets hingewieſen worden auf den innigen Zu-

ſammenhang zwiſchen dem beſonderen Gerichtsſtand und

 

(m) Graf Bocholtz c. Freifrau

von Venningen, in: Ulrich und

Sommer neues Archiv B. 6

S. 476—512. Die entſcheidend-

ſten Stellen der Urtheilsgründe

finden ſich S. 481. 507. 508.

(n) Ganz übereinſtimmend er-

klärt ſich Wächter II.. S. 364.

|0331 : 309|

§. 376. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

dem anwendbaren örtlichen Recht (§ 360 Num. 1). Einen

ſolchen Zuſammenhang möchte man nun auch bei dem Erb-

recht erwarten; dennoch muß er hier entſchieden verneint

werden, und zwar deswegen, weil für das Erbrecht über-

haupt keine andere Örtlichkeit aufgefunden werden kann,

als die allgemeine, die in dem Wohnſitz des Erblaſſers

gegründet iſt (§ 375).

Im Römiſchen Recht (o) gab es lange Zeit für die

Erbrechtsklage durchaus keinen anderen Gerichtsſtand, als

im Wohnſitz des Beklagten (p). Nach Juſtinian’s Geſetz-

gebung ſollte ſie auch angeſtellt werden können im forum

rei sitae (q). Das hat aber nur den Sinn, daß Jeder,

der das Recht des Erben dadurch verletzt, daß er irgend

eine Erbſchaftsſache pro herede oder pro possessore beſitzt,

da belangt werden kann, wo gerade die Sache liegt, das

heißt, wo der unrechtmäßige Beſitz, der die Rechtsverletzung

enthält, ausgeübt wird (r). Es iſt aber einleuchtend, daß

 

(o) Vgl. Bethmann Holl-

weg Verſuche S. 61 — 69.

Arndt’s Beiträge Num. 2.

(p) L. un. C. ubi de hered.

(3. 20). Die Worte: „vel si ibi,

ubi res hereditariae sitae sunt,

degit, ſind ſo zu überſetzen: „die

hereditatis petitio gehört aus-

ſchließend in das forum domicilii

des Beklagten, und dieſe Regel iſt

ſelbſt dann anzuwenden (vel si

ibi etc.), wenn auch der Beklagte

an dem Orte, wo die Erbſchafts-

ſachen liegen, ſich einige Zeit auf-

hält“ (si ibi degit). Arndt’s

Beiträge S. 122—124.

(q) Nov. 69 C. 1, die einen ſehr

allgemeinen Umfang hat. Die

L. 3 C. ubi in rem (3. 19) geht,

nach richtiger Auslegung, nur auf

die Eigenthumsklage, nicht auf

andere Klagen in rem, alſo auch

nicht auf die hereditatis petitio.

(r) Die Nov. 69 C. 1 führt

den Gerichtsſtand ſtets zurück auf

den Ort der Rechtsverletzung. Eben

|0332 : 310|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

durch dieſen Ort nicht auch das örtliche Recht der Erbſchaft

beſtimmt werden kann, da es möglich iſt, daß die Erb-

ſchaftsſachen an vielen Orten zerſtreut liegen, und von

unberechtigten Perſonen beſeſſen werden. Die Erbſchaft im

Ganzen aber, oder auch nur der größere Theil derſelben, kann

auf gar keinen beſtimmten Ort mit irgend einer Sicherheit

zurückgeführt werden (§ 375), und ein ſolcher Ort wird

auch in keinem Geſetz als Grund eines beſonderen Gerichts-

ſtandes angegeben. Für die Fideicommiſſe hat allerdings

das Römiſche Recht einen beſonderen Gerichtsſtand ange-

ordnet, da, wo der größere Theil der Erbſchaft liegt (s);

allein es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſe willkürliche, excep-

tionelle Vorſchrift für ein ganz vereinzeltes Rechtsinſtitut

nicht maaßgebend ſeyn kann für das örtliche Recht der Erb-

ſchaft überhaupt.

Manche neuere Geſetzgebungen haben als Gerichtsſtand

der Erbſchaft den Ort feſtgeſtellt, wo die Erbſchaft eröffnet

iſt (t), welches eben ſo viel ſagt, als den letzten Wohnſitz

des Erblaſſers (u).

 

ſo ſagt L. 3 C. ubi in rem (wenn

man dieſe überhaupt auf die here-

ditatis petitio anwenden will):

„in locis, in quibus res …

constitutae sunt, adversus pos-

identem moveri.“

(s) S. o. § 370 Noten bb.

bis ee.

(t) Code de procedure

art. 59 „le tribunal du lieu ou

la succession est ouverte.“

(u) Preußiſche Allg. Gerichts-

ordnung I. 2 § 121—125.

|0333 : 311|

§. 377. IV. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen.

§. 377.

VI. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen.

Wie es oben bei den Obligationen geſchehen iſt (§ 374),

ſo ſollen jetzt auch bei dem Erbrecht einzelne Rechtsfragen

aufgeſtellt werden, die in Beziehung auf das örtliche Recht

vorkommen können. Dieſelben bedürfen nur da einer beſon-

deren Erörterung, wo die allgemeine Regel, nach welcher

der Wohnſitz zur Zeit des Todes entſcheidet, nicht aus-

reichend iſt (a).

 

1. Die perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung

auf deſſen Rechtsverhältniſſe iſt, wie in zwei ver-

ſchiedenen Zeitpunkten (b), ſo auch, im Fall des veränderten

Wohnſitzes, an zwei verſchiedenen Orten erforderlich. Fehlt

ihm alſo dieſe Fähigkeit nach dem Geſetz des Wohnſitzes,

in welchem er das Teſtament errichtet, ſo iſt und bleibt

das Teſtament ungültig, auch nach verändertem Wohnſitz.

Eben ſo iſt es aber auch ungültig, wenn ihm jene Fähig-

keit fehlt nach dem Geſetz, welches in dem letzten Wohnſitz

zur Zeit des Todes beſteht. Der Grund liegt darin, daß

der letzte Wille zu betrachten iſt als ausgeſprochen in zwei

verſchiedenen Zeitpunkten, und möglicherweiſe auch an zwei

 

(a) Es ſind hierbei zu ver-

gleichen die über die zeitliche Colli-

ſion der Erbrechtsgeſetze unten auf-

zuſtellende Regeln (§ 393. 395).

Die daſelbſt gegebene genauere Er-

örterung über die Natur des Te-

ſtaments iſt auch hier maaßgebend.

(b) Zur Zeit der Errichtung

und zur Zeit des Todes (§ 393).

|0334 : 312|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

verſchiedenen Orten: faktiſch zur Zeit der Errichtung, und

an dem Orte, der in dieſer Zeit der Wohnſitz des Teſtators

iſt; juriſtiſch zur Zeit des Todes, und an dem Orte, der

in dieſer Zeit der Wohnſitz iſt (§ 393).

2. Die perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung

auf deſſen phyſiſche Eigenſchaften (z. B. das Alter)

richtet ſich nach dem zur Zeit des errichteten Teſtaments

am Wohnſitz des Teſtators geltenden Geſetz, ohne Rückſicht

auf ſpätere Veränderungen des Wohnſitzes.

 

3. Der Inhalt des Teſtaments, insbeſondere die

geſetzliche Gültigkeit oder Ungültigkeit deſſelben, richtet ſich

nach dem am letzten Wohnſitz des Teſtators geltenden Ge-

ſetz. So insbeſondere die Regeln über Enterbung, Präter-

ition und Pflichttheil. Daſſelbe muß behauptet werden

von Legaten und Fideicommiſſen. Zwar beziehen ſich dieſe

auf einzelne, begränzte Gegenſtände, und man könnte daher

annehmen wollen, daß auf ſie die lex rei sitae anwendbar

ſeyn möchte. In der That aber ſind dieſe Rechtsinſtitute

nur einzelne, untergeordnete Modificationen der geſammten

Erbſchaft, die nur von ihrem Standpunkt aus richtig be-

urtheilt werden können. Jede abſondernde Behandlung

würde zu den größten Widerſprüchen führen können.

 

Ausnahmen können eintreten durch entgegen ſtehende

zwingende Geſetze. Wenn alſo durch Teſtament ein Fami-

lienfideicommiß errichtet wird für ein Gut, das in einem

fremden Lande liegt, deſſen Geſetz Fideicommiſſe nicht aner-

kennt, ſo entſcheidet das für den urtheilenden Richter

 

|0335 : 313|

§. 377. IV. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen.

geltende Geſetz, welches hier auf die Ungültigkeit der An-

ordnung führt.

Die Auslegung des Teſtaments ſteht unter ähnlichen

Regeln, wie die Auslegung der Verträge (§ 374. B).

Dieſe Regeln werden hier meiſt auf den letzten Wohnſitz

des Erblaſſers zurück weiſen (c).

 

4. Die perſönliche Fähigkeit der zur Erbſchaft im

Ganzen, oder zu einem einzelnen Stück der Erbſchaft, be-

rufenen Perſonen (Erben oder Legatare) iſt in der Regel

nach ihrem Wohnſitz, nicht nach dem des Erblaſſers zu

beurtheilen, und zwar nach dem Wohnſitz, den ſie zur Zeit

des Todes des Erblaſſers haben, zu welcher Zeit ihnen das

Succeſſionsrecht deferirt wird.

 

Ausnahmen können eintreten, da wo Geſetze von zwin-

gender Natur in Betracht kommen. Iſt z. B. der einge-

ſetzte Erbe durch den bürgerlichen Tod oder durch Ketzerei

nach dem Geſetz ſeines Wohnſitzes zur Erbfolge unfähig,

welches Hinderniß anderwärts nicht anerkannt wird, oder

ſteht ein beſchränkendes Geſetz über den Erwerb von Seiten

der todten Hand im Wege, ſo iſt nicht das am Wohnſitz

des Erben, ſondern das am Ort des urtheilenden Richters

geltende Geſetz anwendbar, welches ſehr häufig mit dem

Wohnſitz des Erblaſſers zuſammen fallen wird (§ 349. 365).

 

5. Von der Form des Teſtaments wird unten, bei der

Regel: locus regit actum, die Rede ſeyn (§ 381).

 

(c) Foelix p. 171.

|0336 : 314|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

6. Wenn das Geſetz des Ortes, an welchem der Teſta-

tor zur Zeit der Errichtung ſeinen Wohnſitz hat, Teſtamente

gar nicht anerkennt, ſo iſt und bleibt das da errichtete Te-

ſtament ungültig. Eben ſo iſt das Teſtament ungültig,

wenn das am letzten Wohnſitz geltende Geſetz Teſtamente

nicht anerkennt. Es gelten alſo in dieſer Hinſicht dieſelben

Regeln, welche oben über die juriſtiſche Fähigkeit der Perſon

des Teſtators aufgeſtellt worden ſind (Num. 1).

 

7. Die Inteſtaterbfolge richtet ſich nach dem Geſetz,

welches am letzten Wohnſitz des Teſtators zur Zeit des

Erbanfalls beſteht (d). Dieſes gilt namentlich von der

geſetzlichen Reihefolge der berufenen Inteſtaterben. Es gilt

aber eben ſo von den Bedingungen der Verwandtſchaft

überhaupt, alſo von dem Daſeyn ehelicher Verwandtſchaft,

ſo wie von der Legitimation (e).

 

8. Erbverträge ſind dem Römiſchen Recht fremd. Wo

ſie vorkommen, gelten für ſie ähnliche Regeln, wie für die

Teſtamente.

 

Der einſeitige Erbvertrag iſt nach dem am Wohnſitz

des Erblaſſers geltenden Geſetz zu beurtheilen. Eben ſo

aber auch gegenſeitige Erbverträge; welcher von beiden

Theilen als Erblaſſer zu betrachten iſt, hängt von dem zu-

fälligen Umſtande ab, wer zuerſt ſtirbt. Dieſe Regel folgt

aus der Analogie der Teſtamente. Sie erſcheint aber nicht

 

(d) Ueber die nähere Beſtimmung dieſes Zeitpunktes vgl. unten

§ 395.

(e) Wächter II. S. 364.

|0337 : 315|

§. 377. IV. Erbrecht. Einzelne Rechtsfragen.

minder begründet, wenn man dabei das örtliche Recht der

Verträge als maaßgebend anſehen will. Denn für das

Vermögen als Ganzes kann nur der Wohnſitz des Verſtor-

benen als Erfüllungsort des Erbvertrages angeſehen

werden.

Wenn an einem dieſer Orte die Geſetze über Erbver-

träge geändert werden, ſo entſcheidet lediglich das zur Zeit

des geſchloſſenen Vertrags geltende Geſetz (§ 395).

 

9. Das Recht auf einen erbloſen Nachlaß (bona va-

cantia) iſt ſtets als Surrogat des Erbrechts anzuſehen, alſo

gleichfalls nach dem Geſetz des Wohnorts des Erblaſſers

zu beſtimmen, ohne Rückſicht auf die Lage der Vermögens-

ſtücke, ſelbſt des auswärtigen unbeweglichen Vermögens.

Insbeſondere nach dem Römiſchen Recht iſt das Succeſ-

ſionsrecht des Fiscus zwar nicht hereditas zu nennen, wohl

aber ganz nach den Grundſätzen derſelben zu behandeln, ſo

daß der Fiscus ſelbſt zu Legataren und Fideicommiſſaren

ganz in daſſelbe Verhältniß, wie ein wahrer Erbe, treten

kann (d). — An ſich verſchieden von dieſer, allein hierher

gehörenden, Frage nach dem anwendbaren örtlichen Recht

über die bona vacantia, iſt die Frage, welchem Fiscus

der Anſpruch auf dieſelben zuſteht, dem Fiscus des Wohn-

ſitzes, oder dem der gelegenen Sache. Denn dieſe Frage

kann unter zwei Ländern entſtehen, die gleichmäßig das

 

(d) Glück Inteſtaterbfolge § 147. 150. Puchta Pandekten

§. 564.

|0338 : 316|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Römiſche Recht anerkennen. Auch dieſe Frage muß zum

Vortheil des Fiscus entſchieden werden, in deſſen Ge-

biet der Wohnſitz liegt, aus demſelben Grunde, der für

das örtliche Recht geltend gemacht wurde, nämlich weil

dieſes Recht des Fiscus die juriſtiſche Natur eines Erb-

rechts, und nur nicht den Namen deſſelben, hat (e).

§. 378.

IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.

Schriftſteller:

 

Bornemann Preußiſches Recht Ausg. 2. B. 1.

S. 54—62.

Rintelen Abhandlung in Kamptz’s Jahrbüchern

B. 30. S. 89 fg.

Koch Preußiſches Recht B. 1. § 40. Num. II.

Ergänzungen ꝛc. von Gräff ꝛc. (Fünfmännerbuch)

Ausg. 2. B. 1. S. 116—121.

Es hat ſich in neuerer Zeit lebhafter Streit erhoben

über die Frage, welches örtliche Recht die Preußiſche Ge-

ſetzgebung dem Erbrecht zum Grund lege: ob allgemein

das Recht des Wohnſitzes des Erblaſſers (wie es die zwei

 

(e) Glück Inteſtaterbfolge §. 149.

|0339 : 317|

§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.

letzten unter den angeführten Schriftſtellern behaupten),

oder vielmehr bei unbeweglichen Vermögensſtücken das

Recht der gelegenen Sache (nach den zwei erſten Schrift-

ſtellern).

Betrachten wir die Sache blos vom Standpunkt allge-

gemeiner Grundſätze aus, ſo müſſen wir unbedenklich den

Wohnſitz als allgemeine Grundlage annehmen, übereinſtim-

mend mit dem Römiſchen Recht. Denn dieſe Annahme folgt

ſtreng und nothwendig aus dem Römiſchen Begriff der

Univerſalſucceſſion (§ 375); dieſer Begriff aber wird nicht

etwa von uns der Preußiſchen Geſetzgebung untergeſchoben,

ſondern er liegt unzweifelhaft dem geſammten Preußiſchen

Erbrecht zum Grunde. Wäre es alſo anders nach beſtimm-

ten Preußiſchen Geſetzen, ſo könnten wir darin doch höch-

ſtens eine Inconſequenz erkennen.

 

Der ganze Streit dreht ſich in der That um die Erklä-

rung folgender Stelle des allgemeinen Landrechts (Einlei-

tung § 32):

In Anſehung des unbeweglichen Vermögens gel-

ten, ohne Rückſicht auf die Perſon des Eigen-

thümers, die Geſetze der Gerichtsbarkeit, unter

welcher ſich daſſelbe befindet.

 

Wenn man dieſer ſehr abſtract gefaßten Vorſchrift die

höchſte Ausdehnung giebt, deren die Worte empfänglich

ſind, ſo kann allerdings der von den Gegnern behauptete

Sinn in dieſelbe gelegt werden. Es fragt ſich aber, wel-

cher Sinn in ihr nach richtiger Auslegung zu finden iſt.

 

|0340 : 318|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Zunächſt iſt anzunehmen, daß in dieſer Vorſchrift gar nicht

an die Succeſſion von Todes wegen, ſondern nur an den

Verkehr unter Lebenden gedacht worden iſt (a). Dafür

ſpricht folgende Faſſung der entſprechenden Stelle in dem

vorhergehenden gedruckten Entwurf (Einleitung § 30):

Was die Provinzialgeſetze und Statuten in An-

ſehung der liegenden Gründe verordnen, iſt auf

alle in der Provinz oder unter der ordentlichen

Obrigkeit des Orts gelegene Grundſtücke anzu-

wenden; ohne Rückſicht auf den Ort, wo der

Beſitzer wohnt, oder der Vertrag darüber geſchloſ-

ſen worden.

Hier iſt augenſcheinlich blos an den Verkehr unter Le-

benden gedacht. Nun könnte man annehmen wollen, der

veränderte Ausdruck im Landrecht deute gerade auf die Ab-

ſicht einer weiteren Ausdehnung des Objects der Vorſchrift.

Allein wäre dieſer Zweck beabſichtigt worden, ſo hätte man

denſelben gewiß beſtimmter angedeutet. Ohne Zweifel be-

ruht der veränderte Ausdruck nur auf dem überall im Land-

recht ſichtbaren Streben, einen vermeintlich reineren Ge-

ſchmack vermittelſt eines möglichſt abſtracten Ausdrucks an

den Tag zu legen.

 

Aber ſelbſt wenn wir in der Auslegung der Stelle die

Beſchränkung auf den Verkehr unter Lebenden aufgeben

und das Gebiet der Succeſſion von Todes wegen mit her-

 

(a) Dieſes iſt auch die Meinung von Koch Preußiſches Recht § 40

Note 12, wo nur durch Druckfehler § 23 anſtatt § 32 ſteht.

|0341 : 319|

§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.

ein ziehen wollten, ſo würde doch noch eine andere, ſelbſt

in ihren Worten liegende, wichtige Beſchränkung übrig

bleiben. Sie ſpricht doch augenſcheinlich nur von „Statuten

in Anſehung der liegenden Gründe“, von Geſetzen, die „in

Anſehung des unbeweglichen Vermögens“ gelten ſollen.

Welche Geſetze ſollen durch dieſen Ausdruck bezeichnet ſeyn?

Ganz offenbar die wahren Realſtatuten, die principaliter

auf unbewegliche Sache ſich beziehen, welcher Begriff dem

Landrecht, wie es auch unſere gegenwärtigen Gegner ein-

räumen, ſehr bekannt und geläufig iſt (§ 361. t). Dieſe

Eigenſchaft aber können wir unmöglich einem Geſetz über

die gewöhnliche Inteſtaterbfolge blos deswegen zuſchreiben,

weil in dem Vermögen unter andern und zufällig auch

Grundſtücke enthalten ſeyn können, woran jenes Geſetz gar

nicht denkt. Dagegen iſt dieſe Eigenſchaft allerdings vor-

handen bei gewiſſen, die Succeſſion von Todes wegen be-

treffenden Geſetzen, nämlich bei den Geſetzen über die Nach-

folge in Lehen, Fideicommiſſe u. ſ. w. (§ 376). Die Ge-

ſetze über dieſe Nachfolge ſind in der That wahre Real-

ſtatuten, und wenn wir auf ſie die vorliegende Stelle be-

ziehen, ſo handeln wir ihrem wahren Sinne gemäß, die

Verfaſſer mögen dabei an dieſen beſonderen Gegenſtand ge-

dacht haben oder nicht. Auch unſer hauptſächlicher Gegner

erklärt, daß er früher die Stelle in dieſer Beſchränkung

aufgefaßt, und erſt ſpäterhin weiter ausgedehnt habe (a¹.

Nur würde es ganz irrig ſeyn, in dieſer Beſchränkung etwa

(a¹ Bornemann S. 61.

|0342 : 320|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

eine dritte, vermittelnde Meinung annehmen zu wollen.

Vielmehr liegt darin eben unſere ganze, vollſtändige Mei-

nung, da Niemand daran denkt, die Nachfolge in Lehen,

Fideicommiſſe u. ſ. w. von der lex rei sitae auszuſchließen.

Die einzige Streitfrage iſt die, ob in Anſehung der gewöhn-

lichen, reinen Inteſtaterbfolge auf die unbeweglichen Theile

des Vermögens die lex rei sitae angewendet werden ſoll

(wie die Gegner wollen) oder nicht (wie wir behaupten).

Ein beſonders wichtiger Grund aber, unſre Auslegung

nicht blos für räthlich und wünſchenswerth in ihren Folgen,

ſondern auch für wahr anzunehmen, liegt in der ungemei-

nen praktiſchen Schwierigkeit der Ausführung, die mit der

entgegengeſetzten Auslegung verbunden ſeyn würde. — Ein

Beiſpiel möge dieſe Schwierigkeit anſchaulich machen. Ein

Einwohner von Berlin ſtirbt ohne Teſtament, und hinter-

läßt eine Wittwe und mehrere nahe Verwandte verſchiede-

ner Art. Das Vermögen beſteht aus einem Landgut bei

Berlin, einem Landgut in Schleſien, einem Hauſe in Ehren-

breitſtein, einem Hauſe in Coblenz; daneben hat er viele

perſönliche Schulden, die natürlich auf allen Theilen des

Vermögens haften. Nach der Meinung der Gegner müß-

ten auf die Erbfolge in die Grundſtücke nicht weniger, als

Vier Geſetze zur Anwendung kommen, die auf ganz ver-

ſchiedene Erben führen können: in der Mark Branden-

burg die Joachimica von 1527 (b), mit dem Anſpruch der

(b) Corpus constitut. Marchicarum von Mylius Th. 2.

Abth. 1 S. 19.

|0343 : 321|

§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.

Wittwe auf die Hälfte des zuſammengeworfenen Vermögens

beider Ehegatten, in Schleſien das allgemeine Landrecht (c),

in Ehrenbreitſtein das Römiſche Recht, in Coblenz das

Franzöſiſche Recht, ſo daß in der That Vier verſchiedene

Erbſchaften entſtehen würden. Den Glaubigern iſt es nun

ganz einerlei, wer Erbe wird, wenn ſie nur befriedigt wer-

den; das iſt aber nicht möglich, bevor durch gerichtliche

Taxen der Werth jedes Grundſtücks, alſo deſſen Verhältniß

zum geſammten Vermögen, feſtgeſtellt iſt. Unſer Gegner

meint zwar, dieſe Schwierigkeiten dürften uns nicht ab-

ſchrecken (d). Das ließe ſich hören, wenn davon die Rede

wäre, dem Richter Mühe und Zweifel zu erſparen; allein

die Schwierigkeiten und Nachtheile treffen die Parteien,

insbeſondere die Glaubiger, und warum ſollen dieſe damit

belaſtet werden? Nicht etwa zur Aufrechthaltung eines

ſicheren Rechtsgrundſatzes, ſondern zum Schutz der buch-

ſtäblichen Auslegung eines Paragraphen des Landrechts,

von welchem die Gegner mindeſtens zugeben müſſen, daß

er auch noch eine andere Auslegung zuläßt. Gerade in

dieſem Umſtand aber ſehe ich den wichtigſten Grund für

die Richtigkeit unſerer Auslegung, da es gewiß nicht wahr-

ſcheinlich iſt, daß der Geſetzgeber die Abſicht gehabt haben

ſollte, einen Grundſatz aufzuſtellen, der die Betheiligten,

(c) Seit dem Geſetz vom 11. Juli 1845, welches alle Schleſiſchen

Provinzialgeſetze über das Erbrecht aufgehoben hat.

(d) Bornemann

S. 62.

VIII. 21

|0344 : 322|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

insbeſondere die Glaubiger, in ganz unnütze Noth ver-

wickeln mußte. Dieſer rein praktiſche Grund ſcheint mir

weit erheblicher, als der von den Gegnern geltend gemachte,

daß zur Zeit, als das Landrecht abgefaßt wurde, die ent-

gegengeſetzte Lehre in der Praxis herrſchend war, ein An-

ſchließen an dieſe Praxis aber in dem Geſetz angenommen

werden müſſe, wo nicht eine Abweichung von derſelben

deutlich ausgeſprochen würde (e).

Es kommen daneben noch folgende einzelne Stellen un-

ſerer Geſetzgebung in Betracht.

 

1. Ueber die Inteſtaterbfolge unter Ehegatten wird im

Allgemeinen vorgeſchrieben, daß das am Wohnſitz des Ver-

ſtorbenen geltende örtliche Geſetz zur Anwendung kommen

ſoll (f), und ein ſpäterer Zuſatz zu dieſer Stelle lau-

tet ſo:

Anhang § 78. Von dieſer Beſtimmung macht

auch das unbewegliche Vermögen der Eheleute

keine Ausnahme, ob dieſes ſich gleich unter einer

anderen Gerichtsbarkeit befindet.

 

Nichts iſt einfacher und natürlicher, als dieſes Geſetz

für eine einzelne Anwendung unſers Grundſatzes anzuſehen,

und alſo eine Beſtätigung dieſes Grundſatzes darin zu fin-

den. Unſere Gegner ſehen darin eine beabſichtigte Aus-

 

(e) Es iſt beſonders zu be-

merken, daß kurz vor Abfaſſung

des Landrechts Pufendorf, der

doch auch ein Praktiker war, die

Verkehrtheit jenes Syſtems ſehr

gründlich dargeſtellt hatte (§ 376.h).

(f) A. L. R. II. 1 § 495.

|0345 : 323|

§. 378. IV. Erbrecht. Preußiſches Recht.

nahme der von ihnen angenommenen Regel, ſuchen aber

vergeblich dieſe Abſicht aus der Entſtehungsgeſchichte der

Stelle herzuleiten (g).

2. Nach der Meinung der Gegner müßten oft mehrere

Erbſchaften deſſelben Erblaſſers angenommen werden; in

dem oben angegebenen Beiſpiel Vier Erbſchaften. Dann

wäre es conſequent, für jede derſelben einen beſonderen

Gerichtsſtand anzuordnen, da wo die einzelnen Grundſtücke

liegen. Das Preußiſche Geſetz aber nimmt überall nur

Einen Gerichtsſtand der Erbſchaft an, am letzten Wohnſitz

des Verſtorbenen (h), ohne den Fall auswärts liegender

Grundſtücke auszunehmen. Darin erkennt ſie an, daß ſtets

nur Eine Erbſchaft vorkommen kann.

 

3. Wenn Jemand einen Erben einſetzt, und demſelben

mehrere Perſonen ohne weitere Beſtimmung ſubſtituirt,

welche die Inteſtaterben des eingeſetzten Erben ſeyn wür-

den, ſo ſoll die Subſtitution ſo ausgelegt werden, daß ſie

ſich nach den Regeln der Inteſtaterbfolge richte, und dieſe

 

(g) Bornemann S. 58—60.

Der § 78 des Anhangs iſt ent-

nommen aus einer Entſcheidung

der Geſetzcommiſſion von 1794.

Dieſe aber war veranlaßt durch

eine Anfrage der Regierung zu

Cleve, worin beiläufig die irrige

Lehre für andere Fälle als wahr

dargeſtellt wurde. Die Geſetzcom-

miſſion gab ihre Entſcheidung,

ohne auf die Ausführung der

Gründe einzugehen, und dadurch

ſoll ſie ſtillſchweigend die falſche

Meinung der Regierung zu Cleve

gebilligt, und die Entſcheidung

ſelbſt als bloße Ausnahme aner-

kannt haben. Die Aktenſtücke ſind

abgedruckt in Klein’s Annalen

B. 13 S. 3 — 6.

(h) Allg. Gerichtsordnung I.

2 § 121.

21*

|0346 : 324|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Inteſtaterbfolge ſoll beurtheilt werden nach dem am Wohnſitz

des eingeſetzten Erben geltenden Geſetz (i). Dabei iſt au-

genſcheinlich vorausgeſetzt, daß ausſchließend der Wohnſitz

die Inteſtaterbfolge beſtimme, ohne Ausnahme der etwa

auswärts liegenden Grundſtücke (k).

Zum Schluß iſt noch zu bemerken, daß die meiſten

Schriftſteller die hier vertheidigte Lehre annehmen (l), und

eben ſo auch die meiſten Gerichte (m).

 

§. 379.

V. Familienrecht. A. Ehe.

Das Familienrecht hat am meiſten Aehnlichkeit mit dem

Zuſtand der Perſon an ſich (Rechtsfähigkeit und Handlungs-

fähigkeit § 362), und unterſcheidet ſich weſentlich von den

Verhältniſſen des Vermögens, welche die Perſon mit äußer-

lichen, willkürlich gewählten Gegenſtänden in Verbindung

bringen (a). — Auf der anderen Seite haben theils ſittlich

religiöſe, theils politiſche Rückſichten großen Einfluß auf

 

(i) A. L. R. I. 12 § 536. 537.

(k) Bornemann S. 60 ſucht

dieſen Grund zu entkräften durch

die dem Teſtator ganz willkürlich

untergeſchobene Abſicht, er habe

nur einen einzigen Subſtituten

zulaſſen wollen.

(l) Dieſe Thatſache wird aner-

kannt von Bornemann S. 54.

(m) Anerkannt von Borne-

mann S. 62. Dahin gehört ein

ſehr gründliches Urtheil aus Glo-

gau von 1828 (Fünfmännerbuch

S. 118. 119). Auch ſtimmt mit

der richtigen Lehre ganz überein

das oben § 376.m angeführte Ur-

theil, obgleich daſelbſt in die Ur-

theilsgründe manches Unrichtige

eingemiſcht worden iſt.

(a) S. o. B. 1 § 53.

|0347 : 325|

§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.

daſſelbe, weshalb vorzugsweiſe in dieſem Gebiete Geſetze

von einem zwingenden, ſtreng poſitiven Charakter vor-

kommen.

A. Ehe.

Ueber den wahren Sitz des ehelichen Verhältniſſes iſt

kein Zweifel; er iſt anzunehmen an dem Wohnſitz des Ehe-

mannes, der nach den Rechten aller Völker und aller Zei-

ten als das Haupt der Familie anerkannt werden muß (b).

Daher muß denn auch das örtliche Recht jeder Ehe hier-

nach beſtimmt werden, und der Ort, wo etwa außer dem

Wohnſitz die Ehe durch Trauung geſchloſſen ſeyn mag, iſt

dabei ganz gleichgültig (c).

 

Manche haben dieſen letzten Satz deswegen bezweifelt,

weil ſie die Ehe als obligatoriſchen Vertrag betrachteten,

bei ſolchen Verträgen aber den Ort des Abſchluſſes als

maaßgebend für das örtliche Recht zu betrachten gewohnt

waren. Die erſte dieſer beiden Anſichten iſt falſch, da die

Ehe mit den obligatoriſchen Verträgen Nichts gemein hat.

 

(b) L. 5 de ritu nupt. (23.2)

„.. deductione enim opus

esse in mariti, non in uxoris

domum, quasi in domicilium

matrimonii.“ Darin liegt weder

eine eigenthümlich Römiſche Be-

ſtimmung, noch überhaupt eine

poſitive Vorſchrift, ſondern nur

die gelegentliche Anerkennung eines

aus dem allgemeinen Weſen der

Ehe hervorgehenden Verhältniſſes.

(c) Huber § 10. Story

§ 191 — 199.

|0348 : 326|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Wäre ſie aber auch richtig, ſo würde ſie uns dennoch nicht

auf den Entſtehungsort der Ehe als Beſtimmungsgrund

für das örtliche Recht derſelben führen, ſondern vielmehr

auf den Erfüllungsort (§ 372). Als Erfüllungsort aber

für die aus der Ehe hervorgehenden Verpflichtungen kann

ſicherlich nur der Wohnſitz des Ehemannes gelten.

Von dieſem Standpunkt aus iſt nunmehr eine Reihe

einzelner Rechtsfragen in Beziehung auf die Ehe zu un-

terſuchen.

 

1. Die Bedingungen der Möglichkeit der Ehe, oder

(von der umgekehrten Seite betrachtet) die Ehehinderniſſe,

gründen ſich theils auf die perſönlichen Eigenſchaften jedes

der beiden Ehegatten für ſich, theils auf das Verhältniß der-

ſelben zu einander. Nach allgemeinen Grundſätzen nun

möchte man annehmen, daß die perſönliche Fähigkeit der

Frau nach dem Geſetz ihrer Heimath zu beurtheilen wäre

(§ 362). Allein gerade die hier einſchlagenden Geſetze, die

auf ſittlichen Rückſichten beruhen, haben eine ſtreng poſitive

Natur, und daher ſind die in dem Wohnſitz des Mannes

geltenden Ehehinderniſſe ſchlechthin bindend, ohne Rückſicht

auf die vielleicht abweichenden Geſetze in der Heimath der

Frau, oder in dem Ort, an welchem die Trauung vorge-

nommen wird. Dieſe Regel gilt namentlich für die verbo-

tenen Verwandtſchaftsgrade, und die in dem religiöſen Ver-

hältniß gegründeten Hinderniſſe (d).

 

(d) Wächter II. S. 185. 187. Schäffner § 102. 103. Die Praxis

mehrerer Länder iſt über dieſen Punkt ſehr verſchieden. Story § 79 fg.

|0349 : 327|

§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.

2. Die zum Abſchluß der Ehe nöthigen Förmlichkeiten

richten ſich nicht nothwendig nach dem eben erwähnten Orte

Davon wird weiter unten (§ 381) die Rede ſeyn.

 

3. Beſonders wichtig und beſtritten iſt die Frage, nach

welchem Geſetze das eheliche Güterrecht zu beurtheilen iſt,

indem gerade hierin die Geſetze ſo ſehr von einander ab-

weichen. Es iſt für jeden einzelnen Fall hauptſächlich zu

entſcheiden zwiſchen dem (Römiſchen) Dotalrecht, und der

(Germaniſchen) Gütergemeinſchaft. Das erſte aber findet

ſich bald rein Römiſch, bald mit Modificationen, die in

Deutſchland ſehr verbreitet ſind. Eben ſo kommt die Gü-

tergemeinſchaft in den verſchiedenſten Abſtufungen vor.

 

Der Grundſatz nun iſt von keiner Seite beſtritten, daß

ſich das eheliche Güterrecht richtet nach dem Wohnſitz des

Ehemannes (e), nicht nach dem Ort, wo die Ehe abge-

ſchloſſen worden iſt. Allein innerhalb dieſes Grundſatzes

finden ſich zwei große Meinungsverſchiedenheiten.

 

Erſtlich behaupten Viele, daß dieſer Grundſatz nicht

gelte bei auswärts liegenden Grundſtücken, welche vielmehr

nach der lex rei sitae beurtheilt werden müßten (f). Der

richtigern Meinung nach iſt die lex domicilii auch auf die

auswärtigen Grundſtücke zu beziehen (g). — Da hier die

 

(e) P. Voet. Sect. 9. C. 2

§ 5. 6. Wächter II. S. 47.

Foelix p. 127.

(f) P. Voet. Sect. 4 C. 3

§ 9. I. Voet. in Pand. XXIII.

2 § 60. Hommel rhaps. Obs.

175. 409 N. 15. Story § 186. 454.

(g) Hert. § 46. Wächter II.

S. 48. Foelix p. 127 — 129.

Schäffner § 106. 107. Damit

ſtimmt überein das Preußiſche

Allg. Landrecht II. 1 § 365—369.

|0350 : 328|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Ortliche Gränzen.

Entſcheidung eben ſo ausfällt, wie oben bei dem Erbrecht,

ſo könnte man auf den Gedanken kommen, auch eine ähn-

liche Begründung, vermittelſt der Zurückführung auf eine

Univerſalſucceſſion, zu verſuchen (§ 376). Eine ſolche aber

darf bei keinem der hier einſchlagenden Rechtsinſtitute an-

genommen werden, namentlich nicht bei der auf das ganze

Vermögen der Frau gerichteten Dos. Der wahre Grund

liegt vielmehr darin, daß die Wahl des örtlichen Rechts

vorzugsweiſe auf freie Unterwerfung zurückgeführt werden

muß (§ 360. Num. 2), daß es aber gewiß nicht mit

Wahrſcheinlichkeit angenommen werden kann, die Ehegatten

hätten die Einrichtung ihrer Vermögensverhältniſſe von dem

ganz zufälligen Umſtand abhängig machen wollen, ob etwa

ein Theil des Vermögens in auswärts liegenden Grund-

ſtücken beſtehe. Die daraus möglicherweiſe hervorgehende

Verſchiedenheit des Güterrechts an verſchiedenen Vermö-

genstheilen könnte zu den größten Verwickelungen und Un-

gewißheiten führen, und iſt daher gewiß nicht als die wahr-

ſcheinliche Abſicht der Parteien anzuſehen.

Eine zweite Streitfrage betrifft den Fall, wenn während

der Ehe der Wohnſitz des Ehemannes verändert wird (g¹).

 

Hier geht eine erſte Meinung dahin, daß das örtliche

Recht des anfänglichen Wohnſitzes für alle Zeiten beſtim-

mend bleibe, und alſo nicht durch die Wahl des neuen

 

(g¹) Die Erörterung dieſer wichtigen Streitfrage gehört zur

Erledigung des oben § 344e gemachten Vorbehalts.

|0351 : 329|

§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.

Wohnſitzes geändert werden könne. Der Grund wird meiſt

darin geſetzt, daß in der Eingehung der Ehe der ſtillſchwei-

gende Vertrag enthalten ſey, das Güterrecht nach dem an

dem gegenwärtigen Wohnſitz geltenden Geſetz unabänderlich

einrichten zu wollen (h). Dieſe Meinung halte ich für

richtig; der angegebene Grund wird noch näher geprüft

werden.

Eine zweite Meinung verneint die Annahme eines ſtill-

ſchweigenden Vertrags, und läßt das eheliche Güterrecht

lediglich aus dem am Wohnſitz geltenden Geſetz entſtehen.

Daraus wird gefolgert, daß im Fall eines neu gewählten

Wohnſitzes auch das Geſetz dieſes neuen Wohnſitzes ent-

ſcheiden müſſe, daß alſo jeder Wechſel ein anderes Güter-

recht zur Folge haben könne (i).

 

Eine dritte, vermittelnde Meinung endlich verwirft, ſo

wie die zweite, die Annahme des ſtillſchweigenden Vertrags,

und läßt gleichfalls nur das Geſetz des zu jeder Zeit vor-

handenen Wohnſitzes entſcheiden, jedoch mit der Maaßgabe,

daß das bei der Gründung der Ehe einmal erworbene

Vermögen unverändert bleibe (als jus quaesitum), und nur

 

(h) P. Voet. Sect. 9 C. 2

§ 7. I Voet. in Pand. XXIII.

2 § 87. Hert. § 48. 49. Pufen-

dorf II. Obs. 121. Wächter II.

S. 49—55. Schäffner § 109—

114. Foelix p. 130—132. Bü-

low und Hagemann Erör-

terungen B. 6 Num 24. Pfeiffer

praktiſche Ausführungen B. 2

Num. 6. Urtheile der Gerichte

von Celle (1836) und München

(1845) bei Seuffert Archiv B. 1

N. 152.

(i) Eichhorn deutſches Recht

§ 35. g. § 307. d. § 310. e. f.

Story § 187. Andere Schriftſteller

werden angeführt von Wächter II.

S. 49.

|0352 : 330|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

der künftige Erwerb durch das Geſetz des neuen Wohnſitzes

geregelt werden ſoll (k).

Prüfen wir etwas näher die Gründe dieſer Meinungen.

— Für die erſte ſpricht unzweifelhaft ein unbefangenes

Rechtsgefühl. Als die Ehe geſchloſſen werden ſollte, ſtand

es ganz ſicher in dem freien Willen der Frau, die Ehe

entweder ganz zu unterlaſſen, oder an gewiſſe, das Ver-

mögen betreffende, Bedingungen zu knüpfen. Sie hat kei-

nen ſolchen Vertrag geſchloſſen, vielmehr das durch das

Geſetz des Wohnſitzes beſtimmte Güterrecht gelten laſſen,

natürlich alſo auf deſſen ſtete Fortdauer gerechnet. Jetzt

verändert der Mann mit einſeitiger Willkür den Wohnſitz,

wozu er unſtreitig berechtigt iſt, und es ſoll nun ein ganz

anderes Güterrecht für dieſe Ehe herbeigeführt werden. Iſt

damit die Frau zufrieden, ſo iſt unſre ganze Streitfrage

weniger wichtig, da ja auch durch Vertrag eine Aenderung

des Güterrechts hätte bewirkt werden können. Die Frage

iſt aber wichtig, wenn die Veränderung der Frau nach-

theilig, und die Frau damit nicht zufrieden iſt. Gerade

um dieſe, durch Nichts zu rechtfertigende, einſeitige Macht

des Mannes über die Rechte der Frau auszuſchließen,

wurde von den Vertheidigern der erſten Meinung das Da-

ſeyn eines ſtillſchweigenden Vertrages angenommen. Daran

 

(k) Kierulff S. 78. 79. (am

Schluß der ganzen Note). Puchta

Pandekten § 113 und: Vorleſungen

§ 113. Vgl. darüber Wächter II.

S. 50 (Note 264), und S. 54; er

ſelbſt bekennt ſich zu der erſten

Meinung (Note h).

|0353 : 331|

§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.

nahmen die Gegner Anſtoß, und nicht ganz ohne Grund.

Es läßt ſich aber daſſelbe Ziel erreichen, auch wenn man

den ſtillſchweigenden Vertrag aufgiebt. Unter einem Ver-

trag, dem ſtillſchweigenden wie dem ausdrücklichen, verſte-

hen wir eine übereinſtimmende Willenserklärung, die nicht

ohne beſtimmtes Bewußtſein beider Theile denkbar iſt (l).

Fragen wir nun, ob bei der Eingehung einer Ehe ſtets

ein beſtimmtes Bewußtſein beider Theile, beſonders der

Frau, über das Güterrecht Statt gefunden hat, ſo müſſen

wir Das allerdings verneinen, und daher iſt die allgemeine

Annahme eines ſtillſchweigenden Vertrags unbegründet.

Allein eine freie Unterwerfung, als Begründung des ört-

lichen Rechts, die auch auf negative Weiſe, als bloßer

Nichtwiderſpruch, denkbar iſt (§ 360. Nr. 2), müſſen wir

allgemein annehmen; dieſe iſt für das örtliche Recht

des neuen Wohnſitzes in dem oben vorausgeſetzten Fall

der Meinungsverſchiedenheit durchaus nicht vorhanden, und

ſo müſſen wir für dieſen Fall die Aenderung des Gü-

terrechts, zu deren Annahme es an einem hinreichenden

Grunde fehlt, verneinen, ſelbſt von dem Standpunkt der

Gegner aus, die das Geſetz, und nicht den Vertrag, als

Beſtimmungsgrund für das örtliche Recht anſehen. So

kommen wir in der That, nur auf einem anderen Wege,

auf daſſelbe Ziel, worauf die Annahme des ſtillſchweigen-

den Vertrags führen ſollte (m).

(l) S. o. B. 3 § 140.

(m) Dieſe Begründung der

erſten Meinung, die vielleicht den

Widerſpruch mancher bisherigen

|0354 : 332|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Es wurde hierbei der Fall vorausgeſetzt, daß die Aende-

rung des Güterrechts durch Veränderung des Wohnſitzes

zum Nachtheile der Frau gereiche, und daher ihrem Willen

entgegen ſey. Allein dieſer Fall, in welchem die ungerechte

Folge der entgegenſtehenden Meinung freilich am ſchärfſten

hervortritt, iſt keineswegs der einzige. Wenn ein Beamter

in einen Landestheil verſetzt wird, worin ein anderes ehe-

liches Güterrecht gilt, ſo iſt auch für ihn die Veränderung

des Wohnſitzes unfreiwillig, und vielleicht für beide Ehe-

gatten die Aenderung des Güterrechts unerwünſcht. Sie

würden aber dieſe Aenderung, je nach dem Inhalte des

örtlichen Rechts, vielleicht gar nicht, vielleicht nur durch

läſtige und koſtſpielige Verträge abwenden können.

 

Folgende Betrachtung wird die hier verſuchte Begrün-

dung noch deutlicher hervor treten laſſen. Wenn ein Ge-

ſetz das Güterrecht der Ehegatten beſtimmt, ſo fragt es ſich

zunächſt, für welche Perſonen daſſelbe zu verfügen die Ab-

ſicht hat. Ganz gewiß denkt der Geſetzgeber an alle Ehen,

die in ſeinem Bereich gegründet werden, und für dieſe will

 

Gegner beſeitigen dürfte, findet

ſich ſchon bei Schäffner § 114.

— Man könnte etwa den Unter-

ſchied der Auffaſſungen, und die

hier dargebotene Vermittlung, ſo

bezeichnen, daß man dem am Ort

des urſprünglichen Wohnſitzes gel-

tenden Recht nicht ſowohl die Natur

eines ſtillſchweigenden, als eines

fingirten Vertrags zuſchriebe,

ähnlich dem pignus tacite con-

tractum, wobei es auch nicht auf

ein beſtimmtes Bewußtſeyn der

Parteien ankommt. Es iſt dieſes

nur ein anderer Ausdruck; das

Weſen der Sache beſteht in dem

beſtimmten Recht jeder Partei, un-

abhängig von der Willkür der

andern.

|0355 : 333|

§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.

er Das vorſchreiben, welches er theils an ſich für das Zu-

träglichſte hält, theils der bisherigen Sitte des Landes ent-

ſprechend findet. Will er aber dieſe Regel auch den an-

derwärts begründeten, bei ihm neu einwandernden Ehen

aufdrängen? Dazu iſt ein hinreichender Grund nicht vor-

handen, beſonders im Widerſpruch mit dem ſo eben näher

entwickelten Bedenken. Wenn aber das Geſetz, ſeiner wahr-

ſcheinlichen Abſicht nach, auf die einwandernden Ehen gar

nicht zu beziehen iſt, ſo hat für dieſe der von den Gegnern

aufgeſtellte Grund alle Kraft verloren.

Giebt man die hier aufgeſtellten Gründe als richtig zu,

ſo iſt damit die zweite der oben aufgeſtellten Meinungen,

und eben ſo auch die dritte, völlig widerlegt. Die zweite

aber erſcheint noch beſonders hart und ungerecht in

Beziehung auf das ſchon erworbene Vermögen. Wenn

an einem Orte, deſſen Geſetz die allgemeine Güter-

gemeinſchaft ausgedehnteſter Art als Regel aufſtellt, eine

Ehe begründet wird von einem reichen Mann mit einer

armen Frau, ſo wird durch den Abſchluß der Ehe das

Vermögen gemeinſchaftlich. Wird nachher von dem Manne

der Wohnſitz an einen Ort verlegt, an welchem das Dotal-

recht als Regel gilt, ſo müßte die Frau, nach der zweiten

Meinung, den ihr bereits erworbenen Antheil am Vermögen

augenblicklich, und wider ihren Willen, verlieren. Gerade

um dieſem ſchreienden Erfolg zu begegnen, iſt die dritte,

vermittelnde, Meinung aufgeſtellt worden. Allein abgeſehen

davon, daß dieſelbe durch die oben aufgeſtellten Gründe

 

|0356 : 334|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

gleichfalls widerlegt wird, leidet ſie auch an den gewöhn-

lichen Mängeln halber Maaßregeln. Läßt man das eheliche

Güterrecht für das ſchon vorhandene Vermögen durch den

alten Wohnſitz, für den künftigen Erwerb durch den neuen

beherrſchen, ſo können dadurch Verwicklungen und Wider-

ſprüche entſtehen, die ſich gar nicht voraus überſehen laſſen,

und die eben ſo wenig dem Vortheil, als den Wünſchen

der Ehegatten entſprechen möchten.

Allerdings würde die zweite Meinung angenommen

werden müſſen, wenn etwa in dem neuen Wohnſitz ein

eheliches Güterrecht von ſtreng poſitivem, ausſchließendem

Inhalt beſtehen ſollte. Dieſes würde anzunehmen ſeyn, wenn

daſelbſt ein Geſetz des Inhalts gegeben wäre, daß durchaus

nicht geduldet werden ſolle, eine Ehe anders als nach

Dotalrecht zu begründen, oder, wenn ſie anderwärts be-

gründet war, hier fortzuführen; oder auch anders als nach

dem Recht der Gütergemeinſchaft (m). Ob überhaupt ſolche

Geſetze vorhanden ſind, mag dahin geſtellt bleiben.

 

Das Preußiſche Geſetz erkennt im Allgemeinen die hier

vertheidigte Meinung an, nach welcher das örtliche Recht

des bei dem Anfang der Ehe beſtehenden Wohnſitzes auch

für alle künftige Zeit entſcheiden ſoll, nur mit zwei unter-

geordneten Modificationen für den Fall, wenn eine mit

Dotalrecht angefangene Ehe an einen neuen Wohnſitz, in

welchem Gütergemeinſchaft gilt, verlegt wird (n).

 

(m) Wächter II. S. 55. 362.

§ 350—355.

(n) Allg. Landrecht II. 1

|0357 : 335|

§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.

4. Eine beſondere Rückſicht verdienen die Geſetze, wo-

durch die Liberalität eines Ehegatten gegen den andern ein-

geſchränkt werden ſoll, wohin insbeſondere das im Römiſchen

Recht enthaltene Verbot aller Schenkungen unter Ehegatten

gehört.

 

In dieſer Hinſicht entſcheidet das Geſetz des Wohn-

ſitzes; hier aber nicht das des urſprünglichen Wohnſitzes,

ſondern vielmehr des Wohnſitzes, zu deſſen Zeit die Hand-

lung vorgenommen wurde. Der Grund dieſer, von der

vorhergehenden abweichenden, Entſcheidung liegt darin, daß

Geſetze dieſer Art auf Erhaltung der ſittlichen Reinheit der

Ehe abzwecken, alſo einen ſtreng poſitiven Charakter an ſich

tragen (§ 349). Vergleichen wir dieſen Fall mit dem vor-

her (unter Num. 3.) abgehandelten, ſo wird man nicht be-

haupten können, daß die an einem Ort des Römiſchen

Rechts geſchloſſene, nachher an einen anderen Ort verlegte

Ehe nur unter dem ſtillſchweigenden Vertrag geſchloſſen

worden ſey, daß in derſelben zu keiner Zeit eine wirkſame

Schenkung vorkommen werde. Das Verbot der Schenkung

iſt vielmehr eine reine Beſchränkung der Freiheit, der ſich

die Ehegatten fügen müſſen, kein durch freie Unterwerfung

in die Ehe herüber genommenes Rechtsinſtitut.

 

Dagegen kann nicht eingeräumt werden, daß die hier

erwähnten Geſetze zu beziehen ſeyn ſollten auf alle in ihrem

Bereich liegende Grundſtücke, auch wenn die Ehe in einem

Lande geführt wird, das eine ſolche Beſchränkung der Frei-

 

|0358 : 336|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

heit nicht kennt (o). Denn der Zweck dieſer Geſetze iſt nicht

der, von den Sachen eine Gefährdung abzuwenden, gleich

als ob dieſelben durch eine Schenkung unter Ehegatten

Schaden leiden könnten, ſondern vielmehr, wie ſchon er-

wähnt, die Erhaltung ſittlicher Reinheit der Ehe. Der

Geſetzgeber redet alſo zu den in ſeinem Bereich lebenden

Ehegatten, ohne Rückſicht auf die Lage ihres Vermögens.

5. Die Inteſtaterbfolge unter Ehegatten richtet ſich, eben

ſo wie bei Fremden, nach dem letzten Wohnſitz des Erb-

laſſers. In manchen Fällen aber kann es zweifelhaft ſeyn,

ob der Anſpruch auf den Nachlaß aus eigentlicher Inteſtat-

erbfolge, oder vielmehr aus der bloßen Fortwirkung der

während der Ehe beſtehenden Güterverhältniſſe (der Güter-

gemeinſchaft) abzuleiten iſt. Im erſten Fall entſcheidet der

letzte Wohnſitz, im zweiten Fall der Wohnſitz, an welchem

die Ehe angefangen hat, wie oben gezeigt worden iſt

(Num. 3).

 

Ein ſolcher Zweifel wäre namentlich denkbar bei der

ſchon oben erwähnten, in der Mark Brandenburg geltenden,

Joachimica (§ 378. b). Indeſſen iſt der hier angeordnete

Anſpruch des überlebenden Theils auf die Hälfte des zu-

ſammen geworfenen Vermögens beider Ehegatten in der

That als reine Inteſtaterbfolge, nicht als Ausfluß irgend

einer Art von Gütergemeinſchaft, anzuſehen, alſo nach dem

 

(o) Dieſes iſt die Meinung von Rodenburg Tit. 2 C. 5 § 1.

I. Voet in Pand. XXIV. 1 § 19. Meier p. 44.

|0359 : 337|

§. 379. V. Familienrecht. A. Ehe.

letzten Wohnſitz zu beurtheilen. Dieſes folgt aus der Ver-

bindung, in welche dieſer Anſpruch mit der ganzen übrigen

Inteſtaterbfolge durch das Geſetz gebracht wird. Jener An-

ſpruch hat daher eine ganz ähnliche Natur mit den im

Römiſchen Recht begründeten Inſtituten: der Bonorum

possessio unde vir et uxor, und der Succeſſion des hinter-

laſſenen dürftigen Ehegatten.

6. Die Eheſcheidung unterſcheidet ſich von den eben

abgehandelten, das Vermögen betreffenden, Rechtsinſtituten

dadurch, daß die Geſetze über dieſelbe auf der ſittlichen

Natur der Ehe beruhen, alſo einen ſtreng poſitiven Charakter

an ſich tragen. Daraus folgt, daß der über ſie urtheilende

Richter nur das Geſetz ſeines Landes befolgen darf, ohne

Rückſicht auf andere Verhältniſſe der Ehegatten (p). Dieſer

Grundſatz aber wird in der Regel wieder auf das am

Wohnſitz des Ehemannes geltende Geſetz führen, weil nur

da ein wahrer Gerichtsſtand über die Eheſcheidung begrün-

det ſeyn wird.

 

Dabei iſt nicht ſo, wie bei dem Güterrecht, der Wohn-

ſitz zur Zeit der geſchloſſenen Ehe zu beachten, ſondern viel-

mehr der gegenwärtige Wohnſitz. Denn das am früheren

Wohnſitz beſtehende Geſetz kann keinem der Ehegatten ein

Recht, oder auch nur eine begründete Erwartung gegeben

haben, nach demſelben Geſetz auch künftig einmal geſchieden

 

(p) S. o. § 349. Im Ganzen ſtimmt damit überein Schäffner

§ 124 und Wächter II. S. 184—188.

VIII. 22

|0360 : 338|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

zu werden, da der eben erwähnte Charakter der Scheidungs-

geſetze zu einem anderen Erfolge führt.

Ueber dieſen Gegenſtand aber ſind ſowohl die Meinungen

der Schriftſteller, als die Ausſprüche der Gerichte, außer-

ordentlich verſchieden (q).

 

§. 380.

V. Familienrecht. B. Väterliche Gewalt.

C. Vormundſchaft.

B. Väterliche Gewalt.

Die Entſtehung der väterlichen Gewalt durch Zeugung

in der Ehe, ſo wie deren denkbare Anfechtung, iſt zu be-

urtheilen nach dem Geſetz des Ortes, an welchem der

Vater zur Zeit der Geburt des Kindes ſeinen Wohnſitz

hatte.

 

Dagegen ſind die Vermögensverhältniſſe zwiſchen dem

Vater und den Kindern zu beurtheilen nach dem Geſetz,

welches an dem jedesmaligen Wohnſitz des Vaters beſteht,

ſo daß alſo eine Veränderung des Wohnſitzes auch eine

Veränderung dieſer Verhältniſſe nach ſich ziehen kann

(§ 396. II.).

 

Die Legitimation durch nachfolgende Ehe richtet ſich

nach dem Wohnſitz des Vaters zur Zeit der geſchloſſenen

 

(q) Schäffner § 118—125. Story Chap. 7.

|0361 : 339|

§. 380. V. Familienrecht. B. Väterliche Gewalt.

Ehe, und die Zeit der Geburt des Kindes iſt dabei gleich-

gültig. Zwar iſt behauptet worden, daß dieſer letzte Zeit-

punkt beachtet werden müſſe, weil das Kind durch die Ge-

burt ſchon ein gewiſſes Rechtsverhältniß begründet habe,

das durch die ſpätere Ehe der Eltern nur zu voller Wirk-

ſamkeit gelange; man ſetzt hinzu, daß außerdem der Vater

einen dem Kind nachtheiligen Wohnſitz vor der Ehe will-

kürlich wählen könne (a). Allein von einem Rechte ſolcher

Kinder, alſo auch von einer Verletzung deſſelben, kann gar

nicht die Rede ſeyn, da es in der freien Willkür des

Vaters ſteht, nicht nur die Ehe mit der Mutter des Kindes

zu unterlaſſen, ſondern, ſelbſt wenn er dieſe Ehe ſchließt,

das Kind nicht anzuerkennen. In beiden Fällen aber

erlangt das Kind kein Recht der Legitimität, da ein wahrer

Beweis der außerehelichen Kinderzeugung unmöglich iſt, mit-

hin die freie Anerkennung allein noch neben der Ehe, und

unabhängig von derſelben, dem Kinde die Rechte der ehe-

lichen Geburt verſchaffen kann (b).

(a) Schäffner § 37.

(b) So iſt es nach gemeinem

Recht. Im Römiſchen Recht tritt

dieſer Satz weniger ſichtbar hervor,

da die Legitimation nur auf Con-

cubinenkinder (naturales) ging,

bei welchen die Paternität faktiſch

faſt eben ſo ſicher war, wie bei

den ehelichen. Wir haben keine

naturales, ſondern nur spurii,

und bei dieſen hängt gewiß Alles

allein von der ganz willkürlichen

Anerkennung des Vaters ab. —

Allerdings ſieht das Preußiſche

Recht den Beweis des bloßen Bei-

ſchlafs in einer gewiſſen Zeit vor

der Geburt ſchon als Beweis der

Paternität an (A. L. R. II. 1

§ 1077). Dennoch läßt es bei

der Legitimation durch Ehe die

Rechte der ehelichen Geburt erſt

von der Trauung anfangen (A. L.

R. II. 2 § 598). Daher muß

auch nach dem Sinn des Landrechts

22*

|0362 : 340|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

So weit, als Engliſches Recht gilt, wird wiederum an-

genommen, daß der Einfluß der väterlichen Gewalt und

der Legitimation auf auswärts liegende Grundſtücke nicht

nach der lex domicilii, ſondern nach der lex rei sitae be-

urtheilt werden müßte (c).

 

C. Vormundſchaft.

Die Vormundſchaft unterſcheidet ſich weſentlich von den

bisher abgehandelten Rechtsinſtituten. Nur im älteſten

Römiſchen Recht konnte ſie als ein rein privatrechtliches

Verhältniß angeſehen werden. Seitdem hat ſie immer mehr

den Charakter angenommen, der im heutigen gemeinen Recht

in Deutſchland, eben ſo, wie in anderen Geſetzgebungen,

ausſchließend wahrzunehmen iſt. Die Vormundſchaft er-

ſcheint nunmehr als Ausübung des Schutzes, welchen der

Staat der häufigſten und wichtigſten Klaſſe von Schutz-

bedürftigen (Unmündige und Minderjährige) zu gewähren

berechtigt und verpflichtet iſt. So aufgefaßt, gehört die

Vormundſchaft, ihrem eigentlichen Weſen nach, dem öffent-

lichen Recht an, und nur einzelne Folgen derſelben fallen

dem Gebiete des Privatrechts anheim. Dieſer Auffaſſung

aber iſt es auch angemeſſen, daß die Vormundſchaft nicht

 

die Legitimation verneint werden,

wenn der Vater vor der Trauung

den Wohnſitz in ein Land des ge-

meinen Rechts verlegt, und nun

die Anerkennung des Kindes ver-

weigert.

(c) Story § 456 § 87. Mit

Recht erklärt ſich dagegen Schäff-

ner § 39.

|0363 : 341|

§. 380. V. Familienrecht. C. Vormundſchaft.

blos in verſchiedenen Ländern verſchiedenes Recht hat, ſon-

dern auch in einem und demſelben Lande einer freieren Be-

handlung von Seiten öffentlicher Behörden unterliegt, als

die dem reinen Privatrecht angehörenden Rechtsverhältniſſe.

Dieſe Verſchiedenheiten zeigen ſich nicht blos in den Rechts-

regeln ſelbſt, ſondern ſelbſt in der Annahme des ört-

lichen Rechts, von welchem jene Regeln beſtimmt werden

ſollen.

Ich wende mich nun zu den wichtigſten einzelnen Rechts-

fragen.

 

1. Errichtung der Vormundſchaft.

 

Als Regel wird ganz richtig angenommen, daß das ört-

liche Recht des Wohnſitzes des Mündels, welcher in der

Regel mit dem letzten Wohnſitz des verſtorbenen Vaters

zuſammen fällt, für die Errichtung der Vormundſchaft be-

ſtimmend iſt, und daß dieſe Vormundſchaft dann auch das

anderwärts liegende Vermögen des Mündels umfaßt (d).

Es kommen dabei aber folgende Abweichungen in Be-

tracht.

 

Erſtlich, wenn unbewegliches Vermögen des Mündels

unter einer anderen Gerichtsbarkeit, vielleicht in einem frem-

den Lande liegt. Hier kann es geſchehen, daß für dieſe

Vermögenstheile eine beſondere Vormundſchaft errichtet wird,

ſo daß dann derſelbe Mündel mehrere Vormünder von ört-

 

(d) P. Voet. Sect. 9 C. 2 § 17. I. Voet. in Pand. XXVI. 5

§ 5. Schäffner § 41.

|0364 : 342|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

lich verſchiedenen Sprengeln hat (e). — Eine ſolche Ein-

richtung kommt ſchon im Römiſchen Rechte vor. Zwar

der teſtamentariſche und der geſetzliche Vormund war an

eine ſolche örtliche Verſchiedenheit nicht gebunden. Wenn

dagegen die Obrigkeit Vormünder über ein zerſtreutes Ver-

mögen zu beſtellen hatte, ſo wurden dieſe für jede ſouve-

räne Gerichtsbarkeit beſonders beſtellt, andere für res Itali-

cae, andere für res provinciales (f). — Nach der Preußi-

ſchen Geſetzgebung wird in der Regel Eine Vormundſchaft

für das ganze Vermögen errichtet, und zwar nach dem am

Wohnſitz des Vaters geltenden örtlichen Recht; die ſpätere

Aenderung des Wohnſitzes ſoll darauf nur ausnahmsweiſe

Einfluß haben. Ueber auswärts liegende Vermögenstheile

können beſondere Curatelen errichtet werden, die ſich mit

der eigentlichen Vormundſchaft in Verbindung zu ſetzen

haben (g). In Verträgen der Preußiſchen Regierung mit

Nachbarſtaaten iſt beſtimmt, daß die Vormundſchaft einge-

richtet werden ſoll nach dem Wohnſitz des Mündels; wenn

derſelbe jedoch Grundſtücke in dem andern Lande beſitzt,

ſoll das Gericht dieſes andern Landes die Wahl haben[,]

dieſe Grundſtücke der allgemeinen Vormundſchaft zu unter-

werfen, oder dafür eine beſondere Vormundſchaft zu errich-

(e) Vgl. die in der Note d.

angeführten Schriftſteller.

(f) L. 39 § 8 de admin.

(26. 7), L. 27 pr. de tutor.

et cur. (26. 5).

(g) A. L. R. II. 18 § 56.

81—86.

|0365 : 343|

§. 380. V. Familienrecht. C. Vormundſchaft.

ten (h). — Vorzüglich ſchwankend iſt die Praxis in den

Ländern des Engliſchen Rechts, indem in dieſen theilweiſe

beſondere Vormundſchaften beſtellt werden, nicht blos über

das unbewegliche, ſondern auch über das bewegliche, aus-

wärts liegende Vermögen (i).

Zweitens aber kann, ſelbſt ohne Rückſicht auf die ört-

liche Lage des Vermögens, das individuelle Bedürfniß eine

eingreifende Aenderung in den aufgeſtellten Grundſatz recht-

fertigen, beſonders wenn, nach den Familienverhältniſſen,

dem letzten Wohnſitz des Vaters kein Einfluß zuzuſchreiben

iſt auf den künftigen Zuſtand der Mündel. Ein aus dem

wirklichen Leben entnommener Fall wird dieſe Behauptung

anſchaulich machen. Ein Familienvater ſtarb in ſeinem

Wohnſitz Bonn, wo der Sitz ſeines Vermögens, insbeſon-

dere mehrerer Grundſtücke, war. Die Kinder verlegten ſo-

gleich, nach den Beſtimmungen des väterlichen Teſtaments,

ihren Wohnſitz zu einer entfernten Verwandten außerhalb

des Preußiſchen Staats. Gleichfalls das Teſtament hatte

die Vormundſchaft einem Einwohner von Berlin aus per-

ſönlichem Vertrauen, und mit ſehr freier Verwaltung, über-

tragen. Nach dem oben aufgeſtellten Grundſatz hätte die

Vormundſchaft in Bonn, nach Franzöſiſchem Recht, errich-

tet und geführt werden müſſen. Allein das Juſtizminiſte-

rium, als höchſte vormundſchaftliche Aufſichtsbehörde des

 

(h) Vertrag mit Königreich Sachſen 1839 Art. 15, gleichlautend

mit anderen Staaten. (S. o. § 348).

(i) Schäffner § 41.

Story §. 492 fg.

|0366 : 344|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ganzen Staats, verlegte die Vormundſchaft nach Berlin,

wodurch die Obervormundſchaft an das Kurmärkiſche Pu-

pillencollegium in Berlin überging, und zugleich die Preußi-

ſche Geſetzgebung anwendbar wurde.

2. Verwaltung der Vormundſchaft.

 

Daß die Verwaltung der Vormundſchaft in der Regel

ſich richtet nach dem Recht des Gerichts, unter welchem ſie

entſtanden iſt und geführt wird, kann nicht bezweifelt wer-

den. Der Zweifel betrifft hier wiederum den Fall, wenn

zu dem Vermögen auswärts liegende Grundſtücke gehören,

und dieſe nicht von einer beſonderen Vormundſchaft ver-

waltet werden (wie es nach Num. 1 geſchehen kann), ſon-

dern von der allgemeinen Vormundſchaft.

 

In dieſer Beziehung wird von Manchen behauptet, daß nach

einer allgemeinen Praxis in Anſehung jener Grundſtücke, beſon-

ders der Veräußerung derſelben, die lex rei sitae beobachtet

werden müſſe, ſo daß dann die Verwaltung deſſelben Vor-

mundes nach verſchiedenen Geſetzen zu beurtheilen ſeyn

würde (k). Offenbar nimmt man dabei an, das Geſetz

über die Veräußerung der Pupillengüter ſey ein Realſtatut.

— Ich kann dieſe Behauptung weder grundſätzlich, noch

mit Hinſicht auf die angebliche allgemeine Praxis, ein-

räumen.

 

(k) Schäffner § 41. —

Etwas vorſichtiger iſt der Ausdruck

von P. Voet. Sect. 9 C. 2 § 17.

Er hält es für räthlich, daß ſich

der Vormund bei der Veräußerung

durch ein Decret beider Gerichts-

behörden ſicher ſtelle.

|0367 : 345|

§. 380. V. Familienrecht. C. Vormundſchaft.

Zuerſt nicht grundſätzlich. Wenn ein Geſetz verordnet,

daß Pupillengüter nur unter gewiſſen Einſchränkungen

(etwa Subhaſtation, gerichtliches Decret u. ſ. w.) ver-

äußert werden ſollen, ſo liegt darin eine vorſorgliche Maaß-

regel — nicht für dieſe Güter, als Gegenſtände eines wün-

ſchenswerthen ſicheren Verkehrs, als Grundlagen vortheil-

hafter Fruchterzeugung (durch dieſe Abſichten würde ſich

das Geſetz als Realſtatut darſtellen), ſondern — für die

ſchutzbedürftige Perſon des Mündels. Zur Sicherheit deſ-

ſelben werden gewiſſe Formen der Veräußerung gefordert,

und nur wenn dieſe beobachtet ſind, ſoll die Handlung des

veräußernden Vormundes gleiche Wirkung haben mit der

Veräußerung eines volljährigen Eigenthümers. Ein ſolches

Geſetz alſo zweckt ab auf die Ergänzung der Handlungen

des Vormundes, es iſt ein Perſonalſtatut, kein Realſtatut.

Mit anderen Worten: Der Geſetzgeber verfügt über die

unter ſeinem Schutze ſtehenden Minderjährigen, nicht über

die in ſeinem Lande liegenden Güter.

 

Aber auch die allgemeine Praxis möchte leichter zu be-

haupten, als zu beweiſen ſeyn, wie es denn überhaupt mit

allgemeinen Angaben ſolcher Art ſehr mißlich iſt. Ich will

einen hierher gehörenden, ſehr erläuternden Rechtsfall an-

führen (l). Ein Mündel aus ſtandesherrlicher Familie

lebte in Baiern, und hatte daſelbſt ſeine Vormundſchaft.

 

(l) Urtheil des Caſſationshofes zu Berlin von 1847 in Sachen

Baſſenheim contra Raffauf. S. Seuffert Archiv B. 2 N. 2.

|0368 : 346|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Er beſaß Grundſtücke in der Preußiſchen Rheinprovinz,

über welche daſelbſt keine beſondere Vormundſchaft errichtet

worden war. Die Bairiſchen Vormünder verkauften die

Grundſtücke aus freier Hand, ohne Subhaſtation. Nach

erlangter Volljährigkeit griff der vormalige Eigenthümer

den Verkauf als nichtig an, weil die Franzöſiſchen Geſetze

über Veräußerung der Pupillengüter nicht beobachtet wor-

den ſeyen (m). In allen Inſtanzen wurde dieſer Grund

zurückgewieſen, weil die angeführten geſetzlichen Einſchrän-

kungen ein unzertrennliches Ganze bildeten, und mehrere

Beſtandtheile derſelben (Familienrath und subrogé tuteur)

auf Vormundſchaften des Auslandes völlig unanwendbar

wären. Dieſe Geſetze alſo ſeyen überhaupt nur anzuwen-

den auf die im Bereich der Franzöſiſchen Geſetzgebung ſte-

henden Vormundſchaften, nicht auf alle daſelbſt liegende

Grundſtücke.

Die oben angeführten Verträge der Preußiſchen Regie-

rung mit Nachbarſtaaten (Note h) geben dem Perſonal-

vormund, der Grundſtücke im Auslande zu verwalten hat,

folgende Vorſchrift: „welcher letztere jedoch, bei den auf

das Grundſtück ſich beziehenden Geſchäften, die am Orte

des gelegenen Grundſtücks geltenden geſetzlichen Vorſchriften

zu beobachten hat.“ Nimmt man dieſe Stelle in der größten

 

(m) Code civil art. 457—460.

Es wird erfordert: 1) Beſchluß

eines Familienraths unter Mit-

wirkung des Gerichts erſter Inſtanz,

2) Subhaſtation in Gegenwart des

subrogé tuteur (erwählt vom

Familienrath art. 420) und unter

Mitwirkung des Gerichts oder eines

Notars.

|0369 : 347|

§. 380. V. Familienrecht. C. Vormundſchaft.

Ausdehnung, deren die Worte empfänglich ſind, ſo müſſen

ſie auch auf die Einſchränkungen vormundſchaftlicher Ver-

äußerungen bezogen werden, und beſtimmen dann das Ge-

gentheil von der ſo eben angeführten und gebilligten rich-

terlichen Entſcheidung. Ich würde aber geneigt ſeyn, in

der Stelle eine etwas ungenaue Faſſung voraus zu ſetzen,

und ſie gar nicht auf die geſetzlichen Vorſchriften über die

Vormundſchaft zu beziehen, ſondern nur auf die den

allgemeinen Verkehr mit Grundſtücken betreffenden Vor-

ſchriften, wie Hypothekenbeſtellung, gerichtliche Confirmation,

Verlautbarung u. ſ. w.

3. Zuletzt ſind noch die perſönlichen Rechtsverhältniſſe

des Vormundes zu erwähnen.

 

Ueber die Verpflichtung zur Uebernahme der Vormund-

ſchaft, und die dagegen zuläſſigen Excuſationen, kann

nur das am Wohnſitz des Vormundes geltende Geſetz ent-

ſcheiden.

 

Auf die Obligationen, in die der Vormund eintritt durch

Führung der Vormundſchaft, ſind die oben aufgeſtellten

Grundſätze über den Gerichtsſtand und das damit zuſam-

menhängende örtliche Recht zu beziehen (§ 370. Num. 2.

§ 372).

 

Wo das obervormundſchaftliche Gericht verſchieden iſt

von dem perſönlichen Richter des Vormundes, und auch

von dem Gericht, dem das beſondere forum gestae admi-

nistrationis zuzuſchreiben ſeyn würde, iſt neuerlich aus

Gründen der Zweckmäßigkeit behauptet worden, das ober-

 

|0370 : 348|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

vormundſchaftliche Gericht müſſe ſtets als competent ange-

ſehen werden (n). Eine ſolche allgemeine Behauptung iſt

ſchon deswegen bedenklich, weil ſtets die Gerichtsverfaſſung

jedes Landes zu beachten ſeyn wird. Sie iſt aber auch

an manchen Orten als unmöglich zu verwerfen, nämlich

da, wo die obervormundſchaftliche Gerichtsbehörde gar keine

gewöhnliche Civiljurisdiction hat.

§. 381.

VI. Formen der Rechtsgeſchäfte. (Locus regit actum.)

Nachdem die einzelnen Rechtsverhältniſſe, in Beziehung

auf das anwendbare örtliche Recht, der Reihe nach geprüft

worden ſind, bleibt noch die Darſtellung einer beſonderen

Rechtsregel übrig, die deswegen abgeſondert und an das

Ende der ganzen Unterſuchung geſtellt werden mußte, weil

ſie auf die meiſten und wichtigſten der abgehandelten Rechts-

verhältniſſe Anwendung findet.

 

Dieſe Regel bezieht ſich auf die für Rechtsgeſchäfte nicht

ſelten vorgeſchriebenen poſitiven Formen der Willens-

erklärung (a). Hierin gerade kommen ſehr häufig Colli-

ſionen verſchiedener örtlichen Rechte vor, und zwar in

mancherlei Weiſe. Das eine Geſetz kann eine poſitive Form

als nothwendig vorſchreiben, das andere nicht; eben ſo

können auch in beiden Geſetzen Formen vorgeſchrieben ſeyn,

 

(n) Mühlenbruch Archiv B. 19 S. 362—365.

(a) Ueber die Natur dieſer Formen vgl. oben B. 3 § 130. 131.

|0371 : 349|

§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).

jedoch verſchiedene Formen. In allen Fällen ſolcher Art

entſteht nun die Frage, welches örtliche Recht auf ein be-

ſtimmtes Rechtsgeſchäft, in Beziehung auf deſſen Form,

anwendbar iſt; daraus allein wird in vielen Fällen die

Gültigkeit oder Ungültigkeit des Geſchäfts zu erkennen ſeyn.

Faſſen wir dieſe Frage von dem allgemeinen Stand-

punkt auf, von welchem aus die ganze bisherige Unter-

ſuchung geführt worden iſt, ſo können wir über die Ant-

wort kaum zweifelhaft ſeyn. Wir müſſen, ſo ſcheint es,

die erforderliche Form nach demjenigen örtlichen Recht ab-

meſſen, dem das Rechtsgeſchäft überhaupt nach den bisher

aufgeſtellten Regeln unterworfen iſt. Demnächſt müßten

Verträge geſchloſſen werden nach den geſetzlichen Formen

des verabredeten Erfüllungsortes, Teſtamente errichtet nach

den Formen, die im Wohnſitz des Teſtators gelten, Ehen

geſchloſſen nach den im Wohnſitz des Ehemannes vorge-

ſchriebenen Formen. Die Beobachtung dieſer Regel hat

auch weder Zweifel, noch Schwierigkeit, wenn das Rechts-

geſchäft gerade an dieſen Orten zu Stande kommt. Allein

es geſchieht ſehr oft, daß die Gründung des Geſchäfts an

einem ganz anderen, vielleicht weit entfernten, Orte vorge-

nommen wird, und dieſer Umſtand kann die größten

Schwierigkeiten zur Folge haben.

 

An dem Orte, wo das Rechtsgeſchäft zu Stande kommen

ſoll, wird es oft ſehr ſchwer ſeyn, die geſetzlichen Formen

jenes anderen, eigentlich maaßgebenden, Ortes mit Sicher-

heit zu erfahren, oder, wenn man ſie kennt, zur Anwen-

 

|0372 : 350|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

dung zu bringen; ja dieſes Letzte wird oft völlig unmöglich

ſeyn, wie es in dem folgenden Beiſpiel anſchaulich werden

muß. Wenn ein Preuße in Frankreich erkrankt, und ein

Teſtament zu machen wünſcht, ſo müßte er dazu, nach der

oben vorläufig aufgeſtellten Regel, die Mitwirkung eines

Gerichts gebrauchen, da das Preußiſche Recht keine anderen

Teſtamente, als gerichtliche, anerkennt. In Frankreich aber

hat kein Gericht die Befugniß, bei einem Teſtamente thätig

zu ſeyn, da dieſes Geſchäft lediglich den Notarien zu-

kommt (b). Daher würde jener Preuße genöthigt ſeyn, die

Errichtung eines Teſtaments völlig zu unterlaſſen, vielleicht

zum größten Nachtheil der Familie.

Die nahe liegende Erwägung der in dieſen Umſtänden

liegenden großen Härte, wodurch Rechtsgeſchäfte zuweilen

ganz unmöglich werden, noch öfter in die Gefahr der Un-

gültigkeit durch mangelhafte Ausführung kommen, und

zwar beides nur in Folge von geſetzlichen Formen, die ge-

wiß nicht zur Hemmung und Erſchwerung des Verkehrs

eingeführt ſind, — dieſe Erwägung hat ſchon ſeit dem

ſechszehenten Jahrhundert mit ſtets ſteigender Ueberein-

ſtimmung ein allgemeines Gewohnheitsrecht herbeigeführt,

welches an die Stelle der oben vorläufig aufgeſtellten Re-

gel tritt, und die eben dargeſtellten Schwierigkeiten beſeitigt.

Die neu gebildete Regel wird ſo ausgedrückt: Locus regit

actum, und hat den Sinn, daß die Form eines Rechtsge-

 

(b) Code civil art. 971—979.

|0373 : 351|

§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).

ſchäfts als genügend angeſehen werden ſoll, wenn ſie dem

Geſetz des Ortes entſpricht, an welchem das Geſchäft vor-

genommen wird, ſelbſt wenn an dem Ort, wo das Rechts-

verhältniß ſelbſt ſeinen Sitz hat, eine andere Form geſetzlich

vorgeſchrieben iſt. Dieſe Regel wird von den Schriftſtellern

verſchiedener Zeiten und Nationen übereinſtimmend aner-

kannt (c).

Wir haben zunächſt die Anwendung dieſer wichtigen

Regel auf die einzelnen Arten der Rechtsverhältniſſe genauer

zu betrachten. Bei dem üblichen allgemeinen Ausdruck der-

ſelben möchte man leicht annehmen, daß ſie auf alle Ver-

hältniſſe anwendbar, und bei allen von gleich wichtiger

und häufiger Anwendung wäre. Die genauere Erwägung

wird dieſe Annahme einigermaßen beſchränken.

 

I. Bei dem Zuſtand der Perſon an ſich wird ſich kaum

eine Anwendung jener Regel finden, da hier die bloße

Willenserklärung, auf deren geſetzliche Form allein die

Regel ſich bezieht, wenig Einfluß hat. So würde es ganz

irrig ſeyn, anzunehmen, daß ein Minderjähriger die Voll-

jährigkeit, oder ein Ehrloſer die Herſtellung der Ehre, in

einem fremden Lande erlangen könnte durch einen Ausſpruch

der höchſten Gewalt in jenem Lande, nach der Regel:

locus regit actum. Denn dieſe Veränderungen des Zu-

 

(c) P. Voet. Sect. 9 C. 2 Foelix p. 97 fg. Schäffner

§ 9. I. Voet. §. 13—15. Hert. § 73—85. Wächter II. S. 368

§ 10. 23. Eichhorn deutſches bis 380 und S. 405 fg.

Recht § 37. Story § 260. 261.

|0374 : 352|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

ſtandes werden gar nicht bewirkt durch eine Willenserklärung

der betheiligten Perſon, für deren gehörige Form nur zu

ſorgen wäre. Sie können vielmehr nur hervorgehen aus

einer freien Entſchließung der höchſten Staatsgewalt, und

zwar derjenigen Gewalt, welcher die betheiligte Perſon als

Unterthan unterworfen iſt.

II. Auch auf die das Sachenrecht betreffenden Rechts-

geſchäfte kann jener Regel kein bedeutender Einfluß zuge-

ſchrieben werden, und zwar hier aus folgendem Grunde.

Es muß erinnert werden an einen, oben zu einem andern

Zweck bemerklich gemachten, durchgreifenden Unterſchied

unter den menſchlichen Handlungen (S. 212). Es giebt

Handlungen, die an ſich überall gleich möglich ſind, ſo

daß es nur von zufälligen Umſtänden abhängt, ob ſie hier

oder dort vorkommen. Dahin gehören die obligatoriſchen

Verträge, die Errichtung eines Teſtaments u. ſ. w. Es

giebt aber andere Handlungen, die ihrer Natur nach nur

an Einem Orte vorkommen können. Dahin gehören die

meiſten und wichtigſten in das Gebiet des Sachenrechts

einſchlagenden Handlungen. In demſelben iſt überall die

lex rei sitae herrſchend (§ 366), und auch die einflußreichen

Handlungen ſtehen darin meiſt in ſo naher Beziehung zu

der Sache ſelbſt, daß ſie nur da, wo ſich die Sache eben

befindet, gedacht werden können. Dahin gehört vor Allem

die Tradition; eben ſo aber auch eine Reihe blos förmlicher

Handlungen, wie die gerichtliche Auflaſſung, die Eintragung

in Hypothekenbücher u. ſ. w., die nur bei einer an einen

 

|0375 : 353|

§. 381. IV. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).

beſtimmten Ort gebundenen Behörde möglich ſind. — Die

Regel: locus regit actum, bezieht ſich nun, ihrer Natur

nach, lediglich auf Handlungen der erſten Art, weil nur

bei dieſen der Ort, wo die Handlung vorgenommen wird,

von dem wahren Sitz des Rechtsverhältniſſes zufällig ver-

ſchieden ſeyn, und dadurch eine künſtliche Aushülfe nöthig

machen kann. Eben daher aber iſt dieſelbe auf die meiſten

und wichtigſten, das Sachenrecht betreffenden, Handlungen

ohne Anwendung. Dieſe Bemerkung beſchränkt ſich auch

nicht auf unbewegliche Sachen, ſie iſt vielmehr an ſich

wahr auch bei beweglichen, bei welchen gleichfalls die Tra-

dition nur da geſchehen kann, wo ſie gerade ſind. Nur iſt

bei den beweglichen Sachen dieſer Umſtand wenig erheblich

und bemerklich, weil der Beſitzer den Ort derſelben jederzeit

willkürlich verändern kann, wodurch ſie augenblicklich einer

neuen lex rei sitae unterworfen werden.

Der Grund der Unanwendbarkeit jener Regel auf die

dinglichen Rechte iſt alſo weſentlich derſelbe mit dem bei

dem Zuſtand der Perſon an ſich geltend gemachten Grunde.

Er liegt darin, daß bei den dinglichen Rechten der Wille

an ſich nicht das Entſcheidende iſt, ſondern daß es auf die

Beziehung ankommt, in welche die Perſon mit der Sache,

als dem Gegenſtand des dinglichen Rechts, tritt. Dieſe

Beziehung kann nun unter Anderem, nach der Beſtimmung

mancher poſitiven Rechte, in einer bloßen Willenserklärung

beſtehen, dieſer Umſtand aber iſt an ſich zufällig, dem

Weſen des dinglichen Rechts fremd.

 

VIII. 23

|0376 : 354|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

III. Auf Obligationen, vorzüglich auf obligatoriſche

Verträge, ſteht der ausgedehnteſten Anwendung unſrer

Regel Nichts im Wege (d), obgleich dieſe Art der An-

wendung weniger häufig zur Sprache kommt. Einige Bei-

ſpiele werden dieſelbe anſchaulich machen.

 

In manchen Geſetzen ſind für die obligatoriſchen Ver-

träge über Grundſtücke beſondere Formen erforderlich (welche

von der Uebertragung des Eigenthums ganz verſchieden

ſind), anſtatt daß das Römiſche Recht ſolche Formen nicht

kennt. Nach unſrer Regel nun hat es kein Bedenken, daß

die Gültigkeit einer ſolchen Handlung abgemeſſen werden

muß nach dem Geſetz des Ortes, wo der Vertrag geſchloſſen

wird, ohne Rückſicht auf die lex rei sitae. Ich habe dieſen

Fall beſonders hervor, um darauf aufmerkſam zu machen,

daß im Preußiſchen Recht das Gegentheil ausdrücklich vor-

geſchrieben iſt (e). Darin liegt alſo eine entſchiedene, mit

Abſicht und Bewußtſeyn vorgeſchriebene einzelne Ausnahme

der Regel: locus regit actum.

 

(d) Wächter II. S. 405.

(e) Allg. Landrecht I. 5 § 115.

„In allen Fällen, wo unbeweg-

liche Sachen, deren Eigenthum,

Beſitz oder Nutzung, der Gegen-

ſtand eines Vertrages ſind, müſſen

wegen der Form die Geſetze des

Ortes, wo die Sache liegt, beob-

achtet werden:“ Das Preußiſche

Recht fordert aber für alle Ver-

träge über Grundſtücke ſchriftliche

Abfaſſung, welches freilich nicht

ganz ausdrücklich geſagt iſt, aber

doch unzweifelhaft folgt aus I. 5

§ 135, I. 10 § 15—17, I. 21

§ 233, und auch ſchon daraus,

daß der Gegenſtand ſolcher Ver-

träge faſt immer mehr, als Funfzig

Thaler (I. 5 § 131), werth ſeyn

wird. Als Regel für Verträge

überhaupt gilt dagegen der Satz:

locus regit actum (I. 5 § 111),

und dieſe Regel wird bei den außer

Landes geſchloſſenen Verträgen über

|0377 : 355|

§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).

Die Beweiskraft eines Handelsbuches iſt zu beurtheilen

nach dem Geſetz des Ortes, an welchem das Buch geführt

wird (f). Zwar ſcheint dieſe Beweiskraft dem Prozeßrecht

anzugehören, und daher dem Geſetz des Gerichtsortes unter-

worfen werden zu müſſen. Allein die Beweiskraft iſt hier

unzertrennlich verbunden mit der Form und Wirkſamkeit des

Rechtsgeſchäfts ſelbſt, welche hierin als das Ueberwiegende

betrachtet werden muß. Der Fremde, der ſich mit dem

Kaufmann eines Ortes, an welchem Handelsbücher gelten,

einläßt, unterwirft ſich dem örtlichen Recht derſelben.

 

Die formelle Gültigkeit jeder einzelnen, unter einem

Wechſel ſtehenden Unterſchrift iſt zu beurtheilen nach dem

Recht des Ortes, an welchem dieſe Unterſchrift darunter ge-

ſetzt wird (g).

 

IV. Die wichtigſte, und von jeher am meiſten be-

ſprochene, Anwendung unſrer Regel iſt die auf die Ab-

faſſung eines Teſtaments, wenn ſich der Teſtator zufällig

außer ſeinem Wohnſitze befindet. Hierüber iſt, was die

Regel ſelbſt betrifft, ſchon längſt allgemeine Uebereinſtimmung

vorhanden (h).

 

bewegliche Sachen anerkannt, auch

wenn vor Preußiſchen Gerichten

geklagt wird. I. 5 § 148.

(f) Urtheil des Ober-Apella-

tionsgerichts zu Caſſel 1826.

Seuffert Archiv B. 1 Num. 132.

(g) Urtheil des Reviſionshofes

zu Berlin 1844. Seuffert Archiv

B. 2 Num. 121.

(h) Rodenburg Tit. 2 C. 3

§ 1—3. Vinnius selectae quaest.

II. 19. Hert. § 23. Wächter

II. S. 368—380. Zur Zeit des

Durantis war die Frage noch

ſehr beſtritten. Speculum II.

tit. de instrum. edit. § 12

Num. 16.

23*

|0378 : 356|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Zwei Abweichungen aber kommen bei dieſer Anwendung

vor. — Im Bereiche des Engliſchen Rechts ſoll die Regel

zwar gelten, jedoch ſoll das Teſtament nicht einwirken auf

auswärts liegende Grundſtücke (i). Die Unterſcheidung des

beweglichen und unbeweglichen Vermögens ſcheint jedoch

für die Anwendung der hier vorliegenden Regel noch

weniger Sinn und Grund zu haben, als in anderen Be-

ziehungen. — Ein neuerer Schriftſteller fügt folgende Ein-

ſchränkung hinzu. Das Teſtament ſoll gültig ſeyn, wenn

der Teſtator im Ausland ſterbe. Kehre er aber in die

Heimath zurück, ſo verliere es ſeine Gültigkeit, wenigſtens

in dem Fall, wenn dieſe Art der Teſtamente in dem ein-

heimiſchen Rechte unbekannt ſey (k). Ich glaube nicht, daß

dieſe Einſchränkung grundſätzlich gerechtfertigt werden kann,

und ſie ſcheint auch bei Anderen keinen Anklang gefunden

zu haben. Indeſſen würde allerdings ein vorſichtiger Haus-

vater wohl thun, in der Heimath ein neues Teſtament zu

errichten, um jedem, von dieſer Seite aus möglichen, künf-

tigen Einwand ganz ſicher vorzubeugen.

 

V. Für den Abſchluß der Ehe wird allgemein ange-

nommen, daß unſere Regel anzuwenden ſey (l). Indeſſen

ſcheint mir die Sache nicht ohne Bedenken. Wenn die Ein-

 

(i) Story § 474. 478.

(k) Eichhorn deutſches Recht

§. 37.

(l) Hert. § 10. Schäffner

§ 100. 101. Story § 121 fg. Es

iſt bemerkenswerth, daß die Theorie

und Praxis des Engliſchen Rechts

gerade in dieſer Anwendung ſehr

unbedenklich zu ſeyn ſcheint.

|0379 : 357|

§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum.)

wohner eines Landes, deſſen Geſetz blos juriſtiſche Formen

zum Abſchluß einer Ehe erfordert, im Ausland eine Ehe

ſchließen, ſo hat die Sache keinen Zweifel. Anders aber

verhält es ſich mit den Einwohnern eines Landes, deſſen

Geſetz die Ehe an die kirchliche Trauung bindet. Denn

ein ſolches Geſetz hat einen ſittlich religiöſen Grund, alſo

einen zwingenden Charakter (§ 349). Aus dieſem Grunde

würde ich die nachzuholende Trauung im Inlande für nöthig

halten, nicht aber deswegen, weil angenommen werden

müßte, daß die Ehegatten in fraudem legis im Ausland

ihre Ehe geſchloſſen hätten, welche Abſicht vielleicht gar

nicht vorhanden, oder doch nicht erweislich ſeyn wird.

Wenn aber auch die Trauung erſt nachgeholt wird, ſo

muß doch, ſelbſt nach den Grundſätzen des gemeinen Rechts,

die Ehe für die bereits vergangene Zeit als gültig und

wirkſam angeſehen werden. — Auf die ſchon beſtehende

Ehe fremder Perſonen, die in das Land einwandern, kann

indeſſen jener ſtrengere Grundſatz in keinem Fall bezogen

werden. Denn ein Geſetz des hier erwähnten Inhalts, mit

ſeinem zwingenden Charakter, bezieht ſich nur auf die Ein-

gehung von Ehen, nicht auf die Fortführung der ſchon

beſtehenden.

Zum Schluß ſind noch einige allgemeine Bemerkungen

nachzutragen.

 

|0380 : 358|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

Manche haben behauptet, unſere Regel gelte nicht, wenn

ein Geſchäft im Ausland, zur Umgehung der einheimiſchen

Geſetze (in fraudem legis), vorgenommen werde, etwa um

den größeren Geſchäftskoſten im Inland, dem Gebrauch

des Stempelpapiers u. ſ. w. auszuweichen (m). Mit Recht

haben Andere dieſe Einſchränkung verworfen (n). Solchen

Umgehungen kann auf anderem Wege, beſonders durch

Geldſtrafen, vorgebeugt werden; die Gültigkeit der Rechts-

geſchäfte davon abhängig zu machen, iſt kein hinreichender

Grund vorhanden, und es würde dazu wenigſtens eines

poſitiven Geſetzes bedürfen.

 

Eine ſehr wichtige Frage betrifft die eigentliche Stellung

unſrer Regel. Iſt die Beobachtung der am Orte der

Handlung geltenden Form unbedingt nöthig, oder iſt ſie

blos facultativ, ſo daß der Handelnde die Wahl hat, ent-

weder dieſe Form zu beobachten, oder die Form des Ortes,

dem das Rechtsgeſchäft eigentlich angehört (o)? Sieht man

auf den Grund der Einführung unſrer beſonderen Regel,

als einer bloßen Begünſtigung und Erleichterung, ſo kann

man nicht zweifelhaft ſeyn, ſie für facultativ zu halten,

alſo ein Wahlrecht zu geſtatten. Dieſes iſt denn auch

meiſt anerkannt worden (p).

 

(m) I. Voet. § 14. Foelix

p. 105.

(n) Schäffner § 85.

(o) So allein darf die Frage

geſtellt werden, ſo daß nicht davon

die Rede ſeyn kann, eine völlig

willkürliche Wahl zu geſtatten

zwiſchen lex domicilii, rei sitae

u. ſ. w. So ſcheint es jedoch an-

zuſehen I. Voet. § 15.

(p) Rodenburg Tit. 2 C. 3

§ 2. 3. Hert. § 10. 23 (etwas

|0381 : 359|

§. 381. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte (Locus regit actum).

Wenn alſo der Einwohner eines unter dem Römiſchen

Recht lebenden Landes in Paris ein Teſtament machen will,

ſo kann er eine der mehreren Formen des Franzöſiſchen

Rechts anwenden; er kann aber auch vor Sieben Zeugen

das Teſtament errichten. Auch in dieſem letzten Fall iſt

in der Heimath das Teſtament gültig, wobei es ſich nur

von ſelbſt verſteht, daß es an dem Beweiſe der gehörig

beobachteten Form nicht fehlen darf. — Wenn von Ein-

wohnern eines Landes, das zur Ehe die kirchliche Trauung

fordert, die Ehe geſchloſſen wird in einem Lande, das eine

juriſtiſche Form und nicht die Trauung vorſchreibt, und

wenn ſie ſich hier kirchlich trauen laſſen, ohne die juriſtiſche

Form des Landes zu beobachten, ſo iſt die Ehe gültig,

weil ſie die Form der Heimath, alſo des eigentlichen,

bleibenden Sitzes der Ehe, angewendet haben (q).

 

§. 382.

VI. Formen der Rechtsgeſchäfte. (Locus regit actum.)

(Fortſetzung.)

Bisher iſt die beſondere Rechtsregel über die anwend-

bare Form der Rechtsgeſchäfte vom Standpunkt eines allge-

meinen Gewohnheitsrechts aus betrachtet worden, welches

 

ſchwankend). Foelix p. 107 fg.

Schäffner § 83 (ſchwankend).

Wächter II. S. 377—380.

(q) Anerkannt in einem Urtheil

des Ober-Appellationsgerichts zu

Dresden 1845. Seuffert Archiv

B. 2 Num. 5.

|0382 : 360|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

aus einem anerkannten Bedürfniß hervorgegangen, und von

den Rechtslehrern weiter ausgebildet worden iſt. Es bleibt

noch die Frage zu beantworten übrig, wie ſich die poſitive

Geſetzgebung zu jener Regel verhält. Zuerſt die dem ge-

meinen Recht zum Grunde liegende (Römiſches und cano-

niſches Recht), dann einige neuere Geſetzgebungen.

Von jeher haben mehrere Schriftſteller verſucht, jene

Regel aus den Quellen des geſchriebenen gemeinen Rechts

abzuleiten; von Anderen aber iſt mit Recht bemerkt worden,

daß dieſe Verſuche mißlungen ſind (a). Eine Ueberſicht

der für die erwähnte Regel angeführten Geſetzſtellen wird

dieſes Urtheil beſtätigen, wodurch übrigens der Wahrheit

und Gewißheit der Regel ſelbſt durchaus Nichts entzogen

werden ſoll.

 

1. L. 9. C. de testamentis (6. 23). Dieſes iſt die

ſcheinbarſte unter den angeführten Stellen, dennoch begrün-

det ſie unſere Regel nicht.

 

Es war ein Teſtament gemacht worden ohne Beobach-

tung der bekannten Regel des Römiſchen Rechts, nach wel-

cher die Zeugen in unmittelbarer Gegenwart des Teſtators

ſeyn müſſen (b). Auf eine Anfrage der Patroclia (wahr-

 

(a) Wächter I. S. 246.

(b) L. 9 cit. „in conspectu

testatoris“ L. 30. C. eod. „sub

praesentia ipsius testatoris“.

L. 3 C. Th. de test. (4. 4)

„praesentes videant subscrip-

tores“. — Vgl. Glück B. 34

S. 292.

|0383 : 361|

§. 382. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte ꝛc. (Fortſ.)

ſcheinlich der eingeſetzten Erbin) reſcribiren die Kaiſer, das

Teſtament ſey nichtig „si non speciali privilegio (c) pa-

triae tuae juris observatio relaxata est.“ — Ein ſchwa-

cher Schein für die Beziehung dieſer Stelle auf unſere

Rechtsregel liegt in den Worten patriae tuae, die eine Colli-

ſion zwiſchen verſchiedenen örtlichen Rechten anzudeuten

ſcheinen. Allein dieſer Schein verſchwindet wieder, wenn

man erwägt, daß doch unmöglich die patria der Erbin ent-

ſcheidend ſeyn könnte; wo das Teſtament gemacht war,

wird gar nicht geſagt. Wahrſcheinlich hatte der Verſtor-

bene in ſeiner Heimath teſtirt, die auch die Heimath der

Erbin war. Dann iſt von einer Anwendung unſerer Regel

gar nicht die Rede, vielmehr enthält die Stelle dann nur

den ohnehin unzweifelhaften Satz, daß in der Colliſion das

Particularrecht dem gemeinen Recht vorgeht.

2. L. 2. C. quemadm. test. aper. (6. 32). Ein Vater,

der von dem Wohnſitz abweſend war, hatte vor dem Tod

ſeinem Sohne ein Teſtament übergeben, mit dem Auftrag,

daſſelbe in die Heimath zu überbringen. Die Kaiſer reſcri-

biren, bei der Eröffnung des Teſtaments vor der ſtädtiſchen

Curie müßten die daſelbſt geltenden Geſetze und Gewohn-

heiten beobachtet werden. — Dabei iſt von einer Colliſion

örtlicher Rechte nicht die Rede, ſondern nur der unzweifel-

 

(c) Privilegium heißt hier ein Stadtrecht oder einzelnes Stück

eines Stadtrechts, das durch eine Kaiſerconſtitution der hier in Frage

ſtehenden Stadt ertheilt war.

|0384 : 362|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

hafte Satz ausgedrückt, daß bei einer gerichtlichen Handlung

das Geſetz dieſes Orts zu beobachten ſey.

3. L. 1. C. de emanc. (8. 49). Vor den Duumvirn

einer Stadt hatte ein Mann, der nicht dieſer Stadt ange-

hörte, ſeinen Sohn emancipirt, und die Gültigkeit dieſer

Handlung wurde bezweifelt. Der Zweifel gründete ſich

darauf, daß überhaupt in der Regel die Municipalmagiſtrate

keine legis actio hatten, ſondern ſie nur ausnahmsweiſe

durch Privilegium erlangen konnten (d). Die Kaiſer re-

ſcribiren, die Gültigkeit der Handlung hänge ab von dem

Inhalt des Stadtgeſetzes. Gebe dieſes die legis actio den

Duumvirn, und zwar auch in der Ausdehnung, daß ſie

dieſelbe ſelbſt über Fremde ausüben könnten, ſo ſey die

Handlung gültig. — Von einer Colliſion örtlicher Rechte

iſt hier keine Spur.

 

4. C. 1. X. de spons. (4. 1). Ein Sachſe hatte eine

Fränkiſche Frau zur Ehe genommen, und dabei nicht die

Sächſiſchen, ſondern die Fränkiſchen Gebräuche beobachtet.

Nachdem er mit ihr viele Jahre gelebt, und Kinder erzeugt

hatte, berief er ſich auf den erwähnten Fehler im Abſchluß

der Ehe, verſtieß die Frau, und nahm eine andere. Eine

Kirchenverſammlung erklärt dieſes Verfahren für ſtrafbar,

die verſuchte zweite Ehe für nichtig, und verfügt die Her-

ſtellung der früheren Ehe. — Auch hier iſt von einer Colli-

ſion örtlicher Rechte nicht die Rede, und beſonders wird

 

(d) Savigny Geſchichte des R. R. im Mittelalter B. 1 § 27.

|0385 : 363|

§. 382. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte ꝛc. (Fortſ.)

der Ort des Abſchluſſes gar nicht erwähnt. Die Entſchei-

dung beruht darauf, daß die erſte Ehe im Sinne des cano-

niſchen Rechts gültig und unauflöslich war, und daß da-

bei die Beobachtung dieſer oder jener Gebräuche des bür-

gerlichen Rechts als ganz gleichgültig angeſehen werden

mußte.

Das Franzöſiſche Geſetzbuch hatte in dem Entwurf fol-

genden Satz: „La forme des actes est reglée par les lois

du lieu, dans lequel ils sont faits ou passés”. Dieſe Stelle

wurde im Geſetzbuch ſelbſt weggelaſſen, nicht weil man ſie

für falſch oder zweifelhaft hielt, ſondern gerade umgekehrt,

weil ſie ſo gewiß und bekannt ſchien, daß ihre Aufnahme

für überflüſſig gehalten wurde (e). Einzelne Anwendun-

gen, worin unſere Rechtsregel als geltend vorausgeſetzt

wird, ſind folgende:

 

1. Wenn ein Franzoſe oder ein Fremder einen acte de

l’état civil im Auslande nach den in dieſem Lande

üblichen Formen aufnehmen läßt, ſo muß jener acte

auch in Frankreich als gültig anerkannt werden (f).

2. Franzoſen können im Auslande eine gültige Ehe

ſchließen nach den üblichen Formen des Ortes, wo ſie

ſich befinden (g). Die Geſetze über das vorherge-

(e) Foelix p. 111.

(f) Code civil art. 47.

(g) Code

civil art. 170.

|0386 : 364|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

hende Aufgebot und über die Bedingungen einer

gültigen Ehe werden durch dieſe Beſtimmung nicht

berührt.

3. Der Franzoſe, der im Auslande teſtiren will, kann

dieſes nach ſeiner Wahl auf zweierlei Weiſe thun:

entweder durch eigenhändige Schrift und Unterſchrift

(ſo wie in Frankreich), oder durch acte authentique

nach den am Orte des errichteten Teſtaments üblichen

Formen (h).

Das Preußiſche Recht enthält eine allgemeine Anerken-

nung der Regel: locus regit actum, gar nicht. Eine blos

ſcheinbare Abweichung von der Regel enthält das allgem.

Landrecht Einl. §. 33. Dieſe Stelle will nicht ſagen, daß

Fremde die durch ein einzelnes Statut eingeführte Form

nicht beobachten dürfen, oder daß eine ſo vorgenommene

Handlung nicht gültig wäre; ſondern, daß nur die Einhei-

miſchen, nicht die Fremden, zur Beobachtung des Statuts

verpflichtet ſeyen (i).

 

Bei den Verträgen erkennt es dieſe Regel als gültig

an, und läßt ſie allgemein gelten in Anſehung beweglicher

 

(h) Code civil art. 999 vgl.

art. 1317.

(i) Die Zweideutigkeit liegt in

den Worten: „gelten nur bei

Handlungen“ u. ſ. w. nämlich:

gelten als verpflichtend nur

bei ſolchen Handlungen. Denn als

zuläſſig und in ihrer Anwendung

hinreichend gelten ſie auch für

Fremde.

|0387 : 365|

§. 382. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte ꝛc. (Fortſ.)

Sachen; bei unbeweglichen aber läßt es ſie ausnahmsweiſe

nicht gelten, fordert vielmehr die ausſchließende Beobachtung

der durch die lex rei sitae gebotenen Form (§ 381. e).

Ueber die Formen der im Ausland errichteten Teſta-

mente enthält das Landrecht gar keine Beſtimmung. Da-

raus ſchließt ein neuerer Schriftſteller, es müſſe die allge-

meine Vorſchrift des gerichtlichen Teſtaments zur einzigen

Richtſchnur dienen, und unſere Rechtsregel dürfe nicht zur

Anwendung kommen (k), welches eben ſo viel heißt, als

daß ein Preuße in manchen fremden Ländern, z. B. in

Frankreich, gar kein Teſtament machen könne. Ich muß

dieſe Behauptung aus folgenden Gründen durchaus beſtrei-

ten. Als das allgemeine Landrecht abgefaßt wurde, gehörte

unſere Rechtsregel unter den deutſchen Juriſten, und zwar

gerade in Anwendung auf Teſtamente, zu den bekannteſten

und gewiſſeſten Sätzen. Es iſt aber ſehr unwahrſcheinlich,

daß man eine Regel von ſolchem Charakter durch bloßes

Stillſchweigen zu beſeitigen die Abſicht gehabt haben ſollte.

 

Im Jahr 1823 wurde zur Bequemlichkeit des im Aus-

land befindlichen Preußiſchen Geſandtſchaftsperſonals eine

neue Form von Teſtamenten eingeführt (l). Dieſe Be-

ſtimmung kündigt ſich durch Inhalt und Ausdruck, ſo wie

durch den Eingang des Geſetzes, als eine ganz neue, poſi-

tive Vorſchrift an. Es geht ihr aber folgende einleitende

Stelle voran:

 

(k) Koch Preußiſches Recht § 40 Note 18.

(l) Geſetz vom

3. April 1823 § 2, Geſetzſamml. 1823 S. 40.

|0388 : 366|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.

§ 1. „Die letztwilligen Verordnungen Unſerer Ge-

ſandten ..... ſollen auch ferner, wie

bisher, in ihrer äußeren Form alsdann

gültig ſeyn, wenn ſie die Geſetze des Orts,

wo ſie errichtet werden, erfüllen.“

Ich frage nun, was heißen die Worte: auch ferner,

wie bisher? Das Landrecht enthält ja gar Nichts über

die Form der Teſtamente im Ausland. Dagegen enthielt

von jeher das gemeine Recht in Deutſchland unſere Rechts-

regel, und zwar nicht beſonders für Geſandte, ſondern für

alle Inländer, die im Ausland teſtiren wollten. Der Sinn

der ganzen Stelle iſt alſo folgender. Die Geſandten, ſo

wie alle andere Einwohner, können im Auslande teſtiren

nach den Formen des Orts, wo ſie ſich aufhalten. Dieſes

Recht nun, das ſie ohnehin mit allen andern Inländern theilen,

ſollen ſie auch ferner, wie bisher, ausüben dürfen (§ 1).

Zu ihrer Bequemlichkeit aber ſoll gegenwärtig noch eine

neue Form von Teſtamenten eingeführt und ihnen mit jener

früheren zur freien Auswahl anheim geſtellt werden (§ 2).

 

Im J. 1824 wurde mit Weimar ein Vertrag über die

gegenſeitigen Rechtsverhältniſſe der Unterthanen geſchloſſen,

und gleiche oder ganz ähnliche Verträge mit anderen Nach-

barſtaaten folgten darauf in großer Anzahl (§ 374. qq).

In dem Art. 34 jenes Vertrags (m) wird nun geſagt:

„Alle Rechtsgeſchäfte unter Lebenden, und auf den Todes-

 

(m) Geſetzſammlung 1824 S. 154.

|0389 : 367|

§. 382. VI. Formen der Rechtsgeſchäfte ꝛc. (Fortſ.)

fall, werden, was die Gültigkeit derſelben rückſichtlich

ihrer Form betrifft, nach den Geſetzen des Orts beurtheilt,

wo ſie eingegangen ſind.“ Dieſe Beſtimmung iſt nun

offenbar keine Gefälligkeit, keine Conceſſion für die Nach-

barſtaaten, auch ſoll ſie ja gegenſeitig gelten. Sie war

ferner nicht gedacht als eine neue Erfindung, ſondern als

Anſchluß an ein allgemeines Rechtsprincip, welches auch

ſchon aus der häufigen gleichlautenden Wiederholung

folgt. Dieſes Rechtsprincip aber konnte kein anderes ſeyn,

als die uralte, in ganz Deutſchland von jeher geltende

Regel: locus regit actum, die alſo dadurch von Seiten

unſerer Geſetzgebung die unzweifelhafteſte Anerkennung

erhält.

|0390 : 368|

Buch III Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Zweites Kapitel.

Zeitliche Gränzen der Herrſchaft der Rechtsregeln

über die Rechtsverhältniſſe.

§. 383.

Einleitung.

Schriftſteller:

 

Chabot de l’Allier questions transitoires sur le code

Napoléon. Paris 1809. 2 Voll. in 4.

Weber über die Rückanwendung poſitiver Geſetze.

Hannover 1811.

Meyer principes sur les questions transitoires. Am-

sterdam 1813.

Bergmann das Verbot der rückwirkenden Kraft neuer

Geſetze im Privatrecht. Hannover 1818.

Struve über das poſitive Rechtsgeſetz rückſichtlich

ſeiner Ausdehnung in der Zeit. Göttingen 1831 (a).

Die Aufgabe des dritten Buchs dieſes Rechtsſyſtems

iſt dahin angegeben worden, das Gebiet, in welchem die

Rechtsregeln über Rechtsverhältniſſe herrſchen ſollen, und

 

(a) Viele andere Schriften finden ſich angeführt bei Bergmann

S. XXI—XXIV.

|0391 : 369|

§. 383. Einleitung.

die Gränzen dieſes Gebietes, zu beſtimmen (§ 344). Eine

ſolche Gränzbeſtimmung kann nach zwei Seiten hin nöthig

ſeyn, je nachdem neben einander, oder nach einander, ver-

ſchiedene Rechtsregeln als geltend gedacht werden. Von

der erſten Art, der Beſtimmung der örtlichen Gränzen, iſt

bisher gehandelt worden (Kap. I.). Es bleibt nun noch

die zweite Art der Gränzbeſtimmung übrig, die ſich auf die

zeitlichen Gränzen bezieht.

Dabei wird vorausgeſetzt, daß an demſelben Orte in

zwei verſchiedenen Zeiträumen verſchiedene Rechtsregeln

gelten, zu welchen ein gegebenes Rechtsverhältniß, oder eine

einzelne Rechtsfrage, in ſolche Beziehung kommt, daß es

zweifelhaft wird, welche unter jenen beiden Rechtsregeln die

Entſcheidung der Frage beherrſchen ſoll. Ein ſolcher Streit

zweier Rechtsregeln um die Herrſchaft ſetzt alſo ſtets eine

eingetretene Veränderung voraus. Dieſe Veränderung aber,

ſofern ſie dem Gebiet der nun folgenden Unterſuchung ange-

hören ſoll, muß noch näher dahin beſtimmt werden, daß

es eine Veränderung in den Rechtsregeln ſelbſt (dem objec-

tiven Recht) ſeyn muß, nicht eine bloße Veränderung in

den thatſächlichen Bedingungen des Rechtsverhältniſſes (dem

ſubjectiven Recht), indem nämlich die Veränderungen dieſer

letzten Art bereits in Verbindung mit den örtlichen Gränzen

der Herrſchaft abgehandelt worden ſind (b). Wir ſetzen

alſo im Laufe der jetzt folgenden Unterſuchung voraus ein

 

(b) S. o. § 344 am Schluß des §.

VIII. 24

|0392 : 370|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Rechtsverhältniß, das in ſich ſelbſt unverändert geblieben

iſt, dem aber zwei, der Zeit nach verſchiedene, Rechtsregeln

gegenüber treten, die um die Herrſchaft über das Rechts-

verhältniß ſtreiten.

Eine Veränderung in den Rechtsregeln aber, wie ſie

hier als Grund und Bedingung aller zeitlichen Colliſions-

fragen gedacht werden muß, kann in folgenden verſchiedenen

Geſtalten eintreten:

 

1. Erlaß eines einzelnen neuen Geſetzes, welches

gerade das jetzt vorliegende Rechtsverhältniß zum

Gegenſtand hat.

2. Abfaſſung eines neuen Geſetzbuches, alſo einer Ge-

ſammtheit von Rechtsregeln, worin auch das vor-

liegende Rechtsverhältniß neue Beſtimmungen er-

hält (c).

3. Aufnahme eines fremden Geſetzbuches im Ganzen,

anſtatt des bisher geltenden Rechts (d).

4. Losreißen des Ortes, welcher den Sitz eines Rechts-

verhältniſſes bildet, aus ſeinem bisherigen Staats-

verband, und Aufnahme in einen anderen, mit

Unterwerfung unter das geſammte Recht dieſes

anderen Staates, in welchem Fall dieſes neu über-

(c) Dieſer Fall trat ein in

Conſtantinopel vom J. 529 bis 534,

in Preußen 1794, in Frankreich

1804, in Oeſterreich 1812.

(d) So wie es unter dem Ein-

fluß der Franzöfiſchen Uebermacht

in mehreren Ländern in und außer

Deutſchland mit dem code Napo-

léon geſchah.

|0393 : 371|

§. 383. Einleitung.

nommene Recht in einem ganzen Geſetzbuch, oder

auch (und vielleicht neben dem Geſetzbuch) in ein-

zelnen Geſetzen, ſelbſt in einzelnen Regeln des Ge-

wohnheitsrechts, beſtehen kann (e).

Wie verſchieden dieſe Fälle von einander ſeyn mögen

in ausgedehnter und wichtiger Anwendung, ſo ſtehen ſie

doch einander grundſätzlich ganz gleich in Anſehung der

hier vorliegenden Colliſionsfrage. In allen dieſen Fällen

iſt es möglich, die Colliſionsfrage durch beſondere geſetz-

liche Beſtimmungen voraus zu entſcheiden, und in den drei

letzten Fällen iſt dazu beſondere Veranlaſſung vorhanden.

Solche Geſetze werden tranſitoriſche genannt, indem

ſie den Uebergang aus einer Rechtsregel in eine andere

zum Gegenſtand haben.

 

Als Juſtinian die Inſtitutionen und die Digeſten

bekannt machte, legte er denſelben rückwirkende Kraft bei (f).

Darin lag jedoch nicht der Ausdruck eines bleibenden Grund-

ſatzes über Rückwirkung, noch die Aufſtellung einer wahren

Ausnahme, indem dieſe Rechtsbücher nicht dazu beſtimmt

waren, neues Recht zu ſchaffen, ſondern das beſtehende

 

(e) Wichtige Fälle dieſer Art

ſind eingetreten bei der Abtretung

vieler Länder an Frankreich; ſpäter-

hin, als Preußen theils frühere

Provinzen zurück erhielt, theils

neue Landestheile erwarb; nicht

bei der Abtretung des linken Rhein-

ufers an deutſche Staaten, weil

damals das Franzöſiſche Recht

aufrecht erhalten wurde.

(f) L. 2 § 23, L. 3 § 23

C. de vet. j. enucl. (1. 17). Etwas

anders lautet die Const. Summa

§ 3 über den Codex. Vgl. Berg-

mann § 14.

24*

|0394 : 372|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Recht zu ſichern und zu reinigen. Man konnte darin eine

Art von authentiſcher Auslegung des beſtehenden Rechts

im Großen ſehen, welche von ſelbſt rückwirkend ſeyn mußte

(§ 397).

In keiner Geſetzgebung iſt für dieſe Colliſionsfrage ſo

viel Vorſorge getroffen worden, als in der Preußiſchen (g),

und ich will gleich hier eine Ueberſicht über die Preußiſchen

tranſitoriſchen Geſetze geben, um in der Folge darauf

leichter zurück weiſen zu können. — Das älteſte derſelben

iſt das Publikationspatent des allgemeinen Landrechts vom

5. Februar 1794 (h), welches in den §§ 8 bis 18 ausführ-

liche tranſitoriſche Beſtimmungen enthält. Daran ſchließen

ſich folgende Geſetze an, wodurch die Preußiſche Geſetzge-

bung theils in neu erworbene Landestheile zuerſt eingeführt,

theils in wiedergewonnene Landestheile zurückgeführt wurde.

 

1803. Fürſtenthum Hildesheim und Stadt Goslar

(Stengel’s Beiträge Band 17 S. 194).

1803. Paderborn und Münſter (Stengel Band 17

S. 235).

1803. Eichsfeld, Erfurt, Mühlhauſen, Nordhauſen

(Stengel Band 17 S. 253).

(g) Das Oeſterreichiſche Ein-

führungspatent enthält über dieſen

Gegenſtand nur wenige Beſtim-

mungen. Im Franzöſiſchen Ge-

ſetzbuch finden ſich bei einzelnen

Artikeln tranſitoriſche Beſtimmun-

gen (z. B. art. 2281); außerdem

aber wurden einige abgeſonderte

tranſitoriſche Geſetze erlaſſen, gleich-

zeitig mit dem code, namentlich

über Adoption, Eheſcheidung, un-

eheliche Kinder.

(h) Abgedruckt vor allen Aus-

gaben des Landrechts.

|0395 : 373|

§. 384. Zweierlei Rechtsregeln.

1814. Frühere Preußiſche Provinzen jenſeits der

Elbe (Geſ. Samml. 1814, S. 89).

1816. Weſtpreußen (Geſ. Samml. 1816, S. 217).

1816. Poſen (Geſ. Samml. 1816, S. 225).

1816. Herzogthum Sachſen (Geſ. Samml. 1816,

S. 233).

1818. Enklaven (Geſ. Samml. 1818, S. 45).

1825. Herzogthum Weſtphalen (Geſ. Samml. 1825,

S. 153).

Es iſt dabei zu bemerken, daß die Einführungspatente

von 1803 faſt nur abgekürzte Wiederholungen des Patents

von 1794 ſind, anſtatt daß die ſeit dem Jahre 1814 er-

laſſene Patente manche eigenthümliche und abweichende

Beſtimmungen enthalten.

 

§. 384.

Zweierlei Rechtsregeln.

An die Spitze dieſer Lehre wird gewöhnlich ein Grund-

ſatz mit dem Anſpruch auf Allgemeingültigkeit geſtellt, der

bei den einzelnen Schriftſtellern unter verſchiedenen Wen-

dungen erſcheint, die ſich jedoch meiſt auf folgende zwei

Ausdrücke zurückführen laſſen:

 

Neuen Geſetzen iſt keine rückwirkende Kraft bei-

zulegen.

Neue Geſetze ſollen erworbene Rechte unberührt

laſſen.

|0396 : 374|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Dieſem Grundſatz ſoll weder ſeine Wahrheit, noch ſeine

Wichtigkeit beſtritten werden. Dennoch kann die herrſchende

Auffaſſung und Darſtellung deſſelben als befriedigend nicht

anerkannt werden, indem man ihn als allgemein anwendbar

zu behandeln pflegt, während er nur für Eine Gattung von

Rechtsregeln wahr, für eine andere Gattung aber völlig

unwahr iſt.

 

Auf den erſten Blick möchte man geneigt ſeyn, dem

hier angedeuteten Gegenſatz der Auffaſſungen eine größere

Wichtigkeit beizulegen, als ihm in der That gebührt, indem

man glauben könnte, die hier getadelte Behandlung der

Sache müßte dahin führen, die vorkommenden praktiſchen

Rechtsfragen großentheils irrig zu entſcheiden. Dem iſt

aber nicht alſo. Wo ein ſo bedenklicher, einſchneidender

Erfolg zu erwarten wäre, der ſich dann durch den Verſuch

einer ſtrengen Durchführung von ſelbſt als unmöglich dar-

ſtellen würde, pflegt man dadurch abzuhelfen, daß man

Ausnahmen des angeblich allgemeinen Grundſatzes behaup-

tet. Aber eben dieſe Aushülfe durch bloße Ausnahmen iſt

es, die hier völlig verworfen werden muß, welches unten

ausführlich dargethan werden wird (§ 398). Und ſo muß

ich bei dem erhobenen Widerſpruch gegen die gewöhnlich

angenommene Allgemeingültigkeit jenes Grundſatzes beharren,

wenngleich dieſe irrige Annahme eine geringere Gefahr

praktiſcher Folgen mit ſich führt, als man glauben möchte.

 

Um nun das Gebiet, in welchem der angegebene Grund-

ſatz in der That anzuerkennen iſt, näher zu begränzen,

 

|0397 : 375|

§. 384. Zweierlei Rechtsregeln.

muß ich auf den verſchiedenen Inhalt der Rechtsregeln

eingehen, mit deren möglichen Veränderungen wir uns in

der ganzen hier vorliegenden Unterſuchung zu beſchäftigen

haben (§ 383).

Eine erſte Gattung von Rechtsregeln bezieht ſich auf

den Erwerb der Rechte, das heißt, auf die Verbindung

eines Rechts mit einer einzelnen Perſon, oder auf die Ver-

wandlung eines (abſtracten) Rechtsinſtituts in ein (perſön-

liches) Rechtsverhältniß (a). — Die Natur dieſer Rechts-

regeln und ihrer möglichen Veränderungen wird durch fol-

gende Beiſpiele anſchaulich werden. Wenn in einem Lande

bisher das Eigenthum durch bloßen Vertrag veräußert und

erworben werden konnte, ein neues Geſetz aber zur Ver-

äußerung die Tradition fordert, ſo betrifft die Veränderung

der Rechtsregel lediglich die Frage, unter welchen Bedin-

gungen der Einzelne Eigenthum einer Sache erwerben, alſo

zu ſeinem Rechte machen kann. Eben ſo, wenn bisher

alle obligatoriſche Verträge mündlich mit voller Wirkung

geſchloſſen werden konnten, ein neues Geſetz aber vor-

ſchreibt, daß bei einem Gegenſtand, deſſen Werth mehr als

Funfzig Thaler beträgt, nur ein ſchriftlicher Vertrag klag-

bar ſeyn ſoll.

 

Eine zweite Gattung von Rechtsregeln bezieht ſich auf

das Daſeyn der Rechte, alſo auf die Anerkennung eines

Rechtsinſtituts im Allgemeinen, welche ſtets vorausgeſetzt

 

(a) S. o. B. 1 § 4. 5.

|0398 : 376|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

werden muß, bevor von der Beziehung auf eine einzelne

Perſon, oder von der Verwandlung eines Rechtsinſtituts

in ein Rechtsverhältniß, die Rede ſeyn kann. — Auch die

Regeln dieſer Gattung ſind wieder von zweierlei Art, die

in ihrem Umfang verſchieden, in ihrem inneren Weſen gleich

ſind, und daher in Beziehung auf unſere gegenwärtige Un-

terſuchung völlig auf gleicher Linie ſtehen.

Einige dieſer Rechtsregeln betreffen das Seyn oder

Nichtſeyn eines Rechtsinſtituts. — Beiſpiele ſind dieſe.

Wenn in einem Staate bisher die Römiſche Sklaverei an-

erkannt war, oder die Germaniſche Leibeigenſchaft, oder das

Zehentrecht, und ein neues Geſetz eines dieſer Rechtsinſti-

tute aufhebt, für unmöglich erklärt, ihm alſo den Rechts-

ſchutz entzieht.

 

Andere unter dieſen Rechtsregeln betreffen zwar nicht

das Seyn oder Nichtſeyn, wohl aber das So oder An-

dersſeyn eines Rechtsinſtituts, alſo, neben der allgemei-

nen Fortdauer, eine innere Umwandlung deſſelben. — Da-

hin gehören folgende Fälle. Anſtatt des Eigenthums mit

ſtrenger Vindication (nach Römiſchem Recht) verordnet ein

neues Geſetz, daß das Eigenthum gar nicht mehr durch

Vindication, ſondern nur durch Beſitzklagen und Obliga-

tionen geſchützt werden ſoll. Anſtatt des bisher unab-

löslichen Zehentrechts, verordnet ein neues Geſetz, daß jede

Partei einſeitig die Ablöſung des Zehentrechts verlangen

könne. Eben dahin gehört das bekannte Geſetz Juſtinian’s

über das Eigenthum. Seit Jahrhunderten hatte ein dop-

 

|0399 : 377|

§. 384. Zweierlei Rechtsregeln.

peltes Eigenthum beſtanden, ex jure quiritium und in bo-

nis. Durch ein neues Geſetz hob Juſtinian dieſe zwei

Arten auf, ſo daß künftig nur Ein Eigenthum, und zwar

mit vollſtändiger Wirkung, beſtehen ſollte; in Verbindung

damit hörte auch die bisherige Eigenthümlichkeit der res

mancipi und des fundus Italicus auf.

Es muß aber wiederholt werden, daß beide zuletzt er-

wähnte Arten der Rechtsregeln das Daſeyn der Rechte

betreffen, unter ſich alſo ganz gleichartig ſind, und daß wir

keine Veranlaſſung haben, im Laufe der gegenwärtigen Un-

terſuchung ſie zu unterſcheiden. Ihr natürlicher Unterſchied

wurde nur erwähnt, um es anſchaulich zu machen, in wel-

chem Umfang und wie mannichfaltig die das Daſeyn der

Rechte betreffenden Rechtsregeln zu denken ſind, und um

jedem möglichen Zweifel über dieſen Umfang vorzubeugen.

 

Zu der hier dargeſtellten Unterſcheidung von zweierlei

Rechtsregeln, die den Erwerb, oder das Daſeyn der

Rechte betreffen, ſind noch einige zuſätzliche Bemerkungen

nöthig (b).

 

(b) Damit nicht dieſe Klaſſi-

ſication der Rechtsregeln, auf

welcher die ganze folgende Unter-

ſuchung beruht, für unvollſtändig

und unzureichend gehalten werde,

iſt gleich hier zu bemerken, daß

die gegenwärtige Unterſuchung be-

ſchränkt iſt auf das materielle Pri-

vatrecht, alſo das öffentliche Recht

(insbeſondere das Strafrecht), und

das Prozeßrecht nicht in ſich auf-

nimmt. Dieſe Einſchränkung iſt

dieſelbe, welche ſchon oben ange-

geben worden iſt für die örtlichen

Gränzen (§ 361. a), ja für das

ganze gegenwärtige Rechtsſyſtem

(B. 1 § 1).

|0400 : 378|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Was zuerſt die Bezeichnung dieſer zwei Gattungen von

Regeln betrifft, ſo habe ich diejenige gewählt, welche vor-

zugsweiſe durch ſich ſelbſt verſtändlich zu ſeyn ſchien.

Man könnte ſie auch dadurch zu unterſcheiden ſuchen, daß

man die eine Gattung auf das Recht im ſubjectiven, die

andere auf das Recht im objectiven Sinn bezöge (c).

Oder ſo, daß die eine Gattung auf die bleibende Natur

(das Permanente) der Rechtsverhältniſſe bezogen würde,

die andere auf das Bewegliche in denſelben.

 

Die Gränze der beiden Gattungen von Rechtsregeln iſt

nicht überall unzweifelhaft, indem es bei manchen ungewiß

erſcheinen kann, ob ſie der einen oder der andern Gattung

angehören. Solche Zweifel ſind nur durch genaue Erwä-

gung des Sinnes und der Abſicht neuer Geſetze zu löſen

(§ 398).

 

Die erſte Gattung von Rechtsregeln wurde bezogen auf

den Erwerb der Rechte; indeſſen iſt darin auch der Verluſt

derſelben, die Auflöſung der Rechtsverhältniſſe (ihre Abtren-

nung von der Perſon des bisherigen Inhabers) mit inbe-

griffen, und nur der Kürze wegen nicht mit ausgedrückt (d).

In den meiſten und wichtigſten Anwendungen fällt ohne-

hin Beides völlig zuſammen; ſo bei der Veräußerung, der

Uſucapion, der Klagverjährung, der Auflöſung einer

 

(c) S. o. B. 1 § 4. 5.

(d) Es hätte daher dieſe Gat-

tung auch bezeichnet werden können

als: Regeln für die juriſti-

ſchen Thatſachen (B. 3 § 104).

Ich habe dieſen Ausdruck als zu

abſtract lautend vermieden.

|0401 : 379|

§. 384. Zweierlei Rechtsregeln.

Obligation, in welchen Fällen ſtets der eine Theil gerade

Das erwirbt, welches der andere Theil verliert. Aber

auch in den ſeltneren und weniger wichtigen Fällen,

worin der Verluſt eines Rechts allein für ſich eintritt, wie

bei der Dereliction, hat es keinen Zweifel, daß die zeitliche

Colliſion der Geſetze völlig eben ſo, wie bei dem Erwerb,

zu beurtheilen iſt.

Die Natur mancher Rechte iſt auf eine endloſe Dauer

eingerichtet, wie das Eigenthum vermittelſt des Erbrechts,

die Sklaverei, die ſich durch die Geburt fortgeſetzt, ſo daß

ein völliges Aufhören dieſer Rechte nur durch zufällige Um-

ſtände eintreten kann; im Gegenſatz anderer Rechte, die

ſchon durch ihre Natur auf ein vorübergehendes Daſeyn

angewieſen ſind, ſo wie faſt alle Obligationen, der Nieß-

brauch, die Familienverhältniſſe. Bei beiden iſt an ſich die

Colliſionsfrage auf gleiche Weiſe zu entſcheiden. Nur iſt

nicht zu verkennen, daß die das Daſeyn der Rechte betref-

fenden Regeln, und daher auch die Grundſätze für die Col-

liſion derſelben, von ungleich größerer Wichtigkeit ſind bei

den Rechten von endloſer Dauer, als bei den vorübergehenden.

 

Wenn man die Frage aufwirft, welche von jenen beiden

Gattungen von Rechtsregeln an ſich ſelbſt, und ſo auch in

Anſehung möglicher Colliſionen, wichtiger iſt, ſo wird die

Antwort verſchieden ausfallen, je nach verſchiedenen Ge-

ſichtspunkten, die man dabei wählen kann. Auf der einen

Seite ſind neue Geſetze über das Daſeyn der Rechte wich-

tiger, inſofern ſie tiefer in den geſammten Rechtszuſtand

 

|0402 : 380|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

eingreifen, und insbeſondere das jetzt Beſtehende umwan-

deln. Auf der anderen Seite aber erſcheinen neue Geſetze

über den Erwerb der Rechte in der Hinſicht wichtiger, als

ſie häufiger zur Sprache und zum Bewußtſeyn kommen.

Sie bilden nämlich die Grundlage der juriſtiſchen Handlun-

gen, der Rechtsgeſchäfte (e), alſo des geſammten Verkehrs.

Daher iſt gerade die Colliſionsfrage bei ihnen ſowohl erheb-

licher, als verwickelter, welcher Grund beſonders mich

beſtimmt hat, dieſe Gattung der Rechtsregeln der anderen

in der folgenden Unterſuchung voran zu ſtellen.

Aus der bisher angeſtellten Betrachtung ergiebt ſich für

die Löſung der hier vorliegenden Aufgabe folgende Anord-

nung als natürlich und zweckmäßig.

 

Die Aufgabe geht dahin, die zeitlichen Gränzen der

Herrſchaft für zweierlei Rechtsregeln zu beſtimmen.

 

A. Erſtlich für die Rechtsregeln, welche den Erwerb

der Rechte zum Gegenſtand haben.

 

(e) Bei Weitem die meiſten

und wichtigſten juriſtiſchen That-

ſachen beſtehen in freien Handlun-

gen; allerdings nicht alle, viel-

mehr kommen darunter auch zu-

fällige Ereigniſſe vor, die aber mit

den freien Handlungen in der

Colliſionsfrage unter völlig gleichen

Regeln ſtehen. Dahin gehören

z. B. als Gründe des Eigenthums-

erwerbs die verſchiedenen Formen

der Acceſſion; als Grund eines

deferirten Inteſtaterbrechts der Tod

einer beſtimmten Perſon.

|0403 : 381|

§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.

Dabei iſt vor Allem der Grundſatz in ſeiner wahren

Bedeutung darzuſtellen, und zugleich das Verhältniß alter

und neuer Geſetzgebung, ſo wie der Meinungen der Schrift-

ſteller, zu dieſem Grundſatz anzugeben.

 

Ferner iſt dieſer Grundſatz auf einzelne Rechtsverhält-

niſſe und Rechtsfragen anzuwenden.

 

Endlich iſt die Natur der Ausnahmen darzuſtellen, die

neben dieſem Grundſatz nicht ſelten vorkommen.

 

B. Zweitens für die Rechtsregeln, welche das Daſeyn

der Rechte zum Gegenſtande haben. Die Anordnung der

einzelnen Fragen iſt der für die erſte Klaſſe angegebenen

ähnlich, nur daß dieſe Fragen hier eine einfachere Geſtalt

annehmen.

 

§. 385.

A. Erwerb der Rechte. — Grundſatz.

Es iſt nunmehr der Grundſatz der zeitlichen Colliſion

für diejenigen Rechtsregeln feſtzuſtellen, welche den Erwerb

der Rechte zum Gegenſtand haben. In dieſem Gebiete iſt

in der That der Grundſatz als wahr anzunehmen, deſſen

Allgemeingültigkeit oben (§ 384) verneint werden mußte.

Ich will denſelben in den beiden vorläufig angegebenen

Formeln genauer feſtzuſtellen ſuchen, wodurch zugleich das

innere Verhältniß beider Formeln zu einander anſchaulich

werden wird.

 

|0404 : 382|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Die erſte Formel lautete ſo:

 

Neuen Geſetzen iſt keine rückwirkende Kraft

beizulegen.

Zunächſt iſt die wahre Bedeutung der Rückwirkung

aufzuſuchen, die durch dieſe Formel abgewieſen wer-

den ſoll.

 

Es iſt augenſcheinlich, daß dieſelbe nicht in einem buch-

ſtäblichen, materiellen Sinn aufzufaſſen iſt. Dieſer Sinn

würde dahin gehen, daß das Geſchehene ungeſchehen ge-

macht werden ſolle. Da nun Dieſes an ſich unmöglich iſt,

ſo bedarf es keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. —

Vielmehr iſt alſo die Rückwirkung in einem juriſtiſchen

oder formellen Sinn aufzufaſſen, wodurch ſie die Bedeu-

tung erhält, daß das rückwirkende Geſetz die Folgen der

vergangenen juriſtiſchen Thatſachen unter ſeine Herrſchaft

ziehen, alſo auf dieſe Folgen einwirken würde. Eine ſolche

Rückwirkung aber auf die Folgen der vergangenen That-

ſachen läßt ſich noch in folgender Abſtufung denken:

 

A. Auf die Folgen allein, die von der Zeit des neuen

Geſetzes künftig eintreten würden.

 

B. Auf dieſe Folgen, und zugleich auf die, welche in

die Zwiſchenzeit zwiſchen der juriſtiſchen Thatſache und dem

neuen Geſetze fallen.

 

Zwei Beiſpiele werden dieſe Rückwirkung anſchaulich

machen. — Wenn in einem Lande, das den Zinsvertrag

ohne Einſchränkung zuläßt, ein Gelddarlehen zu zehn Pro-

zent Zinſen gegeben wird, nach drei Jahren aber wird das

 

|0405 : 383|

§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.

Römiſche Recht in dieſem Lande eingeführt, welches höhere

Zinſen, als zu ſechs Prozent, verbietet, ſo würde die Rück-

wirkung der erſten, geringeren Abſtufung dahin führen, daß

von der Zeit des neuen Geſetzes an die überſchießenden

vier Prozente nicht mehr gefordert werden könnten, anſtatt

daß die in den verfloſſenen drei Jahren fällig gewordenen

gültig bleiben würden und noch ferner eingeklagt werden

könnten. Die zweite, weiter gehende Abſtufung der Rück-

wirkung würde dahin gehen, daß die überſchießenden vier

Prozente weder für die vergangenen drei Jahre, noch für

die künftige Zeit, gefordert werden könnten. — Wenn fer-

ner in einem Lande, das die Veräußerung des Eigenthums

durch bloßen Vertrag zuläßt, ein Landgut in dieſer Weiſe

an einen Käufer veräußert wird, nach fünf Jahren aber

ein neues Geſetz die Tradition zur Veräußerung erfordert,

ſo würde die Rückwirkung der erſten Abſtufung dahin füh-

ren, daß der Käufer in den vergangenen fünf Jahren Ei-

genthümer geweſen wäre, und die Früchte als Eigenthümer

bezogen hätte, anſtatt daß er von jetzt an Eigenthümer zu

ſeyn aufhören müßte. Nach der zweiten Abſtufung würde

er auch in den vergangenen Jahren Nichteigenthümer gewe-

ſen ſeyn, und die Früchte mit Unrecht bezogen haben.

Die oben aufgeſtellte Formel nun (der Grundſatz der

Nichtrückwirkung) verneint ſchlechthin die Einwirkung des

neuen Geſetzes auf die Folgen der vergangenen Thatſachen,

und zwar in jeder denkbaren Abſtufung. Sie erhält alſo

den Zinsvertrag zu zehen Prozent aufrecht, ſowohl für die

 

|0406 : 384|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

vergangenen drei Jahre, als für die ganze Zukunft (a).

Sie läßt das durch bloßen Vertrag erworbene Eigenthum

fortwirken, nicht blos für die vergangenen fünf Jahre, ſon-

dern auch für alle Zukunft.

Ich gehe nun zur zweiten Formel über, die alſo

lautet:

 

Neue Geſetze ſollen erworbene Rechte unberührt

laſſen.

Damit wird gefordert die Schonung der bereits erwor-

benen Rechte, oder, in genauerem Ausdruck, die Erhaltung

der Rechtsverhältniſſe in der ihnen einmal gegebenen Na-

tur und Wirkſamkeit.

 

Manche haben dieſe zweite Formel ſo aufgefaßt, als ob

darin ein neuer, ſelbſtſtändiger Grundſatz enthalten wäre,

verſchieden von dem in der erſten Formel ausgedrückten (b).

In der That aber erſcheint in beiden Formeln ein und

derſelbe Grundſatz, nur von verſchiedenen Seiten angeſehen

und bezeichnet. Die Anwendung auf die bereits bei der

erſten Formel benutzten Beiſpiele wird Dieſes anſchaulich

machen. — Der Glaubiger hat durch den auf zehen Pro-

zent geſchloſſenen Zinsvertrag das Recht erworben, Zinſen

in dieſem Betrag zu fordern, ſo lange das Darlehen

 

(a) Dieſe Aufrechthaltung für

die Zukunft wird meiſt unerheblich

ſeyn, weil der Schuldner das Dar-

lehen kündigen kann, und in Folge

des neuen Geſetzes leicht Geld zu

geringeren Zinſen finden wird.

Sie iſt in den ſeltneren Fällen

wichtig, wenn die Unkündbarkeit

der Schuld auf längere Zeit be-

dungen ſeyn ſollte.

(b) Bergmann S. 92.

Puchta Vorleſungen S. 223.

|0407 : 385|

§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.

beſteht (c), und dieſes erworbene Recht ſoll erhalten wer-

den, obgleich ein neues Geſetz die Zinsverträge auf ein ge-

ringeres Maaß beſchränkt. — Durch den bloßen Vertrag

hat der Käufer des Landgutes Eigenthum erworben, und

dieſes erworbene Recht ſoll ihm erhalten werden, obgleich

ein neues Geſetz die Veräußerung an die Bedingung der

Tradition knüpft.

Die auf die Erhaltung der erworbenen Rechte gerichtete

Formel bedarf nach zwei Seiten einer näheren Beſtimmung,

um gegen mögliche, ſehr bedenkliche, Mißverſtändniſſe ge-

ſchützt zu werden.

 

Erſtlich ſind unter erworbenen Rechten, welche nach

jener Formel erhalten werden ſollen, nur die Rechtsverhält-

niſſe einer beſtimmten Perſon zu verſtehen, alſo die Be-

ſtandtheile eines Gebietes unabhängiger Herrſchaft des indi-

viduellen Willens (d), nicht die abſtracten Befugniſſe aller

Menſchen oder ganzer Klaſſen von Menſchen (e). Einige

Beiſpiele werden dieſen Gegenſatz, und die aus demſelben

hervorgehende Beſchränkung für die Anwendung der aufge-

ſtellten Formel, anſchaulich machen. — Wenn in einem

Staate der bisher ſtrafloſe Zweikampf unter Strafe geſtellt

wird, ſo iſt dadurch allen jetztlebenden Einwohnern die

 

(c) Es würde ganz unrichtig

ſeyn, nur den Anſpruch auf ſchon

fällige Zinſen ein erworbenes Recht

zu nennen. Auch der Anſpruch

auf künftige iſt ein ſolches, jedoch

darin von dem erſten verſchieden,

daß die Ausübung von dem Ein-

tritt eines in der Zukunft liegen-

den Zeitpunktes abhängt.

(d) S. o. B. 1 § 52. 53.

(e) Bergmann § 20.

VIII. 25

|0408 : 386|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

bisher genoſſene Befugniß, den Zweikampf ungeſtraft vorzu-

nehmen, entzogen. Die augenblickliche Einwirkung dieſes

neuen Geſetzes aber wird durch unſere Formel nicht ausge-

ſchloſſen, weil die bisher vorhandene abſtracte Befugniß

aller Menſchen zum ſtrafloſen Zweikampf nicht die Natur

eines erworbenen Rechtes hat. — Auf gleiche Weiſe verhält

es ſich, wenn in einem Staate, der bisher Bürgſchaften

der Frauen mit voller Wirkung anerkannte, das Römiſche

Recht, und mit dieſem das Sc. Vellejanum, eingeführt wird,

wodurch alle Frauen die bisherige Befugniß zu vollgültigen

Bürgſchaften verlieren. — Und ganz Daſſelbe muß behauptet

werden, wenn da, wo bisher die Volljährigkeit mit

21 Jahren eintrat, das Römiſche Recht mit der auf

25 Jahre beſtimmten Volljährigkeit eingeführt wird. Alle,

die zur Zeit dieſes neuen Geſetzes noch nicht 21 Jahre

vollendet haben (f), verlieren durch daſſelbe die Befugniß,

mit dieſem Alter volljährig zu werden, und werden alſo

Vier Jahre länger in der Minderjährigkeit erhalten.

Zweitens ſind erworbene Rechte nicht zu verwechſeln

mit bloßen Erwartungen, die durch das bisher beſtehende

Geſetz begründet waren, durch das neue Geſetz aber zerſtört

werden. Dieſe Zerſtörung wird durch den auf die Er-

haltung der erworbenen Rechte gerichteten Grundſatz keines-

 

(f) Anders verhält es ſich mit Denen, die zur Zeit des neuen Ge-

ſetzes ſchon 21 Jahre zurückgelegt hatten, denn für jeden Einzelnen

unter dieſen war die Volljährigkeit bereits ein perſönliches erworbenes

Recht geworden, ſ. u. §. 389.

|0409 : 387|

§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz,

weges ausgeſchloſſen. — So konnte ein beſtehendes Erb-

folgegeſetz in beſtimmten Perſonen einer Familie die Er-

wartung erregen, daß ſie die Inteſtaterben eines anderen

Familiengliedes werden würden, und ſie mögen vielleicht

ihren Lebensberuf nach dieſer Erwartung eingerichtet haben.

Wenn nun ein neues Erbfolgegeſetz dieſe Erwartung ver-

nichtet, ſo mag ihnen dieſe Aenderung des Rechts ſehr

ſtörend werden, aber unſer Grundſatz ſchließt dieſen Erfolg

nicht aus, da derſelbe nur erworbene Rechte, nicht erregte

Erwartungen, in Schutz nimmt. — Eben ſo verhält es

ſich, wenn Jemand von einem reichen kinderloſen Mann

das Verſprechen erhält, daß dieſer ihn zum einzigen Erben

einſetzen werde, wenn ſogar das Teſtament wirklich gemacht

und ihm gezeigt worden iſt. Dieſe bloße Erwartung kann

durch ein, bei dem Leben des Teſtators, erlaſſenes neues

Geſetz, das die Teſtamente verbietet, eben ſo gut vereitelt

werden, wie durch den veränderten Willen des Teſtators (g).

— Dagegen würde es unrichtig ſeyn, hierin den bloßen

Erwartungen gleich zu ſtellen die Rechte, die nur noch nicht

ausgeübt werden können, weil ſie an eine Bedingung

oder Zeitbeſtimmung geknüpft ſind. Dieſes ſind wirkliche

Rechte, iudem ſelbſt bei der Bedingung die eingetretene

Erfüllung retrotrahirt wird. Der Unterſchied liegt darin,

daß bei der Erwartung aller Erfolg von der bloßen

(g) Meyer p. 32. 33.

25*

|0410 : 388|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Willkür einer fremden Perſon abhängt, anſtatt daß bei

conditio und dies Dieſes nicht anzunehmen iſt (h).

Der hier aufgeſtellte Grundſatz, der aus beiden angege-

benen Formen hervorgeht, hat aber zwei an ſich verſchiedene

Bedeutungen, deren jede wahr und wichtig iſt; die eine

bezieht ſich auf den Geſetzgeber, die andere auf den Richter.

 

Für den Geſetzgeber hat jener Grundſatz die Bedeutung,

daß er neue Geſetze nicht mit rückwirkender Kraft, nicht

mit Gefährdung erworbener Rechte, erlaſſen ſoll (i).

 

Für den Richter geht die Bedeutung des Grundſatzes

dahin, jedes neue Geſetz, auch wenn es hierüber unbeſtimmt

lautet, ſo auszulegen und anzuwenden, daß ihm keine

rückwirkende Kraft beigelegt, daß kein erworbenes Recht

geſtört werde.

 

Wird alſo in einem Staat, der bisher die Veräußerung

durch bloßen Vertrag zuließ, die Tradition als Bedingung

der Veräußerung vorgeſchrieben, ſo wird dieſes neue Geſetz

der eben geſtellten Anforderung dadurch genügen, daß es

in folgendem Sinn gedacht wird: „Wer künftig Eigenthum

veräußern will, ſoll ſich dazu der Tradition bedienen.“ In

 

(h) S. o. B. 3 § 116. 117.

120. — Chabot T. 1 p. 128.

Meyer p. 30—32 p. 172.

(i) Darauf geht der Ausdruck

der L. 65 C. de decur. (10. 31)

„cum conveniat leges futuris

regulas imponere, non praeter-

itis calumnias excitare.“ Die

meiſten anderen Stellen faſſen mehr

den Standpunkt der Belehrung für

den Richter auf. So unter anderen

auch die Stelle, aus welcher außer-

dem die L. 65 cit. größtentheils

wörtlich entnommen iſt. L. 3 C.

Th. de const. (1. 1) „Omnia

constituta non praeteritis ca-

lumniam faciunt, sed futuris

regulam imponunt.“

|0411 : 389|

§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.

dieſem Sinn ſoll der Geſetzgeber die neue Vorſchrift denken

(wenn auch nicht wörtlich ausdrücken), und der Richter

ſie anwenden.

Bisher iſt verſucht worden, den Grundſatz in ſeiner

eigentlichen Bedeutung und in ſeinen verſchiedenen Be-

ziehungen klar zu machen, ſo wie in gehörige Gränzen ein-

zuſchließen. Die Hauptfrage aber iſt dabei noch nicht be-

rührt worden: ob wir ihn überhaupt für wahr zu halten

haben, und aus welchen Gründen.

 

Man möchte vielleicht verſucht ſeyn, Folgendes dagegen

einzuwenden. Ein neues Geſetz wird ſtets gegeben in der

Ueberzeugung, daß es beſſer ſey, als das frühere. Daher

müſſe man deſſen Wirkſamkeit ſo weit, als möglich, aus-

dehnen, um den zu erwartenden beſſeren Zuſtand dem

weiteſten Kreiſe mitzutheilen. — Dieſe Auffaſſung hat einige

Verwandtſchaft mit der oben bei dem territorialen Rechte

erwähnten (§ 348), nach welcher bei jeder örtlichen Colliſion

dex Geſetze nur immer das Geſetz des eigenen Landes feſt-

gehalten werden ſollte. Wie aber damals dieſem ſcheinbaren

Grundſatz der wahre entgegen geſetzt werden mußte, nach

welchem jedes Rechtsverhältniß vielmehr nach dem Geſetz

des ihm naturgemäß zukommenden Rechtsgebietes zu beur-

theilen war, ſo wird auch hier unſre Aufgabe dahin gehen,

für die zeitliche Wirkſamkeit eines jeden neuen Geſetzes das

Gebiet der Herrſchaft feſtzuſtellen, welches ihm naturgemäß

zukommt. Die Gränzen dieſes natürlichen Gebietes nun

für die Herrſchaft eines neuen Geſetzes ſind es, welche

 

|0412 : 390|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

durch den oben aufgeſtellten Grundſatz der nichtrückwirken-

den Kraft, der Erhaltung erworbener Rechte, bezeichnet

werden. Die Wahrheit dieſer Behauptung aber geht aus

folgenden Betrachtungen hervor.

Erſtlich iſt höchſt wichtig und wünſchenswerth das

unerſchütterliche Vertrauen in die Herrſchaft der beſtehenden

Geſetze. Damit iſt nicht gemeint das Vertrauen in ihre

ſtete Fortdauer, da vielmehr nach Umſtänden die Erwartung

und der Wunſch eines beſſernden Fortſchrittes wohl begründet

und heilſam ſeyn kann. Wohl aber iſt gemeint das Ver-

trauen, daß ihre Herrſchaft und Wirkſamkeit, ſo lange ſie

beſtehen, unanfechtbar ſeyn werde. Es ſoll alſo Jeder

darauf ſicher rechnen dürfen, daß die Rechtsgeſchäfte, die

er zum Erwerb von Rechten nach den beſtehenden Geſetzen

eingerichtet hat, auch in Zukunft wirkſam bleiben werden.

 

Zweitens iſt gleichfalls wichtig und wünſchenswerth die

Erhaltung des jederzeit beſtehenden Rechts- und Vermögens-

Beſtandes. Dieſe Erhaltung aber wird, ſo weit die Geſetz-

gebung darauf einwirken kann, befördert durch den oben

aufgeſtellten Grundſatz, gefährdet durch den entgegen-

geſetzten.

 

Drittens iſt der entgegengeſetzte Grundſatz ſchon deshalb

verwerflich, weil eine conſequente Durchführung deſſelben

ganz unmöglich iſt, ſo daß er nur zufällig und inconſequen-

terweiſe (alſo ſchon deshalb ungerecht), auf einzelne Arten

von Rechtsgeſchäften einwirken würde, während alle anderen

davon frei bleiben müßten. Wollte man jenen entgegen-

 

|0413 : 391|

§. 385. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz.

geſetzten Grundſatz ſtrenge durchführen, ſo müßte ein neues

Geſetz, welches zur Veräußerung des Eigenthums, anſtatt

des bisher genügenden bloßen Vertrags, die Tradition er-

forderte, die Folge haben, daß nun auch alle vergangene

Veräußerungen unwirkſam würden, oder durch nachgeholte

Traditionen ergänzt werden müßten. Die völlige Unmöglich-

keit eines ſolchen Rechtszuſtandes iſt ſo einleuchtend, daß

gewiß Niemand daran gedacht hat, in die Annahme einer

rückwirkenden Kraft, die von Manchen nach der Natur der

Sache als richtig angeſehen, und nur nach poſitiven Ge-

ſetzen verworfen wird, auch dieſe Folgen mit aufzunehmen.

Man glaubte alſo die Rückwirkung allgemein in Frage zu

ſtellen, dachte aber dabei in der That nur an eingeleitete,

noch unerledigte Rechtsgeſchäfte, namentlich an früher ge-

ſchloſſene obligatoriſche Verträge, deren Erfüllung erſt nach

dem Erlaß des neuen Geſetzes gefordert wird (k). In

dieſer beſchränkten Anwendung iſt es allerdings denkbar,

die Rückwirkung durchzuführen; aber eben dieſe ganz zu-

fällige und willkürliche Beſchränkung beweiſt, daß die An-

nahme der Rückwirkung zu einem allgemeinen Grundſatz

ganz untauglich, und in der zufällig beſchränkten Anwen-

dung, worin ſie möglich wäre, ungerecht iſt.

(k) Dieſes iſt namentlich die

Anſicht von Weber, S. 108, der

das unter dem früheren Geſetz durch

bloßen Vertrag erworbene Eigen-

thum fortwirken läßt, auch wenn

ein neues Geſetz die Tradition

zur Veräußerung erfordert. Er

wird aber dadurch ſeinem Grund-

ſatz in der That untreu, indem er

unvermerkt die Anwendung deſſelben

inconſequent und willkürlich be-

ſchränkt.

|0414 : 392|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

§. 386.

A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſetzung.)

Der Grundſatz für die den Erwerb der Rechte betreffen-

den Regeln iſt bisher nur von dem Standpunkt einer

allgemeinen Betrachtung über die Natur und Beſtimmung

der Geſetze erwogen worden; ich wende mich nun zu

den Ausſprüchen der Geſetzgebung über dieſe wichtige

Frage.

 

Hier tritt uns zunächſt entgegen eine für den Orient

von K. Theodoſius II. im J. 440 erlaſſene Verord-

nung (a), die auf alle ſpätere Zeiten, ſowohl in der Ge-

ſetzgebung, als in der Praxis, und in der Lehre der Schrift-

ſteller, den entſchiedenſten Einfluß ausgeübt hat. Sie

lautet alſo:

Leges et constitutiones futuris certum est dare

formam negotiis, non ad facta praeterita revo-

cari, nisi nominatim et de praeterito tempore

et adhuc pendentibus negotiis cautum sit.

 

Der wichtige Inhalt dieſer Berordnung, der die bisher

vorgetragene Lehre völlig beſtätigt, läßt ſich auf folgende

Hauptſätze zurückführen.

 

Sie unterſcheidet nicht zwiſchen vergangenen und künf-

tigen Wirkungen juriſtiſcher Thatſachen, ſondern zwiſchen

 

(a) L. 7 C. de legibus (1. 14). — Die Stelle wird wörtlich wieder-

holt in einer Decretale von Gregor IX., C. 13 X. de constit.

(1. 2). Dem Inhalt nach ſtimmt damit überein C. 2 X. eod.

|0415 : 393|

§. 386. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)

vergangenen und künftigen Thatſachen ſelbſt. Neue Ge-

ſetze, ſagt ſie, ſind anzuwenden auf alle ſpäterhin vorzu-

nehmende Rechtsgeſchäfte (futuris … negotiis), nicht an-

zuwenden auf vergangene Rechtsgeſchäfte (non ad facta

praeterita revocari), auch wenn deren Wirkungen erſt

noch in der Zukunft liegen ſollten (adhuc pendentibus ne-

gotiis) (b).

Sie macht den Vorbehalt, daß ein künftiges Geſetz

ausnahmsweiſe auch wohl eine rückwirkende Kraft ſich bei-

legen könne, die alsdann anerkannt werden müſſe. Hieraus

erhellt, daß dieſe Verordnung gedacht iſt als eine Anwei-

ſung (Auslegungsregel) für die Richter, nicht für den Ge-

ſetzgeber, welchem vielmehr für jeden einzelnen Fall freie

Hand ausdrücklich vorbehalten wird. Wäre aber auch

dieſer Vorbehalt nicht hinzugefügt, ſo würde er ſich von

 

(b) Denn die Beziehung auf

die pendentia negotia iſt der

Ausnahme vorbehalten, für die

regelmäßigen Fälle alſo unterſagt.

Pendens negotium iſt ein Ver-

trag, der zur Zeit des neuen Ge-

ſetzes ſchon geſchloſſen, aber ganz

oder theilweiſe noch unerfüllt iſt,

ſo daß deſſen Wirkungen in der

Zukunft liegen. — Der Ausdruck

negotium iſt in der Stelle a po-

tiori gebraucht, indem die meiſten

juriſtiſchen Thatſachen (wenn auch

nicht alle) wahre Rechtsgeſchäfte

ſind (§ 384. e). Auch anderwärts

kommt einmal der Ausdruck ne-

gotium für eine ſolche Thatſache

vor, die gewiß kein Rechtsgeſchäft

iſt, nämlich die Eröffnung einer

Inteſtaterbfolge. L. 12 in f. C.

de suis (6. 55). — Unter die

pendentia negotia gehören nun

unſtreitig auch diejenigen, worüber

bereits ein Rechtsſtreit erhoben,

aber noch nicht entſchieden iſt; je-

doch glaube ich nicht, daß der hier

gebrauchte Ausdruck gerade dieſen

Fall beſonders hat bezeichnen ſollen.

Anders verhält es ſich mit den

causis … quae in judicii

adhuc pendent in der const.

Tanta § 23.

|0416 : 394|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

ſelbſt verſtanden haben, da dieſe Vorſchrift künftig, wie im

Ganzen, ſo auch in der Anwendung auf jeden einzelnen

künftigen Fall, wieder aufgehoben werden konnte.

Wichtig iſt noch der Standpunkt, von welchem aus die

Verordnung erlaſſen wird. Sie iſt nicht gemeint als eine

aus neuer Erfindung hervorgehende Vorſchrift, vor welcher

alſo etwa das Gegentheil anzunehmen geweſen wäre. Viel-

mehr will ſie nur ausſprechen, Was aus der Natur und

Beſtimmung der Geſetzgebung als Regel nothwendig folge

(certum est), alſo eine Belehrung geben zur Abwendung

möglicher Irrthümer der Richter über dieſe Frage. Auch

dürfen wir nicht zweifeln, daß jene Regel von jeher von

den Römiſchen Juriſten als wahr anerkannt worden iſt,

und es iſt nur zufällig, daß uns nicht Ausſprüche derſelben

aus älterer Zeit aufbewahrt ſind (b¹).

 

Endlich iſt oben bemerkt worden, daß neue Geſetze auf

zweierlei Weiſe vorkommen können: als einzeln ſtehende,

beſondere Vorſchriften (§ 383. Num. 1), oder im Zuſam-

menhang eines ganzen Geſetzbuchs, alſo eines mit Geſetzes-

kraft verſehenen Syſtems von Rechtsregeln (§ 383. Num. 2.

3. 4.). In der hier vorliegenden Verordnung iſt augen-

ſcheinlich nur an den erſten Fall gedacht, der Inhalt der-

ſelben paßt aber ganz eben ſo auch auf den zweiten.

 

(b¹) Sehr beſtimmt findet ſich die Regel anerkannt bei Cicero in

Verrem I. 42, und zwar als Etwas, das von jeher als unzweifelhaft

angeſehen worden ſey.

|0417 : 395|

§. 386. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)

Derſelbe Grundſatz nun, den die angeführte Verordnung

in allgemeiner Geſtalt ausſpricht, findet ſich anerkannt in

einer Reihe von Conſtitutionen, welche als neue Geſetze

über einzelne Rechtsfragen erlaſſen wurden, mit dem Zuſatz,

daß ſie nur für die Zukunft gelten, nicht rückwirkend ſeyn

ſollten; dieſer Zuſatz hat dabei die Natur eines tranſitori-

ſchen Geſetzes (§ 383). — Einige dieſer Conſtitutionen

ſind dadurch bemerkenswerth, daß ſie ſehr beſtimmt die oben

erklärte Natur unſres Grundſatzes ausſprechen, nach wel-

cher derſelbe beſtimmt iſt, die künftigen Wirkungen

der vergangenen Thatſachen aufrecht zu halten (c).

— Andere drücken den Grund unſerer Regel ganz richtig

dahin aus, daß Der, welcher im Vertrauen auf das beſte-

hende Geſetz ſeine Rechtsgeſchäfte einrichte, keinen Tadel

verdiene, indem er das künftige Geſetz nicht habe vorher-

ſehen und beachten können (d).

 

Wir haben nun zunächſt zu unterſuchen, welche Bedeu-

tung dieſe Ausſprüche des Römiſchen Rechts für uns, auf

dem Standpunkte des gemeinen Rechts, haben, und wir

 

(c) L. un. § 16 C. de rei

ux. act. (5. 13) „instrumenta

enim jam confecta viribus ca-

rere non patimur, sed suum

exspectare eventum”. — L. un.

§ 13 C. de latina libert. toll.

(7. 6). „Sed si quidem liberti

jam mortui sunt et bona eorum

quasi Latinorum his, quorum

intererat, aggregata sunt, vel

adhuc vivunt, nihil ex hac lege

innovetur, sed maneant apud

eos jure antiquo firmiter deten-

ta et vindicanda”.

(d) L. 29 C. de test. (6. 23),

Nov. 22 C. 1. — Andere Con-

ſtitutionen, die denſelben Grund-

ſatz anerkennen, ſind dieſe: L. 65

C. de decur. (10. 31), L. 18

C. de testibus (4. 20), Nov. 66

C. 1 § 4. 5.

|0418 : 396|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

können dieſe Frage ſogleich auch auf die im Römiſchen

Recht vorkommenden Ausnahmen erſtrecken, die eine rück-

wirkende Kraft mit ſich führen, und deren allgemeiner Vor-

behalt bereits erwähnt worden iſt, während die Erwähnung

der einzelnen Fälle erſt weiter unten ihre Stelle finden

kann. Unſere Schriftſteller ſind darüber ganz einverſtanden,

daß alle dieſe Ausſprüche des Römiſchen Rechts, ſie mö-

gen die Regel oder die Ausnahme betreffen, ſo weit über-

haupt Römiſches Recht anerkannt wird, die Kraft wahrer

Geſetze mit ſich führen. Ich kann mich von der Wahrheit

dieſer Behauptung nicht überzeugen.

Zuerſt muß ich dieſelbe grundſätzlich verwerfen. Wir

mögen jene Ausſprüche anſehen als Anweiſungen für den

Geſetzgeber oder für den Richter, welche beide Auffaſſungen

an ſich richtig ſind (§ 385), ſo haben ſie für uns, auch da,

wo das Römiſche Recht anerkannt wird, die Kraft binden-

der Geſetze nicht (e).

 

Zweitens muß ich jene Behauptung verwerfen mit

Rückſicht auf den beſonderen Inhalt der Ausſprüche, von

welchen hier die Rede iſt. Der allgemeine Ausſpruch,

welcher die rückwirkende Kraft verneint, ſo wie die einzel-

nen Wiederholungen deſſelben (Note a. c. d.), ſollten gar

nicht neues Recht aufſtellen, und ſind auch in der That

nur Belehrungen, worin die richtige Behandlung neuer

Geſetze naturgemäß anerkannt wird. Bei dieſen Ausſprüchen

 

(e) S. o. B. 1 § 27. 49.

|0419 : 397|

§. 386. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)

alſo iſt die ganze Frage ohnehin eine völlige müſſige. —

Anders verhält es ſich mit den einzelnen Ausnahmen jenes

Grundſatzes, die allerdings einen völlig poſitiven Charakter

an ſich tragen. Und dennoch muß auch hier eine genauere

Betrachtung zu demſelben Erfolg führen. Um Dieſes an-

ſchaulich zu machen, will ich Juſtinian’s Geſetze über den

Zinsvertrag prüfen. Im J. 528 hatte er verordnet, daß

anſtatt der ſeit Jahrhunderten erlaubten Zwölf Prozente

künftig in der Regel nur Sechs Prozente an Zinſen be-

dungen werden dürften (f). Da nun bald darauf Zweifel

entſtanden wegen der vor dem J. 528 geſchloſſenen Zins-

verträge, erließ er im J. 529 ein tranſitoriſches Geſetz (g)

des Inhalts, daß die vor dem J. 528 verfallenen Zinſen

nach dem alten Geſetz, die ſeitdem verfallenen, ſo wie die

künftigen, nach dem neuen Geſetz beurtheilt werden ſoll-

ten (h). Nun wird wohl Jeder zugeben, daß von dem

unmittelbaren Inhalt des Geſetzes nicht mehr die Rede ſeyn

kann, da ganz gewiß keinem Richter ein vor 528 geſchloſ-

ſener Zinsvertrag zur Entſcheidung vorgelegt werden wird.

Eben ſo kann nicht von einer Anwendung des Geſetzes in

den Ländern die Rede ſeyn, in welchen ſeit Jahrhunderten

das Römiſche Recht herrſchend iſt, da auch hier die that-

ſächliche Veranlaſſung zu einer ſolchen Anwendung durch-

(f) L. 26 C. de usuris (4. 32).

(g) L. 27 C. de usuris (4. 32).

(h) Die letzte Beſtimmung geht auf rückwirkende Kraft, enthält

alſo eine Ausnahme unſeres Grundſatzes (§ 385).

|0420 : 398|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

aus fehlen muß. Der einzige Fall einer möglichen Anwen-

dung wäre der, wenn etwa eine Gegend, die bisher kein

Zinsverbot gekannt hätte, einem Staate einverleibt würde,

in welchem Römiſches Recht, mit dem Verbot höherer Zin-

ſen, als zu 6 Prozent, gilt. Hier könnte man daran den-

ken, das angeführte tranſitoriſche Geſetz auf die in jener

Gegend geſchloſſenen früheren Zinsverträge anzuwenden.

Allein auch dieſe Anwendung würde ich als eine ungehö-

rige, blos buchſtäbliche, dem Geiſt des Geſetzes wider-

ſprechende, verwerfen müſſen. Denn jedes tranſitoriſche

Geſetz, ſo weit es über die Gränzen bloßer Belehrung hin-

aus geht, und, ſo wie jenes Geſetz Juſtinian’s, eine Rück-

wirkung anordnet, iſt von ſtreng poſitiver Natur, alſo ganz

abhängig von den Umſtänden und Bedürfniſſen ſeiner Zeit,

und nicht der Ausdruck einer für alle Zeiten und Verhält-

niſſe gültigen Rechtsregel. Juſtinian kann alſo die hier

erwähnte Rückwirkung verordnet haben, weil er (mit Recht

oder Unrecht) annahm, ſie ſey nach dem Bedürfniß ſeiner

Zeit nöthig oder nützlich. Wollten wir dieſelbe aber jetzt

anwenden, ſo würden wir über den Sinn derſelben hinaus-

gehen, indem wir ohne allen Grund vorausſetzen müßten,

er habe dieſe Vorſchrift auch für alle künftige Zeiten, deren

Bedürfniſſe er unmöglich vorherſehen konnte, gelten laſſen

wollen.

Wenngleich nun aus dieſen Gründen hervorgeht, daß

wir den erwähnten Ausſprüchen des Römiſchen Rechts die

Kraft bindender Geſetze, ſelbſt in dem Gebiete unſeres ge-

 

|0421 : 399|

§. 386. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)

meinen Rechts, abſprechen müſſen, ſo darf dieſe Behaup-

tung keinesweges ſo verſtanden werden, als wollten wir

dieſelben für gleichgültig oder unwichtig erklären. Sie ſind

vielmehr dadurch höchſt wichtig geworden, daß ſie als eine

mächtige Autorität ſeit Jahrhunderten auf die Geſetzgebung,

die gerichtliche Praxis, und die Lehre der Schriftſteller ein-

gewirkt haben, wodurch, neben mancher Verſchiedenheit im

Einzelnen, dennoch im Ganzen eine ſo große Uebereinſtim-

mung entſtanden iſt, wie ſie ohne dieſe gemeinſame Grund-

lage gewiß nicht zu erwarten geweſen wäre.

§. 387.

A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſetzung).

Der Ausſpruch des Römiſchen Rechts über die Nicht-

rückwirkung (§ 386) iſt in die wichtigſten neueren Geſetz-

gebungen übergegangen.

 

I. Preußiſche Geſetzgebung.

 

Die Einleitung zum allgemeinen Landrecht enthält die-

ſen Grundſatz in folgenden Worten.

 

§ 14. Neue Geſetze können auf ſchon vorhin

vorgefallene Handlungen und Begeben-

heiten nicht angewendet werden.

Dieſe Vorſchrift iſt augenſcheinlich gemeint als Anwei-

ſung für die Handlungsweiſe der Richter, ſo daß das

Wort können eigentlich den Sinn von ſollen mit ſich

führt.

 

|0422 : 400|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II Zeitliche Gränzen.

Was den Geſetzgeber betrifft, ſo war in dem Entwurf

eine Stelle aufgenommen, welche den Vorbehalt von Aus-

nahmen, übereinſtimmend mit dem Römiſchen Recht, aus-

drücken ſollte (a). Dieſer Vorbehalt iſt in dem Landrecht

weggelaſſen worden, und es iſt an die Stelle deſſelben die

allgemeine Ausnahme getreten, daß neue Strafgeſetze, ſo-

fern ſie milder ſeyen, als die alten, auch auf frühere Ver-

brechen angewendet werden ſollen (b). — Dieſe Weglaſ-

ſung iſt jedoch ganz unerheblich, indem es ſich ohnehin von

ſelbſt verſteht, daß in jedem einzelnen künftigen Fall der

Geſetzgeber berechtigt iſt, einem neuen Geſetze ausnahms-

weiſe die rückwirkende Kraft beſonders beizulegen.

 

Die oben angeführte Vorſchrift ſtimmt mit dem Römi-

ſchen Recht auch darin überein, daß ſie ausdrücklich die

juriſtiſchen Thatſachen der früheren Zeit („Handlungen

und Begebenheiten“) der Einwirkung des neuen Geſetzes

entzieht, alſo ſowohl die vergangenen als die zukünftigen

Wirkungen dieſer früheren Thatſachen davon unabhängig

erhält.

 

Neben dieſer allgemeinen Beſtimmung, die für alle ge-

genwärtige und künftige Geſetze die zeitliche Gränze ihrer

 

(a) Entwurf eines Geſetzbuchs

Einleit. § 20. „Nur der Landes-

herr kann, aus überwiegenden

Gründen des gemeinen Beſten,

ein neues Geſetz auch auf ver-

gangene Fälle zurückerſtrecken.“

(b) Einleitung zum A. L. R.

§ 18—20. Eine andere, die Form

der Rechtsgeſchäfte betreffende Aus-

nahme (§ 16. 17) wird weiter

unten (§ 388. c) erwähnt werden.

|0423 : 401|

§. 387. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)

Wirkſamkeit feſtſtellt, kommt nun aber noch in Betracht eine

Anzahl tranſitoriſcher Vorſchriften, veranlaßt durch die

Einführung der gegenwärtigen Preußiſchen Geſetzgebung,

bald in das geſammte Land, bald in einzelne Landestheile

(§ 383). In dieſen iſt derſelbe Grundſatz anerkannt, und

nur in näheren Beſtimmungen einzeln angewendet.

II. Franzöſiſche Geſetzgebung.

 

Hier iſt unſer Grundſatz für das Privatrecht in folgen-

den wenigen Worten anerkannt (c).

 

La loi ne dispose que pour l’avenir; elle n’a

point d’effet rétroactif.

 

Sowohl dieſe Kürze, als der gebrauchte gangbare Kunſt-

ausdruck (effet rétroactif) läßt keinen Zweifel, daß hier

lediglich die aus dem Römiſchen Recht herrührende, und

durch das wiſſenſchaftliche Recht aller Länder längſt ge-

nauer ausgebildete Lehre ganz und vollſtändig anerkannt

werden ſollte; und ſo hat es auch die Franzöſiſche Praxis

aufgefaßt.

 

Ganz in demſelben Sinn iſt die Regel im Strafrecht

ausgeſprochen (d). Die rückwirkende Kraft der neuen

Strafgeſetze, wenn ſie milder ſind als die früheren, iſt hier

nicht, wie im Preußiſchen Recht, durch das Geſetz ſelbſt

hinzugefügt, wohl aber durch die Praxis anerkannt.

 

III. Oeſterreichiſche Geſetzgebung.

 

Auch hier findet ſich blos folgende kurze Vorſchrift (e).

 

(c) Code civil art. 2.

(d) Code pénal art. 4.

(e) Geſetzbuch § 5.

VIII. 26

|0424 : 402|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Geſetze wirken nicht zurück; ſie haben daher auf

vorhergegangene Handlungen und auf vorher er-

worbene Rechte keinen Einfluß.

 

Es gilt hier dieſelbe Bemerkung, welche bereits für

das Franzöſiſche Geſetz gemacht worden iſt. Ja es iſt

aus den gebrauchten Ausdrücken noch unzweifelhafter, daß

der Geſetzgeber die geſammte im gemeinen Recht anerkannte

und ausgebildete Theorie ſich hat aneignen wollen.

 

Bei der geringen Einwirkung der Geſetzgebung auf die

vorliegende Lehre iſt dem wiſſenſchaftlichen Recht ein um

ſo größerer Einfluß zugefallen, und es ſcheint daher nöthig,

einige allgemeine Bemerkungen über die Stellung unſerer

Schriftſteller zu dieſer Lehre voraus zu ſchicken. Im

Großen und Ganzen findet ſich eine größere Uebereinſtim-

mung, als man erwarten möchte; theils durch die große

Autorität, die ſeit Jahrhunderten die Ausſprüche des Rö-

miſchen Rechts ausgeübt haben (§ 386), theils durch die

gerade hierin oft unverkennbare innere Macht der Dinge

ſelbſt. Die dennoch vorhandenen Verſchiedenheiten haben eine

zweifache Natur. Einige gründen ſich auf die mehr oder

weniger richtige Auffaſſung der einzelnen Rechtsverhältniſſe

in Beziehung auf unſere Frage, und von dieſen wird erſt

unten, bei dieſen Rechtsverhältniſſen ſelbſt, die Rede ſein

können. Andere ſind entſtanden aus den verſchiedenen Ver-

 

|0425 : 403|

§. 387. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)

ſuchen, das mehr oder weniger deutlich Gedachte in allge-

meinen Grundſätzen zu formuliren; dieſe Verſchiedenheiten

haben eine überwiegend theoretiſche Natur. Eine ſehr in

das Einzelne gehende Vergleichung und Kritik dieſer Ver-

ſuche würde nicht in rechtem Verhältniß ſtehen zu der da-

von zu erwartenden Frucht. Es wird genügen, bei einigen

Schriftſtellern, die auf dieſe allgemeine Formulirung mehr

als Andere, Kraft verwendet haben, auf das Eigenthümliche

derſelben hinzuweiſen.

Weber legt beſonderes Gewicht auf folgende Unter-

ſcheidung (f). Man könne ein neues Geſetz erſtlich ver-

ſuchen ſo zu behandeln, als wenn es ſchon in einer frü-

heren Zeit vorhanden geweſen wäre, ſo daß es auch auf

die in die Vergangenheit fallenden Wirkungen älterer Rechts-

geſchäfte bezogen würde. Darin liege eine rückwirkende

Kraft, und dieſe ſey verwerflich. Man könne aber auch

zweitens ſich darauf beſchränken, die künftigen Wirkungen

älterer Rechtsgeſchäfte nach dem neuen Geſetze zu beurthei-

len, und Dieſes ſey richtig. — Er glaubt, dieſe Unterſchei-

dung, als Grundlage der ganzen Lehre, aus der Natur der

Sache abgeleitet zu haben, ſteht aber in der That unter

dem Einfluß der L. 27 C. de usuris (§ 386. g), deren

ſehr eigenthümliche und willkürliche Vorſchrift ſich ihm un-

vermerkt in einen allgemeinen Grundſatz verwandelt. Wie

ſehr er auf dieſem Wege zu einer inconſequenten Anwen-

 

(f) Weber § 21. a bis § 27.

26*

|0426 : 404|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

dung ſeines Grundſatzes unvermerkt genöthigt wird, um

der völligen Unausführbarkeit zu entgehen, iſt ſchon oben

bemerkt worden (g).

Bergmann legt eine allgemeinere Unterſcheidung zum

Grunde (h). Ein Anderes ſoll gelten nach der Natur der

Sache, ein Anderes nach den ganz poſitiven Vorſchriften

des Römiſchen Rechts. — Nach der Natur der Sache ſoll

Das wahr ſeyn, welches Weber für den Inhalt des Rö-

miſchen Rechts ausgiebt. Das neue Geſetz ſoll nur nicht

retrodatirt, das heißt, auf die in die Vergangenheit fallen-

den Wirkungen bezogen werden; die Beziehung auf die

künftigen Wirkungen älterer Rechtsgeſchäfte ſoll gültig ſeyn.

— Die poſitive Vorſchrift des Römiſchen Rechts ſoll da-

von auf zweierlei Weiſe abweichen. Erſtlich, indem es auch

die künftigen Wirkungen älterer Rechtsgeſchäfte in Schutz

nehme; zweitens, indem es nicht blos die rechtlichen Wir-

kungen (erworbene Rechte) ſchütze, ſondern auch bloße Er-

wartungen.

 

Bei dieſem letzten Schriftſteller iſt beſonders zu tadeln,

daß er den Inhalt des Römiſchen Rechts in einen grund-

ſätzlichen Gegenſatz bringt mit dem aus der Natur der

Sache hervorgehenden Recht, welches der Abſicht der von

Theodoſius II. herrührenden, und von Juſtinian in ſeine

Geſetzſammlung aufgenommenen Hauptſtelle geradezu wider-

ſpricht (§ 386. a), alſo nur vertheidigt werden kann durch

 

(g) S. o. § 385. k.

(h) Bergmann § 4 § 22 § 30.

|0427 : 405|

§. 387. A. Erwerb der Rechte. Grundſatz. (Fortſ.)

die Vorausſetzung, die Römiſchen Geſetzgeber hätten ſich

über die Natur der Sache völlig getäuſcht, nicht durch die

Annahme, ſie hätten abſichtlich neues, poſitives Recht vor-

ſchreiben wollen. — Uebrigens ſchlägt Bergmann weſentlich

daſſelbe Verfahren ein, wie Weber. Dieſer ſteht, wie ſchon

bemerkt, ohne es ſich recht deutlich zu machen, unter dem

Einfluß der L. 27 C. de usuris; eben ſo Bergmann unter

dem Einfluß von zwei Novellen Juſtinian’s (N. 66 und N. 22

C. 1). Unter dem falſchen Schein eines kritiſch-hiſtoriſchen

Verfahrens bildet er aus einigen allgemeinen Redensarten

dieſer Novellen, und aus ſehr willkürlichen Vorſchriften

derſelben, eine allgemeine Theorie der erlaubten und uner-

laubten rückwirkenden Kraft der Geſetze aus, unter der

ganz unkritiſchen ſtillſchweigenden Vorausſetzung, Juſtinian

habe in dieſe Novellen eine ſolche Theorie niederlegen wol-

len, ſie ſollten alſo den allgemeinen Maaßſtab abgeben für

die Anwendung neuer Geſetze überhaupt.

Struve endlich zeichnet ſich nicht aus durch eine be-

ſondere Auffaſſung der rückwirkenden Kraft überhaupt, in-

dem er hierin vielmehr von der Auffaſſung Anderer mehr

im Ausdruck, als im Weſen, abweicht. Dagegen ſteht er

ganz allein in der Behauptung, daß die Regeln über die

Anwendung neuer Geſetze auf Vergangenheit und Zukunft

ausſchließend aus der vom Richter zu erkennenden Natur

der Sache, niemals aus poſitiven Geſetzen, hergenommen

werden dürften. Jeder Verſuch, dieſen Gegenſtand geſetz-

lich zu regeln, ſoll gänzlich nichtig ſein, und vom Richter

 

|0428 : 406|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

gar nicht beachtet werden dürfen; weshalb er denn auch

alle tranſitoriſche Geſetzgebung völlig verwirft (i). — Bei

dieſer Auffaſſung der Sache iſt hauptſächlich die Beſchei-

denheit zu verwundern, womit dieſer Schriftſteller ſeine Be-

hauptung über das Verhältniß des Richters zu den Ge-

ſetzen auf den engen Kreis der die Rückwirkung betreffen-

den Rechtsfragen einſchränkt. Bei unbefangener Betrach-

tung wird man ſich überzeugen müſſen, daß dieſelbe Be-

hauptung, wenn ſie überhaupt wahr iſt, auch auf das

ganze übrige Gebiet aller Rechtsfragen ausgedehnt wer-

den müſſe.

§. 388.

A. Erwerb der Rechte. Anwendungen des Grundſatzes.

Indem ich jetzt zur Anwendung des aufgeſtellten Grund-

ſatzes übergehe, muß ich zuvor auf einen, für unſere Un-

terſuchung wichtigen, Unterſchied in der Beſchaffenheit der

juriſtiſchen Thatſachen aufmerkſam machen. Die meiſten

dieſer Thatſachen ſind einfache, einem einzelnen Zeitpunkt

angehörende, Ereigniſſe, ſo wie die Verträge, deren Weſen

in einer übereinſtimmenden Willenserklärung beſteht, alſo

in einer augenblicklichen Handlung, bei welcher die vielleicht

lange dauernde Vorbereitung ganz gleichgültig iſt. Bei die-

ſer Art der Thatſachen iſt es leicht zu beſtimmen, ob ein

 

(i) Struve S. 6. S. 30—34 S. 153—154.

|0429 : 407|

§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.

neues Geſetz vor oder nach einer ſolchen Thatſache erlaſſen

ſeyn mag.

Dagegen giebt es manche andere Thatſachen, die ſich

über einen ganzen Zeitraum verbreiten, entweder indem ſie

einen gleichmäßig fortgeſetzten Zuſtand vorausſetzen (wie

die Uſucapion und die Klagverjährung), oder indem ſie aus

mehreren, der Zeit nach auseinander liegenden, einzelnen

Ereigniſſen zuſammengeſetzt ſind (wie die Teſtamente). Bei

dieſen iſt die Beſtimmung des Zeitverhältniſſes zu einem

neuen Geſetze ſchwierig und verwickelt, ſo daß ſie nur durch

ſorgfältige Beachtung und Unterſcheidung der einzelnen Um-

ſtände gelingen kann, indem das neue Geſetz oft erlaſſen

wird zu einer Zeit, welche zwiſchen dem Anfang und der

Vollendung einer ſolchen Thatſache liegt.

 

In den juriſtiſchen Thatſachen der erſten, einfacheren Art

(den augenblicklichen Ereigniſſen) verdienen beſonders zwei

Momente unſere Aufmerkſamkeit, worüber eine gemeinſame

Vorbemerkung hier ihre rechte Stelle finden wird: die

Handlungsfähigkeit der betheiligten Perſonen, und die juri-

ſtiſche Form der Rechtsgeſchäfte.

 

Die Handlungsfähigkeit iſt ausſchließend zu beurtheilen

nach der Zeit der juriſtiſchen Thatſache, ſowohl was den

faktiſchen Zuſtand, als was das beſtehende Geſetz betrifft.

Schließt alſo ein Minderjähriger ohne Vormund einen Ver-

trag, ſo iſt und bleibt dieſer Vertrag ungültig, auch nach-

dem das volljährige Alter erreicht iſt; eben ſo aber auch,

wenn ein ſpäteres Geſetz den Zeitpunkt der Volljährigkeit

 

|0430 : 408|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

früher, als bisher, eintreten läßt. Daſſelbe gilt aber auch

umgekehrt; ſchließt alſo unter der Herrſchaft des Franzöſi-

ſchen Rechts ein Einundzwanzigjähriger einen Vertrag, ſo

iſt und bleibt der Vertrag gültig, auch wenn bald nachher

dieſer Ort unter die Herrſchaft des Römiſchen Rechts tritt,

welches Fünf und zwanzig Jahre für die Volljährigkeit er-

fordert. — Ueber dieſen Gegenſtand iſt auch, ſo viel ich

weiß, niemals ein Zweifel erhoben worden. — Daſſelbe

muß behauptet werden, wenn eine Frau Bürgſchaft leiſtet,

während das Römiſche Recht (mit dem Sc. Vellejanum) gilt,

welches Geſetz nachher aufgehoben wird, oder umgekehrt.

Im erſten Fall iſt und bleibt die Bürgſchaft ungültig, im

zweiten Fall iſt und bleibt ſie gültig, auch nach dem abän-

dernden neuen Geſetz (a).

Auf gleiche Weiſe muß die juriſtiſche Form eines Rechts-

geſchäfts beurtheilt werden ausſchließend nach dem zur Zeit des

vorgenommenen Geſchäfts beſtehenden Geſetz, ſo daß ein

ſpäteres Geſetz keinen Einfluß auf die Gültigkeit hat, ohne

Unterſchied, ob daſſelbe die frühere Form erleichtert oder

erſchwert. Man kann dieſen Satz ſo ausdrücken: tempus

regit actum, übereinſtimmend mit der Regel des örtlichen

Rechts: locus regit actum (§ 381), ja er führt ſogar

noch einen höheren Grad von Gewißheit und Nothwendig-

keit mit ſich, als dieſe Regel, welche man als eine, durch

 

(a) Von einer abweichenden Meinung von Meyer über das

Sc. Vellejanum wird unten bei den Verträgen § 392 die Rede

ſeyn.

|0431 : 409|

§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.

allgemeine Rechtsgewohnheit begründete, Begünſtigung der

Rechtsgeſchäfte anſieht. Denn bei dieſer Regel des ört-

lichen Rechts iſt es oft (wenngleich nicht immer) den Par-

teien möglich, eine andere Form zu beobachten, und darum

wird ihnen billigerweiſe die Wahl gelaſſen, welches Geſetz

ſie in Anſehung der Form beobachten wollen: das am Ort

der Handlung geltende, oder vielmehr das Geſetz des Ortes,

welchem in anderer Hinſicht dieſes Rechtsgeſchäft angehört,

z. B. das Geſetz des Wohnſitzes. Eine ſolche Möglichkeit,

und das darauf gegründete Wahlrecht der Parteien zwiſchen

verſchiedenen Geſetzen, iſt neben der Regel: tempus regit

actum, gar nicht vorhanden, da Niemand vorherſehen kann,

daß ein künftiges Geſetz die Form abändern werde, und

worin die Aenderung beſtehen werde. Daher iſt denn auch

von Schriftſtellern dieſe Regel ohne Widerſpruch anerkannt

worden (b).

Nur in Einer Beziehung könnte man einen Zweifel an

der Allgemeingültigkeit dieſer Regel geltend machen wollen,

wenn nämlich das neue Geſetz die Form eines Rechtsge-

ſchäfts nicht erſchwert, ſondern erleichtert. Hier könnte man

aus ſcheinbarer Milde und Schonung, aus dem unbedingten

Beſtreben nach der Aufrechthaltung der Rechtsgeſchäfte, an-

nehmen wollen, das Geſchäft ſey auch dann gültig, wenn

die dabei angewendete, damals unzureichende, Form zu-

fälligerweiſe den Forderungen des neuen Geſetzes genüge.

 

(b) Weber S. 90 u. fg. Meyer p. 19. 29. 43. 61. 89.

|0432 : 410|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Dieſen Weg hat in der That das Preußiſche Geſetz einge-

ſchlagen (c). Ich halte aber dieſe Vorſchrift für einen

Mißgriff, und glaube, daß, wo ein ſolches Geſetz nicht

beſteht, gerade das Gegentheil nach allgemeinen Grundſätzen

angenommen werden muß.

Der erwähnten Vorſchrift ſcheint die Anſicht zum Grunde

zu liegen, die poſitiven Formen der Rechtsgeſchäfte ſeyen

Beſchränkungen der individuellen Freiheit zum Vortheil des

öffentlichen Wohls, etwa ſo, wie die Staatsabgaben, die

der Staat, ohne Rechtsverletzung, nicht blos im Allge-

meinen herabſetzen, ſondern auch dem Einzelnen ſchenkungs-

weiſe erlaſſen kann. Dieſe Anſicht kann nur etwa zugegeben

werden für die mit manchen Rechtsgeſchäften verbundene

Stempelabgabe, und auch da nur, in ſofern der Gebrauch

des Stempelpapiers als Bedingung der Gültigkeit des Ge-

ſchäfts vorgeſchrieben ſeyn ſollte; für alle andern Formen

iſt dieſe Anſicht unwahr, wie ſich aus folgendem Beiſpiel

ergeben wird.

 

Wenn gegenwärtig in Berlin ein eigenhändig geſchrie-

benes Privatteſtament errichtet wird, ſo iſt Dieſes eine

unwirkſame Handlung, aus welcher, bei dem Tode des

Teſtators, keine Rechte entſpringen. Wird aber vor ſeinem

Tode die Franzöſiſche Teſtamentsform eingeführt, nach

 

(c) Allg. L. R. Einleit. § 17.

„Frühere Handlungen, welche, we-

gen eines Mangels an Förmlich-

keit, nach den alten Geſetzen un-

gültig ſeyn würden, ſind gültig,

in ſofern nur die nach den neu-

ern Geſetzen erforderlichen Förm-

lichkeiten, zur Zeit des darüber

entſtandenen Streites, dabei ange-

troffen werden.“

|0433 : 411|

§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.

welcher das eigenhändige Privatteſtament vollgültig iſt,

ſo würde dadurch, nach der angeführten geſetzlichen Vor-

ſchrift (Note c), jenes Teſtament gültig werden und die

künftige Erbfolge beſtimmen. Darin ſcheint eine humane

Begünſtigung des Teſtators zu liegen, deren Richtigkeit

jedoch ſehr bezweifelt werden muß. Ein Geſetz, welches,

wie das jetzt in Preußen beſtehende, ſchlechthin die gericht-

liche Abfaſſung der Teſtamente erfordert, wird dabei un-

zweifelhaft von mehreren zuſammen wirkenden, in ſich ver-

wandten, Beweggründen geleitet, die insgeſammt auf der

beſonderen Wichtigkeit der Teſtamente, in Vergleichung mit

anderen Rechtsgeſchäften, beruhen. Durch die nothwendige

Mitwirkung des Richters wird der Unterſchiebung eines

falſchen Teſtaments vorgebeugt; ferner der unbeſonnenen

Uebereilung, die aus augenblicklicher Zuneigung oder Ab-

neigung gegen beſtimmte Perſonen hervorgehen kann; endlich

dem eigennützigen Einfluß mancher Perſonen, dem ſich der

unbewachte, unberathene Teſtator aus Schwäche nicht zu

entziehen vermag. Alle dieſe Beweggründe beziehen ſich auf

das Privatwohl, nicht auf den Vortheil des Staats, und

wenn auch das neue Geſetz dieſe Gründe nicht mehr ſo

hoch anſchlägt, ſo iſt es doch eine große Frage, ob der

wahre Vortheil des Teſtators, nämlich die Aufrechthaltung

des wahren, ernſten, beſonnenen Willens, befördert wird

durch die, dem juriſtiſchen Grundſatz widerſprechende, rück-

wärts gehende Bekräftigung eines bis dahin unwirkſamen

Teſtaments. Dieſes wird beſonders einleuchtend, wenn

|0434 : 412|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

man ſich klar zu machen ſucht, warum denn der Teſtator

die zur Zeit des errichteten Teſtaments beſtehende geſetzliche

Form unbeachtet gelaſſen hat. Es kann Dieſes geſchehen

ſeyn aus bloßer Rechtsunkunde, während ein ernſter, be-

ſonnener Wille in der That vorhanden war; auf dieſer

Vorausſetzung beruht ohne Zweifel die angeführte Vorſchrift

des Landrechts, die als reine Wohlthat gedacht wird. Aber

es kann auch geſchehen ſeyn mit vollem Bewußtſeyn des

beſtehenden Rechts, ſo daß das eigenhändige Privatteſta-

ment eine bloße Vorbereitung ſeyn ſollte zu einem gericht-

lichen Akt, deſſen Vornahme der Teſtator noch einer weitern

Ueberlegung vorbehalten wollte. Dann bekräftigen wir,

in Folge jenes Geſetzes, ein Teſtament, wozu der wahre,

letzte Entſchluß vielleicht niemals vorhanden war. Auf der

anderen Seite kann man ſagen, daß der Teſtator, indem

er das Privatteſtament nach Erſcheinung des neuen Ge-

ſetzes aufbewahrte, ſo zu betrachten iſt, als hätte er es

jetzt neu geſchrieben, wozu er doch unſtreitig befugt war.

Allein gerade bei Teſtamenten iſt Nichts gewöhnlicher, als

das unbeſtimmte Hinausſchieben, und ſo iſt Nichts unſicherer,

als irgend eine Vorausſetzung, die hierauf über den wahren,

endlichen Willen gebaut werden möchte. Man verwickelt

ſich dabei in die Erwägung zufälliger, blos möglicher Um-

ſtände, und bei unbefangener Betrachtung wird man ein-

räumen müſſen, daß es durchaus an einem befriedigenden

Grunde fehlt, von der reinen juriſtiſchen Regel: tempus

regit actum, abzugehen, und daß man dabei in Gefahr

|0435 : 413|

§. 388. A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.

kommt, aus vermeintlicher Humanität einen Erfolg eintreten

zu laſſen, der dem wirklichen Willen vielleicht geradezu

widerſpricht.

Bei der Anwendung auf die einzelnen Rechtsverhält-

niſſe ſoll nunmehr dieſelbe Anordnung befolgt werden, welche

ſchon im erſten Kapitel befolgt worden iſt (d).

 

I. Zuſtand der Perſon an ſich.

II. Sachenrecht.

III. Obligationenrecht.

IV. Erbrecht.

V. Familienrecht.

Eines beſonderen Abſchnittes über die Formen der

Rechtsgeſchäfte bedarf es nicht, da dieſe Frage ſchon in

den gegenwärtigen einleitenden Paragraphen aufgenommen

worden iſt.

 

(d) Es verſteht ſich von ſelbſt,

daß hier dieſelbe Beſchränkung

auf das Privatrecht, und zwar

auf das materielle Privatrecht, zu

beobachten iſt, wie oben bei den

Gränzen des örtlichen Rechts

(§ 361. a. § 384. b).

|0436 : 414|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

§ 389.

A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. I. Zuſtand der

Perſon an ſich.

Die neuen Geſetze, welche den Zuſtand der Perſon an

ſich, insbeſondere die Handlungsfähigkeit, zum Gegenſtand

haben, ſind hier in zwei verſchiedenen Rückſichten zu er-

wägen. Erſtlich wegen der denkbaren Einwirkung des

neuen Geſetzes auf die vor demſelben von der betheiligten

Perſon vorgenommenen Rechtsgeſchäfte; zweitens in Be-

ziehung auf den perſönlichen Zuſtand ſelbſt, der durch das

neue Geſetz beherrſcht werden ſoll. — Die erſte Frage iſt

bereits beantwortet worden (§ 388); es bleibt alſo nun die

zweite Frage übrig, wie ein neues, den perſönlichen Zu-

ſtand betreffendes, Geſetz auf die zu ſeiner Zeit beſtehenden

Rechtsverhältniſſe dieſer Art einwirkt, und ob dabei insbe-

ſondere unſer Grundſatz, der die Rückwirkung ausſchließen

ſoll, zur Anwendung kommt.

 

Dieſer Grundſatz findet auf den Zuſtand der Perſon

an ſich nur geringe Anwendung, indem die meiſten Zu-

ſtände dieſer Art eine ſo abſtracte Natur haben, daß ſie als

erworbene Rechte nicht angeſehen werden können; unter

beſonderen Vorausſetzungen jedoch, alſo ausnahmsweiſe,

haben wir auch hier erworbene Rechte anzuerkennen (§ 385.

d. e. f.). Nur in dieſen beſonderen Fällen alſo iſt die Ein-

wirkung des neuen Geſetzes auf vorgefundene Zuſtände

 

|0437 : 415|

§. 389. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. I. Perſon an ſich.

durch unſren Grundſatz zu beſchränken; in allen übrigen

Fällen dagegen kommt das neue Geſetz augenblicklich zu

ganz unbeſchränkter Wirkſamkeit. Dieſes ſoll nunmehr in

Anwendung auf die wichtigſten Fälle des Zuſtandes der

Perſon an ſich dargethan werden.

1. Wegen des Alters ſind folgende Regeln anzu-

nehmen. Wird die Minderjährigkeit durch ein neues Ge-

ſetz verlängert oder verkürzt, ſo iſt daſſelbe ſofort anzuwen-

den auf alle Minderjährige, die es eben vorfindet, ſo daß

keiner derſelben behaupten kann, er habe durch das alte

Geſetz das Recht erworben, gerade in dem durch daſſelbe

beſtimmten Zeitpunkt volljährig zu werden.

 

Anders verhält es ſich jedoch mit Denen, welche nach

dem alten Geſetz bereits volljährig geworden waren, wenn-

gleich ſie nach dem Inhalt des neuen Geſetzes noch minder-

jährig ſeyn würden. Denn für dieſe beſtimmte Perſonen

iſt die Volljährigkeit, und die mit derſelben verbundene

Selbſtſtändigkeit, ein erworbenes Recht, begründet durch

den unter der Herrſchaft des alten Geſetzes eingetretenen

beſtimmten Zeitpunkt. Wollte man ſie wieder minderjährig

machen, und unter Vormundſchaft ſtellen, ſo läge darin

eine, unſrem Grundſatz widerſprechende, Rückwirkung, die

ſelbſt durch ausdrückliche Vorſchrift des Geſetzes nur als

eine (nicht zu billigende) Ausnahme des Grundſatzes geltend

gemacht werden könnte (a).

 

(a) Es iſt alſo für dieſen Fall des neuen Geſetzes dieſelbe Regel

anzuwenden, welche für den Fall des veränderten Wohnſitzes ſchon

oben aufgeſtellt worden iſt (§ 365 p. q.).

|0438 : 416|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Die Richtigkeit dieſer Behauptung wird durch die Ver-

gleichung mit folgendem Fall beſtätigt. Wenn ein Minder-

jähriger für volljährig erklärt wird, ſey es durch den Lan-

desherrn (nach Römiſchem Recht), oder durch ein Vormund-

ſchaftsgericht (nach Preußiſchem Recht), ſo wird Niemand

zweifeln, daß für ihn die Volljährigkeit mit ihren Folgen

die Natur eines erworbenen Rechts hat. Geſetzt nun, daß

bald nachher, und ehe dieſe beſtimmte Perſon das geſetzliche

Alter erreicht hat, in dieſem Lande die Volljährigkeits-

erklärung überhaupt abgeſchafft würde, ſo müßte doch dieſe

Perſon fortwährend als volljährig anzuſehen ſeyn. Was

aber in einem ſolchen Fall der Ausſpruch des Landesherrn

oder des Gerichts gewährt, darf auch Dem nicht verſagt

werden, der unter der Herrſchaft des alten Geſetzes das

von dieſem vorgeſchriebene Alter erreicht hat.

 

Die hier aufgeſtellte Anſicht hat in der Preußiſchen

Geſetzgebung vielfache Anerkennung gefunden.

 

Das Einführungspatent des A. L. R. in die Provinzen

jenſeits der Elbe vom 9. Septbr. 1814 enthält im § 14

folgende Worte (b):

Die Volljährigkeit tritt in Anſehung aller derjenigen

Perſonen, welche ſolche vor dem 1. Januar

1815 (c) nach den bisherigen Geſetzen noch

nicht erreicht haben, erſt mit dem vollendeten

vier und zwanzigſten Jahre ein.

 

(b) Geſetzſammlung 1814 S. 93.

(c) Der 1. Jan. 1815

war der Tag, an welchem das Landrecht Geſetzeskraft erhalten ſollte.

|0439 : 417|

§. 389. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. I. Perſon an ſich.

Eine gleichlautende Beſtimmung enthalten die übrigen

tranſitoriſchen Geſetze der nachfolgenden Jahre (§ 383),

und eben ſo eine beſondere für Erfurt und Wandersleben

über die Volljährigkeit im J. 1817 erlaſſene Verordnung (d).

 

Eine abweichende Anſicht über dieſe Frage vertheidigt

ein Schriftſteller des Franzöſiſchen Rechts, indem er be-

hauptet, daß in einem ſolchen Fall der bereits volljährig

Gewordene, in Folge des neuen Geſetzes, wieder als min-

derjährig behandelt werden müſſe, und zur Beſtätigung

dieſer Behauptung übereinſtimmende Urtheile der Gerichts-

höfe von Nismes und Turin anführt (e).

 

2. Aehnliche Fragen können in Anſehung des Ge-

ſchlechts vorkommen, nur mit dem Unterſchied, daß dabei

der Fall eines perſönlich erworbenen Rechts, wie bei der

Minderjährigkeit, nicht eintreten kann.

 

Wenn in einem Lande, das bisher die Geſchlechtsvor-

mundſchaft nicht kannte, eine ſolche in irgend einer ihrer

vielen Abſtufungen (f) durch neues Geſetz eingeführt wird,

ſo ſind derſelben augenblicklich alle jetzt lebende Frauen un-

terworfen. Eben ſo verhält es ſich umgekehrt, wenn die

bisher beſtehende Geſchlechtsvormundſchaft durch neues Ge-

ſetz abgeſchafft wird (g).

 

Wenn da, wo die Frauen, gleich den Männern, gültige

Bürgſchaften übernehmen können, das Sc. Vellejanum ein-

 

(d) Geſetzſammlung 1817 S. 201.

(e) Meyer p. 97. 98.

(f) Eichhorn deutſches Recht § 324—326.

(g) Chabot T. 1

p. 29—36.

VIII. 27

|0440 : 418|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

geführt wird, ſo wirkt dieſe neue Beſchränkung augenblicklich

auf alle jetzt lebende Frauen, wenn dieſe künftig in Bürg-

ſchaften eintreten möchten. Ganz Daſſelbe aber muß be-

hauptet werden, wenn das bisher beſtehende Sc. Vellejanum

durch neues Geſetz aufgehoben wird (h).

In allen dieſen Fällen alſo würde es ganz unbegründet

ſeyn, wenn man etwa den jetztlebenden Frauen ein erwor-

benes Recht auf die bisher beſeſſene ausgedehntere Hand-

lungsfähigkeit zuſchreiben, und die Wirkſamkeit des beſchrän-

kenden neuen Geſetzes auf die künftige weibliche Generation

einſchränken wollte.

 

3. Bei der Infamie iſt die hier behandelte Frage

gleichfalls aufgeworfen worden (i).

 

Die meiſten und wichtigſten Fälle derſelben gehören

nicht in den Kreis unſerer Unterſuchung, die ſich auf das

Privatrecht beſchränkt und das Strafrecht ausſchließt; ich

meine alle die Fälle, in welchen die Infamie als Criminal-

ſtrafe erſcheint, ſey es allein, oder in Verbindung mit an-

deren Strafen, vielleicht auch als Folge anderer Strafen.

 

Es könnte hier davon die Frage ſeyn etwa in Anwen-

dung auf manche Fälle der ſogenannten infamia immediata,

wohin das Römiſche Recht mehrere Arten von unzüchtigen

 

(h) Chabot T. 2 p. 350—

353.

(i) Ich habe oben, B. 2 § 83,

zu zeigen geſucht, daß die Infamie

für unſer heutiges gemeines Recht

keine Geltung mehr habe. Die

gegenwärtige Erwähnung derſel-

ben bezieht ſich alſo theils auf

die abweichende Meinung Anderer

über dieſen Punkt, theils auf

neuere Geſetzgebungen, worin die

Infamie anerkannt iſt.

|0441 : 419|

§. 389. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. I. Perſon an ſich.

Gewerben rechnet (k). Wenn nun ein neues Geſetz für

ſolche Fälle die bisher nicht geltende Infamie einführt, ſo

hat es keinen Zweifel, daß daſſelbe auf Alle angewendet

werden muß, die ſich von jetzt an in dieſer Lage befinden,

und daß dieſe kein erworbenes Recht in Anſpruch nehmen

können, eine ſolche Lebensweiſe, frei von Infamie, zu

führen.

4. Endlich kann unſere Frage noch vorkommen bei

der gerichtlich erklärten Verſchwendung, und

den mit einer ſolchen Erklärung verbundenen Nachthei-

len, insbeſondere der Interdiction eigener Vermögens-

verwaltung.

 

Was in dieſer Hinſicht durch neues Geſetz vorgeſchrie-

ben wird, ſey es ſchärfend oder mildernd in Vergleichung

mit dem bisher beſtehenden Zuſtand, muß augenblicklich zur

Anwendung kommen, und es kann dagegen die Fort-

dauer des gegenwärtigen Zuſtandes, als eines angeb-

lich erworbenen Rechtes, nicht in Anſpruch genommen

werden (l).

 

 

(k) S. o. B. 2 S. 183.

(l) Meyer p. 99—111, der

zur Beſtätigung ein Urtheil des

Caſſationshofs zu Paris anführt.

Chabot T. 2 p. 174—179 iſt

hierin abweichender Meinung.

27*

|0442 : 420|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

§. 390.

A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.

Im Sachenrecht kommt unſer Grundſatz meiſt zu reiner,

vollſtändiger Anwendung.

 

1. Eigenthum.

Wird dieſes Recht durch bloßen Vertrag veräußert

unter der Herrſchaft eines Geſetzes, das eine ſolche Ver-

äußerung als vollgültig anerkennt, ſo bleibt das erworbene

Eigenthum gültig, auch wenn ein ſpäteres Geſetz die Tra-

dition zur Veräußerung erfordert (a).

 

Wird umgekehrt unter der Herrſchaft eines Geſetzes,

das die Tradition erfordert, ein bloßer Vertrag über die

Veräußerung, ohne Tradition, geſchloſſen, ſo geht dadurch

kein Eigenthum über, und ſelbſt wenn ein ſpäteres Geſetz

den bloßen Vertrag für hinreichend erklärt, ſo wird auch

dadurch der Uebergang des Eigenthums nicht begründet.

Vielmehr bedarf es dann zu dieſem Zweck entweder eines

neuen Vertrags, oder der nachzuholenden Tradition (b).

 

2. Servitut.

Dabei gelten ganz dieſelben Regeln, wie bei dem Eigen-

thum, wenn etwa zwei Geſetze auf einander folgen, wovon

das eine den bloßen Vertrag, das andere die Tradition

 

(a) Dieſes wird auch anerkannt von Weber S. 108, jedoch

inconſequenterweiſe, ſ. o. § 385, k. § 387. i.

(b) Weber S.

108. 109.

|0443 : 421|

§. 390. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.

oder irgend eine poſitive Form zur Errichtung der Servitut

erfordert (c).

Anders verhält es ſich mit den ſogenannten geſetzlichen

Servituten. Wenn ſolche bisher nicht beſtanden, durch ein

neues Geſetz aber eingeführt werden, ſo iſt dabei unſer

Grundſatz gar nicht anwendbar; vielmehr entſtehen nun

ſolche Beſchränkungen des Eigenthums unmittelbar nach

dem Erlaß des neuen Geſetzes, überall, wo die thatſächlichen

Bedingungen derſelben angetroffen werden (d). Der wahre

Grund aber liegt darin, daß ein ſolches Geſetz nicht ſowohl

den Erwerb eines Rechts zum Gegenſtand hat, als vielmehr

das Daſeyn (die Beſchaffenheit) des Eigenthums, alſo die

Bedingungen und Gränzen, welche für die Anerkennung

des Eigenthums überhaupt gelten ſollen. Auf dieſe ganze

Gattung von Rechtsregeln bezieht ſich aber nicht der Grund-

ſatz, welcher die rückwirkende Kraft der Geſetze ausſchließt

(§ 384. 399).

 

3. Pfandrecht.

Wenn in einem Lande, worin das Römiſche Pfandrecht

beſteht, durch neues Geſetz ein bisher unbekannter Fall des ſtill-

ſchweigenden Pfandrechts, zum Schutz irgend eines Rechts-

geſchäfts, eingeführt wird, ſo iſt das neue Geſetz anzuwen-

den auf alle ſpäter abgeſchloſſene Rechtsgeſchäfte dieſer Art,

auf die früheren nicht. Dieſer Satz wurde anerkannt von

 

(c) Chabot T. 2 p. 361.

(d) Chabot T. 2 p. 361.

Struve S. 267.

|0444 : 422|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Juſtinian, als er zum Schutz der Dotalverhältniſſe ein

ſtillſchweigendes Pfandrecht einführte; denn er fügte am

Schluß ſeines umfaſſenden neuen Dotalgeſetzes hinzu, daß

alle Beſtimmungen deſſelben (alſo auch die über das ſtill-

ſchweigende Pfandrecht) nur auf ſpätere Dotalgeſchäfte an-

gewendet werden ſollten (e).

Wird durch neues Geſetz einem Pfandrecht irgend eine

Stelle in der Reihe der privilegirten Hypotheken angewie-

ſen, ſo haben auf das Privilegium nur diejenigen Hypothe-

ken ſolcher Art Anſpruch, die erſt nach dem neuen Geſetz

entſtehen (f). Dieſe aber haben den Anſpruch auch gegen

alle vor dem neuen Geſetz entſtandene Hypotheken; die In-

haber derſelben haben alſo, ſobald das neue Geſetz er-

ſcheint, Maaßregeln zu treffen, um ſich gegen die

Gefahr ſolcher ſpäteren privilegirten Hypotheken zu

ſchützen (g).

 

Im älteren Römiſchen Recht war es erlaubt, eine

Sache mit der Verabredung zu verpfänden, daß der

Glaubiger das Eigenthum des Pfandes um den Betrag

der Schuld erwerben ſollte, wenn die Schuld nicht be-

zahlt werden würde (h). Dieſer Vertrag wurde ſpäter-

 

(e) L. un. § 16. C. de rei

ux. act. (5. 13). Bergmann

S. 126.

(f) L. 12 § 3 C. qui pot.

(8. 18) (Privilegium der Dos). —

L. 27 in f. C. de pign. (8. 14)

(Privilegium der Militia).

(g) Sie können gleich jetzt

ihr Pfandrecht geltend machen,

alſo zu einer Zeit, in welcher die

mögliche künftige Concurrenz noch

nicht vorhanden iſt.

(h) Vatic. fragm. § 9 (von

Papinian). Ein ſolcher Vertrag

heißt lex commissoria.

|0445 : 423|

§. 390. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.

hin verboten (i). In Folge unſeres Grundſatzes hätte

dieſes Verbot angewendet werden müſſen nur auf die ſpä-

teren Verträge dieſes Inhalts; K. Conſtantin aber, von

welchem das Geſetz herrührt, gab ihm ausnahmsweiſe rück-

wirkende Kraft, wodurch es auch auf die vergangenen Ver-

träge anwendbar wurde. — Nach den Gründen, die oben

in Beziehung auf ein ähnliches Geſetz über die Zinſen

ausgeführt worden ſind (§ 386), hat dieſer tranſitoriſche

Zuſatz für uns, ſelbſt die Anwendbarkeit des Römiſchen

Rechts überhaupt vorausgeſetzt, keinerlei praktiſche Be-

deutung.

Die hier für die neuen Geſetze über das Pfandrecht

aufgeſtellten Regeln ſind aber durchaus nicht anwendbar,

wenn dieſe Geſetze nicht ſowohl die Aufnahme oder Ab-

ſchaffung einzelner Fälle des Pfandrechts oder der Privi-

legien zum Gegenſtand haben (wie hier bisher vorausgeſetzt

wurde), als vielmehr ein neues Syſtem des Pfandrechts

ſelbſt. Dieſer Fall tritt ein, wenn an die Stelle des bis-

her geltenden Römiſchen Pfandrechts durch neues Geſetz

das Syſtem der Hypothekenbücher eingeführt wird oder

umgekehrt. In einem ſolchen Fall betrifft das neue Geſetz

nicht mehr den Erwerb der Rechte von Seiten beſtimmter

Perſonen, ſondern das Daſeyn der Rechte (des Rechtsin-

ſtituts). Dann iſt aber der die Rückwirkung ausſchließende

 

(i) L. 3 C. de pactis pign.

(8. 35), d. h. L. un. C. Th. de

commiss. resc. (3. 2). — Weber

S. 6. 51. Meyer p. 17, der

über den hiſtoriſchen Zuſammen-

hang im Irrthum iſt.

|0446 : 424|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Grundſatz gar nicht anwendbar (§ 384. 385), beide Rechts-

ſyſteme können nicht in einzelnen Anwendungen neben ein-

ander beſtehen, und das neue Geſetz muß augenblicklich

und ausſchließend zur Anwendung kommen. Wie aber hier

der Uebergang aus dem alten Zuſtand in den neuen zu

behandeln iſt, um Rechtsverletzungen zu verhüten, davon

wird unten an geeigneter Stelle die Rede ſeyn (§ 400).

4. Andere Jura in re.

 

Das Römiſche Recht erkennt nur eine abgeſchloſſene

kleine Zahl dinglicher Rechte neben dem Eigenthum als

möglich an; es geſtattet alſo nicht, neue dingliche Rechte

nach Gutdünken zu erfinden.

 

Die Preußiſche Geſetzgebung hat hierin einen ganz

neuen Weg eingeſchlagen. Sie läßt jedes an ſich blos

perſönliche Recht des Gebrauchs oder der Nutzung einer

fremden Sache in ein dingliches Recht übergehen, ſobald

dem Berechtigten der Beſitz der Sache eingeräumt wird (k).

Unter dieſer Vorausſetzung alſo haben namentlich alle

Miether und Pächter nach Preußiſchem Recht ein dingliches

Recht, die nach dem Römiſchen Recht durchaus nur ein

perſönliches Gebrauchsrecht haben können.

 

Wird nun an einem Ort das Preußiſche Recht an die

Stelle des Römiſchen eingeführt, ſo behalten alle zur Zeit

dieſer Einführung vorhandene Miether und Pächter das

perſönliche Recht, das ſie bis dahin hatten, und nur die

 

(k) Koch Preußiſches Recht B. 1. § 223. 317.

|0447 : 425|

§. 390. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.

neuen Verträge ſolcher Art gewähren ein dingliches Recht. —

Eben ſo behalten im umgekehrten Fall die Miether das

unter der Herrſchaft des Preußiſchen Rechts entſtandene

dingliche Recht, die neuen Miether aber werden nach dem

Römiſchen Recht als blos perſönlich Berechtigte angeſehen.

— Auch hier alſo entſcheidet unbedingt die Zeit der Ent-

ſtehung jedes Rechtsverhältniſſes über das anwendbare Ge-

ſetz, und von einer rückwirkenden Kraft des neuen Geſetzes

darf nicht die Rede ſeyn.

Durch einen täuſchenden Schein der Aehnlichkeit könnte

man ſich verleiten laſſen, dieſen Fall eben ſo zu behandeln,

wie den unmittelbar vorher erwähnten Fall des Römiſchen

und Preußiſchen Hypothekenſyſtems. Dann würde auch

die Einführung des dinglichen Rechts der Miether und

Pächter als ein neues Geſetz über das Daſeyn der Rechte

(des Rechtsinſtituts) zu betrachten ſeyn: von dem die rück-

wirkende Kraft ausſchließenden Grundſatz wäre dann nicht

mehr die Rede, vielmehr müßte das neue Geſetz auch alle

vorhandene Rechtsverhältniſſe ſofort ergreifen.

 

In der That aber ſind beide Fälle von durchaus ver-

ſchiedener Natur. Die zwei erwähnten Syſteme des Hypo-

thekenrechts können nicht gleichzeitig neben einander beſtehen,

weil gerade der häufigſte und ſchwierigſte Fall im Hypo-

thekenrecht die gleichzeitige Berechtigung mehrerer Perſonen

an derſelben Sache zum Gegenſtand hat, deren Rang-

ordnung nur durch das eine oder das andere Syſtem aus-

ſchließend beſtimmt werden kann. — Dagegen hat es durch-

 

|0448 : 426|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

aus kein Bedenken, daß an demſelben Orte die Rechte

mehrerer Miether nach verſchiedenen Regeln beurtheilt

werden, wenn ihre Verträge zu verſchiedener Zeit, und

zwar unter der Herrſchaft verſchiedener Geſetze, geſchloſſen

worden ſind. Daher gehört die Frage wegen des dinglichen

Rechts der Miether lediglich zu der Gattung von Rechts-

regeln, welche ſich auf den Erwerb der Rechte beziehen,

alſo in dasjenige Gebiet, worin der die rückwirkende Kraft

der Geſetze ausſchließende Grundſatz anwendbar iſt.

§. 391.

A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht.

(Fortſetzung.)

Bei der Betrachtung der einzelnen, dem Sachenrecht

angehörenden, Rechtsinſtitute ſind einige derſelben mit Ab-

ſicht vorläufig übergangen worden, weil ſie eigenthümliche

Schwierigkeiten und Verwicklungen darbieten, und daher

in einem größeren Zuſammenhang behandelt werden müſſen.

 

Dieſes iſt der Erwerb des Eigenthums und der Servi-

tuten durch Uſucapion und longi temporis possessio (zu-

ſammen zu faſſen unter dem Namen der Erſitzung), ſo wie

die Aufhebung der Servituten durch nonusus und libertatis

usucapio, gleichbedeutend mit dem Erwerb der Freiheit von

der Servitut auf der Seite des Eigenthümers (§ 388). —

Alle dieſe Fälle der Erwerbung haben folgende Eigenſchaften

mit einander gemein. Sie werden nicht vollzogen durch

 

|0449 : 427|

§. 391. A. Erwerb d. Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht. (Fortſ.)

eine einfache, augenblickliche Handlung, ſondern durch einen

dauernden Zuſtand, welcher während eines ganzen Zeitraums

gleichmäßig fortgeſetzt ſeyn muß; es möge nun dieſer Zu-

ſtand beſtehen in einer fortdauernden Thätigkeit (Beſitz,

Quaſibeſitz), oder aber in einer fortdauernden Unthätigkeit.

In dieſen Eigenſchaften aber kommen mit den hier er-

wähnten Rechtsinſtituten völlig überein manche außer den

Gränzen des Sachenrechts liegende Rechtsinſtitute, vorzüg-

lich die Klagverjährung, die gleichfalls auf der fortdauern-

den Unthätigkeit während eines ganzen Zeitraums beruht,

und eben ſo, wie die genannten Rechtsinſtitute, zum Er-

werb eines Rechtes führt, nämlich des Rechts einer Ein-

rede, wodurch das bisher beſtehende Klagrecht eines Andern

völlig entkräftet wird.

 

Die Anerkennung dieſer inneren Verwandtſchaft hat

denn auch von jeher dahin geführt, alle Rechtsinſtitute

ſolcher Art unter Einen Gattungsbegriff zu bringen, und

mit dem gemeinſamen Namen der Verjährung zu bezeichnen.

Wie ſehr nun auch dieſes Verfahren Tadel verdient, und zur

Verwirrung der Begriffe geführt hat (a), ſo iſt doch die

erwähnte innere Verwandtſchaft aller dieſer Rechtsinſtitute

nicht zu verkennen, und gerade in unſrer Lehre von der

rückwirkenden Kraft tritt dieſe Verwandtſchaft ganz unver-

kennbar hervor. Es ſollen daher gegenwärtig alle dieſe

Rechtsinſtitute zuſammen gefaßt werden, als deren Reprä-

 

(a) S. o. B. 4 § 177. B. 5 § 237.

|0450 : 428|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

ſentanten die zwei wichtigſten derſelben, die Uſucapion und

die Klagverjährung, gelten mögen.

Wenn nun ein neues Geſetz das Recht der Uſucapion

oder der Klagverjährung in irgend einem Punkte abändert,

ſo ſind dabei folgende Fälle möglich.

 

Das neue Geſetz kann erſcheinen vor dem Anfang der

Uſucapion. Dann hat es keinen Zweifel, daß es dieſe

ſpätere Uſucapion vollſtändig beherrſchen muß, ſo daß dabei

von dem alten Geſetz nicht mehr die Rede ſeyn kann. —

Es kann ferner erſcheinen, nachdem eine Uſucapion ſchon

vollendet iſt. Dann hat es wiederum keinen Zweifel, daß

darauf das neue Geſetz gar nicht angewendet werden darf.

Der unter dem alten Geſetz vollzogene Erwerb eines Rechts

muß vielmehr vollſtändig aufrecht erhalten werden. — End-

lich aber kann das neue Geſetz auch erſcheinen während des

Zeitraums, in welchem die Uſucapion noch laufend iſt;

ſpäter, als der Anfang, früher, als das Ende derſelben.

Das ſind die zweifelhaften Fälle, für welche wir nunmehr

die Regel aufzuſtellen haben.

 

Während dieſes Zeitraums iſt durchaus noch kein

Recht erworben, es iſt nur ein Erwerb vorbereitet. Daher

muß auch das neue Geſetz ſogleich wirkſam in dieſen un-

vollendeten Zuſtand eingreifen. Zwar war auch in dieſer

Zeit die Erwartung eines Erwerbes erregt, und dieſe Er-

wartung konnte mehr oder weniger nahe liegen; aber bloße

Erwartungen werden überhaupt nicht durch den die Rück-

 

|0451 : 429|

§. 391. A. Erwerb d. Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht. (Fortſ.)

wirkung ausſchließenden Grundſatz geſchützt (b). — Be-

trachten wir jetzt im Einzelnen die verſchiedenen möglichen

Fälle ſolcher neuen Geſetze.

1. Die bisher erlaubte Uſucapion oder Klagverjährung

wird aufgehoben, ſey es überhaupt, oder für gewiſſe Fälle

der Anwendung. — Dieſes Geſetz ergreift auch alle Fälle

der bereits laufenden Uſucapion, ſo daß jeder Erwerb auf

dieſem Wege unmöglich wird.

 

2. Es wird umgekehrt die bisher unbekannte Uſucapion

oder Klagverjährung neu eingeführt. Das neue Inſtitut

iſt nun ſogleich auf alle jetzt ſchwebenden Rechtsverhältniſſe

anzuwenden, jedoch ſo, daß der Zeitraum von der Zeit des

neuen Geſetzes an zu berechnen iſt. Wer eine fremde

Sache beſaß unter den Bedingungen des neuen Uſucapions-

geſetzes, fängt jetzt an, ſie zu uſucapiren, gerade ſo, als

wenn zur Zeit des erlaſſenen neuen Geſetzes ſein Beſitz an-

gefangen hätte; die Zeit des früheren Beſitzes wird ihm

nicht angerechnet. — Alle vor dem neuen Geſetz entſtan-

denen Klagrechte treten augenblicklich unter die Regel der

Klagverjährung, jedoch ſo, als ob ſie erſt jetzt entſtanden

 

(b) S. o. § 385. — Im Gan-

zen ſtimmt mit dieſer Anſicht über-

ein Weber S. 147—158; des-

gleichen Bergmann S. 34—

36, was die Natur der Sache be-

trifft, während er S. 163 nach

Römiſchem Recht das Gegentheil,

nämlich die fortdauernde Einwir-

kung des alten Geſetzes annimmt,

indem nach ſeiner Meinung auch

die bloßen Erwartungen durch das

R. R. geſchützt ſeyn ſollen (ſ. o.

§ 387. h). — In der That

wird hier derſelbe Grundſatz gel-

tend gemacht, welcher oben für die

örtliche Colliſton der Uſucapions-

geſetze angewendet worden iſt

(§ 367. k).

|0452 : 430|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

wären; die Zeit der früheren Verſäumniß wird nicht

gerechnet.

Ein merkwürdiges Beiſpiel dieſer letzten Art finden wir

im Römiſchen Recht. Lange Zeit waren hier die meiſten

und wichtigſten Klagen ohne alle Verjährung, perpetuae

actiones im ſtrengſten Sinne des Worts. K. Theodoſius II.

führte für alle dieſe Klagen die Verjährung ein, welche in

der Regel dreißig Jahre dauern ſoll. Nach dem ſo eben

aufgeſtellten Grundſatz hätten die damals bereits laufenden

Klagrechte erſt nach dreißig Jahren erlöſchen müſſen. Der

Kaiſer aber gab ſeinem Geſetz theilweiſe rückwirkende Kraft,

dergeſtalt, daß auch die vergangene Zeit mit eingerechnet

werden ſollte; jedoch ſollte der Klagberechtigte in keinem

Fall weniger, als zehen Jahre, von dem neuen Geſetze an,

Zeit haben, um die früher entſtandene Klage noch mit Er-

folg anzuſtellen (c). Als Juſtinian dieſes Geſetz in den

Codex aufnahm, ließ er natürlich dieſe tranſitoriſche Be-

ſtimmung weg (d), die ſeit etwa hundert Jahren ihre

Wirkſamkeit von ſelbſt verloren hatte.

 

3. Wird eine Art der Unterbrechung, die bisher zu-

läſſig war, aufgehoben, oder umgekehrt eine neue Art der

 

(c) L. un. § 5 C. Th. de

act. certo temp. (4. 14). Ein

dringendes Bedürfniß zu dieſer

Abweichung von dem Grundſatz

war wohl nicht zu behaupten. Ei-

nige Rechtfertigung liegt darin,

daß unter die Gründe der Klag-

verjährung auch die Präſumtion

der Tilgung gehört (ſ. o. B. 5

§ 237). Dieſe Präſumtion aber

hat Realität auch für die vor dem

Erlaß des Verjährungsgeſetzes

abgelaufene Zeit der unterlaſſenen

Klage.

(d) L. 3 C. de praescr.

XXX. (7. 39).

|0453 : 431|

§. 391. A. Erwerb d. Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht. (Fortſ.)

Unterbrechung eingeführt, ſo iſt die eine oder die andere

Beſtimmung auch auf die laufende Uſucapion ſofort anzu-

wenden.

4. Das neue Geſetz, welches den Zeitraum verlängert,

iſt ſogleich anwendbar auch auf die laufende Uſucapion oder

Klagverjährung (e).

 

5. Schwieriger, und zugleich praktiſch wichtiger, iſt

die Frage bei einem neuen Geſetz, welches den Zeitraum

abkürzt. Hier müſſen wir grundſätzlich dem Erwerber die

Wahl laſſen, ob er das alte Geſetz anwenden will, oder

das neue; im letzten Fall aber darf er den Zeitraum erſt

berechnen von dem Erlaß des neuen Geſetzes an, ſo daß

er die bereits abgelaufene Zeit nicht mit einrechnen darf.

Zu der erſten Wahl iſt er berechtigt, weil das neue Geſetz

gewiß nicht die Abſicht gehabt hat, dem Gegner einen

günſtigeren Erfolg, als nach dem unveränderten alten Geſetz,

zu verſchaffen; zu der zweiten Wahl, weil er kein gerin-

geres Recht haben kann, als Der, welcher in dieſem Augen-

blick die Uſucapion oder die Klagverjährung anfängt. Da-

gegen würde es eine ungehörige Rückwirkung ſeyn, wenn

 

(e) Im Jahre 528 ertheilte

Juſtinian den Kirchen das Pri-

vilegium, daß ihre Klagrechte erſt

in 100 Jahren verjähren ſollten.

L. 23 C. de SS. eccl. (1. 2), ſ.

o. B. 5 S. 355. Am Ende die-

ſes Geſetzes ſtehen die etwas dun-

klen Worte: „Haec autem omnia

observari sancimus in iis casi-

bus, qui vel postea fuerint nati,

vel jam in judicium deducti

sunt.“ Büchſtäblich genommen,

gehen die letzten Worte auch auf

die Klagen, deren bisherige

(dreißigjährige) Verjährung be-

reits vor der angeſtellten Klage

abgelaufen war. Dann liegt da-

rin eine durch Nichts gerechtfer-

tigte Rückwirkung. Vgl. Weber

S. 7.

|0454 : 432|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

man ihm geſtatten wollte, den neuen Zeitraum mit Ein-

rechnung der ſchon abgelaufenen Zeit zu benutzen, da nun

der Gegner weder die von dem alten, noch die von dem

neuen Geſetz verſtattete Friſt zur Thätigkeit vollſtändig ge-

nießen würde. Es könnte ſogar die widerſinnige Folge

eintreten, daß die Klagverjährung im Augenblick, wo das

neue Geſetz erſcheint, ſofort vollendet wäre (f).

Die hier aufgeſtellten Grundſätze haben vollſtändige

Anerkennung erhalten in der Preußiſchen Geſetzgebung.

Das Einführungspatent des Landrechts enthält nämlich im

§ 17 folgende drei Beſtimmungen. Die vor dieſer Zeit

abgelaufenen Verjährungen ſind nach den alten Geſetzen zu

beurtheilen; die jetzt laufenden nach dem Landrecht; die letzte

Beſtimmung aber erhält folgende Einſchränkung:

Sollte jedoch zur Vollendung einer ſchon vor dem

1. Jun. 1794 angefangenen Verjährung in dem

neuen Landrechte eine kürzere Friſt, als nach bis-

herigen Geſetzen, vorgeſchrieben ſeyn: ſo kann Der-

 

 

(f) So z. B. wenn ein Klag-

recht, für welches die Verjährung

von dreißig Jahren gilt, ſchon zehen

Jahre lang unbenutzt beſteht, und

nun ein neues Geſetz erſcheint,

welches für Rechtsverhältniſſe die-

ſer Art eine dreijährige Verjährung

vorſchreibt. — Bergmann will

S. 36 nach der Natur der Sache

eine proportionelle Rechnung ein-

treten laſſen; nach dieſer müßte in

dem ſo eben eingeführten Fall, in

welchem ein Drittheil der alten

Verjährung abgelaufen war, auch

in der neu anfangenden dreijähri-

gen Verjährung ein Drittheil als

abgelaufen angenommen werden,

ſo daß noch zwei Jahre übrig

wären. Dieſe verwickelte Behand-

lung iſt weder grundſätzlich für

das beſtehende Recht zu behaupten,

noch als poſitive Vorſchrift zu

empfehlen.

|0455 : 433|

§. 391. A. Erwerb d. Rechte. Anwendungen. II. Sachenrecht. (Fortſ.)

jenige, welcher ſich in einer ſolchen kürzern

Verjährung gründen will, die Friſt derſelben

nur vom 1. Jun. 1794 zu rechnen anfangen.

Dieſe Vorſchrift wird wörtlich wiederholt in den ſpäte-

ren tranſitoriſchen Geſetzen (§ 383). In der eben bemerkten

Einſchränkung liegt die Anerkennung des oben behaupteten

Wahlrechts. Noch deutlicher aber findet ſich dieſe in fol-

gender Vorſchrift eines Geſetzes vom 31. März 1838, welches

für viele einzelne Klagen, die bisher in Dreißig Jahren

verjährten, theils eine zweijährige, theils eine vierjährige

Verjährung einführt (g):

 

§ 7. Gegen ſolche Forderungen, welche zur Zeit der

Publikation dieſes Geſetzes bereits fällig waren,

können die in den §§ 1. und 2 vorgeſchriebenen

kürzeren Friſten nur vom letzten Dezember 1838

an gerechnet werden.

Bedarf es zur Vollendung der bereits ange-

fangenen Verjährung nach den bisherigen geſetz-

lichen Vorſchriften nur noch einer kürzeren Friſt,

als der in dem gegenwärtigen Geſetze beſtimmten,

ſo hat es bei jener kürzeren Friſt ſein

Bewenden.

Das Franzöſiſche Geſetzbuch verordnet für die zur Zeit

ſeiner Einführung bereits angefangenen Verjährungen,

daß ſie in der Regel nach den alten Geſetzen beurtheilt

 

(g) Geſetzſammlung, 1838 S. 249—251.

VIII. 28

|0456 : 434|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

werden ſollen (h); jedoch mit der Einſchränkung, daß ſie

von jetzt an nicht länger, als dreißig Jahre, dauern dürfen,

wenn ihnen etwa das alte Geſetz eine längere Dauer an-

weiſen möchte. — Die hier aufgeſtellte Regel iſt nach den

oben entwickelten Grundſätzen nicht zu rechtfertigen. Sie

enthält gerade das Gegentheil von rückwirkender Kraft, in-

dem ſie dem neuen Geſetz weniger Wirkſamkeit einräumt,

als ihm grundſätzlich zukommt; augenſcheinlich in der Ab-

ſicht, hierin auch ſchon bloße Erwartungen zu ſchützen. Eine

Härte oder Ungerechtigkeit kann darin allerdings nicht ge-

funden werden.

Das Einführungspatent des Oeſterreichiſchen Geſetzbuchs

ſtellt dieſelbe Regel auf, wie das Franzöſiſche Recht, daß

die angefangenen Verjährungen nach den älteren Geſetzen

zu beurtheilen ſeyen. Daneben aber verordnet es, nicht

ganz paſſend, für die Fälle, worin das Geſetzbuch eine

kürzere Verjährung vorſchreibe, als die bisher geltende, das-

jenige Wahlrecht, welches ſo eben in der Preußiſchen Ge-

ſetzgebung nachgewieſen worden iſt.

 

(h) Code civil art. 2181. „Les prescriptions, commencées

à l’époque de la publication du présent titre, seront réglées

conformément aux lois anciennes.“

|0457 : 435|

§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.

§. 392.

A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.

III. Obligationenrecht.

Im Obligationenrecht kommt der aufgeſtellte Grundſatz

zu eben ſo allgemeiner Anwendung, wie im Sachenrecht.

Vorzüglich häufig findet ſich dieſe Anwendung bei den

Verträgen.

 

Das Recht eines Vertrages alſo iſt ſtets zu beurtheilen

nach dem Geſetz, welches zur Zeit des geſchloſſenen Ver-

trages beſtand.

 

Dieſe Regel iſt anwendbar auf die perſönliche Hand-

lungsfähigkeit, ſo wie auf die Form des Vertrages (§ 388).

Sie iſt anwendbar auf die Bedingungen der Gültigkeit

des Vertrages. Ferner auf die Art und den Grad ſeiner

Wirkſamkeit. Endlich auch auf die Ungültigkeit, Anfech-

tung, Entkräftung eines Vertrages, ohne Unterſchied, ob

dieſe Gegenwirkung durch Klage oder durch Einrede ver-

ſucht werden möge.

 

Der Anſpruch auf die fortdauernde Wirkſamkeit aller,

dieſe verſchiedenen Fragen betreffenden, Rechtsregeln, unab-

hängig von jeder möglichen neuen Geſetzgebung, iſt beiden

Parteien durch den Abſchluß des Vertrages erworben. Er

bildet ein erworbenes Recht, welches in Folge unſeres

Grundſatzes aufrecht erhalten werden muß, jedem neuen

Geſetz gegenüber.

 

Dieſer Satz iſt auch anwendbar auf die Verträge,

 

28*

|0458 : 436|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

deren Wirkſamkeit durch eine Zeitbeſtimmung aufgeſchoben,

oder durch eine Bedingung ungewiß gemacht iſt (§ 385. h).

Er iſt auch unabhängig von dem Unterſchied der abſoluten

und vermittelnden Rechtsregeln (a), ſo daß die nicht

ſelten aufgeſtellte Behauptung verworfen werden muß,

nach welcher neue Prohibitivgeſetze die Natur der früher

geſchloſſenen Verträge ſollen umändern können (b).

Die hier aufgeſtellte Regel hat ſehr allgemeine Aner-

kennung gefunden in den, zu verſchiedenen Zeiten erlaſſenen,

tranſitoriſchen Geſetzen des Preußiſchen Staates (c).

Eben ſo wird dieſelbe mit großer Beſtimmtheit und con-

ſequenter Durchführung anerkannt von einem der namhaf-

teſten Schriftſteller über das Franzöſiſche Recht (d).

 

Jene Regel iſt eine conſequente, nothwendige Folge un-

ſeres allgemeinen Grundſatzes. Aber auch von einem rein

praktiſchen Standpunkte aus erſcheint ſie wahr und wichtig,

indem nur durch ihre Durchführung das für die Sicherheit

des Verkehrs unentbehrliche Vertrauen in die ungeſtörte

 

(a) S. o. B. 1 § 16.

(b) Damit ſtimmt überein

Bergmann § 30.

(c) Einführungspatent des A.

L. R. § XI. „Es ſind daher inſon-

derheit alle Verträge, welche vor

dem 1. Juli 1794 errichtet wor-

den, ſowohl ihrer Form und ihrem

Inhalte nach, als in Anſehung der

daraus entſtehenden rechtlichen

Folgen, nur nach den zur Zeit

des geſchloſſenen Contracts beſtan-

denen Geſetzen zu beurtheilen;

wenngleich erſt ſpäter auf Erfül-

lung, Aufhebung, oder Leiſtung

des Intereſſe aus einem ſolchen

Contracte geklagt würde.” —

Ganz eben ſo in dem tranſitori-

ſchen Geſetze von 1803 § 5, 1814

§ 5, und in den ſpäteren tranſi-

toriſchen Geſetzen (§ 383).

(d) Chabot T. 1 p. 128—

139.

|0459 : 437|

§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.

Wirkſamkeit der Verträge erhalten werden kann. In der

ausgedehnteſten Wirkſamkeit, und daher vorzugsweiſe wich-

tig, erſcheint dieſelbe in Anwendung auf manche Verträge,

die mit dinglichen Rechten in Verbindung ſtehen, und auf

viele Generationen einzuwirken beſtimmt ſind (e).

Es ſind nunmehr einige Widerſprüche zu erwähnen,

welche gegen die hier dargeſtellte Regel theils in ein-

zelnen Geſetzen, theils von manchen Schriftſtellern, erhoben

worden ſind.

 

Ein ſolcher Widerſpruch liegt in dem ſchon oben er-

wähnten Geſetz Juſtinian’s über die verbotenen Zinſen

(§ 386. f. g), nach welchem das Verbot auch auf die

vergangenen Zinsverträge bezogen werden ſollte, wiewohl

nur für die künftig fällig werdenden Zinſen. Ein neuerer

Schriftſteller hat dieſe Vorſchrift zu einer allgemeinen Re-

gel auszubilden geſucht (§ 387. f), während andere darin

ganz richtig nur eine Ausnahme unſerer Regel, eine ein-

zelne Abweichung von derſelben, anerkannt haben (f). —

Sehr auffallend iſt es, daß die neueren tranſitoriſchen

Preußiſchen Geſetze, vom J. 1814 an, eine ganz ähnliche

Beſtimmung in ſich aufgenommen haben (g), ohne zu be-

 

(e) Auf die Eigenthümlich-

keit dieſer Fälle hat ſehr gut auf-

merkſam gemacht: Götze Altmär-

kiſches Provinzialrecht B. 1 S. 11

—13. Wir werden auf dieſe Art

der Rechtsverhältniſſe von einer

anderen Seite zurückkommen bei

der Gattung von Rechtsregeln,

welche das Daſeyn der Rechte zum

Gegenſtand haben (§ 399).

(f) Bergmann § 30.

(g) Geſetz für die Provinzen

jenſeits der Elbe 1814 § 13, und

eben ſo in den ſpäteren tranſitori-

ſchen Geſetzen (§ 383).

|0460 : 438|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

merken, daß ſie dadurch dem nahe dabei ſtehenden Grund-

ſatz, welcher die Folgen der Verträge dem zur Zeit des

Abſchluſſes geltenden Geſetze unterwirft (Note c), geradezu

widerſprechen. Zu einer ſolchen Abweichung von dem rich-

tigen, in den erwähnten Geſetzen ſelbſt ausdrücklich aner-

kannten, Grundſatz war aber bei dem Zinsvertrag am we-

nigſten Bedürfniß vorhanden, da gerade hier die An-

wendung auf die vergangenen Verträge meiſt ganz uner-

heblich iſt (§ 385. a).

Viel wichtiger aber und ſehr weit greifend iſt der Wi-

derſpruch gegen die Allgemeinheit der hier aufgeſtellten

Regel, der von zwei neueren Schriftſtellern erhoben worden

iſt. Er betrifft nicht die Regel an ſich, ſondern nur die

Anwendung derſelben auf die Anfechtung der Verträge,

inſofern dieſe nicht auf die Umſtände bei dem Abſchluß des

Vertrags ſelbſt, ſondern auf ſpätere Thatſachen, z. B. auf

den künftigen Entſchluß einer Partei zur Anfechtungsklage,

gegründet werden ſoll (h). Weber hat dieſe Behauptung

nicht als allgemeinen Grundſatz aufgeſtellt, wohl aber in

einer Reihe einzelner wichtiger Fälle geltend gemacht (i).

Bald nach ihm aber hat Meyer dieſelbe auf einen abſtrac-

 

(h) Gerade für ſolche Fälle

haben die Preußiſchen Geſetze die

Anwendbarkeit unſerer Regel aus-

drücklich anerkannt (Note c).

(i) Dieſe Fälle werden unten

bei den einzelnen Anwendungen

erwähnt werden.

|0461 : 439|

§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.

ten Grundſatz zurückgeführt, und in folgender Weiſe durch-

zuführen geſucht (k).

Man ſoll (ſagt er) zweierlei Folgen eines Vertrags unter-

ſcheiden: nothwendige, oder unmittelbare, bei welchen die Ge-

ſetze nicht rückwirken dürfen, — und zufällige, oder entfernte,

bei welchen die Rückwirkung eines neuen Geſetzes auf äl-

tere Verträge zuläſſig iſt. — Unter die erſte Klaſſe ſollen

gehören diejenigen Folgen, an welche die Parteien dachten

oder denken konnten, die ſie alſo ſtillſchweigend mit in

den Vertrag hereingezogen haben (l). Unter die zweite

Klaſſe dagegen die Folgen, die erſt durch künftige That-

ſachen begründet werden; dahin werden gerechnet die An-

fechtungsklagen wegen laesio enormis, Betrug, Zwang,

Irrthum, Minderjährigkeit, außerdem auch der Widerruf

einer Schenkung wegen Undankbarkeit oder wegen nachgeborner

Kinder (m). — Dieſe ganze Unterſcheidung nun iſt völlig

unhaltbar, ſchon deswegen, weil unter den Fällen der zwei-

ten Klaſſe gewiß kein einziger iſt, den ſich nicht die Par-

teien als Folge des Vertrags denken konnten. Um die

Verwirrung der Begriffe zu vollenden, wird auch noch der

Gegenſatz von ipso jure und per exceptionem mit herein-

 

(k) Meyer p. 36—40, 153—

155, 174—210. Er führt dabei

zwar nicht Weber als Gewährs-

mann an, da er aber deſſen Schrift

kennt (préface p. XI.), ſo iſt

kaum zu zweifeln, daß er ihn hie-

rin benutzt und befolgt hat.

(l) Meyer p. 38—39, 180,

187—191.

(m) Meyer p. 175—178.

|0462 : 440|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

gezogen (n), der doch gewiß auf dieſe Frage keinen Einfluß

haben kann. Die völlige Grundloſigkeit dieſer ganzen Lehre

wird aber recht anſchaulich werden aus folgender Ueberſicht

über die wichtigſten einzelnen Fälle, die hierbei zur Sprache

gebracht worden ſind.

Die Ungültigkeit einer Obligation kann geltend gemacht

werden durch folgende Rechtsmittel: durch eine eigentliche

Klage, durch Reſtitution, durch eine Exception gegen die

Klage der andern Partei. Nach dieſer Ordnung ſollen jetzt

die einzelnen Fälle durchgegangen werden, welche (wie ich

behaupte) ſämmtlich zu beurtheilen ſind nach dem zur Zeit

des geſchloſſenen Vertrags geltenden Geſetz.

 

1. Anfechtung eines Verkaufs wegen Verletzung über

die Hälfte. Sie iſt zu beurtheilen nach dem zur Zeit des

Verkaufs geltenden Geſetz (o). Das wird beſtritten, weil

der Verkauf nicht ipso jure ungültig ſey, ſondern erſt

durch die ſpäter erhobene Klage, deren Zeit alſo das an-

wendbare Geſetz beſtimme (p); oder, wie ſich ein Anderer

ausdrückt, weil an dieſen Erfolg nicht von den Parteien

gedacht worden ſey (q).

 

Dieſe Auffaſſung ſteht völlig im Widerſpruch mit dem

wahren Sinn der hier einſchlagenden Rechtsregel. Die-

ſelbe ſetzt voraus einen Verkäufer, der durchaus Geld be-

darf und ſeine Sache unter dem halben Preis weggeben

 

(n) Meyer p. 178. 179.

(o) Chabot T. 2 p. 286—289.

(p) Weber S. 114—117.

(q) Meyer p. 37—38, 154, 175—

176, 209—210.

|0463 : 441|

§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.

muß, weil der einzige Käufer, der ſich findet, ſeine Noth

mißbraucht. Einem ſolchen unedlen Mißbrauch fremder

Noth ſoll hier durch eine poſitive Rechtsregel entgegen ge-

wirkt werden. Der Fall iſt alſo ganz ähnlich dem des

Zinswuchers, wobei auch das fremde Geldbedürfniß eigen-

nützig mißbraucht wird. Jene Gründe der Gegner müßten

conſequenterweiſe dahin führen, daß ein unter dem Römiſchen

Recht geſchloſſenes, zehen Jahre unaufkündbares, Darlehen

zu zwanzig Procent, wenn kurz nachher ein neues Geſetz

allen Zinswucher frei gäbe, vollſtändig erfüllt werden

müßte. — Auch wird Meyer nicht beſtreiten, daß im Fall

des Verkaufs beide Parteien an den Fall der ſpäteren An-

fechtung denken konnten, d. h. daß dieſer Fall nicht außer

den Gränzen möglicher, ſelbſt wahrſcheinlicher, Berechnung

lag, daß er nicht erſt durch ganz neue, völlig unerwartete

Umſtände (wie er ſich die Sache zu denken ſcheint) herbei

geführt wurde.

Ganz eben ſo iſt nur die Zeit des geſchloſſenen Ver-

trags zu berückſichtigen, wenn das in dieſer Zeit beſtehende

Geſetz die Anfechtung nicht zuläßt, ein ſpäteres Geſetz die-

ſelbe einführt. Dieſe Bemerkung gilt auch für alle folgende

Fälle.

 

2. Die Regel: Kauf bricht Miethe (r), iſt zu beurtheilen

nach dem Geſetz, welches zur Zeit des geſchloſſenen Mieth-

 

(r) Dieſer Fall iſt inſofern

mit den übrigen nicht von gleicher

Natur, als in ihm der Vertrag

nicht angefochten und aufgehoben

wird, welcher vielmehr ſich ſtets

wirkſam erzeigt durch die dem

|0464 : 442|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

contracts beſteht. Denn in dieſer Zeit iſt das Rechtsver-

hältniß unabänderlich ſo beſtimmt worden, daß ſich der

Miether den Folgen einer ſpäteren Veräußerung unterwerfen

mußte. Ein ſpäteres Geſetz, das jene Regel aufhebt,

kann hierin Nichts ändern, und es iſt gleichgültig, ob dieſes

ſpätere Geſetz ſich auf die vereinzelte Aufhebung jener Regel

beſchränkt, oder ob es dieſelbe dadurch bewirkt, daß es

überhaupt dem Miether ein dingliches Recht beilegt (§ 390

Num. 4).

Es kommt daher nicht an auf die Zeit des ſpäter ge-

ſchloſſenen Verkaufs, noch weniger auf die Zeit der vom

Käufer gegen den Miether angeſtellten Klage. Das in dieſem

letzten Zeitpunkt geltende Geſetz will Weber berückſichtigt

wiſſen, wieder wie in dem vorhergehenden Fall, weil der

Miethvertrag nicht an ſich ungültig ſey, ſondern nur durch

die Klage des Käufers entkräftet werde (s).

 

3. Widerruf einer Schenkung wegen Undankbarkeit oder

wegen nachgeborner Kinder. Es entſcheidet die Zeit der

Schenkung, nicht die Zeit des ſpäteren Ereigniſſes, noch

weniger die Zeit der auf Widerruf angeſtellten Klage (t).

 

Das Gegentheil wird von Anderen behauptet, weil die

Schenkung nicht von ſelbſt ungültig ſey, ſondern erſt durch

 

Miether zuſtehende Entſchädigungs-

klage gegen den Vermiether. Die

Frage iſt nur die, ob ein Dritter

(der Käufer) das Miethrecht an-

zuerkennen hat oder nicht.

(s) Weber S. 117—121.

(t) Chabot T. 1. p. 174—

200. T. 2 p. 168. 194.

|0465 : 443|

§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.

die Widerrufsklage entkräftet werde (u); weil an dieſen

Erfolg die Parteien nicht gedacht haben, indem ſonſt die

Schenkung vielmehr unterblieben ſeyn würde (v). — Aller-

dings war die Undankbarkeit nicht zur Zeit der Schenkung

erwartet; dagegen iſt ſehr natürlich die umgekehrte Er-

wartung, der Beſchenkte werde Undankbarkeit vermeiden,

und er werde in dieſer Geſinnung noch befeſtigt werden,

durch die Rückſicht auf das den Widerruf geſtattende Ge-

ſetz. Die Vorausſetzung alſo, daß der Schenker an jenes

Geſetz gedacht habe, oder habe denken können, iſt gewiß

den Umſtänden ganz angemeſſen.

4. Reſtitution gegen einen Vertrag. Entſcheidend iſt

die Zeit des Vertrags, nicht die des Reſtitutionsgeſuchs (w).

Das Gegentheil wird behauptet, weil der Vertrag an ſich

gültig ſey, und erſt durch die richterliche Handlung ent-

kräftet werde (x). Derſelbe Gedanke wird von Anderen

noch dadurch ausgebildet und von der Wahrheit weiter

entfernt, daß die Reſtitution als Gnadenſache von dem

Souverain ertheilt werde (y). Gegen dieſe Behauptungen

entſcheidend iſt der Umſtand, daß, nach der im Juſtiniani-

ſchen Recht vorliegenden Natur der Reſtitution, Der, welcher

die Reſtitution begehrt, ein wahres erworbenes Recht auf

 

(u) Weber S. 107.

(v) Meyer p. 175. 177.

(w) Struve S. 266.

(x) Weber S. 113. 114.

(y) Meyer p. 184. Hier-

über iſt zu vergleichen oben B. 7.

§ 317.

|0466 : 444|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

dieſelbe hat, von dem Recht auf eine Klage oder eine Ein-

rede nur wenig in der Form verſchieden (z).

5. Exceptio doli, oder metus, zu beurtheilen nach der

Zeit des Vertrags, ohne Rückſicht darauf, daß hier der

Vertrag nicht ipso jure, ſondern per exceptionem ungültig

iſt (aa).

 

6. Exceptio Sc. Vellejani. Nach der Zeit der gelei-

ſteten Bürgſchaft (bb).

 

7. Exceptio Sc. Macedoniani. Desgleichen (cc).

 

8. Exceptio non numeratae pecuniae. Desgleichen.

 

9. Durch ein Geſetz des K. Friedrich I. (Anth.

Sacramenta puberum), welches der Juſtinianiſchen Geſetz-

ſammlung einverleibt wurde, ſollen die meiſten Mängel

eines Vertrags dadurch völlig beſeitigt werden, daß der

Schuldner den Vertrag durch Eid bekräftigt (dd). Die An-

wendbarkeit dieſes Geſetzes iſt zu beurtheilen nach der Zeit

 

(z) S. o. B. 7 S. 112. 113.

117.

(aa) Bei dem Dolus iſt Meyer

ſehr ſchwankend, ob er die durch

denſelben herbeigeführte Anfechtung

und Ungültigkeit zu den nothwen-

digen oder zu den zufälligen Fol-

gen des Vertrags rechnen ſoll,

p. 154. 179. 183. Was insbe-

ſondere die Reſtitution wegen Do-

lus betrifft, ſ. o. B. 7. § 332.

(bb) Chabot T. 1 p. 352.

— S. o. § 388. — Hier ſucht

Meyer p. 196—198 ſeinen Wi-

derſpruch durch ganz verſchiedene,

theilweiſe ſich ſelbſt aufhebende

Gründe zu rechtfertigen.

(cc) Hierin ſtimmt überein

Meyer p. 194, weil ein ſolcher

Vertrag den guten Sitten entge-

gen ſey und weil der Verzicht des

Schuldners nicht wirke. Beiläu-

fig verwechſelt er den filiusfami-

lias mit dem minor.

(dd) Savigny Geſchichte

des R. R. im Mittelalter B. 4.

S 162.

|0467 : 445|

§. 392. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. III. Obligationenrecht.

des geleiſteten Eides. Dieſes beſtreitet Weber mit Unrecht

aus dem Grunde, weil ein ſolcher Vertrag eigentlich an ſich

nichtig ſey, und nur durch eine Handlung des Richters

(officio judicis) hinterher geſchützt werde; daher ſey ent-

ſcheidend die Zeit dieſes richterlichen Ausſpruchs (ee).

Allein es iſt augenſcheinlich, daß hier die Rechte der Par-

teien ſchon vorher, eben ſo, wie in jedem anderen Rechts-

verhältniß, unabänderlich feſtgeſtellt ſind, und daß der

Richter hier, wie in anderen Fällen, nur dazu berufen iſt,

dieſe Rechte anzuerkennen und zu ſchützen.

Es ſind nun noch einige andere Fragen übrig, die außer

dem Kreiſe der eben dargeſtellten großen Meinungsver-

ſchiedenheit liegen.

 

Dahin gehören die Obligationen aus Delicten. Es

iſt allgemein anerkannt, daß dieſe zu beurtheilen ſind nach

dem zur Zeit des begangenen Delicts geltenden Geſetz (ff).

Man könnte hierher ziehen die aus dem unehelichen Bei-

ſchlaf entſpringenden Rechte: davon aber wird beſſer unten

(§ 399) gehandelt werden.

 

Ferner gehören dahin die den Concurs betreffenden Ge-

ſetze. Hierüber kann ich mich kurz faſſen, indem ich auf

die bei dem örtlichen Recht angeſtellte Unterſuchung ver-

 

(ee) Weber S. 109—113.

(ff) Anerkannt im Preu-

ßiſchen Allg. Landrecht Einleitung § 19.

|0468 : 446|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

weiſe (§ 374). Der Concurs betrifft hiernach nicht die

Rechte ſelbſt, ſondern die Execution in eine an einem be-

ſtimmten Zeitpunkt vorhandene Vermögensmaſſe; für dieſe

Execution iſt die Rangordnung der einzelnen Glaubiger zu

beſtimmen. Welches Geſetz iſt auf dieſe Rangordnung an-

zuwenden? Dabei ſind zu unterſcheiden die Hypotheken-

glaubiger von den übrigen Glaubigern.

Die Hypothekenglaubiger ſind zu beurtheilen nach dem

Geſetz, welches zur Zeit der Entſtehung ihres dinglichen

Rechts beſtand (§ 390); die übrigen Glaubiger nach dem

zur Zeit des ausgebrochenen Concurſes beſtehenden Ge-

ſetz (gg). — Dieſe Regel wird beſtätigt durch folgende Sätze

des Römiſchen Rechts. Die Glaubiger der fünften Klaſſe

werden pro rata befriedigt, ohne Rückſicht auf die Zeit der

Entſtehung ihrer Forderungen. Denn ſie alle ſind Hypo-

thekarien, deren Hypotheken entſtanden ſind durch die mit

der Eröffnung des Concurſes verbundene missio in posses-

sionem. — Eben ſo haben die Glaubiger der vierten Klaſſe

privilegirte Hypotheken, aber ihr Hypothekenrecht, ſo wie

der Rang ihrer Privilegien, iſt auch erſt entſtanden zur

Zeit der missio in possessionem und durch dieſelbe. Vor-

her alſo hatten ſie eine bloße Erwartung dieſer ſie begün-

ſtigenden Art der Execution (als eines Prozeßakts), kein

Recht darauf.

 

(gg) Anerkannt in den Preu-

ßiſchen tranſitoriſchen Geſetzen

(§ 383); ſo in dem Geſetz von

1814 für die Provinzen jenſeits

der Elbe § 15, und gleichlautend

in den übrigen. — Damit ſtimmt

überein Weber S. 167—178.

|0469 : 447|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

§. 393.

A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

Wir haben die Regeln aufzuſuchen für die teſtamen-

tariſche, die Inteſtaterbfolge, und für die Erbver-

träge.

 

I. Teſtament. Dieſer Fall iſt der ſchwierigſte und

beſtrittenſte in dem ganzen Gebiet der hier vorliegenden

Unterſuchung.

 

Wir müſſen zunächſt ſuchen, einen feſten Standpunkt

zu gewinnen für die juriſtiſche Natur des Teſtaments.

 

Das Schickſal einer Erbſchaft ſoll beſtimmt werden

durch den letzten Willen des Verſtorbenen (suprema, ultima

voluntas), welcher auf gehörige Weiſe ausgeſprochen ſeyn

muß. Damit iſt alſo gemeint der im Zeitpunkt des Todes

vorhandene Wille, da jeder frühere in der Zwiſchenzeit

vielleicht verändert ſeyn kann. Nun iſt es aber an ſich

unmöglich, gerade im Augenblick des Todes ein Teſtament

zu machen, ja wegen der völligen Ungewißheit der Todes-

zeit wird es oft nöthig oder räthlich ſeyn, den Willen, der

als letzter gelten ſoll, in einem weit früheren, oft ſehr

entfernt liegenden, Zeitpunkt auszuſprechen. Daher iſt jeder

Teſtator anzuſehen als handelnd in zwei verſchiedenen Zeit-

punkten: indem er das Teſtament errichtet, und in dem

Augenblick des Todes, worin er das früher errichtete Te-

ſtament unverändert hinterläßt. Das Erſte kann man die

faktiſche Thätigkeit, das Zweite die juriſtiſche Thätigkeit des

 

|0470 : 448|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Teſtators nennen. Nur das Product der zweiten Thätigkeit

kann und ſoll wirken; das der erſten bleibt in der ganzen

Zwiſchenzeit meiſt unbekannt, immer unwirkſam, und immer

der unbeſchränkten Willkür des Teſtators unterworfen. —

Schon dieſe Betrachtung muß uns dahin führen, die fak-

tiſche Thätigkeit (alſo die Form des errichteten Teſtaments)

zu beurtheilen nach dem zur Zeit der Errichtung beſtehenden

Geſetz, die juriſtiſche (alſo den Inhalt) nach dem Geſetz

zur Zeit des Todes (a). — Und ſchon hier können wir

vorläufig zwei abweichende Anſichten ablehnen. Die eine

will auch den Inhalt beurtheilen nach der Zeit des errich-

teten Teſtaments, weil der Teſtator die Gültigkeit oder

Ungültigkeit des Inhalts verdiene, je nachdem ſein Wille

mit dem ihm bekannten (gegenwärtigen) Geſetz übereinſtimme

oder nicht, wobei man denn beſonders an Prohibitivgeſetze

zu denken pflegt. Eine zweite Anſicht geht noch weiter,

indem ſie das Teſtament für ungültig erklärt, ſowohl wenn

es blos dem Geſetz zur Zeit des Teſtaments, als auch wenn

es blos dem Geſetz zur Zeit des Todes widerſpreche. Beiden

Anſichten iſt die Bemerkung entgegen zu ſetzen, daß für

den Geſetzgeber nur Bedeutung hat der Inhalt eines hinter-

laſſenen, möglicherweiſe wirkſamen, Teſtaments, anſtatt daß

Das, welches in dem Teſtament eines Lebenden etwa ge-

ſchrieben ſtehen mag, völlig bedeutungslos für ihn iſt.

(a) Zweifelhaft bleibt vorläufig die perſönliche Fähigkeit ſowohl

des Teſtators, als der Erben und Legatare, wovon unten die Rede

ſeyn wird.

|0471 : 449|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

Wie dieſe beiden Anſichten aus mißverſtandenen Regeln des

Römiſchen Rechts hervorgegangen ſind, wird erſt weiter

unten klar gemacht werden können.

Aus der bisher angeſtellten Betrachtung ergiebt ſich,

daß die hier bei den Teſtamenten vorliegende Frage nahe

verwandt, obgleich nicht völlig gleich, iſt mit der oben für

die Uſucapion und Klagverjährung abgehandelten Frage

(§ 391). Die Uſucapion beruhte auf einem fortdauernden,

über einen ganzen Zeitraum gleichmäßig verbreiteten Zu-

ſtand. Das Teſtament beſteht aus zwei, in verſchiedene

Zeitpunkte fallenden, einzelnen Thätigkeiten. Beide alſo

kommen mit einander darin überein, daß die Thatſache,

wovon der Erwerb eines Rechts abhängt, nicht eine

einfache, vorübergehende Natur hat, ſo wie wir es bei den

meiſten juriſtiſchen Thatſachen (Vertrag, Tradition u. ſ. w.)

wahrnehmen. Daher iſt für beide Fälle folgende Unterſchei-

dung anwendbar und wichtig. Ein neues Geſetz, deſſen

Einwirkung zu prüfen iſt, kann erlaſſen werden: erſtlich vor

dem Anfang einer Uſucapion, oder vor der Errichtung eines

Teſtaments; zweitens nach dem Ablauf der Uſucapion, oder

nach dem Tode des Teſtators; drittens in der Zwiſchen-

zeit zwiſchen dem Anfang und dem Ende der Uſucapion,

zwiſchen dem errichteten Teſtament und dem Tode des Te-

ſtators. — Im erſten Fall iſt die Einwirkung des neuen

Geſetzes unzweifelhaft zu bejahen, im zweiten eben ſo un-

zweifelhaft zu verneinen; der dritte Fall alſo iſt der ein-

zige Gegenſtand unſerer vorliegenden Unterſuchung, ſo wie

 

VIII. 29

|0472 : 450|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

er ſchon oben für die Uſucapion feſtgeſtellt worden iſt

(§ 391).

Indem wir nun für dieſen Fall eines neuen Geſetzes,

erlaſſen nach der Errichtung eines Teſtaments, aber vor

dem Tode des Teſtators, die Regeln aufſuchen, müſſen wir

dabei einen zweifachen Zuſammenhang dieſer Regeln vor

Augen behalten. Erſtens mit den Regeln, welche oben für

die Colliſionen des örtlichen Rechts aufgeſtellt worden ſind

(§ 377). Zweitens, welches wichtiger und ſchwieriger iſt,

mit den Regeln über diejenigen Veränderungen, die, in der

Zwiſchenzeit zwiſchen dem errichteten Teſtament und dem

Tode, nicht in der Geſetzgebung eintreten, wohl aber in

den thatſächlichen Verhältniſſen. An ſich gehören zu unſrer

Aufgabe nur die Veränderungen der erſten Art. Dennoch

müſſen wir aus mehreren Gründen auch die Veränderun-

gen der zweiten Art nicht nur berückſichtigen, ſondern ſelbſt

durch genaue, in’s Einzelne gehende Unterſuchung zu durch-

forſchen nicht ſcheuen. Wir müſſen es, ſchon wegen der

inneren Verwandtſchaft, indem beiderlei Veränderungen

großentheils nach gleichen Regeln zu beurtheilen ſind. Noch

mehr aber ſind wir dazu genöthigt durch das Verfahren

der meiſten neueren Schriftſteller, deren Irrthümer großen-

theils dadurch entſtanden ſind, daß ſie theils die beiden

angegebenen Arten der Veränderungen ohne Unterſcheidung

vermengen, theils die Regeln des Römiſchen Rechts über

die thatſächlichen Veränderungen unrichtig auffaſſen.

 

|0473 : 451|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

Ich verlaſſe alſo jetzt den eigentlichen Gegenſtand der

vorliegenden Aufgabe, die ſich auf die Anwendbarkeit neuer

Geſetze beſchränkt, um die an ſich verſchiedene Frage zu

beantworten: wie es nach Römiſchem Recht anzuſehen iſt,

wenn in der Zwiſchenzeit, zwiſchen der Errichtung eines

Teſtaments und dem Tode, eine Veränderung eintritt in

den thatſächlichſten Verhältniſſen, die auf die Gültigkeit des

Teſtaments Einfluß haben können. Ich wiederhole es,

daß dieſe Frage mit der Frage nach der Einwirkung

neuer Geſetze zwar verwandt, aber nicht identiſch iſt,

daß alſo eine Anwendung der für die eine Frage gültigen

Regeln auf die andere Frage nur mit großer Vorſicht

verſucht werden darf.

 

Die Gegenſtände einer ſolchen möglichen Veränderung

ſind folgende: Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Be-

ziehung auf deſſen Rechtsverhältniſſe, ſo wie auf deſſen phyſi-

ſche Eigenſchaften. Inhalt des Teſtaments. Perſönliche

Fähigkeit des Honorirten (des Erben oder Legatars).

 

1. Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung

auf deſſen Rechtsverhältniſſe. Dieſe hat zwei an ſich

verſchiedene Bedingungen, die jedoch unter denſelben Re-

geln ſtehen.

 

a. Der Teſtator muß testamentifactio haben. Dieſer

Ausdruck wird ſelbſt von den Römiſchen Juriſten

in verſchiedener Bedeutung gebraucht. Zuweilen

ganz buchſtäblich, für die Verfertigung eines Teſta-

ments. Anderwärts für die Teſtamentsfähigkeit

29*

|0474 : 452|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

ohne Unterſchied ihrer Bedingungen, ſo daß in die-

ſem Sinn dem Kinde und dem Wahnſinnigen die testa-

mentifactio abgeſprochen wird. Wo aber der Aus-

druck genau und techniſch gebraucht wird, wie be-

ſonders bei Ulpian, da bedeutet es den Beſitz der

Standeseigenſchaft im Römiſchen Staate,

welche fähig macht zur Mancipation, als der

Grundform der Römiſchen Teſtamente. Nun iſt

testamentifactio gleichbedeutend mit commercium;

es haben dieſelbe alle cives und Latini, es entbehren

ſie alle peregrini (b).

b. Der Teſtator muß fähig ſeyn, Vermögen zu haben

und zu hinterlaſſen, er muß alſo nicht, in Beziehung

auf einen künftigen Nachlaß, juriſtiſch und noth-

wendig vermögenslos ſeyn. In dieſer Hinſicht iſt

unfähig der filiusfamilias, obgleich er testamenti-

factio hat und daher Teſtamentszeuge ſeyn kann (c).

Auf gleiche Weiſe iſt unfähig der Latinus Junianus,

der eben ſo testamentifactio hat und deshalb Teſta-

mentszeuge ſeyn kann. Die Lex Junia hat ihm

aber verboten, für ſich ein Teſtament zu machen,

indem ſie verordnet, daß ſein Vermögen im Augen-

blick des Todes dem Patron zufallen ſoll, nicht als

Erbſchaft, ſondern ſo, als ob er im Leben ſtets

Sklave, folglich vermögensunfähig geblieben wäre (d).

(b) Ulpian. XX. § 2 verglichen mit XIX. § 4. 5.

(c) Ulpian.

XX. § 2. 4. 5. 6. 10.

(d) Ulpian. XX. § 8. 14.

|0475 : 453|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

Dieſe beiden Bedingungen der Teſtamentsfähigkeit kom-

men darin überein, daß ſie gleich nöthig ſind für beide

Zeitpunkte, die Zeit des Teſtaments und die Zeit des To-

des, welches ſo viel ſagen will, als daß dieſelben ſowohl

zur faktiſchen als zur juriſtiſchen Thätigkeit im Teſtament

gerechnet werden müſſen. Wer alſo juriſtiſch unfähig iſt,

kann kein Teſtament machen, und eben ſo wenig ein

Teſtament hinterlaſſen. — Nur eine blos in die Zwi-

ſchenzeit fallende Veränderung ſoll nicht ſchaden, indem

in dieſem Fall der Prätor das Teſtament aufrecht hält (e).

 

Zwei Beiſpiele werden dieſe Regeln anſchaulich machen.

Das Teſtament iſt ungültig, wenn dem Teſtator die Civität

fehlt zur Zeit des Teſtaments oder zur Zeit des Todes;

nicht ungültig, wenn er nur in der Zwiſchenzeit vorüber-

gehend die Civität verloren hatte. — Es iſt ungültig,

wenn der Teſtator filiusfamilias war zur Zeit des Teſta-

ments oder zur Zeit des Todes; gültig, wenn er ſich in

der Zwiſchenzeit arrogiren ließ, dann aber wieder emanci-

pirt wurde.

 

Es ergiebt ſich aus dieſer Behandlung der Sache im

Römiſchen Recht, daß die Römer die in zwei Zeitpunkten

nothwendige Fähigkeit des Teſtators, als gegründet in dem

inneren Bedürfniß der Sache, mit Recht anerkannten und

ſtets feſt hielten, daß ſie dagegen die Fortdauer dieſes Zu-

ſtandes in der ganzen Zwiſchenzeit blos als eine Conſe-

 

(e) Gajus II. § 147, Ulpian. XXIII. § 6. L. 1 § 8 de B. P.

sec. tab. (37. 11), L. 6 § 12 de injusto (28. 3).

|0476 : 454|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

quenz ſtrenger Theorie, dem praktiſchen Bedürfniß nicht

entſprechend, betrachteten, und daher beſeitigten.

2. Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung

auf deſſen phyſiſche Eigenſchaften.

 

Dieſe hat eine ganz andere Natur, als die erſte Art

der Fähigkeit. Sie gehört ausſchließend der faktiſchen

Seite des Teſtaments an, und iſt alſo nöthig zu der Zeit,

in welcher das Teſtament gemacht wird. Dagegen iſt jede

ſpätere Aenderung ganz gleichgültig, und es wird dadurch

weder das Teſtament gültig, wenn zur Zeit deſſelben die

Fähigkeit fehlte, noch ungültig, wenn die Fähigkeit damals

vorhanden war.

 

Zu dieſen Gründen der Ungültigkeit gehört: Unmündig-

keit, Wahnſinn, nach dem älteren Römiſchen Recht auch

Stummheit und eben ſo Taubheit. Wenn nun ein Unmün-

diger oder ein Wahnſinniger ein Teſtament macht, ſo iſt

und bleibt daſſelbe ungültig, auch wenn ſpäter Mündigkeit

eintritt oder der Wahnſinn verſchwindet. Umgekehrt iſt

und bleibt das Teſtament des geiſtig Geſunden gültig, auch

wenn er ſpäterhin in Wahnſinn verfällt, und ſelbſt wenn

er in dieſem Zuſtand ſtirbt (f).

 

3. Der Inhalt des Teſtaments gehört ausſchließend

der juriſtiſchen Seite des Teſtaments an. Daher wird gar

nicht geſehen auf die blos zur Zeit des errichteten Teſta-

 

(f) § 1. J. quib. non est perm. (2. 12), L. 2 L. 6 § 1 L. 20

§ 4 qui test. (28. 1), L. 8 § 3 de j. cod. (29. 7), L. 1 § 8. 9. de

B. P. sec. tab. (37. 11).

|0477 : 455|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

ments vorhandenen Verhältniſſe, obgleich dieſe der Teſtator

zunächſt vor Augen hatte, ſondern lediglich auf die Ver-

hältniſſe zur Zeit des Todes.

Dieſes war unzweifelhaft bei ſolchen thatſächlichen

Verhältniſſen, die eine ganz materielle Natur hatten. Die

Schonung oder Verletzung des Pflichttheils hängt oft ab

von der Größe des Vermögens. Dieſe wird beurtheilt

nach der Zeit des Todes, gar nicht nach der Zeit

des errichteten Teſtaments, welche doch dem Teſtator

damals vor Augen ſtand (g). — Eben ſo die Verletzung

des eingeſetzten Erben im Verhältniß zu den Legaten, die

durch verſchiedene Geſetze verhütet werden ſollte (Lex Furia,

Voconia, Falcidia), wird beurtheilt nach der Größe des

Vermögens zur Zeit des Todes, ſo daß der frühere Zuſtand

gleichgültig iſt (h).

 

In manchen anderen Fällen hatte die Ungültigkeit des

Inhalts eine ſtrenger juriſtiſche Natur; ſo die Nichtigkeit

des Teſtaments, in welchem ein Suus oder ein Posthumus

präterirt war. Dennoch wurde auch hier die oben aufge-

ſtellte Anſicht, nach welcher der Inhalt des Teſtaments aus-

ſchließend nach der Zeit des Todes beurtheilt werden ſollte,

ſo ſehr für richtig und dem praktiſchen Bedürfniß ange-

meſſen gehalten, daß durch künſtliche Mittel nachgeholfen

wurde. Wenn alſo der präterirte Suus oder Posthumus

noch vor dem Teſtator ſtarb, ſo war und blieb eigentlich

 

(g) L. 8 § 9 de inoff. (5. 2).

(h) § 2 J. de L. Falc.

(2. 22), L. 73 pr. ad L. Falc. (35. 2).

|0478 : 456|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

das Teſtament nichtig; es wurde aber aufrecht erhalten,

indem daraus der Prätor eine B. P. secundum tabulas er-

theilte (i). — Ganz derſelbe Erfolg trat auch ein, wenn

der Teſtator fehlte durch die Präterition eines Emancipir-

ten, oder durch die unbillige Enterbung eines nahen, zur

Inteſtaterbfolge befähigten, Verwandten, nur mit dem Un-

terſchied, daß hier der Erfolg von ſelbſt eintrat, nicht erſt

durch künſtliche Aushülfe des Prätors. Denn der präter-

irte Emancipirte hatte überhaupt nur einen Anſpruch durch

B. P. contra tabulas, die ein ganz perſönliches Rechts-

mittel war, angeboten dem zur Zeit des Erbanfalls leben-

den Präterirten. Daher war die Präterition eines Eman-

cipirten, der vor dem Teſtator ſtarb, wirkungslos, weil ihm

nun keine ſolche B. P. c. t. deferirt werden konnte. Ganz

eben ſo verhielt es ſich mit der Querela inofficiosi des

unbillig ausgeſchloſſenen Inteſtatberechtigten. Denn auch

dieſe iſt ein ganz perſönliches Rechtsmittel, von welchem

nicht die Rede ſeyn kann, wenn etwa der unbillig Aus-

geſchloſſene vor dem Teſtator ſtirbt. Vgl. oben B. 2.

§ 73 G.

(i) Ulpian. XXIII. § 6, L.

12 pr. de injusto (28. 3). —

Man könnte dieſe Behandlung

der Sache etwa ſo ausdrücken:

Die durch Präterition bewirkte Nich-

tigkeit war nach jus civile eine

abſolute; der Prätor verwandelte

ſie in eine relative, ſo daß ſie nur

von dem lebenden Präterirten ſelbſt

geltend gemacht werden konnte,

nicht zufällig von einem Dritten,

zu deſſen Vortheil ſie gar nicht

eingeführt war. Nach der Strenge

des jus civile war die Präterition

des Suus oder Posthumus ein

vernichtender Formfehler, der Prä-

tor behandelte ſie blos als ein

Stück des Inhalts des Teſtaments.

|0479 : 457|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

4. Perſönliche Fähigkeit des Honorirten (des Erben

oder Legatars). Dieſer Fall iſt unter allen der ſchwierigſte,

und er hat die meiſten Mißverſtändniſſe in unſrer Lehre

erzeugt.

 

An ſich gehört dieſer Punkt zum Inhalt des Teſtaments,

ſo daß wir nach allgemeinen Gründen lediglich die that-

ſächlichen Verhältniſſe zur Zeit des Todes zu berückſichtigen

hätten, ganz ohne Rückſicht auf frühere Zuſtände. Dennoch

haben ihn die Römer ganz anders behandelt, und wir

müſſen uns die Gründe dieſer abweichenden Behandlung

klar zu machen ſuchen.

 

Die Römiſche Lehre iſt folgende. Die juriſtiſche Fähig-

keit des Erben und des Legatars beruht auf derſelben

testamentifactio, wie die des Teſtators (Note b), ſo daß

alle cives und Latini ſie haben, alle peregrini ſie ent-

behren (k). Dieſe Standesfähigkeit muß vorhanden ſeyn

in drei Zeitpunkten (tria tempora): zur Zeit des Teſta-

ments, zur Zeit des Todes (l), zur Zeit des Erwerbs.

Eigentlich wäre auch die fortdauernde Fähigkeit in der

Zwiſchenzeit nöthig; doch wird dieſe Forderung nachgeſehen,

 

(k) Ulpian. XXII. § 1. 2. 3.

Hier iſt weder der filius familias,

noch der Latinus Julianus aus-

geſchloſſen, weil der Vermögens-

loſe zwar Nichts hinterlaſſen, wohl

aber Etwas zugewieſen bekommen

kann. Auch nicht das Kind und

der Wahnſinnige, weil es nicht

nöthig iſt, zu wollen oder zu han-

deln, um eingeſetzt zu werden.

(l) An die Stelle dieſes Zeit-

punktes tritt bei bedingten Ein-

ſetzungen die Zeit der erfüllten

Bedingung, die alſo nicht etwa

einen vierten Zeitpunkt bildet.

|0480 : 458|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

ſo daß eine vorübergehende Unfähigkeit in der Zwiſchenzeit

nicht ſchadet (media tempora non nocent) (m).

Was iſt nun der Grund dieſer, von der nach allge-

meinen Gründen zu erwartenden ſo abweichenden, Behand-

lung gerade dieſes einen Falles? Wir können dabei ab-

ſehen von dem dritten Zeitpunkt (Erwerb der Erbſchaft),

der ſich eigentlich von ſelbſt verſteht, und überhaupt nicht

wichtig iſt. Dann bleibt uns als auffallende, beſonders zu

erklärende, Erſcheinung die Regel übrig, daß die Fähigkeit

des Honorirten nicht blos erfordert wird zur Zeit des

Todes (wie wir es erwarten möchten), ſondern auch zur

Zeit des errichteten Teſtaments, ſo daß die zu dieſer Zeit

vorhandene Unfähigkeit (z. B. Peregrinität) das Teſtament

für immer ungültig macht, ſelbſt wenn der eingeſetzte Erbe

bald nachher das Römiſche Bürgerrecht erwarb.

 

Die Erklärung dieſer auffallenden Erſcheinung aber iſt

weder ſchwierig, noch zweifelhaft. Sie liegt in der Grund-

form des Römiſchen Teſtaments als einer Mancipation des

gegenwärtigen Vermögens (n), als eines idealen Ganzen

(ohne Rückſicht auf deſſen einzelne Beſtandtheile, ſo wie

 

(m) Die Hauptſtellen für dieſe

Lehre ſind folgende: § 4 J. de her.

qual. (2. 19), L. 6 § 2. L. 49

§ 1 L. 59 § 4 de her. inst.

(28. 5). — Die hier erwähnte

Zwiſchenzeit iſt indeſſen nur zu be-

ziehen auf den erſten Zeitraum,

zwiſchen Teſtament und Tod; die

Unfähigkeit in dem zweiten zwi-

ſchen Tod und Erwerb, ſchadet

allerdings, indem durch ſie die

Erbſchaft augenblicklich irgend

einem Dritten deferirt wird, ſey

es der Subſtitut oder der In-

teſtaterbe.

(n) Gajus II, § 103.

|0481 : 459|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

auf mögliche Zunahme oder Verminderung), wodurch das

Ganze die Geſtalt eines fingirten Erbvertrags annahm,

alſo eines Rechtsgeſchäfts unter Lebenden, als deſſen thätige,

mitwirkende Theilnehmer alle in dem Teſtament bedachte

Perſonen (repräſentirt durch den familiae emtor) angeſehen

wurden. Deswegen ſollten ſie Alle die perſönliche Fähig-

keit haben zur Zeit dieſes imaginären Vertrags.

Daß dieſe Regel in der That rein theoretiſch, der juri-

ſtiſchen Form zu Liebe angenommen war, alſo nicht be-

ruhend auf der Anerkennung eines inneren Bedürfniſſes,

ergiebt ſich noch aus folgendem Umſtand. In einer etwas

neueren Zeit waren Beſchränkungen der perſönlichen Er-

werbfähigkeit durch poſitive Geſetzgebung eingeführt worden,

wobei man ſich von jener alten formellen Rückſicht befreien

zu können glaubte; dieſer Fall trat ein bei den Eheloſen,

den Kinderloſen, und den Latini Juniani. Bei dieſer neu

erfundenen Unfähigkeit ſah man auf den Zuſtand zur Zeit

des errichteten Teſtaments gar nicht; ja man ging ſogar

auf der anderen Seite noch einen Schritt weiter, indem

man auch nicht einmal auf die Todeszeit ſah, ſondern nur

auf die Zeit des Erwerbs. Dieſe letzte Vorſchrift aber

hatte den praktiſchen Zweck, daß gerade die dargebotene

Erbſchaft ein Beweggrund ſeyn ſollte, für den Eheloſen,

ſogleich in eine Ehe zu treten, für den Latinus Junianus,

ſich des jus quiritium ſchnell würdig zu machen (o).

 

(o) Ulpian. XXII. § 3 verglichen mit XVII. § 1 und III.

§ 1 — 6.

|0482 : 460|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Hierin liegt der wahre Grund der auffallenden Regel

über die tria tempora; nicht, wie Viele glauben, in der

regula Catoniana (p). Die Unrichtigkeit dieſer Ableitung

ergiebt ſich aus folgenden Betrachtungen. Die tria tempora

werden nirgend auf dieſe ganz einzeln ſtehende, einer ſchon

etwas neueren Zeit angehörende, Regel zurückgeführt,

müſſen alſo wohl einen allgemeineren und älteren Grund

gehabt haben. Ferner geht die Regel des Cato nur auf

Legate (Note p), und namentlich nicht auf Erbſchaften (q).

Sie betrifft alſo überhaupt nicht die perſönliche Fähigkeit

des Honorirten, wovon allein hier die Rede iſt, ſondern

andere Bedingungen eines ungültigen Legats; insbeſondere

wohl den Fall, wenn der Teſtator eine Sache per vindi-

cationem legirt, ohne daran zur Zeit des Teſtaments das

Römiſche Eigenthum zu haben. Dieſes Legat iſt ungültig,

auch wenn er ſpäterhin das Römiſche Eigenthum der Sache

erwirbt (r).

 

Faſſen wir dieſes Alles in Einen Gedanken zuſammen,

ſo müſſen wir ſagen, die ganze Lehre der tria tempora

gründete ſich gar nicht auf die Natur der Sache, auf das

 

(p) L. 1 pr. de reg. Cat.

(34. 7) „Quod, si testamenti

facti tempore decessit testator,

inutile foret: id legatum,

quandocunque decesserit, non

valere.“

(q) L. 3 eod. „Catoniana

regula non pertinet ad here-

ditates.“ Zwar will Cujacius

obs. IV. 4 emendiren: liberta-

tes, aber dieſe Emendation iſt

völlig willkürlich und weder durch

Handſchriften, noch durch inneres

Bedürfniß unterſtützt. Vergl.

Voorda Interpret. II. 22.

(r) Ulpian. XXIV. § 7.

|0483 : 461|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

natürliche Weſen des Teſtaments, ſondern ſie hatte eine

blos zufällige, hiſtoriſche Veranlaſſung. Ja wir müſſen

hinzufügen, daß es conſequent geweſen wäre, dieſe Lehre

im Juſtinianiſchen Recht gänzlich aufzugeben, indem ja in

dieſem Recht der Gedanke der Mancipation, als Grundlage

der Teſtamente, völlig verſchwunden war.

Die ſo eben geführte Unterſuchung betraf gar nicht die

Frage wegen der zeitlichen Colliſion der Geſetze, war alſo

eine Digreſſion, aber eine unentbehrliche Digreſſion. Denn

indem ich mich nun zur Unterſuchung der Veränderungen

wende, die nicht in den Thatſachen eintreten, ſondern in

den Geſetzen, muß ich ſtets zurückgehen auf die Analogie

der eben aufgeſtellten Regeln. Jedoch darf davon dieſer

Gebrauch nur mit Vorſicht und Unterſcheidung gemacht

werden, beſonders mit Rückſicht darauf, ob die aufgeſtellten

Regeln aus der Natur der Sache abgeleitet wurden, oder

aus eigenthümlichen Gründen. Ich werde mich dabei ganz

an die Reihe von Fällen halten, wie ſie ſo eben für die

thatſächlichen Veränderungen aufgeſtellt wurden.

 

1. Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung

auf deſſen Rechtsverhältniſſe.

 

Dieſe muß in zwei Zeitpunkten vorhanden ſeyn: zur

Zeit des errichteten Teſtaments und zur Zeit des Todes;

fehlt ſie in einem derſelben, ſo iſt und bleibt das Teſtament

ungültig (S. 453). Sie kann aber gerade dadurch fehlen,

 

|0484 : 462|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

daß der Zuſtand des Teſtators dem in einem dieſer Zeit-

punkte geltenden Geſetz nicht entſpricht (s).

Folgende Beiſpiele werden die Sache erläutern. Nach

Römiſchem Recht konnten teſtiren: alle cives, alle unab-

hängige Latini (t), nicht die peregrini (S. 452). Geſetzt

nun, ein ſolcher Latinus hätte ein Teſtament gemacht, und

während ſeines Lebens wäre allen Latinen durch ein Kaiſer-

geſetz die testamentifactio entzogen worden, ſo wäre das

Teſtament ungültig geweſen, wegen der Unfähigkeit zur

Todeszeit. — Geſetzt, ein Peregrine hätte ein Teſtament

gemacht, und während ſeines Lebens wäre durch ein Kaiſer-

geſetz allen Peregrinen die testamentifactio verliehen worden,

ſo wäre das Teſtament ungültig geblieben, wegen der Un-

fähigkeit zur Zeit des errichteten Teſtaments.

 

2. Perſönliche Fähigkeit des Teſtators in Beziehung

auf deſſen phyſiſche Eigenſchaften.

 

Dieſe muß blos vorhanden ſeyn zur Zeit der Errichtung

des Teſtaments, alſo entſcheidet ausſchließend das zu dieſer

Zeit geltende Geſetz. Ein nach demſelben gültig gemachtes

 

(s) Chabot T. 2 p. 438. 439.

— Dagegen glaubt Meyer p.

121—131, die Unfähigkeit zur Zeit

des errichteten Teſtaments ſchade

nicht, und ſucht dieſe grundloſe

Behauptung gegen die allerdings

nicht zutreffenden Einwürfe aus

der regula Catoniana zu recht-

fertigen.

(t) Dahin gehörten früher die

Latini colonarii (Ulpian. XIX.

§ 4), und, ſeitdem es ſolche nicht

mehr gab, alle Nachkommen eines

Latinus Junianus, da das Ver-

bot der Lex Junia nur ihn ſelbſt

betraf, nicht die Nachkommen,

welche Latini ingenui waren.

|0485 : 463|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

Teſtament kann durch ein ſpäteres Geſetz nicht ungültig

werden, eben ſo aber auch umgekehrt.

So waren im älteren Römiſchen Recht Stumme un-

fähig, zu teſtiren; Juſtinian hat ihnen die Fähigkeit er-

theilt (u). Wenn nun kurz vor dieſem Geſetz ein Stummer

teſtirte, ſo wurde das Teſtament durch das neue Geſetz

dennoch nicht gültig; er konnte aber jetzt ein gültiges Te-

ſtament errichten. — Die Teſtamentsmündigkeit im weib-

lichen Geſchlecht ſetzt das Römiſche Recht auf zwölf Jahre (v),

das Preußiſche Recht auf vierzehn Jahre (w). Wenn nun

ein Mädchen von dreizehn Jahren ein Teſtament macht

unter der Herrſchaft des Römiſchen Rechts, ſo bleibt das

Teſtament gültig, auch wenn gleich nachher das Preußiſche

Geſetz eingeführt wird, und der Tod vor Vollendung des

vierzehnten Jahres erfolgt. Wird das Teſtament unter der

Herrſchaft des Preußiſchen Rechts mit dreizehen Jahren

errichtet, ſo bleibt es ungültig, ſelbſt wenn gleich darauf

das Römiſche Recht eingeführt wird.

 

3. Der Inhalt des Teſtaments richtet ſich lediglich

nach der Zeit des Todes, ſo daß das zu dieſer Zeit beſte-

hende Geſetz über die Gültigkeit des Inhalts allein ent-

ſcheidet, ohne Rückſicht auf die Vorſchriften des früheren

 

(u) L. 10 C. qui test. (6. 22).

(v) L. 5 qui test. (28. 1).

(w) A. L. R. I. 12 § 16.

|0486 : 464|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Geſetzes, ſelbſt desjenigen, unter deſſen Herrſchaft das Te-

ſtament errichtet war (x).

Anwendungen dieſer Regel, die für die Anwendung

wichtiger iſt, als alle andere, ſind folgende.

 

Pflichttheil und Präterition ſind zu beurtheilen nach dem

zur Todeszeit beſtehenden Geſetz (y). — Eben ſo die im

Franzöſiſchen Geſetzbuch verbotenen Fideicommiſſe (substitu-

tions) (z). — Eben ſo die Vulgarſubſtitution, die in

Frankreich im J. 1790 verboten, durch den code aber

wieder erlaubt wurde (aa).

 

4. Perſönliche Fähigkeit des Honorirten (Erben oder

Legatars).

 

In den bisher erörterten Fällen und Fragen mußte für

die Veränderungen in den Geſetzen genau dieſelbe Regel ange-

nommen werden, welche für die Veränderungen in den that-

ſächlichen Verhältniſſen vom Römiſchen Recht anerkannt war

(S. 451—456); denn dieſe Anerkennung hatte ſich gegründet

 

(x) Chabot T. 2 p. 367—

370, p. 382, p. 445—454, der

unter Allen dieſen Punkt am rich-

tigſten auffaßt, freilich mit Ein-

miſchung mancher Irrthümer über

das R. R. — Weber S. 96—

98 läßt das Teſtament ungültig

werden, wenn der Inhalt entwe-

der dem Geſetz zur Zeit des Te-

ſtaments, oder dem zur Zeit des

Todes widerſpricht; er behandelt

alſo dieſen Punkt ſo, wie die juri-

ſtiſche Fähigkeit des Teſtators

(Num. 1). — Bergmann § 16.

19. 51 nimmt an, nach R. R.

ſey der Inhalt blos nach dem

zur Zeit des Teſtaments gültigen

Geſetz zu beurtheilen, und die

Rückſicht auf die Todeszeit ſey

eine falſche Anſicht der franzöſiſchen

Rechtslehrer, aber auch eingedrun-

gen in ihre Geſetzgebung.

(y) Chabot T. 2 p. 225, p.

464—475.

(z) Chabot T. 2 p. 382.

Vgl. Meyer p. 132—148.

(aa) Chabot T. 2 p. 367—

370.

|0487 : 465|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

auf die allgemeine Natur des Teſtaments überhaupt, alſo

auf das innere Bedürfniß der Sache ſelbſt. Ganz anders

verhält es ſich mit der Frage wegen der perſönlichen Fähig-

keit des Honorirten, bei welcher die thatſächlichen Verän-

derungen im Römiſchen Recht nach der Regel der tria tem-

pora beurtheilt werden. Denn dieſe Beurtheilung hatte

keine innere, ſondern nur hiſtoriſche Gründe, Gründe, die

ſchon zu Juſtinian’s Zeit verſchwunden waren, und vollends

für uns gar keine Bedeutung mehr haben können. Wir

müſſen alſo hier die Analogie jener Regel des Römiſchen

Rechts ganz verlaſſen, und uns lediglich an die wahre

Natur des Teſtaments halten. Dieſe aber führt dahin,

die perſönliche Fähigkeit des Honorirten als ein zum In-

halt des Teſtaments gehörendes Stück aufzufaſſen, und

daher ausſchließend nach dem zur Todeszeit geltenden Ge-

ſetz zu beurtheilen, ohne Rückſicht auf das Recht, welches

früher, etwa zur Zeit der Errichtung des Teſtaments, ge-

golten haben mag (bb).

Daß uns in dieſer Behauptung die regula Catoniana

nicht irre machen darf, und daß wir alſo auch keine Ver-

anlaſſung haben, die Anwendbarkeit dieſer Regel auf unſre

Zeit künſtlich zu widerlegen, wie es von Manchen verſucht

worden iſt, wurde ſchon oben gezeigt. Beſonders auf die

 

(bb) Chabot T. 2 p. 462—464. ſtimmt mit dieſer Entſchei-

dung völlig überein, ohne ſich in die hier verſuchte Begründung

einzulaſſen.

VIII. 30

|0488 : 466|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Fähigkeit eines eingeſetzten Erben kann jene Regel auch

nicht einmal ſcheinbar angewendet werden (Noten p. q.).

5. Ferner kommt das Geſetz über die Form des Te-

ſtaments in Betracht, von welcher zu ſprechen bei den that-

ſächlichen Veränderungen gar keine Veranlaſſung war.

 

Die Form gehört ganz zur faktiſchen Seite des Teſta-

ments, welches daher für gültig oder ungültig gehalten

werden muß, je nachdem die angewendete Form dem da-

mals geltenden Geſetz entſprach oder nicht, ſo daß hierin

ein ſpäteres Geſetz weder zum Vortheil, noch zum Nachtheil

des Teſtaments Etwas zu aͤndern vermag (cc). Dieſe

Regel ſtimmt auch ganz mit den oben aufgeſtellten allge-

meineren Regeln überein (§ 388).

 

In Anwendung dieſer Regel muß alſo ein unter dem

Franzöſiſchen Recht gemachtes eigenhändiges Privatteſtament

gültig bleiben, auch wenn vor dem Tode des Teſtators das

Preußiſche Recht eingeführt wird, welches die Privatteſta-

mente nicht anerkennt. Umgekehrt muß ein unter dem

Preußiſchen Recht errichtetes eigenhändiges Privatteſtament

ungültig bleiben, auch wenn während der Lebenszeit des

Teſtators das Franzöſiſche Recht eingeführt wird, welches

dieſe Form der Teſtamente geſtattet (dd).

 

6. Endlich iſt noch der Fall zu erwähnen, wenn etwa

 

(cc) Chabot T. 2 p. 394—399. Weber S. 90.

(dd) Eine hierin etwas abweichende Beſtimmung des Preußiſchen

Rechts iſt ſchon oben erwähnt worden (§ 388. o), und wird abermals

im § 394. erwogen werden.

|0489 : 467|

§. 393. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

ein Geſetz die teſtamentariſche Erbfolge überhaupt auf-

heben, alſo die geſetzliche für die allein gültige erklären

ſollte; nicht als ob dieſer Fall etwa praktiſch erheblich wäre,

ſondern weil die Betrachtung deſſelben dazu dienen kann,

die ganze Anſicht der Sache mehr feſtzuſtellen.

Wird nun ein Teſtament gemacht unter der Herrſchaft

eines Geſetzes, das die Teſtamente überhaupt unterſagt,

ſo iſt und bleibt es ungültig, ſelbſt wenn vor dem Tode

ein neues Geſetz die Teſtamente wieder zulaſſen ſollte.

Dieſes muß ſchon deshalb angenommen werden, weil für

ein ſolches Teſtament keine dem gleichzeitigen Geſetz ge-

nügende Form angewendet ſeyn kann, welches doch nach

der eben aufgeſtellten Regel (Num. 5) erforderlich wäre.

 

Eben ſo iſt das Teſtament ungültig, wenn die teſtamen-

tariſche Erbfolge zur Zeit der Errichtung erlaubt, zur Zeit

des Todes, vermöge eines neuen Geſetzes, unterſagt war.

Dieſes iſt ſchon deshalb anzunehmen, weil das neue Geſetz

den ganzen Inhalt des Teſtaments entkräften wollte, die

Gültigkeit des Inhalts aber nach dem zur Zeit des Todes

beſtehenden Geſetz zu beurtheilen iſt (Num. 3). Aber auch

eine zweite, noch durchgreifendere, Anſicht führt zu dem-

ſelben Erfolg. Ein ſolches neues Geſetz betrifft eigentlich

nicht den Erwerb eines Rechts (nämlich des Erbrechts ver-

mittelſt eines Teſtaments), ſondern das Daſeyn eines ganzen

Rechtsinſtituts (der teſtamentariſchen Erbfolge), und bei

Geſetzen dieſer Art iſt von der rückwirkenden Kraft über-

haupt nicht die Rede (§ 384).

 

30*

|0490 : 468|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Am zweifelhafteſten könnte der Fall gefunden werden,

wenn zur Zeit der Errichtung und zur Zeit des Todes Te-

ſtamente geſetzlich erlaubt wären, ein vorübergehendes Ge-

ſetz der Zwiſchenzeit aber ſie einmal unterſagt hätte. Ich

würde geneigt ſeyn, auf dieſen Fall die Analogie der

Römiſchen Regel: media tempora non nocent (Note m),

anzuwenden, und das Teſtament als gültig anzuerkennen.

 

§. 394.

A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht.

(Fortſetzung).

Die zeitliche Gränze der Herrſchaft neuer Geſetze in

Anwendung auf Teſtamente iſt bisher nur noch aus allge-

meinen Geſichtspunkten, nach der Natur der Teſtamente

überhaupt, unterſucht worden, ohne Rückſicht auf die

unmittelbaren Ausſprüche poſitiver Geſetze. Das Römiſche

Recht wurde erwogen (§ 393) bei einer an ſich ver-

ſchiedenen Frage, der Frage wegen der thatſächlichen Ver-

änderungen, die in Beziehung auf die Gültigkeit der Te-

ſtamente von Einfluß ſeyn können. Von den Regeln des

Römiſchen Rechts über dieſe andere Frage wurde eine blos

analoge Anwendung verſucht auf die Löſung unſrer vor-

liegenden Aufgabe. Ich will nun unterſuchen, welche Aus-

ſprüche poſitiver Geſetzgebungen für dieſe Aufgabe ſelbſt

benutzt werden können, alſo für die Beſtimmung des Ein-

 

|0491 : 469|

§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

fluſſes, den wir neuen Geſetzen auf die Gültigkeit der Te-

ſtamente zuzuſchreiben haben.

Zuerſt ſoll das Römiſche Recht erwogen worden.

In dieſem finden wir einen allgemeinen Ausſpruch über

unſre Frage gar nicht. Der allgemeine, die rückwirkende

Kraft der Geſetze verneinende Grundſatz (§ 386) iſt für die

Teſtamente deswegen nicht ausreichend, weil dieſe nicht ſo,

wie die Verträge und Veräußerungen, einem einzelnen

Zeitpunkt angehören, ſondern mehreren Zeitpunkten (§ 393),

ſo daß es gerade zweifelhaft ſeyn kann, in welchen Be-

ziehungen das Teſtament unter die futura negotia, oder

vielmehr unter die facta praeterita (die pendentia negotia)

zu rechnen ſeyn möge.

 

Dagegen finden wir in vielen einzelnen Römiſchen Ge-

ſetzen ſehr beſtimmte tranſitoriſche Vorſchriften über die

Frage, auf welche Teſtamente gerade dieſe neuen Geſetze

angewendet oder nicht angewendet werden ſollen. Dabei

liegt nun der Gedanke ſehr nahe, daß dieſe tranſitoriſchen

Vorſchriften zugleich den Ausdruck des auf unſre Frage be-

züglichen allgemeinen, bleibenden Grundſatzes enthalten

müßten, und unter dem Einfluß dieſer Vorausſetzung haben

neuere Schriftſteller ſehr häufig ihre Theorie ausgebildet.

Aber gerade dieſe Vorausſetzung iſt ſehr bedenklich, und

für manche einzelne Fälle erweislich falſch. Denn die tran-

ſitoriſche Vorſchrift kann im Einzelnen hervorgegangen ſeyn,

nicht ſowohl aus der Ueberzeugung, daß es nach allgemeinen

Grundſätzen ſo ſeyn müſſe, weil es der Natur der Teſta-

 

|0492 : 470|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

mente angemeſſen ſey, als vielmehr aus ſchonender Rückſicht

auf beſtehende Thatſachen; dann aber iſt die tranſitoriſche

Vorſchrift nicht Ausdruck einer als wahr anerkannten Regel,

ſondern vielmehr einer ſchonenden Ausnahme von der Regel.

Dieſe Abſicht der Geſetzgeber iſt nicht nur überhaupt möglich,

ſondern gerade hier in mehreren Fällen unzweifelhaft vor-

handen. Wir werden alſo die einzelnen tranſitoriſchen Vor-

ſchriften des Römiſchen Rechts über das Recht der Teſta-

mente, welche nunmehr der Reihe nach angegeben werden

ſollen, mit den oben aufgeſtellten allgemeinen Grundſätzen

(§ 393) zu vergleichen haben, um bei jeder dieſer Vor-

ſchriften zu erkennen, ob ſie als anerkennender Ausdruck

der Regel, oder vielmehr als Ausnahme von der Regel,

anzuſehen ſeyn möge.

1. Eine ſolche tranſitoriſche Vorſchrift findet ſich in der

Lex Falcidia, welche im erſten Kapitel ſo lautet (a):

Qui cives Romani sunt, qui eorum post hanc

Legem rogatam testamentum facere volet, ut

eam pecuniam etc.

 

Dieſe Beſtimmung, welche dann im zweiten Kapitel

wörtlich wiederholt wird, beſchränkt die Anwendung des

Geſetzes auf künftig zu errichtende Teſtamente, ſo daß die

 

(a) L. 1 pr. ad L. Falc.

(35. 2). — Eine ähnliche tran-

ſitoriſche Beſtimmung erwähnt

Cicero (in Verrem I. 41. 42)

von der L. Voconia (qui here-

dem fecerit), die aber Ver-

res durch ſein unredliches Edict

in rückwirkende Kraft umgewan-

delt habe durch die Worte: fecit,

fecerit.

|0493 : 471|

§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

ſchon errichteten, auch wenn die Teſtatoren noch lebten,

davon frei ſeyn ſollten.

Darin liegt eine Ausnahme unſrer Regeln. Denn da

die Beſtimmung des Geſetzes den Inhalt des Teſtaments

betraf, ſo hätte daſſelbe eigentlich angewendet werden müſſen

auf alle Teſtamente, deren Urheber ſpäter ſtarben (§ 393

Num. 3), auch wenn ſie damals ſchon errichtet waren.

Man wollte alſo den lebenden Teſtatoren die Mühe er-

ſparen, ihre ſchon gemachten Teſtamente mit dem neuen

Geſetz zu vergleichen und danach nöthigenfalls umzuändern,

zugleich auch die Gefahr, die aus der Vernachläſſigung

dieſer Vorſicht für die vollſtändige Gültigkeit des Teſtaments

entſtehen konnte. Dieſe Schonung war aber deswegen

natürlich und löblich, weil es in der That dem Geſetzgeber

ſehr gleichgültig ſeyn konnte, ob das Geſetz einige Jahre

früher oder ſpäter ausſchließende Anwendung erhielte.

 

Es muß aber noch beſonders darauf aufmerkſam gemacht

werden, daß dieſes Geſetz nicht etwa die Abſicht und die

Folge hatte, eine bis dahin unbeſchränkte Freiheit der Te-

ſtatoren in Beziehung auf Legate zu beſchränken, ſondern

vielmehr die ganz anderen, für manche Fälle ſtrengeren,

Beſchränkungen der Lex Furia und der Lex Voconia durch

eine neue, zweckmäßigere, zu erſetzen (b). Die Meinung

ging alſo dahin, daß auf die ſchwebenden Teſtamente die

 

(b) Gajus II. § 224—227.

|0494 : 472|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Lex Furia und Lex Voconia, auf die künftigen lediglich

die Lex Falcidia, angewendet werden ſollten.

2. Im J. 531 verordnete Juſtinian, jede Erbein-

ſetzung ſolle nur gültig ſeyn, wenn der Teſtator den Namen

des Erben mit eigener Hand ſchreibe oder vor den Zeugen

mündlich ausſpreche. Dieſe Vorſchrift ſolle aber nur ange-

wendet werden auf künftige Teſtamente, nicht auf ſchon

errichtete (c). — In dieſer tranſitoriſchen Vorſchrift lag

eine reine Anwendung der oben aufgeſtellten Grundſätze,

indem das neue Geſetz lediglich die Form des Teſtaments

betraf (§ 393 Num. 5). Allein drei Jahre ſpäter (534)

wurde jenes Geſetz in den neueſten Codex aufgenommen,

und zwar mit dem ſo eben angeführten tranſitoriſchen Zu-

ſatz. Darin lag alſo die Vorſchrift, daß die in den ver-

floſſenen drei Jahren (zwiſchen 531 und 534) gemachten

Teſtamente, auf die eigentlich das Geſetz ſchon anwendbar

geweſen wäre, davon frei ſeyn ſollten, alſo gewiſſermaßen

eine Amneſtie für die in dieſen Teſtamenten etwa began-

gene Vernachläſſigung des Geſetzes. Man könnte dieſe

auffallende Wiederholung der tranſitoriſchen Vorſchrift viel-

leicht für ein bloßes Verſehen halten wollen; allein Juſti-

nian ſelbſt hat dieſelbe in einem ſpäteren Geſetz für ab-

ſichtlich erklärt, gegründet auf die Wahrnehmung, daß das

neue Geſetz urſprünglich nicht genug bekannt geworden ſey,

 

(c) L. 29 C. de test. (6. 23). — Dieſe ganze Beſtimmung hat

nur noch ein hiſtoriſches Intereſſe, da ſie nach wenigen Jahren wieder

aufgehoben wurde. Nov. 119 C. 9 (von 544).

|0495 : 473|

§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

welchem Mangel erſt die Aufnahme in den neuen Codex

abgeholfen habe (d).

3. Der Pflichttheil betrug nach altem Recht ein Vier-

theil der Inteſtatportion; Juſtinian erhöhte ihn nach

Verſchiedenheit der Umſtände auf ein Drittheil oder die

Hälfte (e). Da dieſes Geſetz den Inhalt des Teſtaments

betraf, hätte es auch auf die ſchon errichteten Teſtamente

angewendet werden müſſen. Juſtinian aber verordnete,

daß es erſt auf künftige Teſtamente angewendet werden

ſollte, worin alſo wieder eine ſchonende Ausnahme lag (f).

 

4. Durch Kaiſerconſtitutionen wurde die Befugniß eines

Vaters, ſeine Concubinenkinder durch letzten Willen zu

bedenken, auf mancherlei abwechſelnde Weiſe beſchränkt (g).

Eines dieſer beſchränkenden Geſetze geht dahin, daß ſolche

Kinder, wenn keine eheliche Kinder vorhanden wären, die

Hälfte des Vermögens bekommen dürften. Es wurde aber

hinzugefügt, dieſe Beſtimmung ſolle nur angewendet werden

auf künftig zu errichtende Teſtamente (h). Darin lag

wieder eine Ausnahme, indem das Geſetz den Inhalt des

Teſtaments betraf, alſo eigentlich auf ſchwebende Teſtamente

anwendbar geweſen wäre.

 

5. Durch die L. Julia und die L. Papia Poppaea war

unter K. Auguſtus die ſehr verwickelte Caducität der

 

(d) Nov. 66 C. 1 § 1.

(e) Nov. 18 (von 536).

(f) Nov. 66 C. 1 § 2—5 (von 538).

(g) Göſchen Vorleſungen III. 2 § 793.

(h) L. 8 C. de natur. lib. (5. 27), von Juſtinian 528.

|0496 : 474|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Erbſchaften und Legate eingeführt worden. Dieſes Rechts-

inſtitut, welches durch viele ſpätere Geſetze umgebildet

war, wurde von Juſtinian im J. 534 gänzlich aufge-

hoben, jedoch mit dem Zuſatz, daß dieſes neue Recht erſt

auf die künftig zu errichtenden Teſtamente angewendet

werden ſollte (i). Auch darin lag wieder eine Ausnahme

von den aufgeſtellten Regeln, da das neue Geſetz den In-

halt des Teſtaments zum Gegenſtand hatte.

Das Preußiſche Recht enthält über unſre Frage nur

wenig bleibende, für alle Zeiten gültige Beſtimmungen, und

auch dieſe beantworten die Frage nicht unmittelbar, ſondern

können dafür nur durch Folgerungen benutzt werden. Es

wird zweckmäßiger ſeyn, dieſe erſt am Schluß zu erwähnen.

 

Dagegen iſt unſre Geſetzgebung reich an tranſitoriſchen

Beſtimmungen über Teſtamente, die alſo keinen allgemeinen

bleibenden Grundſatz ausſprechen, ſondern bei Gelegenheit

einzelner Einführungsakte die Behandlung der Teſtamente

beſtimmen, darin alſo höchſtens, und nicht immer, einen

allgemeinen Grundſatz durchblicken laſſen.

 

Die Reihe dieſer tranſitoriſchen Vorſchriften iſt folgende

(§ 383).

 

(i) L. un. § 15 C. de cad. toll. (6. 51).

|0497 : 475|

§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

Das Einführungspatent des Allg. Landrechts von 1794

verordnet im § 12, daß alle damals errichtete Teſtamente

„nach den Vorſchriften der ältern Geſetze durchgehends

beurtheilt werden ſollen, wenngleich das Ableben des Te-

ſtators erſt ſpäter erfolgte.“ Durchgehends, alſo in

Anſehung der Form und des Inhalts. Das erſte iſt eine

reine Anwendung der oben aufgeſtellten Grundſätze; das

zweite iſt eine ſchonende Ausnahme von dieſen Grundſätzen

(§ 393 Num. 3), ähnlich den vielen ſo eben angeführten

Ausnahmen in Römiſchen Geſetzen.

 

Die drei Patente von 1803 ſtimmen damit im § 6

wörtlich überein.

 

Eine nach zwei Seiten neue Wendung findet ſich in

dem für die Provinzen jenſeits der Elbe erlaſſenen Patent

von 1814 (k).

 

Die erſte neue Beſtimmung ſchließt ſich abändernd an

die eben angeführten älteren Vorſchriften.

 

§ 6. Alle Teſtamente und letztwillige Verord-

nungen, welche vor dem 1. Januar 1815

errichtet worden, müſſen, in Rückſicht

ihrer Form, durchgehends nach den Vor-

ſchriften der älteren Geſetze beurtheilt wer-

den, wenngleich das Ableben des Erblaſ-

ſers erſt ſpäter erfolgt ſeyn ſollte.

Der Zuſatz: in Rückſicht ihrer Form, der in den

früheren Patenten ganz fehlt, ſoll augenſcheinlich den Ge-

 

(k) Geſetzſammlung 1814 S. 89—96.

|0498 : 476|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

genſatz ausdrücken gegen die Rückſicht ihres Inhalts,

ſoll alſo andeuten, daß der Inhalt vielmehr nach dem neuen

Geſetz (nach dem Geſetz zur Zeit des Todes) beurtheilt

werden ſolle. Darin liegt alſo die Anerkennung der oben

aufgeſtellten Regeln über die auf die Form und den In-

halt der Teſtamente anwendbaren Geſetze (l).

Die zweite neue Beſtimmung wird weiter unten nach-

geholt werden.

 

Die eben erwähnte neue Beſtimmung wurde ausführ-

licher und genauer ausgedrückt in dem Patent für Weſt-

preußen von 1816 (§ 383).

 

§ 8. Alle Teſtamente ..... ſind in Rückſicht

ihrer Form durchgehends nach den Vor-

ſchriften der älteren Geſetze zu beurtheilen.

Auch der Inhalt der Teſtamente iſt

gültig, in ſofern nicht Prohibitiv-

geſetze zur Zeit des Erbanfalles

ihm entgegen ſtehen. In letzterer

Rückſicht iſt insbeſondere die Lehre

von der Erbfähigkeit der inſtituir-

ten Erben und vom Pflichttheil

nach den zur Zeit des Erbanfalles

geltenden Geſetzen zu beurtheilen.

Mit dieſer letzten Faſſung ſtimmen die ſpäter erlaſſenen

tranſitoriſchen Geſetze wörtlich überein.

 

(l) Bergmann S. 565 nimmt irrig an, es liege darin keine

Abweichung von den älteren Patenten.

|0499 : 477|

§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

Hier wird nun auf ganz unzweifelhafte Weiſe für die

Anwendbarkeit verſchiedener Geſetze zwiſchen Form und In-

halt unterſchieden; bei den Geſetzen über die Form ſoll die

Zeit des errichteten Teſtaments, bei denen über den Inhalt

die Todeszeit berückſichtigt werden, und zu dieſer zweiten

Klaſſe werden ganz richtig die Geſetze über die perſönliche

Fähigkeit des Honorirten gerechnet. Damit iſt demnach

die ganze Reihe der oben aufgeſtellten Regeln als rich-

tig anerkannt, nur mit Ausnahme der Geſetze über die

perſönliche Fähigkeit des Teſtators, worüber gar Nichts

geſagt iſt.

 

Unter den wieder gewonnenen Landestheilen aber fan-

den ſich drei, in denen bis zu dieſem Zeitpunkt Franzöſi-

ſches Recht gegolten hatte, in welchen man alſo darauf

rechnen mußte, ſchwebende Teſtamente vorzufinden, die

theils auf der eigenhändigen Schrift des Teſtators, theils

auf notarieller Beglaubigung beruhten. Dieſes wurde für

zu gefährlich gehalten, und daher wurde in dieſen Landes-

theilen neben jener allgemeinen Beſtimmung, und theilweiſe

von ihr abweichend, die beſondere Vorſchrift aufgenommen,

daß ſolche ſchwebende Teſtamente nur noch Ein Jahr lang

gültig bleiben ſollten. Binnen dieſem Jahr ſollte der Teſta-

tor ein neues Teſtament nach der Form des Landrechts (alſo

gerichtlich) machen. Wenn der Teſtator nach Ablauf jenes

Jahres ſterben ſollte ohne neues Teſtament, ſo ſollte das

vorgefundene wirkungslos ſeyn, wenn nicht bewieſen werden

könne, daß er an der Errichtung eines neuen Teſtaments

 

|0500 : 478|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

fortwährend verhindert geweſen ſey (m). — In dieſer ganz

eigenthümlichen Beſtimmung iſt nun augenſcheinlich der

Ausdruck eines allgemeinen, bleibenden Grundſatzes nicht

enthalten, ſondern nur die Nothhülfe für einen einzelnen

Fall. Auch findet ſich in den übrigen tranſitoriſchen Ge-

ſetzen eine ähnliche Beſtimmung gar nicht.

Unabhängig von dieſen tranſitoriſchen Vorſchriften ent-

hält nun aber das Landrecht ſelbſt folgende bleibende Be-

ſtimmungen, die zur Entſcheidung unſerer die Teſtamente

betreffenden Frage benutzt werden können (S. 474).

 

A. Wenn ein Rechtsgeſchäft durch die dabei beobach-

teten Formen zwar nicht dem Geſetz, unter welchem es

gemacht wurde, wohl aber einem ſpäteren Geſetz, ge-

nügt, ſo ſoll es ausnahmsweiſe aufrecht erhalten

werden (n).

 

Dieſe Vorſchrift geht gar nicht beſonders auf Teſta-

mente, ſondern auf Rechtsgeſchäfte überhaupt, alſo aller-

dings auch auf Teſtamente, und weicht bei dieſen von den

oben aufgeſtellten Regeln ab. Sie iſt übrigens für den

Fall der neuen Einführung des Landrechts bei Teſtamenten

ganz unerheblich, weil ſich kaum denken läßt, daß irgend-

wo eine ſtrengere Form für Teſtamente, als die landrecht-

liche, eingeführt ſein ſollte, ſo daß, dieſer ſtrengeren Form

 

(m) Provinzen jenſeits der

Elbe (1814) § 7. Weſtpreußen

(1816) § 9. Poſen (1816) § 9,

ſ. o. § 383.

(n) A. L. R. Einl. § 17, ſ. o.

§ 388. c. Von dem ſehr bedenk-

lichen Inhalt dieſer Vorſchrift iſt

eben daſelbſt gehandelt worden.

|0501 : 479|

§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

gegenüber, das Teſtament durch die ſpäter eingeführte land-

rechtliche, als die weniger ſtrenge Form, aufrecht erhalten

werden könnte. Jene Vorſchrift würde daher eine praktiſche

Wichtigkeit erſt dann erhalten, wenn künftig einmal im

Preußiſchen Staat irgend eine leichtere Form der Teſta-

mente, etwa die des Franzöſiſchen Rechts, eingeführt wer-

den ſollte.

B. Die perſönliche Fähigkeit des Teſtators ſoll nach

der Zeit des errichteten Teſtaments beurtheilt werden (o).

Dieſe Vorſchrift bezieht ſich jedoch, wie die folgenden Sätze

zeigen, auf Veränderungen in den Thatſachen, nicht in den

Geſetzen, und kann daher nur durch Analogie auf Verän-

derungen in den Geſetzen angewendet werden. Einzelne

Anwendungen werden nun in folgender Weiſe gemacht.

 

a. Die natürliche Unfähigkeit zur Zeit des Teſtaments

macht das Teſtament ungültig, ſelbſt wenn der

damalige Mangel ſpäter gehoben wird, z. B. durch

das erreichte reifere Alter (p). Dieſer Satz ſtimmt

mit unſern Regeln überein.

b. Die auf Rechtsgründen zur Zeit des Teſtaments

beruhende Unfähigkeit verliert ihren nachtheiligen

Einfluß, wenn der Mangel ſpäter gehoben wird (q).

Darin liegt eine Abweichung von unſern Regeln

(§ 393 Num. 1).

(o) A. L. R. I. 12 § 11.

(p) A. L. R. I. 12 § 12.

(q) A. L. R. I. 12 § 13.

|0502 : 480|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

c. War ungekehrt der Teſtator zur Zeit des errichte-

ten Teſtaments fähig, verliert aber dieſe Fähigkeit

ſpäterhin zur Strafe einer geſetzwidrigen Hand-

lung, ſo wird das Teſtament ungültig (r). Stimmt

mit unſern Regeln überein.

C. „Bei Beurtheilung der Fähigkeit eines Erben oder

Legatarii muß auf die Zeit des Erbanfalls geſehen wer-

den.“ (s). — Auch dieſe Beſtimmung iſt, ſo wie die vori-

gen, gewiß nur von thatſächlichen Veränderungen in der

Perſon gemeint, kann aber durch Analogie unbedenklich

auch auf Veränderungen in der Geſetzgebung angewendet

werden, und ſtimmt in dieſer Anwendung mit unſern Re-

geln völlig überein.

 

Das Oeſterreichiſche Geſetzbuch enthält keine tran-

ſitoriſche Beſtimmung über Teſtamente beſonders, wohl aber

die allgemeine Vorſchrift, daß das neue Geſetzbuch auf vor-

hergegangene Handlungen keinen Einfluß haben ſoll,

auch wenn dieſe Handlungen in ſolchen Willenserklärungen

beſtehen, die von dem Erklärenden noch eigenmächtig abge-

ändert, und nach den in dem gegenwärtigen Geſetzbuche

enthaltenen Vorſchriften eingerichtet werden könnten (t). —

 

(r) A. L. R. I. 12 § 14.

(s) So lautet wörtlich A. L. R. I. 12 § 43.

(t) Wörtlich aus dem Einführungspatent von 1811 S. 5. 6.

|0503 : 481|

§. 394. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

Damit ſind augenſcheinlich die Teſtamente bezeichnet, und

es liegt in dieſen Worten völlig dieſelbe Vorſchrift, welche

oben aus dem Preußiſchen Einführungspatent von 1794

§ 12 angeführt, und mit unſern Regeln verglichen wor-

den iſt.

Die Meinungen der wichtigſten Schriftſteller ſind ſchon

oben bei den einzelnen Fragen angegeben worden. Weber

fehlt hauptſächlich darin, daß er die Rechtsgültigkeit des

Inhalts des Teſtaments abhängig macht von der Ueberein-

ſtimmung mit den Geſetzen beider Zeitpunkte, während

Bergmann hierin die Zeit des errichteten Teſtaments,

und zwar dieſe allein, mit Unrecht berückſichtigen will.

Chabot hat hierin richtigere Anſichten, als beide (§ 393. x).

Alle aber ſind mehr oder weniger durch folgende Fehler in

mannichfaltige Irrthümer gerathen.

 

Sie haben nicht genug unterſchieden zwiſchen den Ver-

änderungen, welche in den thatſächlichen Verhältniſſen,

und denen, welche durch neue Geſetze eintreten können; eben

ſo zwiſchen den natürlichen Mängeln, und den geſetzlichen

Vorſchriften, wodurch die perſönliche Fähigkeit des Teſta-

tors gehindert ſeyn kann. Sie haben im Römiſchen Recht

die wahren Gründe mancher Beſtimmungen (beſonders der

tria tempora) verkannt, und dagegen mit Unrecht andere,

unpaſſende, Gründe untergeſchoben, wohin beſonders die

regula Catoniana gehört. Ganz vorzüglich aber haben ſie

 

VIII. 31

|0504 : 482|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

einzelne tranſitoriſche Vorſchriften des Römiſchen Rechts

generaliſirt, und darin den Ausdruck allgemeiner, bleibender

Grundſätze über das Verhältniß alter und neuer Geſetze

bei Teſtamenten angenommen, ganz gegen die Abſicht der

Urheber dieſer Vorſchriften.

§ 395.

A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen. IV. Erbrecht.

(Fortſetzung.)

II. Die Inteſtaterbfolge hat weit einfachere Ver-

hältniſſe, als die teſtamentariſche, da bei ihr nicht zwei,

oft ſehr entlegene Thatſachen (Errichtung des Teſtaments

und Erbanfall) in Betracht kommen. Darin aber ſtehen

beide Fälle einander gleich, daß auch bei der Inteſtaterb-

folge ſowohl thatſächliche Verhältniſſe mit ihren Verände-

rungen, als neue Geſetze, zu beachten ſind, und daß über

jene das Römiſche Recht genaue Regeln aufgeſtellt hat,

deren Analogie dann bei dem Fall neuer Geſetze zu be-

nutzen iſt.

 

Die perſönliche Fähigkeit des Verſtorbenen, eine In-

teſtaterbſchaft zu hinterlaſſen, iſt zu beurtheilen nach der

Zeit des Todes. Das Römiſche Recht erfordert die Civität

in dem Sinn, daß nur bei dem Tod eines Römiſchen Bür-

gers die Regeln der Römiſchen Inteſtaterbfolge zur Anwen-

dung kommen konnten, anſtatt daß die im Römiſchen Staat

ſterbenden Ausländer nach dem Recht ihrer Heimath beerbt

 

|0505 : 483|

§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

wurden. Ein Römer, der eine magna capitis deminutio

erlitten hatte (ein Deportirter, oder ein servus poenae),

konnte ohnehin keine Erbſchaft hinterlaſſen; was er hatte,

oder zu haben ſchien, gehörte dem Fiscus.

Die perſönliche Fähigkeit, zu irgend einer Inteſtaterb-

ſchaft berufen zu werden, beruhte auf derſelben Bedingung

der Civität; die magna capitis deminutio machte dazu un-

fähig, während die minima kein unbedingtes Hinderniß war,

ſondern nur gewiſſe Anſprüche auf Inteſtaterbfolge, die auf

Agnation gegründeten, aufhob (a). Dieſe Fähigkeit mußte

gewiß vorhanden ſeyn zur Zeit des Erbanfalls, aber auch

zur Zeit des Erwerbs, ja ſogar in der ganzen Zwiſchen-

zeit, da jede in dieſer Zeit eintretende Unfähigkeit eines

berufenen Inteſtaterben deſſen Erbantheil ſogleich irgend

einer anderen Perſon, ſey dieſe neben ihm oder hinter ihm

berufen, deferirt (§ 393. m). Dieſe Regeln gelten auf

gleiche Weiſe, es mag eine die Erbfähigkeit aufhebende

Veränderung bewirkt worden ſeyn durch neue thatſächliche

Verhältniſſe, oder durch ein neues Geſetz.

 

Das Wichtigſte aber und zugleich das Schwierigſte iſt

das perſönliche Verhältniß des Inteſtaterben zum Erblaſſer,

welches vorzugsweiſe in Verwandtſchaft beſteht. Dieſes

Verhältniß iſt entſcheidend ſowohl für den Erbanſpruch

jedes Einzelnen überhaupt, als über die beſtimmte Stelle,

welche derſelbe in der Reihefolge ſämmtlicher für dieſen

 

(a) L 1 § 4. 8 ad Sc. Tert. (38. 17).

31*

|0506 : 484|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Erbanfall denkbaren Erben einzunehmen hat. Dieſes per-

ſönliche Verhältniß nun muß beurtheilt werden nach der

Zeit des Erbanfalls, welche meiſt, jedoch nicht immer,

zuſammenfällt mit der Zeit des Todes.

Dabei ſind zu berückſichtigen die zwei Arten von Ver-

änderungen, die in dieſer Hinſicht eintreten können.

 

A. Veränderungen in den thatſächlichen Ver-

hältniſſen.

 

Gleichgültig, ohne allen Einfluß, ſind die Zuſtände und

Veränderungen vor dem Tode des Erblaſſers. Zwar kön-

nen auch in dieſer Zeit ſehr beſtimmte und wahrſcheinliche

Erwartungen entſtanden ſeyn. Auf die Inteſtaterbſchaft

eines reichen eheloſen Mannes, der in vorgerückten Jahren

ſtand, können nahe Verwandte mit großer Sicherheit ge-

rechnet haben, und dieſe Erwartung kann durch eine ſpäte

Ehe mit Kindern vereitelt worden ſeyn. Allein bloße Er-

wartungen ſind ja überhaupt nicht durch Rechtsregeln zu

ſchützen, und jene Verwandte mußten die Möglichkeit die-

ſer Veränderung, eben ſo wie die eines Teſtaments, be-

denken.

 

Um aber der genauen Beſtimmung des entſcheiden-

den Zeitpunktes näher zu rücken, ſind zunächſt zwei

vorläufige, gewiſſermaßen blos verneinende, Regeln zu be-

achten.

 

1. Als Inteſtaterbe kann Niemand betrachtet werden,

der erſt nach dem Tode des Erblaſſers erzeugt iſt. Die

Grundbedingung alſo beſteht darin, daß ein Inteſtaterbe

 

|0507 : 485|

§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

während des Lebens des Erblaſſers geboren oder wenigſtens

erzeugt war (b).

2. Wenn ein zur Erbſchaft Berufener dieſelbe aus-

ſchlägt, oder vor ihrem Erwerbe ſtirbt, ſo ſcheint es natür-

lich, daß in Folge dieſer thatſächlichen Veränderung der

zunächſt nach ihm Berufene an ſeine Stelle trete, welches

eine successio (ordinum, graduum) genannt wird. Dieſe

successio ließ man jedoch im alten Civilrecht nicht zu, in-

dem man ſich ängſtlich an den Buchſtaben der Zwölf Tafeln

anſchloß; der Prätor ließ dieſelbe in den von ihm neu ein-

geführten Klaſſen der Erbfolge zu (c). Juſtinian aber

hat dieſelbe allgemein zugelaſſen (d).

 

Dieſe zwei vorläufige Regeln vorausgeſetzt, haben wir

jetzt genauer den Zeitpunkt zu beſtimmen, nach deſſen that-

ſächlichen Verhältniſſen die Inteſtaterbfolge zu regeln iſt.

Als dieſen Zeitpunkt können wir allgemein angeben den

Erbanfall, welcher jedoch nach Umſtänden in zwei ver-

ſchiedenen Zeitpunkten eintreten kann.

 

Wir haben in dieſer Hinſicht zwei Fälle zu unter-

ſcheiden.

 

Der erſte Fall iſt der, wenn ein Teſtament vorhanden

iſt, und nur durch deſſen Entkräftung die Inteſtaterbfolge

 

(b) § 8 J. de her. quae ab

int. (3. 1), L. 6. 7. 8 pr. de suis

(38. 16). — Ueber die Gleich-

ſtellung des nasciturus mit dem

natus vgl. oben B. 2 § 62.

(c) Gajus III. § 12. 22. 28.

Ulpian. XXVI. § 5.

(d) § 7 J. de legit. agnat.

succ. (3. 2).

|0508 : 486|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

eröffnet wird. Dann iſt die Zeit dieſer Entkräftung als

Zeit des Erbanfalls zu betrachten. Dieſes tritt ein, wenn

ein zur Erbſchaft berufener Teſtamentserbe die Erbſchaft

ausſchlägt, wenn er vor Antretung derſelben ſtirbt, wenn

die Erbeinſetzung an eine Bedingung geknüpft iſt, und dieſe

Bedingung vereitelt wird. Es wird aber in allen dieſen

Fällen vorausgeſetzt, daß nicht andere Teſtamentserben da-

neben ſtehen, durch welche das Teſtament aufrecht erhalten

wird. — Der Erbanfall alſo tritt in jenen Fällen ein im

Zeitpunkt der Ausſchlagung, oder des Todes des Teſtaments-

erben, oder der vereitelten Bedingung; von jeder dieſer

Thatſachen kann man behaupten, durch ſie werde es gewiß,

daß keine teſtamentariſche Erbfolge eintreten werde, und da-

durch werde alſo die Inteſtaterbfolge eröffnet.

Der zweite Fall iſt der, wenn ein Teſtament nicht vor-

handen iſt. Dann iſt der Erbanfall unbedingt in den Zeit-

punkt des Todes zu ſetzen, in keinen anderen, keinen ſpäteren

Zeitpunkt, an welchen man etwa denken könnte.

 

Genau ſo wird dieſe wichtige Frage entſchieden in fol-

gender Stelle der Inſtitutionen (e):

Proximus autem, siquidem nullo testamento facto

quisquam decesserit, per hoc tempus requiritur,

quo mortuus est is, cujus de hereditate quaeri-

 

 

(e) § 6 J. de legit. adgnat. succ. (3. 2). — Für den erſten

Fall (des entkräfteten Teſtaments) finden ſich viele Beſtätigungen:

Gajus III. § 13, L. 1 § 8, L. 2 § 5, L. 5 de suis (38. 16).

|0509 : 487|

§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

tur. Quod si facto testamento quisquam deces-

serit, per hoc tempus requiritur, quo certum

esse coeperit, nullum ex testamento heredem ex-

stiturum; tunc enim proprie quisque intestato

decessisse intelligitur.

Wir bleiben jetzt bei dem zweiten Falle ſtehen, in welchem

kein Teſtament vorhanden iſt. Durch die ausgeſprochene

Regel werden wir angewieſen, die berufenen und nicht be-

rufenen Inteſtaterben zu beſtimmen lediglich nach dem per-

ſönlichen Verhältniß, welches zur Zeit des Todes wahrzu-

nehmen war. Man möchte vielleicht ſagen, dieſes ſey keine

poſitive Anweiſung, es verſtehe ſich von ſelbſt, indem an

irgend einen ſpäteren Zeitpunkt gar nicht gedacht werden

könne. Eine ſolche Auffaſſung würde ganz unrichtig ſeyn.

Die ſo eben bei den Teſtamentserben angegebenen Fälle

können großentheils auch bei den zunächſt berufenen In-

teſtaterben eintreten. Mehrere derſelben können ausſchlagen,

können vor der Antretung ſterben; was ſoll dann mit den

ihnen angebotenen Erbtheilen geſchehen?

 

Hier ſind zwei Behandlungen möglich. Man kann

erſtlich bei der durch die Todeszeit beſtimmten Vertheilung

ſtehen bleiben, und den vacant gewordenen Erbtheil, ſo

lange es möglich iſt, darauf zurück führen. Dann wird

dieſer Erbtheil den Mitberufenen durch jus accrescendi zu-

fallen, und nur, wenn ſolche Mitberufene nicht vorhanden

ſind, alſo nur als Aushülfe, wird die successio ordinum

oder graduum eintreten. — Man kann aber auch zweitens

 

|0510 : 488|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

den umgekehrten Weg einſchlagen, den jetzigen Zeitpunkt,

in welchem der Erbtheil vacant wurde, als Zeitpunkt des

Erbanfalls betrachten, und hiernach die Inteſtaterbfolge neu

reguliren. Dann wird die successio ordinum oder gra-

duum voran ſtehen, das jus accrescendi vielleicht als Aus-

hülfe angewendet werden.

Nach dem oben aufgeſtellten Grundſatz müſſen wir un-

bedenklich die erſte Behandlung vorziehen, alſo die Zeit des

Todes als den bleibenden Zeitpunkt des Erbanfalls behan-

deln, auch wenn eine ſpäter eintretende thatſächliche Ver-

änderung eine nachträgliche Vertheilung nöthig machen

ſollte. Oder mit anderen Worten: In der Colliſion des

jus accrescendi mit der Successio graduum muß das jus

accrescendi den Vorzug erhalten (f).

 

B. Veränderungen in der Geſetzgebung.

 

Wir haben hier, ſo wie bei den Teſtamenten (§ 393),

 

(f) Dieſe Frage bildet den

Gegenſtand einer alten, berühm-

ten Controverſe. Die hier vor-

getragene Meinung wird ver-

theidigt von Göſchen Vorleſun-

gen III. 2 § 929, und Bau-

meiſter Anwachſungsrecht unter

Miterben § 5. § 7. — Ein ſchein-

barer Zweifel entſteht aus L. 1

§ 10. 11 L. 2 ad Sc. Tert.

(38. 17), worin allerdings die Re-

gulirung nach der ſpäteren Zeit,

in welcher der zunächſt Berufene

ausſchlägt, anerkannt wird. Allein

nach der deutlichen Erklärung die-

ſer Stellen liegt darin nicht die

Anwendung eines allgemeinen

Grundſatzes, ſondern eine beſon-

dere Vorſchrift für das Verhält-

niß des neu erfundenen Civilerb-

rechts zwiſchen Mutter und Kin-

dern zu dem jus antiquum der

Agnaten. Man wollte verhindern,

daß, durch das Ausſchlagen der

Mutter oder des Kindes, die

Agnaten, unter denen keine suc-

cessio graduum galt, vielleicht

alles Erbrecht verlieren möchten,

ganz gegen die Abſicht der Sena-

tusconſulte.

|0511 : 489|

§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

die Analogie der für die thatſächlichen Veränderungen gege-

benen Vorſchriften zu befolgen, und wir können es hier

ganz unbedenklich, da jene Vorſchriften ganz als der Aus-

druck allgemeiner, bleibender Grundſätze anzuſehen ſind, ſo

daß dabei nicht, wie bei den Teſtamenten, theilweiſe blos

zufällige, hiſtoriſche Anſichten eingewirkt haben.

Halten wir uns ganz an dieſe Analogie, ſo werden wir

dadurch zu folgenden Regeln über die Einwirkung neuer

Geſetze auf die Inteſtaterbfolge geführt.

 

1. Ein neues Geſetz, erlaſſen vor dem Erbanfall,

muß ſtets auf den einzelnen Fall in der Inteſtaterbfolge

einwirken.

 

2. Als Zeitpunkt des Erbanfalls iſt zu betrachten:

 

a. Wenn kein Teſtament vorhanden iſt, die To-

deszeit.

b. Wenn ein Teſtament vorhanden iſt, der Zeit-

punkt, in welchem es zur Gewißheit wird,

daß eine teſtamentariſche Erbfolge nicht

eintritt.

3. Ein nach dem Erbanfall erlaſſenes Geſetz hat

keinen Einfluß, ſelbſt wenn es in der Zwiſchenzeit zwiſchen

dem Erbanfall und dem Antritt der Erbſchaft erſcheint.

Dieſer letzte Satz wird von den meiſten Rechtslehrern an-

erkannt (g), von manchen aber beſtritten (h).

 

(g) Weber S. 96. Chabot

T. 1 p. 379. („au moment de

l’ouverture de la succession“).

(h) Heiſe und Cropp juri-

ſtiſche Abhandlungen, B. 2 S.

123—124, 130—132.

|0512 : 490|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Der Widerſpruch gegen denſelben gründet ſich haupt-

ſächlich auf folgende Verwechſelung. Man ſagt, der

Grundſatz der Nichtrückwirkung der Geſetze bezwecke blos

die Erhaltung erworbener Rechte. Der berufene Erbe aber

habe durch den Erbanfall (die Delation) noch gar kein

Recht erworben, ein ſolcher Erwerb trete für ihn ein erſt

durch den Antritt der Erbſchaft, und bis zu dieſer könne

daher ein neues Geſetz die Erbfolge ändern, ohne ſich einer

fehlerhaften Rückwirkung ſchuldig zu machen; beide Mo-

mente (Anfall und Erwerb) fielen nur ausnahmsweiſe zu-

ſammen, bei dem Suus heres, der ipso jure die Erbſchaft

erwerbe.

 

Allein durch den bloßen Anfall der Erbſchaft iſt dem

berufenen Erben ein wirkliches Recht in der That ſchon

erworben, und zwar ohne ſein Zuthun, ſelbſt ohne ſein

Wiſſen: das ausſchließende Recht nämlich, die deferirte

Erbſchaft anzutreten und dadurch in ſein Vermögen zu ver-

wandeln, oder aber nach Gutdünken auszuſchlagen. Dieſes

iſt ein wahres, erworbenes Recht, eben ſo ſehr, wie jedes

andere, durch den Grundſatz der rückwirkenden Kraft gegen

ungehörige Einwirkung neuer Geſetze geſchützt, alſo von

einer bloßen Erwartung durchaus verſchieden: nur freilich

ein Recht ganz anderer Art, und geringeren Umfangs, als

das, welches nachher durch den Antritt der Erbſchaft ent-

ſteht, und wodurch ein bisher fremdes Vermögen in eigenes

Vermögen des Erben unmittelbar verwandelt wird.

 

|0513 : 491|

§. 395. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. IV. Erbrecht. (Fortſ.)

Die hier aufgeſtellte Regel wird beſtätigt durch folgende

tranſitoriſche Vorſchriften.

 

Ein Geſetz von K. Valentinian II. hatte den blos

cognatiſchen Deſcendenten ein Inteſtaterbrecht auf drei Vier-

theile des Vermögens ihrer Aſcendenten gegeben, ſo daß

die concurrirenden Agnaten nur Ein Viertheil erhalten

ſollten (i). Juſtinian erklärte die Deſcendenten in dieſer

Concurrenz für ausſchließende Erben, alſo für frei von der

Abgabe des einen Viertheils an die Agnaten (k). Er

fügte aber folgende Worte hinzu:

Quod tantum in futuris, non etiam praeteritis

negotiis, servari decernimus.

 

Dieſe Worte werden gewiß am einfachſten von einem

künftigen Erbanfall verſtanden, ſo daß dieſer, und nicht

der Antritt der Erbſchaft, als futurum negotium bezeichnet

wird. Daß aber Dieſes in der That im Sinn des Geſetz-

gebers lag, folgt unwiderſprechlich aus den unmittelbar

vorhergehenden Worten: „sed descendentes soli ad mortui

successionen vocentur“, woraus erhellt, daß die Berufung

zur Erbſchaft, alſo die Delation, der Gegenſtand war,

worüber der Geſetzgeber verfügen wollte, in ſofern dieſe

Berufung nicht unter die praeterita negotia gehöre, worauf

das Geſetz nicht einwirken ſolle.

 

(i) L. 4 C. Th. de leg. hered. (5. 1), § 16 J. de her. quae

ab int. (3. 1).

(k) L. 12 C. de suis (6. 55).

|0514 : 492|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Noch weit beſtimmter ſagt das Preußiſche tranſitoriſche

Geſetz von 1794 (bei Einführung des A. L. R.) § 13:

Die geſetzliche Erbfolge ..... iſt, wenn der

Erbanfall ſich vor dem 1. Jun. 1794 ereignet,

nach den bisherigen Geſetzen, ſpäterhin

aber ..... nach den Vorſchriften des neuen

Landrechts ..... zu beurtheilen.

 

Damit ſtimmen denn auch alle ſpätere Preußiſche tranſito-

riſche Geſetze (§ 383) überein.

 

III. Unwiderrufliche Erbverträge.

 

Dieſe haben ganz die Natur von Verträgen überhaupt,

und müſſen alſo beurtheilt werden nach dem zur Zeit ihrer

Abſchließung geltenden Geſetze (l). Gegen dieſe Behauptung

iſt die Einwendung erhoben worden, ein Erbvertrag gebe

kein unbedingt erworbenes Recht, weil man ſtets ungewiß

ſey, welcher von beiden Theilen den anderen überleben

werde (m). Dieſe Einwendung iſt jedoch ohne Bedeutung,

weil bedingte Rechte, eben ſo wie unbedingte, wirkliche

Rechte ſind, und durch den Grundſatz der Nichtrückwirkung

gegen den ungehörigen Einfluß neuer Geſetze geſchützt

werden (§ 385. h).

 

(l) Chabot T. 1 p. 133. Struve S. 247—249. Vgl. oben

§ 392.

(m) Weber S. 98—99.

|0515 : 493|

§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.

§. 396.

A. Erwerb der Rechte. — Anwendungen.

V. Familienrecht.

Bei Franzöſiſchen Schriftſtellern findet ſich nicht ſelten

eine irrige Verwechſelung der Geſetze über das Familien-

recht mit den Geſetzen über den Zuſtand der Perſon an

ſich. Da nun bei dieſen letzten von der Erhaltung er-

worbener Rechte in der Regel nicht die Rede iſt (§ 389),

ſo daß jedes neue Geſetz dabei eine beſonders freie Ein-

wirkung haben kann, ſo übertragen ſie dieſes Verhältniß

auf die Geſetze über das Familienrecht, ohne zu bedenken,

daß dieſe letzten ſtets wahre erworbene Rechte vorfinden,

und zu erhalten haben, eben ſo, wie die Geſetze über das

Sachenrecht und über die Obligationen. Die Veranlaſſung

zu dieſer irrigen Verwechſelung liegt in dem übertriebenen

Gebrauch, den ſie von der Eintheilung der Geſetze in

statuts personnels und réels (§ 361. Num. 1), ſo wie der

gleichnamigen Eintheilung der Rechte (a) machen, wodurch

das reine Familienrecht, gleich dem Zuſtand der Perſon an

ſich, auf die Seite der droits personnels, und nur das

angewandte Familienrecht auf die Seite der droits réels

geſtellt wird (b). — Obgleich nun dieſe Auffaſſung grund-

 

(a) Droits personnels ſind

die, qui sont attachés aux per-

sonnes, droits réels die droits

attachés aux biens.

(b) Chabot I. p. 23. 29—

31. 34. 377—378. — Dagegen

ſpricht ſich mit Recht tadelnd aus

Bergmann § 50, doch ohne

|0516 : 494|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

ſätzlich durchaus zu verwerfen iſt, ſo hat ſie ſich doch in

der Anwendung weniger verderblich gezeigt, als man er-

warten möchte, da manche der wichtigſten einzelnen Fragen,

die ſie zu dem Familienrecht ziehen, in der That zu der

Handlungsfähigkeit gehören (c), und auf der anderen Seite

manche wichtige Geſetze über das wahre Familienrecht,

beſonders die Ehe, von dem Grundſatz der Nichtrückwirkung

deswegen nicht beherrſcht werden, weil ſie nicht auf den

Erwerb, ſondern auf das Daſeyn der Rechte ſich beziehen.

I. Ehe(d).

Da die Ehe ein wahrer Vertrag iſt (e), ſo möchte man

erwarten, daß über das geſammte Recht derſelben lediglich

das zur Zeit der geſchloſſenen Ehe geltende Geſetz entſcheiden

müſſe. Indeſſen hat dieſe, an ſich richtige, Regel im

reinen Eherecht (d. h. abgeſehen von dem Einfluß der Ehe

auf das Vermögen) (f) nur eine mäßige Anwendbarkeit.

 

Der rechtsgültige Abſchluß der Ehe muß allerdings

ausſchließend nach dem zu dieſer Zeit geltenden Geſetz be-

urtheilt werden (g).

 

die eben gerügte Verwechſelung

ſcharf genug hervor zu heben.

(c) Dahin gehört beſonders

die autorisation maritale, die

nicht eigentlich zum Eherecht, ſon-

dern zu der Geſchlechtsvormund-

ſchaft zu rechnen iſt, ſ. o. § 389

Num. 2.

(d) Es ſind hier zu verglei-

chen die über die örtlichen Grän-

zen der Geſetze im § 379 aufge-

ſtellten Regeln.

(e) S. o. B. 3 § 141.

(f) Ueber den Begriff des

reinen und angewandten Fami-

lienrechts ſ. o. B. 1 § 54. 58.

(g) Aus denſelben Gründen,

die oben für das örtliche Recht

geltend gemacht worden ſind

(§ 379); vgl. Code civil art.

|0517 : 495|

§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.

Die perſönliche Gewalt des Mannes über die Frau iſt

überhaupt ein Gegenſtand von ſehr beſchränkter Einwirkung

des Geſetzes und des Richteramtes. — Der juriſtiſch

wichtigſte Fall der Anwendung einer ſolchen Gewalt aber,

nämlich die eheliche Vormundſchaft, gehört überhaupt nicht

zum Eherecht, ſondern zum Zuſtand der Perſſon an ſich

(Note c).

 

Wichtiger als alles Andere würde die Eheſcheidung ſeyn,

wenn dieſe nach dem zur Zeit der abgeſchloſſenen Ehe

geltenden Geſetz zu beurtheilen wäre. Es wird aber unten

gezeigt werden, daß weder dieſe Zeit, noch die Zeit der

Thatſache, die als Scheidungsgrund dienen ſoll, maaß-

gebend ſeyn darf, ſondern allein die Zeit der Scheidungs-

klage (h).

 

Dagegen iſt das eheliche Güterrecht (das angewandte

Eherecht) ein höchſt wichtiger Gegenſtand der Anwendung

unſrer Grundſätze. Hier nun müſſen wir behaupten, daß

das zur Zeit der abgeſchloſſenen Ehe geltende Geſetz in der

Regel angewendet werden muß, auch wenn ſpätere Geſetze

das eheliche Güterrecht abändern (i). Dieſe Frage iſt nahe

verwandt mit der Frage nach dem anwendbaren örtlichen

 

170. — Dieſelbe Meinung hat

Reinhardt zu Glück B. 1 S.

10. Etwas abweichend iſt Berg-

mann S. 30.

(h) S. u. § 399. Vgl. § 379

N. 6.

(i) Die meiſten Schriftſteller

ſtimmen damit überein. Chabot

T. 1 p. 79—81. Meyer p. 167.

Pfeiffer praktiſche Ausführun-

gen B. 2 S. 271—276. Mit-

termaier deutſches Recht § 400.

Num. V.

|0518 : 496|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Recht, und die meiſten Gründe (k), die bei dieſer letzten

Frage oben (§ 379) für die Behauptung geltend gemacht

worden ſind, daß das am Wohnſitz des Mannes zur Zeit

der geſchloſſenen Ehe geltende Geſetz angewendet werden

müſſe, ohne Einfluß ſpäterer Veränderung des Wohnſitzes,

ſprechen auch gegen den Einfluß ſpäterer Veränderung der

Geſetze.

Anwendungen dieſes wichtigen Grundſatzes ſind fol-

gende:

 

Das Verhältniß des Dotalrechts zum Recht der Güter-

gemeinſchaft; ob eines dieſer Inſtitute ausſchließend gelten

ſoll, oder beide neben einander, und in welcher Stellung

gegen einander.

 

Die Natur der Dos; dos profectitia: Uebergang der

Rückforderung auf die Erben; unmittelbarer Rückfall des

Eigenthums auf die Erben. — Es iſt jedoch zu bemerken,

daß, wo die Dos nach rein Römiſchem Grundſatz nur durch

die willkürliche Handlung der beſtellenden Perſon entſteht

(nicht ipso jure), nicht die Zeit der geſchloſſenen Ehe,

ſondern die Zeit der Beſtellung der Dos, das anwendbare

Geſetz beſtimmen muß. Dieſer Punkt iſt ausdrücklich aner-

kannt in einer tranſitoriſchen Vorſchrift von Juſtinian (l).

 

(k) Ich ſage: die meiſten

Gründe, nicht alle. Denn hier

paßt nicht der Grund, daß die

einſeitige Willkür des Mannes,

von welchem die Wahl des Wohn-

ſitzes abhängt, das beſtehende Gü-

terrecht nicht abändern dürfe.

Die Veränderung im Geſetz hängt

allerdings nicht ab von der Will-

kür des Mannes.

(l) L. un. in f. C1 de rei

ux. act. (5. 13).

|0519 : 497|

§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.

— Ganz eben ſo muß aber auch die Gütergemeinſchaft

nach dem Geſetz irgend eines ſpäteren Zeitpunktes beur-

theilt werden, wenn ſie in einem einzelnen Fall begründet

wird, nicht durch das zur Zeit der abgeſchloſſenen Ehe

beſtehende Geſetz, ſondern durch einen in ſpäterer Zeit ge-

ſchloſſenen Vertrag der Ehegatten (m).

Die Folgen einer zweiten Ehe in Beziehung auf das

Vermögen. Auch das iſt anerkannt durch eine tranſitoriſche

Vorſchrift von Juſtinian (n).

 

Die Einſchränkungen der Liberalität unter Ehegatten

werden unter (§ 399) erwähnt werden.

 

Die ſogenannte Erbfolge der Ehegatten hat eine zwei-

deutige Natur. Oft iſt ſie die bloße Entwickelung und

Nachwirkung eines ſchon unter den Lebenden beſtehenden

Güterrechts, insbeſondere der Gütergemeinſchaft in irgend

einer ihrer vielfachen Geſtalten. Dann richtet ſie ſich nach

dem Geſetz der Zeit, in welcher dieſes Rechtsverhältniß

entſtanden iſt, welches in der Regel die Zeit der abge-

ſchloſſenen Ehe ſeyn wird, zuweilen die Zeit eines ſpäterhin

abgeſchloſſenen Vertrags (Note i und m). — In anderen

Fällen dagegen iſt die Erfolge der Ehegatten eine wahre,

reine Inteſtaterbfolge, und dieſe iſt ſtets zu beurtheilen

nach dem zur Zeit des Erbanfalls geltenden Geſetz.

Unter dieſe anderen Fälle gehört das Edict unde vir et uxor

und die Erbfolge des armen Ehegatten nach Römiſchem

 

(m) Darin liegt alſo eine conſequente Ausnahme der oben

(Note i) anerkannten Regel.

(n) Nov. 22 C. 1.

VIII. 32

|0520 : 498|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Recht. Eben ſo nach dem Brandenburgiſchen Provinzial-

recht die Joachimica (o).

Dieſelben Unterſcheidungen und Regeln ſind auch anzu-

wenden auf die Erbfolge der Kinder, in ſofern dieſe mit

dem unter den Eltern beſtehenden ehelichen Güterrecht in

Zuſammenhang ſteht.

 

Alle dieſe Regeln werden natürlich nur dann zur An-

wendung kommen, wenn das neue Geſetz über das eheliche

Güterrecht nicht von beſonderen tranſitoriſchen Vorſchriften

begleitet iſt, und dieſe werden gerade bei dem hier vorlie-

genden Gegenſtand häufiger, als in anderen Fällen, zu

erwarten ſeyn. Wenn etwa ein Geſetzgeber an die Stelle

des bisher in ſeinem Lande ausſchließend geltenden Dotal-

rechts die allgemeine Gütergemeinſchaft ausſchließend ein-

führen wollte, oder umgekehrt, ſo würde er doch ſchwerlich

unterlaſſen, an die jetzt vorhandenen zahlreichen Ehen zu

denken, und das Verhältniß des neuen Geſetzes zu denſelben

zu beſtimmen.

 

Ich will zum Schluß dieſer Unterſuchung einige wirklich

erlaſſene tranſitoriſche Vorſchriften über neue, die Ehe be-

treffende, Geſetze zuſammen ſtellen.

 

Zwei Geſetze von Juſtinian, worin die hier aufge-

ſtellten Grundſätze anerkannt und angewendet werden, ſind

bereits angegeben worden (Note l und n).

 

(o) Ueber dieſen Unterſchied iſt zu vergleichen § 379 Num. 5,

und über die bei der wahren Inteſtaterbfolge anwendbate Regel

§ 395. B.

|0521 : 499|

§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.

Im Preußiſchen Recht kommen folgende tranſitoriſche

Beſtimmungen vor (p).

 

Das Einführungspatent des allgemeinen Landrechts von

1794 verordnet im § 14, daß das eheliche Güterrecht, mit

Einſchluß der durch eine Scheidung etwa herbeigeführten

Auseinanderſetzung, beurtheilt werden ſoll nach dem zur

Zeit der geſchloſſenen Ehe geltenden Geſetz; ganz nach dem

hier aufgeſtellten Grundſatz. — Für den Fall einer auf das

gemeine Recht (nicht auf Provinzialrecht) zu gründenden

Inteſtaterbfolge wird dem Ueberlebenden die Wahl gelaſſen,

ob er nach dem zur Zeit der geſchloſſenen Ehe geltenden

Geſetz, oder nach dem Landrecht erben wolle. Dieſes iſt

eine ganz neue, völlig poſitive Beſtimmung, die durch keinen

Rechtsgrundſatz begründet werden kann. Indeſſen liegt

darin gewiß keine Härte oder Ungerechtigkeit, da es ſtets

in der Macht jedes Ehegatten ſteht, dieſen künftigen Erfolg

durch Teſtament zu verhüten. Hat alſo der Verſtorbene

Dieſes unterlaſſen, ſo kann man annehmen, er ſey mit

dieſer geſetzlichen Begünſtigung des Ueberlebenden einver-

ſtanden geweſen.

 

Mit dieſen Vorſchriften ſtimmen weſentlich überein die

tranſitoriſchen Geſetze von 1814 und 1816 (q).

 

(p) Die Beſtimmungen über

die Scheidungsgründe werden un-

ten erwähnt werden, § 399. e.

(q) (S. o. § 383.) — Pro-

vinzen jenſeits der Elbe § 9, Weſt-

preußen § 11. 12, Poſen § 11,

Sachſen § 11. Die hier und da

anders gefaßten Beſtimmungen

beziehen ſich auf das Provinzial-

recht, nicht auf unſre Frage. Das

32*

|0522 : 500|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

II. Väterliche Gewalt.

Die Entſtehung derſelben iſt zu beurtheilen nach dem

Geſetz der Zeit, in welche die dazu führenden Thatſachen

fallen. So hat Juſtinian die neue Regel eingeführt,

daß die Adoption eines in fremder väterlicher Gewalt

ſtehenden Kindes in den meiſten Fällen nicht mehr eine

neue väterliche Gewalt gründen, ſo wie die bisherige auf-

heben ſollte (r). Dieſes Geſetz war gewiß anwendbar auf

alle ſpäter vorgenommene Adoptionen; den früheren war

ihre bis dahin geltende ſtärkere Wirkung nicht entzogen. —

Eben ſo richtet ſich die Legitimation durch nachfolgende

Ehe lediglich nach dem Geſetz, welches zur Zeit der ge-

ſchloſſenen Ehe beſteht, ohne Rückſicht auf ein ſpäteres Ge-

ſetz, oder auf das Geſetz zur Zeit der Geburt des Kindes

(§ 380).

 

Die perſönlichen Rechte des Vaters über das Kind ge-

hören nicht hierher; die Geſetze, die darüber beſtimmen,

betreffen das Daſeyn des Rechts, nicht den Erwerb, wirken

alſo auch auf die ſchon beſtehenden Rechtsverhältniſſe ein

(§ 398).

 

Geſetz für das Herzogthum Weſt-

phalen 1825 ſagt über dieſe Ge-

genſtände gar Nichts, weil es im

§ 4 von der Einführung des A.

L. R. vorläufig ganz ausnimmt

die drei erſten Titel des zweiten

Theils, welche allein von der

Ehe und Inteſtaterbfolge handeln.

(r) L. 10 C. de adopt. (8. 48),

§ 2 J. de adopt. (1. 11). —

Nämlich mit Ausnahme des Falles,

wenn der Adoptivvater zugleich

ein natürlicher Aſcendent des

Kindes iſt.

|0523 : 501|

§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.

Was die Rechte im Vermögen betrifft, ſo liegt der Ge-

danke ſehr nahe, auf die väterliche Gewalt dieſelben Regeln

anzuwenden, die ſo eben für die Ehe aufgeſtellt worden

ſind. Dieſes würde die Folge haben, daß die Rechte am

Vermögen unabänderlich feſtgeſtellt wären durch das Geſetz,

unter welchem die väterliche Gewalt entſtanden iſt, alſo

durch das zur Zeit der Geburt des Kindes geltende Geſetz,

ſo daß ein neues Geſetz blos auf die künftig geborenen

Kinder Anwendung finden würde. Bei genauerer Betrachtung

aber zeigt ſich dieſe Analogie als eine bloße Täuſchung,

und wir müſſen vielmehr annehmen, daß das neue Geſetz

die Vermögensverhältniſſe ſogleich umbildet, auch in Be-

ziehung auf die jetzt lebenden Kinder. Ich will damit an-

fangen, dieſen Satz durch ein Beiſpiel anſchaulich zu machen,

bevor ich den Beweis deſſelben unternehme.

 

Nach dem älteren Römiſchen Recht konnte ein Kind in

väterlicher Gewalt kein Vermögen haben, indem alles durch

ſeine Handlungen Erworbene unmittelbar dem Vater er-

worben wurde. Dieſer Satz wurde im Lauf der Zeit be-

ſchränkt bei manchen Arten des Erwerbes, namentlich bei

dem castrense peculium, den bona materna u. ſ. w.; als

Regel aber blieb er beſtehen. Juſtinian hob dieſe Regel

von Grund aus auf, indem er verordnete, daß jeder Erwerb

des Kindes, wohin alſo auch der auf den eigenen Fleiß und

das Gewerbe des Kindes gegründete gehört, eigenes Vermögen

des Kindes, nicht mehr Vermögen des Vaters, bilden

 

|0524 : 502|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

ſollte (s). Fragen wir nun, für welche Fälle dieſes neue

Geſetz anzuwenden war, ſo würde die angegebene täuſchende

Analogie dahin führen, es blos auf die ſpäterhin gebornen

Kinder anzuwenden. Nach der hier aufgeſtellten Behauptung

dagegen müſſen wir ſagen, daß, von der Erſcheinung des

Geſetzes an, jeder neue Erwerb der Kinder als ihr eigenes

Vermögen zu betrachten war; nur blieb das, welches ſie

ſchon vorher erworben hatten, Vermögen des Vaters. Es

war alſo das Schickſal des neuen Erwerbes, die Erwerbs-

fähigkeit, durch das neue Geſetz augenblicklich umgebildet,

nicht das ſchon erworbene Vermögen.

Der Beweis für die Wahrheit dieſer Behauptung liegt

nun darin, daß die für den Erwerb des Kindes geltenden

Regeln als Folgen der mehr oder weniger beſchränkten

Rechtsfähigkeit des Kindes zu betrachten ſind (t); als

ſolche aber gehören ſie dem Zuſtand der Perſon an ſich an,

bei welchem der Grundſatz der Nichtrückwirkung keine An-

wendung findet (§ 389). Gerade hierin zeigt ſich ein durch-

greifender Unterſchied zwiſchen der väterlichen Gewalt und

der Ehe, indem das eheliche Güterrecht (Dotalrecht oder

Gütergemeinſchaft) mit der Rechtsfähigkeit gar nicht zu-

ſammenhängt. — Dieſes iſt der juriſtiſche Ausdruck des

durchgreifenden Unterſchieds beider Rechtsverhältniſſe. Auf

denſelben Erfolg aber werden wir geführt, wenn wir von

 

(s) L. 6 C. de bon. quae lib. (6. 61), § 1 J. per quas pers. (2. 9).

(t) S. o. B. 2 § 67.

|0525 : 503|

§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.

einem anderen Standpunkt aus die Sache betrachten. Die

Ehe iſt ein Rechtsverhältuiß zwiſchen zwei unabhängigen,

ſelbſtſtändigen Perſonen, durch deren freie Willkür, durch

Vertrag, gebildet. Die väterliche Gewalt entſteht dagegen

durch die Geburt des Kindes, alſo durch ein bloßes Natur-

ereigniß, auf die unfreiwilligſte Weiſe. Dabei kann von

einem fortwirkenden Willen, von einer vertragsmäßigen

Feſtſtellung der Rechtsverhältniſſe, nicht die Rede ſeyn.

Was nun hier von den durch den äußerſten Gegenſatz

eingreifenden neuen Geſetzen geſagt worden iſt, muß eben

ſo auf die geringeren geſetzlichen Abänderungen angewendet

werden, da jene und dieſe Geſetze nur im Grade der Ein-

wirkung verſchieden, in der inneren Natur aber gleichartig

ſind. Wenn alſo ein neues Geſetz den väterlichen Nieß-

brauch am Vermögen der Kinder einführt oder aufhebt,

oder auf längere oder kürzere Lebensjahre des Kindes vor-

ſchreibt, ſo muß daſſelbe ſogleich zur Anwendung kommen,

auch an dem ſchon vorhandenen Vermögen der jetzt leben-

den Kinder (u).

 

Die hier aufgeſtellten Regeln werden nicht blos

von Schriftſtellern anerkannt, ſondern auch in neueren

 

(u) Weber S. 86. Rein-

hardt zu Glück B. 1 S. 11. —

Man könnte glauben, Dieſes wi-

derſpreche nach R. R. der Natur

des Nießbrauchs, welcher, einmal

erworben, bis zum Tode des Nieß-

brauchers fortdauere. Allein die-

ſer, auf dem Familienverhältniß

beruhende, Nießbrauch hat eine

andere Natur, auch ſchon nach R.

R., welches dem emancipirenden

Vater, als beſondere Belohnung

der Emancipation, den fortdauern-

den Nießbrauch an der Hälfte

des Vermögens geſtattet. L. 6 § 3

C. de bon. quae lib. (6. 61).

|0526 : 504|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

tranſitoriſchen Geſetzen des Preußiſchen Staates in Be-

ziehung auf den elterlichen Nießbrauch (v).

Die Auflöſung der väterlichen Gewalt, namentlich durch

Emancipation, ſteht unter dem Geſetz der Zeit, in welche

die auflöſende Thatſache fällt. Eben ſo ſtehen unter dieſem

die Folgen der Auflöſung, wohin auch das praemium

emancipationis gehört (Note u).

 

Von den Rechtsverhältniſſen der unehelichen Kinder

wird unten die Rede ſeyn (§ 399).

 

III. Vormundſchaft.

Dieſe erſcheint im heutigen Recht als Ausübung eines

dem Staate zuſtehenden Schutzrechts, folglich als ein Zweig

des öffentlichen Rechts (§ 380. C). Es hat alſo keinen

Zweifel, daß dieſelbe jederzeit durch neue Geſetze umgebildet

werden kann. Betreffen ſolche neue Geſetze die Art der

Entſtehung der Vormundſchaft in einzelnen Fällen, ſo wird

nicht leicht ein Bedürfniß angenommen werden, auch die

ſchon errichteten Vormundſchaften darnach abzuändern, ob-

gleich das Recht auch zu dieſer Abänderung keinem Zweifel

unterworfen ſeyn könnte. Hat das Geſetz darüber Nichts

beſtimmt, ſo wird es nur auf künftig zu errichtende Vor-

mundſchaften zu beziehen ſeyn.

 

Die aus Veranlaſſung einer Vormundſchaft entſtehenden

Obligationen (actio tutelae directa, contraria) ſind nach

 

(v) Provinzen jenſeits der Elbe 1814 § 10. Weſtpreußen 1816

§ 13. Poſen 1816 § 13. (ſ. o. § 383).

|0527 : 505|

§. 396. A. Erwerb der Rechte. Anwendungen. V. Familienrecht.

den für die Obligationen geltenden Regeln zu beurtheilen

(§ 392).

IV. Freigelaſſene.

Ein blos dem alten Recht angehörendes, die Freilaſſung

der Sklaven betreffendes, Geſetz iſt hier deswegen zu er-

wähnen, weil ſich dabei eine tranſitoriſche Vorſchrift findet,

welche von neueren Schriftſtellern nicht ganz richtig aufge-

faßt zu werden pflegt.

 

Die Lex Junia hatte verordnet, daß in vielen Fällen

einer unvollſtändigen Freilaſſung, der Freigelaſſene zwar

wirklich frei, und zwar Latinus, werden, auch Vermögen

zu erwerben fähig ſeyn ſollte, daß aber ſein erworbenes

Vermögen im Augenblick des Todes dem Patron zufallen

ſollte, und zwar nicht als Erbſchaft, ſondern vermöge der

Fiction, als wäre der Freigelaſſene im Sklavenſtand ge-

ſtorben (w). Dieſe unvollſtändige Freilaſſung verwandelte

Juſtinian in eine vollſtändige, ſo daß das Vermögen des

Freigelaſſenen auf dieſem Wege nicht mehr an den Patron

fallen ſollte. Er fügte aber hinzu, dieſe neue Vorſchrift

ſolle nur auf künftige Freilaſſungen angewendet werden;

auf frühere Freilaſſungen ſolle das alte Recht angewendet

werden, ohne Unterſchied, ob der Freigelaſſene bereits ver-

ſtorben ſey oder noch lebe (x). — Dieſes war nun nicht

ein neues Geſetz über die Erbfolge (wie es neuere Schrift-

 

(w) Gajus III. § 56.

(x) L. un. § 13 C. de Lat. libert.

toll. (7. 6).

|0528 : 506|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

ſteller gewöhnlich anſehen), ſondern über die Freilaſſung,

und die mit derſelben verbundene Beſchränkung des Ver-

mögens. Die tranſitoriſche Vorſchrift war der Natur des

Rechtsverhältniſſes völlig angemeſſen.

§. 397.

A. Erwerb der Rechte. — Ausnahmen.

Durch die bisher geführte Unterſuchung iſt für die zeit-

liche Einwirkung neuer Geſetze auf die einzelnen Klaſſen

der Rechtsverhältniſſe eine regelmäßige Gränze feſtgeſtellt

worden. Ausnahmen von dieſen Regeln ſind in zwei

entgegengeſetzten Richtungen denkbar; ſie können die Wirk-

ſamkeit des neuen Geſetzes, in Vergleichung mit den auf-

geſtellten Regeln, entweder erweitern oder einſchränken.

 

Eine Erweiterung der Wirkſamkeit eines neuen Ge-

ſetzes, alſo eine rückwirkende Kraft des Geſetzes als Aus-

nahme, wird meiſt den Sinn haben, daß der Geſetzgeber,

von dem Gefühl der Wichtigkeit einer neuen Maaßregel

durchdrungen, derſelben ſo weit Geltung zu verſchaffen

ſucht, als ſeine Macht reicht. Ein Beiſpiel iſt oben ange-

geben worden an einem Römiſchen Wuchergeſetz (§ 386.

f. g.). Schwerlich möchte ſich je eine Ausnahme dieſer

Art rechtfertigen laſſen, indem ſtets der auf dieſem Wege

zu erreichende Vortheil überwogen werden wird von dem

ungünſtigen Eindruck, der ein ſo willkürliches Durchgrei-

fen, ſelbſt bei guter Abſicht, zu begleiten pflegt. — Es

 

|0529 : 507|

§. 397. A. Erwerb der Rechte. Ausnahmen.

giebt aber auch Fälle, in welchen eine ſolche Ausnahme

durch andere Beweggründe veranlaßt wird, insbeſondere

durch die Abſicht einer Schonung des Einzelnen ohne

Verletzung Anderer. Eine ſolche Bedeutung hat die Vor-

ſchrift des Preußiſchen Rechts, daß ein milderes neues

Strafgeſetz auch auf die unter dem alten Geſetz begangenen

Verbrechen angewendet werden ſoll (a). Eine gleich ſcho-

nende Abſicht liegt zum Grunde bei einem anderen Preußi-

ſchen Geſetz, nach welchem die Formfehler eines Rechts-

geſchäfts dadurch unſchädlich gemacht werden, daß ein neue-

res Geſetz eine leichtere Form vorſchreibt, welcher die frü-

her vorgenommene Handlung genügt. Die bedenkliche Ra-

tur dieſer Vorſchrift iſt jedoch ſchon oben bemerklich ge-

macht worden (§ 388. c).

Eine Einſchränkung der Wirkſamkeit eines neuen

Geſetzes als Ausnahme hat weit weniger Bedenken. Sie

hat zum Zweck die Schonung bloßer Erwartungen, die

durch den oben aufgeſtellten Grundſatz allerdings nicht ge-

ſchützt werden (§ 385), und ſie beruht ſtets auf der Ueber-

zeugung, daß die Vorſchrift eines neuen Geſetzes, wenn-

gleich an ſich heilſam, doch nicht von ſo durchgreifender

Wichtigkeit ſey, um eine augenblickliche unbedingte Ausfüh-

rung zu erfordern, wodurch vielleicht individuelle Intereſſen

gefährdet werden können.

 

(a) S. o. § 387. b. Dieſe Beſtimmung wird ſchon gerechtfertigt

durch die dem Geſetzgeber im einzelnen Fall ohnehin zuſtehende Be-

gnadigung.

|0530 : 508|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß daſſelbe Römi-

ſche Kaiſergeſetz, welches die rückwirkende Kraft der Ge-

ſetze im Allgemeinen verneint, den Vorbehalt einzelner Aus-

nahmen ausdrücklich hinzufügt (§ 386. a), deſſen es je-

doch nicht einmal bedurfte, da er ſich ohnehin von ſelbſt

verſtand. Im Laufe unſerer Unterſuchung ſind nun viele

Fälle ſolcher einzelnen Ausnahmen angegeben worden, theils

aus dem Römiſchen Recht, theils aus neueren Geſetzgebun-

gen. Es waren dieſes Fälle beider Arten von Ausnahmen,

ſowohl erweiternde (b), als einſchränkende (c), und es ver-

dient bemerkt zu werden, daß die Fälle der zweiten Art

häufiger ſind, als die der erſten. — Ferner iſt bereits be-

merkt worden, daß die im Römiſchen Recht enthaltenen ein-

zelnen Ausnahmen für uns keine praktiſche Bedeutung

haben, ſelbſt da, wo etwa das Römiſche Recht für irgend

ein Land neue Geltung als gemeines Recht erlangen

möchte (§ 386).

 

Solche Ausnahmen nun werden wir bei künftigen neuen

Geſetzen nur da anzuerkennen haben, wo ſie recht beſtimmt

vorgeſchrieben ſind, da der Geſetzgeber, wenn er ſich zu

einer Ausnahme entſchließt, alſo des Gegenſatzes zwiſchen

Regel und Ausnahme ſich deutlich bewußt wird, gewiß

Veranlaſſung hat, darüber eine ausdrückliche, unzweideutige

Erklärung auszuſprechen. Auch iſt es als merkwürdig her-

 

(b) Solche Fälle kommen vor in den §§ 386. 388. 390. 391. 394.

(c) So in den §§ 391 und 394.

|0531 : 509|

§. 397. A. Erwerb der Rechte. Ausnahmen.

vorzuheben, daß gerade das Römiſche Kaiſergeſetz, welches

ſeitdem die Grundlage unſerer ganzen Lehre für alle Zeiten

geworden iſt, den Vorbehalt von Ausnahmen ſo aus-

drückt: nisi nominatim et de praeterito tempore .....

cautum sit (§ 386. a).

Ganz abweichend von dieſer, im Römiſchen Recht ſelbſt

anerkannten und geforderten, Vorſicht, hat ein neuerer Schrift-

ſteller verſucht, durch mancherlei Anweiſungen den neuen

Geſetzen die vielleicht gehegte Abſicht rückwirkender Kraft

abzumerken (d). Es ſind dabei Gegenſätze, die gar nicht

hierher gehören, eingemiſcht worden, wie die zwiſchen Nich-

tigkeit und verſagtem Klagrecht, ipso jure und per exce-

ptionem u. ſ. w. Auf dieſem Wege kommt man nicht nur

dahin, es mit der Anerkennung von Ausnahmen ungebühr-

lich leicht zu nehmen, ſondern es werden dadurch unver-

merkt die Begriffe von Regel und Ausnahme, ſo wie die

Gränzen zwiſchen beiden, verwiſcht oder ſchwankend ge-

macht. Beſonders iſt ein ſolches Verfahren bedenklich in

Anwendung auf neuere Geſetzgebungen, in welchen ein

ſo feſtes Syſtem von Begriffen und Kunſtausdrücken, wie

im Römiſchen Recht, gar nicht vorausgeſetzt werden darf,

und denen daher geradezu Gewalt angethan wird durch eine

 

(d) Weber S. 78. 106 —

109. 137 fg. — Bergmann

ſtellt § 26. 29 vorſichtigere An-

ſichten auf, jedoch nicht, ohne in

den §§ 4. und 5. an dem unrich-

tigen Verfahren von Weber eini-

gen Antheil genommen zu haben.

|0532 : 510|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Auslegung, die dennoch ſtillſchweigend auf einer ſolchen

Vorausſetzung beruht (e).

Merkwürdigerweiſe fügt das Römiſche Recht für den

Fall der erweiternden Ausnahmegeſetze eine Einſchränkung

hinzu, die alſo als die Ausnahme einer Ausnahme zu be-

trachten iſt. Die ausnahmsweiſe vorgeſchriebene Rückwir-

kung ſoll nämlich nicht eintreten, wenn das Rechtsverhält-

niß, worauf ſie bezogen werden könnte, bereits durch Urtheil

oder Vergleich entſchieden worden iſt (judicatum vel trans-

actum). Dieſe Einſchränkung iſt zwar nirgend als blei-

bender, allgemeiner Grundſatz ausgeſprochen, ſie wird aber

in ſo vielen einzelnen Stellen des Römiſchen Rechts über-

einſtimmend wiederholt, daß ſie unzweifelhaft als eine von

den Römern allgemein anerkannte Regel betrachtet werden

muß (f). Sie hat auch einen inneren Grund darin, daß

ſowohl das Urtheil, als der Vergleich das urſprüngliche

Rechtsverhältniß umbildet, ſo daß nun an die Stelle des

Rechtsverhältniſſes, worauf ſich das neue Geſetz bezog,

eigentlich ein anderes getreten iſt.

 

Unter dem Urtheil aber iſt hier nicht blos ein rechts-

träftiges zu verſtehen, ſondern, bei noch ſchwebendem

Rechtsſtreit, auch ſchon ein Urtheil erſter Inſtanz, wenn

etwa während der Appellationsinſtanz das neue Geſetz er-

 

(e) Ein ganz ähnlicher Tadel

iſt bereits ausgeſprochen worden

bei den örtlichen Gränzen der

Geſetze § 374. C.

(f) Bergmann S. 138. 146,

wo dieſe Stellen überſichtlich an-

gegeben werden.

|0533 : 511|

§. 397. A. Erwerb der Rechte. Ausnahmen.

ſcheint (g). Der Grund liegt darin, daß der erſte Richter

nur nach dem zur Zeit ſeines Urtheils geltenden Geſetz entſchei-

den durfte, der Appellationsrichter aber nur ein irriges, in

ſich nicht gerechtfertigtes, Urtheil abändern darf.

Unter dem Vergleich ferner iſt hier nicht blos der Ver-

gleich im ſtreng juriſtiſchen Sinne des Wortes (die trans-

actio) zu verſtehen, ſondern jede vertragsmäßige Beſeitigung

eines Rechtsſtreits, welche bewirkt werden kann durch frei-

williges Nachgeben von der einen oder andern Seite, alſo

durch Erlaß, Verzicht, Anerkenntniß, Erfüllung eines An-

ſpruchs, mag jenes Nachgeben ganz oder theilweiſe ge-

ſchehen, und ſo zur völligen Beendigung des Streites

führen (h).

 

Unter die hier dargeſtellten Ausnahmen wird gewöhnlich

der Fall einer authentiſchen Geſetzauslegung gerechnet (i),

ſo daß auch ein ſolches Geſetz rückwirkende Kraft auf frü-

here Rechtsverhältniſſe haben ſoll. Allerdings iſt gegen die

Rückanwendung eines blos auslegenden Geſetzes Nichts

einzuwenden (k), und nur die Auffaſſung derſelben als

eines Ausnahmefalles iſt zu verwerfen: eine Meinungs-

 

(g) Nov. 115 pr. und C. 1.

(h) Bergmann § 25. —

Vgl. auch oben B. 7 § 302.

(i) S. o. B. 1 § 32.

(k) Sie wird ausdrücklich be-

ſtätigt in Nov. 143 pr., am Schluß

der Stelle.

|0534 : 512|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

verſchiedenheit, die daher eine mehr theoretiſche, als prakti-

ſche Beſchaffenheit hat. — Wird ein auslegendes Geſetz

gegeben, ſo iſt für den Richter der Inhalt deſſelben, alſo

der dadurch feſtgeſtellte Sinn des früheren Geſetzes, wahr

und gewiß, ſeine perſönliche Ueberzeugung mag damit über-

einſtimmen oder nicht. Urtheilt er alſo in Gemäßheit des

auslegenden Geſetzes, ſo wendet er in der That das aus-

gelegte Geſetz an, nicht das auslegende (welches ihm nur

das Verſtändniß für das frühere eröffnet), und darin liegt

alſo keine Rückwirkung.

Gegen die Natur einer Ausnahme ſpricht auch ſchon

der Umſtand, daß dieſe Art der Anwendung ſo im Allge-

meinen, und nicht blos bei einzelnen auslegenden Geſetzen,

anerkannt wird. Wäre es Ausnahme, ſo müßte es in ein-

zelnen Fällen auch wohl anders ſeyn können, welches

jedoch ganz unnatürlich, und dem Verhältniß des Geſetz-

gebers zum Richter widerſprechend, ſeyn würde.

 

Man könnte etwa glauben, eine praktiſche Seite die-

ſer verſchiedenen Auffaſſung müſſe darin liegen, daß nach

der von mir vertheidigten Anſicht die oben erwähnten

Einſchränkungen (Urtheil und Vergleich) nicht gelten

würden. In der That aber gelten dieſe, nur aus einem

etwas anders gewendeten Grunde. Wenn wir durch

das auslegende Geſetz erfahren, daß das frühere Urtheil,

oder der frühere Vergleich, von einer irrigen Auslegung

ausgegangen ſind, ſo verlieren ſie dadurch niemals ihre

 

|0535 : 513|

§. 397. A. Erwerb der Rechte. Ausnahmen.

Wirkſamkeit (l). Auch hier alſo iſt entſcheidend der ſchon

oben geltend gemachte Umſtand, daß Urtheil und Vergleich

das frühere Verhältniß umbilden.

Die hier aufgeſtellte Regel über wohlbegründete Rück-

anwendung geht nicht blos auf die eigentliche Auslegung

eines dunklen Geſetzes, ſondern auch auf die Anerkennung

und Beſtätigung eines früheren Geſetzes oder Gewohnheits-

rechts, wenn deſſen Daſeyn oder verbindende Kraft bisher

zweifelhaft war. Dagegen geht ſie nicht auf die Wieder-

herſtellung eines älteren, bisher außer Geltung geſetzten,

Geſetzes.

 

Ganz irrig unterſcheiden Manche zwiſchen einem richtig

oder irrig auslegenden Geſetz, weil das letzte in der That

neues Recht bilde. Durch eine ſolche Annahme würde ſich

der Richter in der That über den Geſetzgeber ſtellen, alſo

ſeine wahre Stellung gänzlich verkennen. Alles kommt

darauf an, ob der Geſetzgeber das Geſetz als ein ausle-

gendes gedacht und ausgeſprochen hat, nicht ob es eine,

nach der Meinung des Richters, richtige Auslegung ent-

hält (m).

 

(l) Das Urtheil iſt nicht nich-

tig, da es gewiß nicht gegen ein

klares Geſetz geſprochen iſt. We-

ber S. 212—214. — (Nur etwa,

wenn das auslegende Geſetz wäh-

rend der Appellationsinſtanz er-

ſchiene, hätte deshalb der Appel-

lationsrichter zu reformiren). —

Der Vergleich kann ſelbſt wegen

eines thatſächlichen Irrthums nicht

angefochten werden. L. 65 § 1

de cond. indeb. (12. 6), L. 23

C. de transact. (2. 4). Vgl.

auch oben B. 7 S. 42.

(m) Ueber die Rückanwendung

auslegender Geſetze, vgl. über-

haupt Weber S. 54—61, S.

194—208. Bergmann § 10—

12, § 31—33.

VIII. 33

|0536 : 514|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Die Rückanwendung auslegender Geſetze hat im Preußi-

ſchen Recht Anerkennung gefunden, und zwar mit Recht

als bleibende, für alle Zeiten gültige, Regel (n). Daneben

aber ſteht eine verſchiedene, blos tranſitoriſche Regel, an-

wendbar auf den Fall der Einführung des allgemeinen

Landrechts. Dieſe geht dahin, daß bei der Beurtheilung

älterer Rechtsverhältniſſe, wenn die damals geltenden Ge-

ſetze dunkel und zweifelhaft ſind, ſo daß bisher verſchiedene

Meinungen der Gerichte beſtanden, künftig die Meinung

vorgezogen werden ſoll, welche mit dem Inhalt des Land-

rechts übereinſtimmt, oder demſelben am nächſten kommt (o).

 

§. 398.

B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.

Der ganzen gegenwärtigen Unterſuchung iſt zum Grund

gelegt worden die Unterſcheidung von zweierlei Rechtsregeln

(§ 384). Eine Klaſſe derſelben hatte zum Gegenſtand den

Erwerb der Rechte, und für dieſe galt der Grundſatz der

Nichtrückwirkung, oder der Erhaltung erworbener Rechte. —

Eine zweite Klaſſe von Rechtsregeln, deren Betrachtung

nun noch übrig iſt, hat zum Gegenſtand das Daſeyn der

Rechte, und für dieſe Klaſſe hat der erwähnte Grundſatz

keine Anwendung.

 

(n) Allg. Landrecht Einleitung § 15.

von 1794 § 9.

(o) Publicationspatent

|0537 : 515|

§. 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.

Wir nennen aber Rechtsregeln über das Daſeyn der

Rechte zuvörderſt die, welche den Gegenſatz von Seyn oder

Nichtſeyn eines Rechtsinſtituts betreffen, alſo Geſetze, wo-

durch ein bisher geltendes Rechtsinſtitut gänzlich aufgehoben

wird; außerdem aber die, welche ein Rechtsinſtitut, ohne

es aufzuheben, in ſeiner Natur weſentlich umändern, alſo

den Gegenſatz von So oder Andersſeyn eines Rechtsinſti-

tuts betreffen. Von dieſen allen nun wird behauptet, daß

für ſie die Erhaltung erworbener Rechte (die Nichtrück-

wirkung) als herrſchender Grundſatz, ſo wie bei den Rechts-

regeln über den Erwerb der Rechte, unmöglich gedacht

werden könne, indem die wichtigſten Geſetze ſolcher Art,

wenn man ihnen einen ſolchen Sinn unterlegen wollte,

überhaupt gar keinen Sinn haben würden.

 

Um dieſe Behauptung anſchaulich zu machen, werde ich

drei Geſetze anführen, die in neuerer Zeit an verſchiedenen

Orten vorgekommen ſind, und auf die ich verſuchsweiſe den

Grundſatz der Nichtrückwirkung anwenden will. Ein Ge-

ſetz hebt die Leibeigenſchaft auf. Ein anderes hebt die

Zehenten auf, ohne Entſchädigung, wie es z. B. gleich im

Anfang der Franzöſiſchen Revolution geſchehen iſt. Ein

drittes Geſetz verwandelt die Zehenten, die bisher unablöslich

waren, in ablösliche Rechte, indem es dem Verpflichteten

(vielleicht auch dem Berechtigten) geſtattet, ſie mit einſeitiger

Willkür in eine Leiſtung anderer Art, von gleichem Geld-

werth, zu verwandeln. — Wollte man nun dieſe drei Ge-

ſetze unter den Grundſatz der Nichtrückwirkung ſtellen, ſo

 

33*

|0538 : 516|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

würden ſie folgende Bedeutung bekommen. Jede künftige

Errichtung einer Leibeigenſchaft (oder eines Zehentrechts)

iſt verboten, ungültig, wirkungslos. Jede künftige Er-

richtung eines Zehentrechts ſoll ſtets die Befugniß einſeitiger

Ablöſung des Zehenten mit ſich führen. — In dieſer Be-

deutung aber würden die erwähnten Geſetze völlig leer und

überflüſſig ſeyn, da ſeit ſehr langer Zeit Niemand daran

gedacht hat, eine Leibeigenſchaft oder ein Zehentrecht neu

zu begründen. Daraus folgt alſo, daß der Geſetzgeber dieſe.

Bedeutung ganz gewiß nicht gemeint und gewollt hat, und

daß alſo ſeine Abſicht im vollſtändigen Gegenſatz ſteht gegen

die Abſicht der den Erwerb der Rechte betreffenden Geſetze,

indem dieſe nicht rückwärts, ſondern nur auf künftige

Rechtsgeſchäfte einwirken, mithin erworbene Rechte erhalten

wollen; allerdings mit Ausnahmen, die jedoch höchſt un-

bedeutend ſind, und faſt verſchwinden in Vergleichung mit

der wirklich beobachteten Regel.

Man kann nun allerdings den Zweifel erheben, ob nicht

etwa alle Geſetze der erwähnten Art, eben weil ſie erwor-

bene Rechte zerſtören oder umbilden, durchaus rechtswidrig

und verwerflich ſeyn möchten. Ich will mich dieſer Frage

keinesweges entziehen, ſie vielmehr einer ſelbſtſtändigen Er-

örterung unterwerfen. Nur wird es dem Gang unſrer

Unterſuchung förderlich ſeyn, dieſe ganz andere Frage vor-

läufig auf ſich beruhen zu laſſen, und zunächſt nur feſtzu-

ſtellen, welches der Sinn und die Meinung der Geſetze iſt,

mit welchen wir uns gegenwärtig beſchäftigen; die Recht-

 

|0539 : 517|

§ 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.

mäßigkeit derſelben ſoll am Schluß noch beſonders geprüft

werden (§ 400).

Der Sinn und die Meinung der Geſetze dieſer Klaſſe

wird nun durch folgende Formeln ausgedrückt werden

können, die im ſchneidenden Gegenſatz ſtehen zu dem für

die erſte Klaſſe von Geſetzen oben aufgeſtellten Grundſatz

(§ 384. 385).

 

Neuen Geſetzen dieſer Klaſſe iſt rückwirkende Kraft

beizulegen.

Neue Geſetze dieſer Klaſſe ſollen erworbene Rechte

nicht unberührt laſſen.

Folgende Betrachtung wird dazu dienen, die hier aufge-

ſtellte Behauptung über den Sinn und die Meinung ſolcher

Geſetze von einer anderen Seite her zu beſtätigen. Die

meiſten und wichtigſten dieſer Geſetze haben die oben, bei

einer anderen Gelegenheit, dargeſtellte ſtreng poſitive, zwin-

gende Natur, indem ſie außer dem reinen Rechtsgebiet ihre

Wurzel haben, und mit ſittlichen, politiſchen, volkswirth-

ſchaftlichen Gründen und Zwecken im Zuſammenhang ſtehen

(§ 349). Es liegt aber in der Natur ſolcher zwingenden

Geſetze, daß ſie ihre Macht und Wirkſamkeit mehr, als

andere Geſetze, ausdehnen müſſen, wie dieſes auch ſchon

oben bei der örtlichen Colliſion der Geſetze geltend gemacht

worden iſt.

 

Es iſt nun noch anzugeben, welche Stellung unſre

Schriftſteller zu der hier vorgetragenen Lehre einnehmen.

Die Unterſcheidung der zwei Klaſſen von Rechtsregeln, die

 

|0540 : 518|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

unter verſchiedenen, ja entgegengeſetzten, Grundſätzen ſtehen,

wird nirgend gemacht, vielmehr wird der Grundſatz der

Nichtrückwirkung als der für alle Geſetze gemeinſam gültige

angeſehen. Man möchte alſo erwarten, daß die Schrift-

ſteller den Geſetzen, von denen wir hier reden, in der That

den eben dargeſtellten völlig unpraktiſchen Sinn beilegen,

alſo die Aufhebung der Leibeigenſchaft als ein Verbot

künftiger Errichtung der Leibeigenſchaft behandeln würden.

Davon ſind ſie jedoch weit entfernt. Sie rechnen vielmehr

ſolche Geſetze unter die, ſchon im Römiſchen Recht vorbe-

haltenen, Ausnahmen der Nichtrückwirkung (§ 397), und

laſſen von dieſem Standpunkt aus eine Anwendung der-

ſelben auf erworbene Rechte zu (a).

Obgleich nun durch dieſe Auffaſſung dem unmittelbaren

Bedürfniß abgeholfen wird, iſt dennoch eine ſolche Auskunft

völlig zu verwerfen. Ausnahmen von dem Grundſatz der

Nichtrückwirkung haben eine zufällige Natur, ſind an ſich

entbehrlich, und würden beſſer gar nicht vorhanden ſeyn.

Dieſes Alles paßt auf die hier in Frage ſtehenden Geſetze

nicht. Wenn wir dieſe unbefangen betrachten, ſo müſſen

wir uns ſogleich überzeugen, daß in Beziehung auf ſie jene

Auskunft durchaus gezwungen iſt, und den Geſetzen einen

Sinn aufdrängt, der ihnen völlig fremd iſt. Das Geſetz,

welches die Leibeigenſchaft aufhebt, würde dadurch auf

gleiche Linie geſtellt etwa mit Juſtinian’s Geſetz über die

 

(a) Weber S. 51—52. 188—189. Bergmann S. 156. 177. 257.

|0541 : 519|

§. 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.

verbotenen Zinſen, und der ſo aufgefaßte vollſtändige In-

halt deſſelben würde in conſequent durchgeführter Faſſung

etwa ſo lauten: Es wird hierdurch verboten, künftig eine

Leibeigenſchaft zu errichten, auch ſoll dieſe Vorſchrift aus-

nahmsweiſe rückwirkende Kraft haben, ſo daß ſogar auch

die jetzt beſtehenden Verhältniſſe der Leibeigenſchaft aufge-

hoben ſeyn ſollen. Dadurch wäre eine ganz unnütze Vor-

ſchrift, an die Niemand gedacht hat, als Hauptgedanke an

die Spitze geſtellt, und es wäre als beiläufige Ausnahme

Das hinzugefügt, welches allein der Geſetzgeber dachte und

wollte. In den allermeiſten Geſetzen ſolcher Art iſt aber

ſicherlich keine Spur zu finden, die auf den Gedanken einer

exceptionellen Rückwirkung gedeutet werden könnte.

Zu dieſen Gründen aber kommt noch ein rein praktiſcher

Grund hinzu, der eine ſolche Behandlung der Sache völlig

verwerflich macht. Hätten wir bei ſolchen Geſetzen mit

einer exceptionellen Rückwirkung zu thun, ſo müßten wir

dieſelbe auch unter gewiſſe Einſchränkungen ſtellen (§ 397. f);

ſie müßte wegfallen, wenn ein Rechtsverhältniß durch Ur-

theil oder Vergleich feſtgeſtellt wäre. Das würde aber zu

der widerſinnigen Folge führen, daß die Aufhebung aller

Zehenten zwar anzuwenden wäre auf alle ſtets unbeſtrittene

Zehentrechte, aber nicht auf die Zehenten, worüber einmal

ein Rechtsſtreit abgeurtheilt oder verglichen wäre. — Dieſe

widerſinnige Folge wollen nun in der That jene Schrift-

ſteller nicht, vielmehr ſoll nach ihnen eine ſolche Aufhebung

 

|0542 : 520|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

allgemein wirken (b). Dahin aber können ſie offenbar nur

kommen, indem ſie jene Einſchränkung (die ſelbſt ſchon die

Ausnahme einer Ausnahme iſt) durch eine neue Ausnahme

beſeitigen, alſo gleichſam eine Ausnahme dritter Potenz an-

nehmen. So wird es aber immer augenſcheinlicher, wie

unnatürlich eine Auffaſſung iſt, die zu ſolchen Rettungs-

mitteln hindrängt.

Sehr charakteriſtiſch iſt die ganz verſchiedene Art, in

welcher ein anderer Schriftſteller die angegebene Schwierig-

keit zu löſen ſucht (c). Dieſer läßt keine exceptionelle

Rückwirkung, ja überhaupt keine Einwirkung des Geſetz-

gebers auf zeitliche Colliſionen der Geſetze zu (§ 387. i).

Bei der gegenwärtig vorliegenden Schwierigkeit aber hilft

er ſich damit, daß er blos die ihm beſonders mißliebigen

Inſtitute, wie Leibeigenſchaft, Steuerfreiheit des Adels, in’s

Auge faßt. Dieſe nennt er Gräuel, moraliſche Schändlich-

keiten, Ungerechtigkeiten, die an ſich kein rechtliches Daſeyn

haben. Wenn ein Geſetz ſie aufhebt, ſo ſoll es des Zu-

ſatzes der rückwirkenden Kraft nicht bedürfen. Vielmehr

ſoll jede der drei Staatsgewalten (die geſetzgebende, richter-

liche, vollziehende) für ſich allein die Macht haben, jene

Inſtitute zu ignoriren, und dadurch praktiſch zu vernichten.

— Eine Widerlegung dieſer Anſicht wird man wohl nicht

verlangen. Nur auf die praktiſche Schwierigkeit in der

 

(b) Weber S. 213—215. Bergmann S. 259.

(c) Struve S. 150—152. 274—276.

|0543 : 521|

§. 398. B. Daſeyn der Rechte. — Grundſatz.

Ausführung will ich aufmerkſam machen, die in der Feſt-

ſtellung des Daſeyns und der Gränzen jener Gräuel und

Schändlichkeiten liegt, indem darüber die ſubjektive Anſicht

der einzelnen Träger der drei Staatsgewalten vielleicht nicht

ganz übereinſtimmend ſeyn könnte. Unter dieſen Trägern

könnten ſich auch conſequente Communiſten finden, und

dieſe würden das geſammte Inſtitut des Eigenthums unter

die Gräuel zählen.

Nimmt man nun, wie es hier geſchieht, zwei Klaſſen

von Rechtsregeln an, die von ganz verſchiedenen Grund-

ſätzen beherrſcht werden, ſo iſt Nichts wichtiger, als die

Feſtſtellung ſcharfer und ſicherer Gränzen zwiſchen beiden

Klaſſen.

 

Für viele Fälle iſt die Gränze keinem Zweifel unter-

worfen; namentlich für die Fälle ſolcher Geſetze, in welchen

ein bisher beſtehendes Rechtsinſtitut völlig aufgehoben wird.

Zweifelhaft aber kann ſie ſeyn bei den Geſetzen, welche ein

Rechtsinſtitut nicht aufheben, ſondern nur umbilden (d).

Dann wird Alles auf die unbefangene Prüfung des In-

halts und des Zwecks des Geſetzes ankommen. Ein be-

ſonders ſicheres, und für die meiſten Fälle ausreichendes,

 

(d) Schon oben iſt auf dieſe Zweifel im Allgemeinen aufmerkſam

gemacht worden (§ 384). Einzelne Fälle zweifelhafter Natur ſind

vorgekommen § 390 Num. 3. 4. § 393 Num. 6.

|0544 : 522|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Mittel der Gränzſcheidung wird darin liegen, daß wir

unterſuchen, ob vielleicht ein neues Geſetz zu den ſo eben

erwähnten Geſetzen von ſtreng poſitiver, zwingender Natur

gehört, die außer dem reinen Rechtsgebiet ihre Wurzel

haben (S. 517). In dieſem Fall haben wir daſſelbe un-

zweifelhaft zu den Geſetzen über das Daſeyn der Rechte zu

zählen, auf welche der Grundſatz der Nichtrückwirkung

keine Anwendung findet.

§. 399.

B. Daſeyn der Rechte. — Anwendungen. Ausnahmen.

Die Anwendungen des im § 398 aufgeſtellten Grund-

ſatzes werden, eben ſo wie es bei den Geſetzen über den Er-

werb der Rechte geſchehen iſt, nach gewiſſen Klaſſen der

Rechtsverhältniſſe dargeſtellt werden; jedoch ſind hier ganz

andere Klaſſen, als die dort angenommen, erforderlich.

 

I. Die erſte Klaſſe, und zugleich die wichtigſte, bilden

gewiſſe Rechtsverhältniſſe, die ihrer Natur nach über das

einzelne Menſchenleben hinausreichen, ja zu einer endloſen

Fortdauer beſtimmt ſind, und nur zufällig im einzelnen Fall

untergehen. Sie laſſen ſich gemeinſam bezeichnen als Be-

ſchränkungen der perſönlichen Freiheit oder der Freiheit des

Grundeigenthums, und ſind oft aus dinglichen oder obliga-

toriſchen Rechten gemiſcht. Die meiſten derſelben (nicht

alle) haben inſofern ein hiſtoriſches Daſeyn, als ihre Ent-

 

|0545 : 523|

§. 399. A. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.

ſtehung in ganz andere Zeitalter und in untergegangene Volks-

zuſtände fällt. Dieſe ſind daher als abgeſchloſſen zu be-

trachten, und werden nicht, ſo wie andere Rechtsverhält-

niſſe, durch Willkür ſtets neu erzeugt (a). Die Geſetze,

wodurch ſolche Rechtsinſtitute aufgehoben oder umgebildet

werden, ſind ſtets von ſtreng poſitiver, zwingender Natur,

da ſie außer dem reinen Rechtsgebiet ihre Wurzel haben

(§ 398).

Aus dem Römiſchen Recht gehört dahin die für das

heutige Europa längſt verſchwundene Sklaverei.

 

Folgende Inſtitute ſolcher Art ſind in unſerm heutigen

Recht theils noch jetzt vorhanden, theils wenigſtens bis

auf unſre Tage erhalten geblieben:

 

Die Leibeigenſchaft.

Reallaſten aller Art, beſtehend in der Leiſtung von

Geld, Früchten, Dienſten (Frohnden, Robotten).

Insbeſondere das Zehentrecht.

Lehen.

Familienfideicommiſſe.

Prädialſervituten.

Emphyteuſe (b).

(a) Vgl. oben § 392. e.

(b) Die zwei letztgenannten

Arten haben nicht ſo, wie die vor-

hergehenden, einen hiſtoriſchen,

auf vergangene Zuſtände hindeu-

tenden Charakter, allein die darauf

bezüglichen umbildenden Geſetze

ſind in ihren Gründen und

Zwecken ganz gleichartig mit den

Geſetzen über die Zehenten und

die Dienſte.

|0546 : 524|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Ueber das Verhältniß alter und neuer Geſetze zu ein-

ander wird hier nicht leicht ein Zweifel entſtehen.

 

II. Die zweite Klaſſe bilden einige, auf das Ge-

ſchlechterverhältniß bezügliche, Rechtsinſtitute. Die Geſetze

über dieſe Inſtitute gehören deswegen hierher, weil ſie

nicht auf reinen Rechtsgründen beruhen, ſondern auf ſitt-

lichen (theilweiſe ſittlich-religiöſen) Gründen. Die einzel-

nen hierher gehörenden Fälle ſind folgende:

 

1. Eheſcheidung. Wenn durch ein neues Geſetz

die Scheidung überhaupt eingeführt oder abgeſchafft, oder

wenn eine Aenderung in den Scheidungsgründen vorge-

nommen wird, ſo entſteht die Frage nach dem Einfluß des

neuen Geſetzes auf die beſtehenden Ehen.

 

Betrachtet man ein ſolches Geſetz von dem abſtract

juriſtiſchen Standpunkt aus, ſo hat es eine ähnliche Natur

mit dem Geſetz über die Veräußerung des Eigenthums.

Durch dieſe Eheſcheidung verliert jeder Theil die bisher

aus der Ehe entſtehenden Rechte, ſo wie jeder die Freiheit

von den Anſprüchen des anderen Theils, und zugleich alle

Vortheile der Eheloſigkeit (Möglichkeit einer neuen Ehe)

erwirbt. Hiernach möchte man glauben, es verhielte ſich

mit den Geſetzen über Eheſcheidung gerade ſo, wie mit den

Geſetzen über das Güterrecht (§ 396). Dann hätte jeder

Ehegatte durch den Abſchluß der Ehe das unabänderliche

Recht erworben, bei einer künftigen Scheidung nach dem

zur Zeit des Anfanges der Ehe beſtehenden Geſetz beurtheilt

zu werden.

 

|0547 : 525|

§. 399. B. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.

Dieſe Auffaſſung muß jedoch verworfen werden, weil

die Geſetze über die Eheſcheidung ſittliche Gründe und

Zwecke, mithin eine zwingende Natur haben, und daher

zu den Geſetzen über das Daſeyn der Ehe gehören (c).

Dieſes iſt gleich wahr, das neue Geſetz mag die Scheidung

erſchweren oder erleichtern. Das erſte ſetzt den überwie-

genden Werth auf Erhaltung der Reinheit und Heiligkeit

der Ehen; das zweite auf unbeſchränkte Erhaltung der in-

dividuellen Freiheit (d); beides ſind ſittliche Principien,

deren relativer Werth oder Unwerth hier ganz dahin ge-

ſtellt bleiben muß, wo es blos darauf ankommt, die Natur

der darauf bezüglichen Geſetze zu beſtimmen.

 

Die hier aufgeſtellte Anſicht iſt in der Preußiſchen

tranſitoriſchen Geſetzgebung, wiewohl mit einer geringen

 

(c) Man könnte es für ein-

ſeitig und unbegründet halten, daß

hier nur der Eheſcheidung dieſer

Charakter zugeſchrieben werde,

nicht auch dem ganzen übrigen

rein perſönlichen Recht der Ehe,

namentlich den perſönlichen Rech-

ten und Pflichten während der

Ehe. Der Unterſchied iſt jedoch

der, daß auf dieſe der Geſetzgeber

und der Richter ſehr wenig mög-

lichen Einfluß haben, anſtatt daß

der Ausſpruch über Daſeyn oder

Nichtdaſeyn der Ehe (alſo die

Eheſcheidung) ſehr wohl mit Er-

folg durchgeführt werden kann.

(d) Die Freiheit braucht hier

nicht gedacht zu werden als bloße

Willkür, als Verneinung unbe-

quemer Schranken, welche aller-

dings keine beſonders ſittliche Na-

tur hat; ſie kann auch gedacht

werden als Schutz der ſittlichen

Freiheit in der Ehe gegen jeden

äußeren, dieſe Freiheit ſtörenden,

und dadurch die Reinheit der Ehe

gefährdenden, Zwang. Dieſes war

die urſprüngliche Anſicht der Rö-

mer, wurzelnd in der Zeit alter

Sittenreinheit. L. 134 pr. de V.

O. (45. 1), L. 14 C. de nupt.

(5. 4), L. 2 C. de inut. stip.

(8. 39).

|0548 : 526|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Modification, anerkannt worden. Als in den Jahren 1814

und 1816 das allgemeine Landrecht in mehrere Provinzen

theils neu eingeführt, theils wieder eingeführt wurde, be-

ſtimmte man für die Scheidung der beſtehenden Ehen, daß

dieſe von jetzt an nach dem Landrecht, alſo unabhängig

von dem Geſetz zur Zeit der geſchloſſenen Ehe, beurtheilt

werden ſollte. Nur wurde die ſehr mäßige und nicht

unbillige Ausnahme hinzugefügt, daß ein Scheidungsgrund

des Landrechts nicht geltend gemacht werden dürfe, wenn

die zum Grund liegende Thatſache vorgefallen ſey während

der Herrſchaft des fremden Geſetzes, und in dieſem Geſetz

nicht als Scheidungsgrund gegolten habe (e).

Ganz gleiche Natur mit den Geſetzen über die Ehe-

ſcheidung haben die Geſetze über die Nichtigkeitsklage ge-

gen die Ehe.

 

2. Liberalität gegen Ehegatten. Dieſe iſt nicht

ſelten durch neue Geſetze, auch in der heutigen Zeit, be-

ſchränkt worden. Im Römiſchen Recht kommt, als uraltes,

ſehr ausgebildetes Rechtsinſtitut ſolcher Art, die verbotene

Schenkung unter Ehegatten vor (f).

 

Man möchte nun glauben, ein ſolches Geſetz gehöre

durchaus dem Güterrecht an, unter welcher Vorausſetzung

lediglich die Zeit der geſchloſſenen Ehe maaßgebend ſeyn

 

(e) Provinzen jenſeits der Elbe § 9. Weſtpreußen § 11. Poſen

§ 11. Sachſen § 11 (ſ. o. § 383).

(f) S. o. B. 4 § 162 — 164.

|0549 : 527|

§. 399. B. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.

würde. In der That aber hat ein ſolches Geſetz

zwingende Natur, wirkt alſo augenblicklich auf die

beſtehenden Ehen ein. Denn der Zweck deſſelben geht

dahin, die Gefährdung der Reinheit der Ehe durch eigen-

nützige Einwirkungen zu verhindern. Daher würde es

irrig ſeyn, die Sache ſo zu betrachten, als hätte durch die

abgeſchloſſene Ehe jeder Theil das unabänderliche Recht

erworben, wegen der Liberalität zwiſchen ihm und dem an-

dern Theil ſtets nach dem jetzt geltenden Geſetz beurtheilt

zu werden.

Dieſelbe Anſicht iſt auch ſchon oben, bei der örtlichen

Colliſion der Geſetze, geltend gemacht worden (§ 379.

Num. 4).

 

3. Uneheliche Kinder.

 

Die aus dem außerehelichen Beiſchlaf abzuleitenden

Rechte, theils des Kindes, theils der Mutter, gegen den

Erzeuger gehören unter die ſchwierigſten und zweifelhafteſten

Gegenſtände, ſowohl des Privatrechts, als der Geſetzge-

bungspolitik.

 

Man kann dabei ausgehen von der Annahme eines

vom Erzeuger begangenen Delicts, welche nach den Reichs-

geſetzen für unſer gemeines Recht wohl begründet iſt (g);

 

(g) Reichspolizeiordnung 1530

Tit. 33, 1548 Tit. 25, 1577 Tit.

26. — Auch nach dem A. L. R.

I. 3 § 36. 37 iſt es eine geſetz-

widrige Handlung, (jedoch muß

im § 37 der Druckfehler 10 in

11 verbeſſert werden). — Indeſſen

verwickelt man ſich bei der Ablei-

tung der Entſchädigungsanſprüche

aus dieſem Delict in die ſeltſam-

ſten und gewagteſten Vorſtellungen.

|0550 : 528|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

oder auch von der Annahme der natürlichen Blutsverwandt-

ſchaft, wobei jedoch ſtets die Thatſache der Paternität

völlig ungewiß bleibt (h).

In beiden Fällen könnte man annehmen, durch die

Thatſache des als Erzeugung angeſehenen Beiſchlafs ſey

ein unabänderliches Recht begründet, wobei ein ſpäteres

Geſetz Nichts ändern könne, es möge die Rechte der Kinder

und der Mutter derſelben erweitern oder beſchränken. Das

neue Geſetz würde dann nur Anwendung finden auf künf-

tige Erzeugungen.

 

Allein in der That haben ſolche Geſetze ſtets einen

zwingenden Charakter, indem ſie mit ſittlichen Zwecken im

Zuſammenhang ſtehen. Darüber iſt eine Meinungsverſchie-

denheit kaum möglich, daß die ausſchließende Geſchlechts-

gemeinſchaft in der Ehe, ſowohl ſittlich als für das Staats-

wohl, höchſt wünſchenswerth, beſonders aber, daß der Zu-

ſtand unehelicher Kinder ein höchſt unheilvoller iſt. Man

kann nun durch Erweiterung der Anſprüche der Kinder

theils dieſen Zuſtand mildern, theils dem Leichtſinn der

Männer entgegen wirken wollen. Man kann umgekehrt

verſuchen, durch Beſchränkung oder Aufhebung dieſer An-

 

(h) Die Präſumtion in der

Ehe: pater est, quem nuptiae

demonstrant, beruht auf der

Würde und Heiligkeit der Ehe.

Damit aber hat die Thatſache des

erwieſenen oder eingeſtandenen

außerehelichen Beiſchlafs auch

nicht entfernte Aehnlichkeit, da

neben dieſer Thatſache ſchon die

bloße Möglichkeit der Concurrenz

anderer Männer Alles ungewiß

macht, noch mehr aber die erwie-

ſene Wirklichkeit einer ſolchen Con-

currenz (exceptio plurium).

|0551 : 529|

§. 399. B. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.

ſprüche theils dem Leichtſinn der Frauen entgegen zu wirken,

theils die Störung des Friedens mancher Ehen durch die

von fremden Frauen erhobenen Anſprüche, zu verhüten.

In beiden Richtungen neuer Geſetze iſt ein ſittlicher Zweck

unverkennbar, und es kann dabei ganz gleichgültig ſeyn,

welche dieſer Richtungen an ſich oder durch Erfahrungen

im Großen mehr begründet ſeyn möge.

Nimmt man Dieſes als richtig an, ſo muß das neue

Geſetz über uneheliche Kinder augenblicklich zur Anwendung

kommen, ohne Rückſicht auf das Geſetz, welches zur Zeit

der Erzeugung oder der Geburt des Kindes beſtanden hat.

— Dieſelbe Regel iſt ſchon oben in Beziehung auf

die örtlichen Colliſionen geltend gemacht worden (§ 374

Noten aa. bb.).

 

Mit dieſen Anſichten ſtimmt überein das Franzöſiſche

Geſetz, welches ſelbſt die Unterſuchung der Paternität

verbietet (i), alſo ſelbſt die Möglichkeit abſchneidet, einem

unehelichen Kinde, mit Ausnahme der freiwilligen Aner-

kennung, Anſprüche gegen den Erzeuger zu verſchaffen.

Man hat dieſes Geſetz mit Unrecht getadelt, als ob es eine

ungehörige Rückwirkung enthielte (k). Man hat es eben

ſo mit Unrecht vertheidigt, als ob es den perſönlichen Zu-

ſtand an ſich zum Gegenſtand hätte (l). Die wahre Recht-

 

(i) Code civil art. 340 „La

recherche de la paternité est

interdite.“

(k) Struve S. 233.

(l) Weber S. 79—82. Die-

ſelbe Anſicht haben die Franzö-

ſiſchen Juriſten.

VIII. 34

|0552 : 530|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

fertigung liegt darin, daß es ein Geſetz von zwingender

Natur iſt.

Eben ſo ſtimmt damit überein die tranſitoriſche Preußi-

ſche Geſetzgebung, die, nur mit anderem Ausdruck als das

Franzöſiſche Geſetz, verordnet, daß die unehelichen Kinder,

auch wenn ſie noch unter der Herrſchaft des fremden Ge-

ſetzes geboren wurden, dennoch von jetzt an die Anſprüche

des Landrechts ſollten geltend machen können (m).

 

III. Eine dritte Klaſſe endlich bilden manche Geſetze

über rein juriſtiſche Inſtitute, welche durch jene Geſetze

entweder völlig aufgehoben oder doch von Grund aus um-

gebildet werden, und die deswegen augenblicklich auf ſchon

beſtehende Rechtsverhältniſſe anzuwenden ſind.

 

Dahin gehört das Geſetz, wodurch Juſtinian das

bisher beſtehende zweifache Eigenthum (ex jure quiritium

und in bonis) aufhob, und an deſſen Stelle ein einfaches

Eigenthum ſetzte, das alle bisher zuweilen getrennte Rechte

in ſich vereinigen ſollte (n). — Eben ſo verhält es ſich

mit dem Franzöſiſchen Geſetz, welches dem Eigenthümer

einer beweglichen Sache die Vindication verſagt, wenn

daſſelbe irgendwo anſtatt des Römiſchen Rechts eingeführt

werden ſollte. Dieſe Veränderung würde augenblicklich

 

(m) Provinzen jenſeits der

Elbe § 11. Weſtpreußen § 14.

Poſen § 14 (ſ. o. § 383).

(n) L. un. C. de nudo j.

Quir. toll. (7. 25). Damit hörte

von ſelbſt auf die eigenthümliche

Natur des fundus Italicus und

der res mancipi. L. un. C. de

usuc. transform. (7. 31).

|0553 : 531|

§. 399. B. Daſeyn der Rechte. Anwendungen. Ausnahmen.

auch auf das gerade vorhandene bewegliche Eigenthum an-

zuwenden ſeyn; eben ſo aber auch die umgekehrte Veränderung

in dem Rechte des Eigenthums.

Ferner gehört dahin ein neues Geſetz, welches geſetzliche

Servituten, als natürliche Beſchränkungen des Eigenthums,

einführt, oder welches umgekehrt ſolche Servituten, wenn

ſie bisher beſtanden, aufhebt (§ 390 Num. 2).

 

Gleiche Natur hat die Verwandlung des Römiſchen

Pfandrechts in das Preußiſche Hypothekenrecht; beide

Syſteme können nicht neben einander beſtehen, vielmehr

muß das eine ſofort durch das andere verdrängt werden

(§ 390 Num. 3). Welche Anſtalten aber zu treffen ſind,

um dieſe Veränderung ohne Rechtsverletzung zu bewirken,

wird ſogleich angegeben werden (§ 400).

 

Endlich würden wir dahin auch den Fall zu rechnen

haben, wenn die teſtamentariſche Erbfolge in einem Staate,

der ſie bisher anerkannte, durch ein neues Geſetz aufge-

hoben würde (§ 393 Num. 6).

 

Ausnahmen des für dieſe Klaſſe neuer Geſetze auf-

geſtellten Grundſatzes laſſen ſich eben ſowohl denken, als

bei den Geſetzen über den Erwerb der Rechte (§ 397).

Nur werden ſie hier niemals in der Richtung vorkommen,

daß die Wirkſamkeit des neuen Geſetzes noch mehr erweitert

würde, als nach dem Grundſatz ſelbſt, da dieſer ohnehin

 

|0554 : 532|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

ſchon ſo weit als möglich geht; vielmehr werden ſie nur

dahin gerichtet ſeyn können, die Wirkſamkeit des neuen

Geſetzes auf ſchonende Weiſe einzuſchränken.

Ein Fall dieſer Art aus einem Preußiſchen tranſitoriſchen

Geſetz iſt ſchon oben vorgekommen (§ 399. II. 1). Das

Preußiſche Scheidungsgeſetz ſollte ſogleich in Wirkſamkeit

treten, jedoch mit Ausnahme mancher, die Scheidung be-

gründender Thatſachen.

 

Eine andere Ausnahme findet ſich in dem Geſetz des

Königreichs Weſtphalen, welches die Lehen und Fidei-

commiſſe aufhob, das heißt, in freies Eigenthum verwan-

delte. Dieſes Geſetz ſollte natürlich nicht blos die Stiftung

neuer Lehen nnd Fideicommiſſe verhindern, ſondern gerade

die beſtehenden umwandeln. Es that Dieſes jedoch mit der

ſchonenden Ausnahme, daß der nächſte Succeſſionsfall

noch nach dem bisherigen Recht behandelt werden ſollte (o).

 

§. 400.

B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.

Ich kehre jetzt zurück zu der oben vorbehaltenen Frage

wegen der Rechtmäßigkeit der gegenwärtig dargeſtellten

Klaſſe von Geſetzen (S. 517).

 

(o) An dieſe Ausnahme hat

ſpäterhin das Preußiſche Geſetz

vom 11. März 1818 in der Art

angeknüpft, daß alle Lehen und

Fideicommiſſe, worin der vorbe-

haltene nächſte Succeſſionsfall

noch nicht eingetreten war, nun-

mehr für immer wiederhergeſtellt

ſeyn ſollten. Geſetz-Sammlung

1818. S. 17.

|0555 : 533|

§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.

Es iſt gezeigt worden, daß dieſe Geſetze, wenigſtens in

den meiſten und wichtigſten Fällen, nur ſo gemeint ſeyn

können, daß ſie in erworbene Rechte eingreifen, indem ſie

die Rechtsinſtitute ſelbſt, alſo auch die unter denſelben ſte-

henden einzelnen Rechtsverhältniſſe (a), entweder vernichten,

oder doch weſentlich umbilden, beides ohne Rückſicht auf den

Willen des Berechtigten.

 

Man kann nun dieſe Behauptung zugeben, aber eben

daran die ſcheinbare Einwendung anknüpfen, daß gerade

deshalb die Geſetze dieſer Art durchaus als rechtswidrig,

verwerflich, unzuläſſig angeſehen werden müßten. Wer

dieſe Einwendung erhebt, geht offenbar aus von der Vor-

ausſetzung, daß jeder Eingriff in ein erworbenes Recht,

ohne Einwilligung des Berechtigten, vom Standpunkt des

Rechts aus betrachtet, ſchlechthin unmöglich ſey, und er

ſieht dieſe Unmöglichkeit als einen oberſten, unbedingten

Grundſatz an. Gerade dieſe Vorausſetzung aber kann aus

folgenden Gründen nicht zugegeben werden.

 

Zuerſt nicht, weil ſie mit der allgemeinen Natur und

Entſtehung des Rechts unvereinbar iſt. Das Recht hat

ſeine Wurzel in dem gemeinſamen Bewußtſeyn des Volkes.

Dieſes iſt nun zwar auf der einen Seite durchaus verſchie-

den von dem leicht und ſchnell wechſelnden, zufälligen und

veränderlichen Bewußtſeyn des einzelnen Menſchen; auf

 

(a) Vgl. oben B. 1 § 4. 5 über die Begriffe von Rechtsverhält-

niß und Rechtsinſtitut.

|0556 : 534|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

der anderen Seite aber iſt es allerdings dem Geſetz einer

umbildenden Entwickelung unterworfen, alſo nicht als ein

ruhendes, ſtillſtehendes zu denken (b). Daher können wir

unmöglich irgend einem einzelnen Zeitalter die Macht ein-

räumen, durch ſein eigenthümliches Rechtsbewußtſeyn alle

künftige Zeiten zu bannen und zu beherrſchen. — Einige

Beiſpiele werden Dieſes anſchaulich machen.

Im ganzen Alterthum wurde der Stand der Sklaven

als eine Art von Naturnothwendigkeit betrachtet, und man

dachte ſich kaum die Möglichkeit, daß ein geſittetes Volk

ohne einen ſolchen leben könne. Im heutigen chriſtlichen

Europa wird eben ſo dieſer Stand als völlig unmöglich,

als allem Rechtsbewußtſeyn durchaus widerſprechend, ge-

dacht (c). Der Uebergang aus dem einen dieſer Zuſtände

in den andern, in Folge der ſehr allmäligen Einwirkung

chriſtlicher Sitten und Zuſtände, hat ſich ſo langſam und

unmerklich gemacht, daß wir das Aufhören des alten Zu-

 

(b) B. 1 § 7.

(c) Manche Schriftſteller ha-

ben dieſen Gegenſatz mitunter da-

durch zu verdunkeln oder abzu-

ſchwächen geſucht, daß ſie den in

neuerer Zeit mit harten Freiheits-

ſtrafen verbundenen Zuſtand ver-

glichen haben mit dem oft milden,

ja freundlichen Zuſtand der Skla-

ven des Alterthums. Dadurch

aber wird das wahre Verhältniß

nur entſtellt. Um ſich den Gegen-

ſatz in ſeiner Reinheit und

Schärfe vor Augen zu halten,

muß man zwei Dinge bedenken.

Erſtlich die Entſtehung der Skla-

verei durch die Geburt; zweitens

die dem Rechte nach ganz gleiche

Stellung des Sklaven mit den

Hausthieren (Ulpian. XIX. 1),

als einer käuflichen Waare. —

Der heutige Sklavenſtand im

Orient, ſo wie der ganz verſchie-

dene in Amerika, kann hier ganz

auf ſich beruhen.

|0557 : 535|

§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.

ſtandes nicht mit Sicherheit geſchichtlich verfolgen können.

Geſetzt nun, dieſer Uebergang wäre nicht ſo allmälig, ſon-

dern in kurzer Zeit eingetreten, etwa in Folge einer gewalt-

ſamen geiſtigen Erſchütterung des Volksbewußtſeyns, ſo

würden wir unmöglich einem ſolchen neuen Zeitalter das

Recht verſagen können, der gegenwärtigen, allgemein ge-

wordenen Ueberzeugung Raum zu geben, und dem Sklaven-

ſtand als Rechtsinſtitut die fernere Anerkennung zu ver-

ſagen. Daneben ließen ſich mancherlei Wege denken,

den Uebergang zu vermitteln, und gegen Gefahren zu

ſchützen.

Ein anderes Beiſpiel möge das Zehentrecht darbieten.

In Zeiten einer wenig entwickelten, ſtationären Boden-Cultur

konnte dieſes als ein einfaches, natürliches, zweckmäßiges

Rechtsinſtitut gelten, und große Verbreitung erhalten.

Bei lebendiger Entwickelung gewerblicher Thätigkeit mußte

man ſich überzeugen, daß durch eine ſolche, auf dem Roh-

ertrag ruhende, Abgabe jeder Fortſchritt des Landbaues

gehemmt, oft unmöglich gemacht werde. Darunter litten

die Verpflichteten, ſo wie durch ſie der Staat im Ganzen,

nicht die Berechtigten, die alſo vielleicht einer Verwandlung

der ihnen bequemen Zehenten widerſtrebten. Wenn nun

die Ueberzeugung von den mit dieſem Zuſtand verbundenen

Nachtheilen allgemein wurde, ſo war die geſetzliche Ver-

wandlung der bisher unablöslichen Zehenten in ablösliche

gerechtfertigt, indem dadurch dem Staat und den Verpflich-

teten ein augenſcheinlicher großer Gewinn erworben, von

 

|0558 : 536|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

dem Berechtigten aber durch vollſtändige Entſchädigung

jeder Verluſt abgewendet wurde.

Der eben entwickelte erſte Grund gegen die Vorausſetzung

einer unbedingten Rechtswidrigkeit der Geſetze, welche durch

Zerſtörung oder Umbildung von Rechtsinſtituten irgend

einen Eingriff in erworbene Rechte mit ſich führen, war

entnommen aus der Entſtehung des Rechts, alſo aus der

Betrachtung des Volkes, in deſſen Rechtsbewußtſeyn das

Recht ſelbſt ſeine Wurzel hat. Ein zweiter Grund, der zu

demſelben Ziele führt, bezieht ſich auf die einzelnen Men-

ſchen als Träger der erworbenen Rechte. Wer die abſo-

lute Unantaſtbarkeit erworbener Rechte durch neue Geſetze

behauptet, verneint nur die Unfreiwilligkeit eines ſolchen

Eingriffs, und räumt die Rechtmäßigkeit der Veränderung

unbedenklich ein, ſobald die Einwilligung des Berechtigten

in die Aufhebung oder Umbildung des erworbenen Rechts

hinzutritt. Wir wollen aber die Natur dieſes Berechtigten,

als des Trägers erworbener Rechte, näher betrachten. Das

erworbene Recht erſcheint als erweiterte Macht des einzel-

nen Menſchen, und hat ſtets eine mehr oder weniger zu-

fällige Natur (d). Der einzelne Menſch aber hat ein

beſchränktes und vorübergehendes Daſeyn. Wenn daher

gegen die Geſetze, wodurch Rechtsinſtitute aufgehoben oder

umgebildet werden, wegen des Eingriffs in erworbene

Rechte ein unbedingter Widerſpruch erhoben werden ſoll,

 

(d) S. o. B. 1 § 4. 52. 53.

|0559 : 537|

§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.

ſo iſt dieſer Widerſpruch wenigſtens wegen der beſchränkten

Natur des Trägers erworbener Rechte nach zwei Seiten

hin in enge Gränzen zu verweiſen.

Dem neuen Geſetze könnte höchſtens ſeine rechtmäßige

Einwirkung beſtritten werden, ſo lange der Träger eines

erworbenen Rechts lebt. Hinterläßt er Erben, ſo haben

dieſe zur Zeit der Erſcheinung des neuen Geſetzes kein ver-

letzbares erworbenes Recht. Mit anderen Worten: Alles

Erbrecht iſt rein poſitiv, und wenn daſſelbe durch ein neues

Geſetz an gewiſſe Bedingungen und Schranken geknüpft

wird, ſo kann darin niemals ein Eingriff in erworbene

Rechte gefunden werden. Wir wollen Dieſes auf den

oben als Beiſpiel gewählten Fall anwenden. Wenn das

neue Geſetz, welches die Sklaverei beſeitigen wollte, die

Beſtimmung gäbe, daß in Zukunft kein Erbe durch Erbfolge

das Eigenthum von Sklaven erwerben könnte, ſo läge

darin gewiß nicht die Verletzung eines erworbenen Rechts.

 

Dieſe Betrachtung gründete ſich auf das nahe Ende

jedes menſchlichen Lebens. Eben dahin aber führt die Er-

wägung des Anfangs. Jeder Menſch muß den Rechts-

zuſtand anerkennen, den er bei ſeiner Geburt beſtimmt

findet. Wenn alſo vor ſeiner Geburt ein Rechtsinſtitut

durch neues Geſetz aufgehoben oder umgebildet wird, ſo

kann wenigſtens ihm nicht ein erworbenes Recht dadurch

verletzt ſeyn (e).

 

(e) Meyer p. 34. 35. Vgl. oben § 395. b. — Ein Geſetz, wel-

ches die Lehen oder Fideicommiſſe aufhebt, verletzt daher gewiß

nicht die Rechte Derjenigen, die erſt ſpäter erzeugt werden.

VIII. 35

|0560 : 538|

Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

Durch dieſe Gründe ſollte jedoch nur die Behauptung un-

bedingter Rechtswidrigkeit aller Geſetze der hier betrachteten

Art widerlegt werden. Ich bin aber weit entfernt, damit

der ſchrankenloſen und willkürlichen Einwirkung durch ſolche

Geſetze das Wort reden zu wollen. Es ſollte vielmehr die

ganze Frage von dem abſoluten Rechtsboden entfernt, und

in das Gebiet der Geſetzgebungspolitik hinüber geleitet

werden, wo ihr wahrer Sitz iſt, und wo vielen verderb-

lichen Mißgriffen entgegen gewirkt werden kann durch die

ernſte Aufforderung zur Vorſicht, Beſonnenheit und

Mäßigung. Die Hauptgeſichtspunkte, worauf es ankommt,

möchten etwa folgende ſeyn.

 

Die erſte Vorſicht muß dahin gehen, nicht leichtſinnig

zu verfahren, nicht ohne Noth ein Bedürfniß zu Geſetzen

ſolcher Art anzunehmen, alſo mißtrauiſch zu ſeyn gegen die

aus bloßen Theorien abgeleitete, durch angebliche öffentliche

Meinung unterſtützte, Behauptung, daß das gemeine Wohl

eine Neuerung erfordere.

 

Zweitens iſt in die Ausführung die höchſte Schonung

und Billigkeit zu legen. Dieſe wird bei den meiſten und

wichtigſten Geſetzen dieſer Klaſſe, die ſich auf ſtets fort-

währende Rechtsverhältniſſe beziehen (§ 399. I.), darin be-

ſtehen müſſen, daß ein Rechtsinſtitut nicht aufgehoben,

ſondern umgebildet, das Rechtsverhältniß aus einem unab-

löslichen in ein ablösliches verwandelt werde. Wird in

dieſer Weiſe auf eine wahre, vollſtändige Entſchädigung

des Berechtigten hingewirkt, ſo hat das Geſetz ſeinen Be-

 

|0561 : 539|

§. 400. B. Daſeyn der Rechte. — Rechtmäßigkeit.

ruf erfüllt. Dieſes iſt nicht ſchwer in den zahlreichen Fällen

der Reallaſten aller Art, bei welchen in der Regel nur

zwei Perſonen einander gegenüber ſtehen. Jeder wahre

politiſche oder volkswirthſchaftliche Zweck wird durch die

Ablöſung mit Entſchädigung vollſtändig erreicht, ohne Be-

reicherung des einen Theils auf Koſten des anderen, die

durch die Natur ſolcher Geſetze auf keine Weiſe zu recht-

fertigen iſt.

Ein großartiges Beiſpiel ſolcher Entſchädigung iſt in

neuerer Zeit durch die Engliſche Sklavenemancipation gege-

ben worden, indem der Staat die Eigenthümer der Sklaven

aus ſeinem Vermögen für den verlornen Werth entſchädigte.

 

Sehr ſchwierig iſt die Löſung dieſer Aufgabe bei der

Aufhebung von Lehen und Fideicommiſſen, indem hier die

Anſprüche und Erwartungen der zur Nachfolge berechtigten

einzelnen Perſonen in hohem Grade ungewiß ſind. Eine

Verminderung des Nachtheils kann darin geſucht werden,

daß die Ausführung etwas verſchoben wird (§ 399. o).

 

In manchen Fällen iſt gar keine Entſchädigung nöthig,

ſondern nur die Vermittlung eines Uebergangs, welche zur

Abwendung jedes möglichen Nachtheils hinreichend ſeyn

kann. So iſt es geſchehen in den zahlreichen Fällen, in

welchen die Preußiſche Hypothekenordnung an die Stelle

des bisher geltenden gemeinrechtlichen Pfandrechts geſetzt

wurde. Es kam dabei nur darauf an, den bisherigen

Pfandgläubigern ihr Recht und ihre Priorität zu erhalten.

Dieſes geſchah, indem ſie öffentlich aufgefordert wurden’

 

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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. II. Zeitliche Gränzen.

ſich binnen einer beſtimmten Friſt zu melden, um in die

neuen Hypothekenbücher nach der Rangordnung, die ihnen

ihr bisheriges Recht anwies, eingetragen zu werden.

Nicht einmal einer ſolchen Vorkehrung, noch weniger

einer Entſchädigung, bedurfte es, als Juſtinian das bis

dahin beſtehende zweifache Eigenthum aufhob (§ 299. n).

Denn durch dieſe Veränderung verlor Niemand ein Recht

oder einen Vortheil, und es wurde nur der vom Geſetz-

geber ſelbſt ausgeſprochene Zweck erreicht, die Gemüther

der ſtudirenden Jugend von dem Schrecken zu befreien, den

ihnen bis dahin die in dieſer Lehre erhaltene unnütze Ge-

lehrſamkeit eingeflößt hatte.

 

Berlin, gedruckt in der Deckerſchen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei.

 

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