|0001|

|0002|

|0003|

|0004|

|0005|

|0006|

|0007 : [I]|

Syſtem

des

heutigen Römiſchen Rechts

von

Friedrich Carl von Savigny.

Sechster Band.

Mit K. Bairiſchen und K. Würtembergiſchen Privilegien.

 Berlin.

Bei Veit und Comp.

1847.

 

|0008 : [II]|

|0009 : [III]|

Vorrede der erſten Abtheilung

(§. 256—279).

Die lange Unterbrechung des vorliegenden Werkes

iſt nicht durch verminderte Neigung zu dieſer Arbeit,

ſondern allein durch die Menge unabweislicher an-

derer Arbeiten bewirkt worden. Um Dieſes durch

die That zu bewähren, die mehr, als eine bloße

Verſicherung, Eindruck zu machen geeignet iſt, habe

ich es für beſſer gehalten, den einzelnen Abſchnitt

des ſechsten Bandes, zu deſſen Ausarbeitung ſich

gerade die nöthige Zeit gewinnen ließ, abgeſondert

erſcheinen zu laſſen, als die Vollendung des ganzen

Bandes abzuwarten. Es wird jedoch durch fort-

laufende Seitenzahlen in der zweiten Abtheilung

(welche die Lehre vom Urtheil enthalten ſoll) dafür

geſorgt werden, daß der ſechste Band auch in der

 

|0010 : IV|

Vorrede.

äußeren Erſcheinung mit den vorhergehenden Bänden

gleichförmig werde.

Den bisher erſchienenen Theilen dieſer Arbeit

iſt von manchen Seiten der nicht unerwartete Vor-

wurf gemacht worden, daß der, als eine Darſtellung

des heutigen Rechts bezeichnete, Plan des Werkes

durch unverhältnißmäßige Einmiſchung hiſtoriſcher

Unterſuchungen oft verlaſſen und geſtört werde.

Dieſem Vorwurf wird ohne Zweifel auch der gegen-

wärtige Abſchnitt nicht entgehen. Zwar iſt der

Gegenſtand deſſelben ſo praktiſch, als irgend ein

Stück unſres Rechtsſyſtems; allein die vorliegende

Behandlung deſſelben hat ſich allerdings von aus-

führlichen hiſtoriſchen Unterſuchungen nicht frei hal-

ten können. Auch werden dieſe Unterſuchungen

beſonders dadurch bei Manchen Anſtoß erregen,

daß ſie großentheils in dem letzten Ziel mit den

Anſichten Anderer übereinſtimmen, und nur den

Weg, auf welchem Dieſe zu dem gemeinſamen Ziel

gelangen wollen, als irrig darzuſtellen ſuchen. Ein

Verfahren ſolcher Art wird von nicht Wenigen als

unpraktiſch angeſehen.

 

Indeſſen kann ich mich, auch bei ſorgfältigem

Rückblick auf den jetzt beendigten Abſchnitt, nicht

 

|0011 : V|

Vorrede.

überzeugen, daß derſelbe irgend Etwas enthalte, das

nicht nothwendig wäre, um über den hier behandel-

ten Gegenſtand zu wirklicher Einſicht und Überzeu-

gung zu gelangen. Ich weiß in der That hierüber

Nichts zu Dem hinzuzufügen, welches ſchon in der

Vorrede des erſten Bandes (S. XXXII. fg.) geſagt

worden iſt. So werden alſo auch ferner verſchie-

dene Meinungen über das in dieſer Arbeit einge-

haltene richtige Maaß kaum zu vermeiden ſeyn.

Geſchrieben im October 1846.

 

|0012 : [VI]|

Vorrede der zweiten Abtheilung

(§. 280—301).

Durch die der zweiten Abtheilung gegebene Ein-

richtung iſt die bei der erſten gegebene Zuſage in

Erfüllung gegangen, ſo daß jetzt der ſechste Band

mit den früheren Bänden durchaus gleichförmig

geworden iſt.

 

Geſchrieben im Julius 1847.

 

|0013 : VII|

Inhalt des ſechsten Bandes.

Zweites Buch. Die Rechtsverhältniſſe.

Viertes Kapitel. Verletzung der Rechte.

 

Seite

§. 256. Litis Conteſtation. Einleitung 1

§. 257. Weſen der Litis Conteſtation. — I. Römiſches

Recht 8

§. 258. Weſen der Litis Conteſtation — I. Römiſches

Recht. (Fortſetzung.) 23

§. 259. Weſen der Litis Conteſtation. — II. Canoniſches

Recht und Reichsgeſetze 36

§. 260. Wirkung der Litis Conteſtation. — Einleitung 48

§. 261. Wirkung der Litis Conteſtation. — I. Verurtheilung

ſelbſt geſichert 54

§. 262. Wirkung der Litis Conteſtation. — I. Verurtheilung

ſelbſt geſichert (Fortſetzung.) 63

§. 263. Wirkung der Litis Conteſtation. — I. Verurtheilung

ſelbſt geſichert (Fortſetzung.) 73

|0014 : VIII|

Inhalt des ſechsten Bandes.

Seite.

§. 264. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der

Verurtheilung. Einleitung 78

§. 265. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der

Verurtheilung. — a) Erweiterungen 101

§. 266. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.

(Fortſetzung) 106

§. 267. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der

Verurtheilung. — a) Erweiterungen. (Ver-

ſäumte Früchte.) 113

§. 268. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.

(Prozeßzinſen.) 121

§. 269. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.

(Prozeßzinſen. Fortſetzung.) 133

§. 270. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.

(Prozeßzinſen. Fortſetzung.) 138

§. 271. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — a) Erweiterungen.

(Prozeßzinſen. Fortſetzung.) 148

§. 272. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — b) Verminderungen 164

§. 273. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — b) Verminderungen.

(Fortſetzung.) 170

|0015 : IX|

Inhalt des ſechsten Bandes.

Seite.

§. 274. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — b) Verminderungen.

(Fortſetzung.) 183

§. 275. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — b) Verminderungen.

(Zeitpunkt der Schätzung.) 198

§. 276. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — b) Verminderungen.

(Zeitpunkt der Schätzung. L. 3 de cond.

tritic.) 216

§. 277. Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang

der Verurtheilung. — b) Verminderungen.

(Preisveränderung.) 227

§. 278. Stellung der Litis Conteſtation und ihrer Folgen

im heutigen Recht 237

§. 279. Stellung der Litis Conteſtation und ihrer Folgen

im heutigen Recht. (Fortſetzung.) 246

§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung 257

§. 281. Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte 265

§. 282. Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte. (Fortſetzung.) 272

§. 283. Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte. (Fortſetzung.) 280

§. 284. Rechtskraft. I. Bedingungen. A. Formelle 285

§. 285. Rechtskraft. I. Bedingungen. A. Formelle. (Fort-

ſetzung.) 295

§. 286. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des

Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —

Arten des Urtheils 300

|0016 : X|

Inhalt des ſechsten Bandes.

Seite.

§. 287. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des

Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —

Fall der Verurtheilung des Beklagten 313

§. 288. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des

Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —

Fall der Freiſprechung des Beklagten 320

§. 289. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des

Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —

Nicht: Verurtheilung des Klägers 328

§. 290. Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des

Urtheils als Grundlage der Rechtskraft. —

Nicht: Verurtheilung des Klägers. (Fort-

ſetzung) 338

§. 291. Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft

der Gründe 350

§. 292. Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft

der Gründe. (Fortſetzung.) 370

§. 293. Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft

der Gründe. Schriftſteller 385

§. 294. Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft

der Gründe. Preußiſches Recht 394

§. 295. Rechtskraft. II. Wirkungen. Einleitung 409

§. 296. Einrede der Rechtskraft. Bedingungen. — Überſicht.

I. Dieſelbe Rechtsfrage 417

§. 297. Einrede der Rechtskraft. I. Dieſelbe Rechtsfrage 424

§. 298. Einrede der Rechtskraft. I. Dieſelbe Rechtsfrage.

Legitimationspunkt 429

|0017 : XI|

Inhalt des ſechsten Bandes.

Seite.

§. 299. Einrede der Rechtskraft. I. Dieſelbe Rechtsfrage.

Äußerer und juriſtiſcher Gegenſtand der Klage 443

§. 300. Einrede der Rechtskraft. I. Dieſelbe Rechtsfrage.

Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes 453

§. 301. Einrede der Rechtskraft. Bedingungen. II. Die-

ſelben Perſonen 466

Beilage XV. Appellatio und Provocatio 485

Beilage XVI. L. 7 de exceptione rei judicatae 501

Beilage XVII. Causa adjecta s. expressa 514

|0018|

|0019 : [1]|

§. 256.

Litisconteſtation. Einleitung.

Winckler Discrimen inter litis contestationem jure ve-

teri ac hodierno (Opuscula minora Vol. I. Lips. 1792.

8. p. 293—370).

Keller über Litisconteſtation und Urtheil. Zürich. 1827. 8.

Bethmann-Hollweg in: Mohl und Schrader Zeit-

ſchrift für Rechtswiſſ. B. 5 Stuttg. 1829 S. 65—97

(Rec. des Buchs von Keller).

Wächter Erörterungen aus dem Römiſchen, Deutſchen

und Württembergiſchen Privatrechte. Heft 2 und 3.

Stuttgart 1846. 8.

Die Aufgabe des Actionenrechts, in deſſen Mitte unſere

Unterſuchung ſich gegenwärtig befindet, wurde oben (§ 204)

dahin beſtimmt: die Veränderungen feſtzuſtellen, welche in

einem Rechte durch die Verletzung deſſelben, ſo wie durch

die zur Bekämpfung der Verletzung dienenden Anſtalten,

entſtehen.

 

Der geſammte Zuſtand, in welchen dieſe Veränderungen

fallen und aus welchem ſie entſpringen, iſt alſo hier zu-

nächſt als ein Zuſtand der Rechtsverletzung aufgefaßt

 

VI. 1

|0020 : 2|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

worden. Dieſe Auffaſſung iſt auch an ſich ganz richtig,

ja unentbehrlich; ſie muß aber jetzt noch durch eine andere

ergänzt werden, wenn eine vollſtändige Einſicht in die ver-

ſchiedenen Seiten, die dieſer Gegenſtand darbietet, erlangt

werden ſoll.

Nur in den ſeltenſten Fällen nämlich iſt die Rechtsver-

letzung eine anerkannte und zugeſtandene, bei welcher es

nur darauf ankommen kann, dem rechtswidrigen Willen

durch höhere Gewalt entgegen zu treten. Vielmehr wird

dieſelbe faſt immer von der einen Seite behauptet, von der

andern beſtritten werden, ſo daß dann das ganze Verhält-

niß zunächſt die Geſtalt eines Rechtsſtreits annimmt,

deſſen Entſcheidung vorhergehen muß, ehe eine Rechtsver-

letzung angenommen und ausgeglichen werden kann. Der

Rechtsſtreit nun läßt ſich ſtets in gegenſätzliche Behaup-

tungen der ſtreitenden Parteien, als in ſeine Elemente,

auflöſen, und dieſe Behauptungen, in ſofern ſie eine ſelbſt-

ſtändige Natur an ſich tragen, ſind unter dem Namen der

Klagen, Exceptionen, Replicationen und Duplicationen, in

dem vorhergehenden Bande dieſes Werks abgehandelt worden.

Auf ſie bezog ſich die erſte Klaſſe möglicher Verände-

rungen der Rechte, welche aus der bloßen Rechtsverletzung

(oder dem Rechtsſtreit) für ſich allein hervorgehen (§ 204).

Unſere Unterſuchung wendet ſich nunmehr zu der zweiten

Klaſſe ſolcher Veränderungen, welche nicht aus dem

Rechtsſtreit allein, ſondern aus den in denſelben eingrei-

fenden Prozeßhandlungen entſpringen.

 

|0021 : 3|

§. 256. Litisconteſtation. Einleitung.

Unter dieſen Prozeßhandlungen tritt uns zunächſt das

Urtheil entgegen, durch welches jeder Rechtsſtreit zur

Entſcheidung, alſo die angebliche Rechtsverletzung entweder

zur Verneinung, oder zur Anerkennung und Ausgleichung,

gebracht werden muß. Die Frage, ob und wie das Urtheil

in den Inhalt und Umfang der Rechte ſelbſt verändernd

einwirken kann, iſt in der That unabweislich, ja ſie iſt

unter allen, die hier aufgeworfen werden können, die wich-

tigſte; aber ausreichend iſt dieſe Frage nicht.

 

Sie würde nur dann als ausreichend gelten können,

wenn es möglich wäre, jeden Rechtsſtreit, ſobald er vor

den Richter gebracht wird, unmittelbar durch das Urtheil

zu beendigen. Dieſes iſt jedoch nur in den ſeltenſten Fäl-

len möglich. Faſt immer iſt Zeit, und oft ſehr lange Zeit,

nöthig, damit ein unabänderliches Urtheil mit ſicherer Über-

zeugung geſprochen werden könne. Gerade in dieſer Zeit

aber können wichtige Umwandlungen in dem ſtreitigen

Rechtsverhältniß eintreten, und wenn dieſes geſchieht, wird

oft das am Ende ausgeſprochene, die Rechtsverletzung an-

erkennende, Urtheil, die Ausgleichung gar nicht, oder nur

unvollſtändig gewähren, wozu doch die Rechtspflege be-

ſtimmt iſt.

 

Wenngleich nun dieſe Verzögerung des Urtheils nebſt

ihren nachtheiligen Folgen mit der Ausübung des Richter-

amts unzertrennlich verbunden, alſo unvermeidlich iſt, ſo

müſſen wir ſie dennoch als ein Übel anerkennen, welches

durch künſtliche Anſtalten auszugleichen unſre Aufgabe iſt.

 

1*

|0022 : 4|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Der Grund des erwähnten nothwendigen Übels liegt

darin, daß der Anfang und das Ende des Rechtsſtreits

(Klage und Urtheil) nicht gleichzeitig ſind, daß ſie vielmehr

durch einen Zeitraum getrennt werden, in welchem für das

Rechtsverhältniß Umwandlungen eintreten können. Die

Ausgleichung des Übels wird darin beſtehen müſſen, daß

das Urtheil ſich nicht darauf beſchränkt, über das urſprüng-

lich vorhandene Recht zu entſcheiden, ſondern zugleich die

Folgen dieſer Umwandlungen auszutilgen ſucht.

 

Die allgemeine Richtung, welche dieſer Theil der rich-

terlichen Entſcheidung zu befolgen hat, läßt ſich in folgender

Formel ausdrücken:

Es iſt derjenige Zuſtand künſtlich hervorzubringen,

welcher natürlich vorhanden ſeyn würde, wenn es

möglich geweſen wäre, das Urtheil im Anfang des

Rechtsſtreits auszuſprechen.

 

Jedoch iſt gleich hier wohl zu beachten, daß dieſe For-

mel blos die durch die Natur der Aufgabe gegebene allge-

meine Richtung der Löſung ausdrücken ſoll, und daß eine

unbedingte, auf dem Wege einer bloßen logiſchen Folge-

rung zu vermittelnde, Anwendung derſelben keinesweges

gemeint ſeyn kann.

 

Zur vollſtändigen Löſung der hier geſtellten Aufgabe

kommt es zunächſt darauf an, den Anfang des Rechts-

ſtreits feſtzuſtellen, indem nur dadurch der Zeitraum genau

begränzt werden kann, in welchem die durch das Urtheil

auszutilgenden Umwandlungen eingetreten ſeyn müſſen.

 

|0023 : 5|

§. 256. Litisconteſtation. Einleitung.

Das Römiſche Recht ſetzt dieſen Anfang in die Litis-

conteſtation. Dieſe werden wir als die Prozeßhandlung

aufzufaſſen haben, welche zunächſt als Anfangspunkt des

Rechtsſtreits, zugleich aber auch (welches nur eine ergän-

zende Auffaſſung iſt) als Entſtehungsgrund der beſonderen

Rechtsanſprüche anzuſehen iſt, die durch den oben an-

gedeuteten Theil des Urtheils ihre Befriedigung erhalten

ſollen.

 

Vor allem iſt nun das Weſen der Litisconteſtation

feſtzuſtellen. Dieſe Unterſuchung wird dadurch nicht wenig

erſchwert, daß ſchon bei den Römern dieſe Prozeßhandlung

wichtige Umbildungen erfahren hat. Noch ſtärker waren

dieſe in der Geſetzgebung und Praxis neuerer Zeiten.

Dennoch iſt zu allen Zeiten, und ſelbſt bei den neueſten

Schriftſtellern, der Begriff und der Name jenes Rechts-

inſtituts feſtgehalten worden, wenngleich über die nähere

Beſtimmung des Begriffs die Anſichten oft ſehr aus ein-

ander gehen.

 

Hieran muß ſich dann der größere und wichtigere Theil

unſerer Unterſuchung anknüpfen, welcher die Wirkungen

der Litisconteſtation zum Gegenſtand hat. Die Aufgabe

des richterlichen Urtheils, welche oben nur in einer allge-

meinen Formel vorläufig angedeutet war, iſt in ihre Ele-

mente zu zerlegen, wodurch allein die Einſicht gewonnen

werden kann, welche Beſtimmungen in das Urtheil aufge-

nommen werden müſſen, um die nachtheiligen Folgen der

unvermeidlichen Dauer des Rechtsſtreits zu abſorbiren.

 

|0024 : 6|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Wenn nun ſo eben behauptet worden iſt, daß der Begriff

der Litisconteſtation von allen, ſelbſt den neueſten, Schrift-

ſtellern feſtgehalten und nur auf verſchiedene Weiſe beſtimmt

worden ſey, ſo iſt davon noch ganz unabhängig die Frage,

ob auch noch im heutigen gemeinen Recht die darzuſtel-

lenden einzelnen Wirkungen an die Litisconteſtation ange-

knüpft ſind. Es läßt ſich nämlich ſehr wohl die Behaup-

tung denken, es ſey zwar ein beſtimmter, auf der nachzu-

weiſenden Entwicklung des Römiſchen Rechts beruhender,

Begriff der Litisconteſtation auch für uns vorhanden; allein

die Wirkungen, die das Römiſche Recht an die Litiscon-

teſtation knüpft, ſeyen in dem heutigen Recht, alle oder

zum Theil, auf eine andere Prozeßhandlung übergegangen.

Nach dieſer möglichen Behauptung wäre mithin ein anderer

Zeitpunkt für den Anfang des Rechtsſtreits anzunehmen,

ſey es allgemein, oder wenigſtens in Beziehung auf ein-

zelne Wirkungen die das Römiſche Recht an die Litis-

conteſtation anknüpft.

 

Da die Unterſuchung dieſer höchſt wichtigen Frage mit

den einzelnen Wirkungen in Verbindung ſteht, ſo kann die-

ſelbe auf befriedigende Weiſe erſt am Schluß der ganzen

Lehre von der Litisconteſtation unternommen werden (a).

 

(a) Eigentlich kommt dieſe Frage

in zwei verſchiedenen Geſtalten vor,

deren Prüfung an zwei verſchiede-

nen Orten unternommen werden

mußte. Erſtlich iſt von vielen be-

hauptet worden, ſchon im R. R.,

und zwar ſelbſt von Hadrian an,

ſeyen die Wirkungen der L. C. auf

einen früheren Zeitpunkt des Rechts-

ſtreits zurück verlegt worden. Da-

von mußte, des Zuſammenhangs

wegen, im § 264 gehandelt wer-

|0025 : 7|

§. 256. Litisconteſtation. Einleitung.

Der Zweck des ganzen Rechtsinſtituts, deſſen Darſtel-

lung uns gegenwärtig beſchäftigt, geht auf Beſeitigung des

nothwendigen Übels, welches in der Dauer des Rechts-

ſtreits liegt, und zwar ſoll hier dieſer Zweck erreicht werden

durch ausgleichende Beſtimmungen in dem Urtheil über den

Rechtsſtreit. Es macht daher dieſes Inſtitut einen weſent-

lichen Theil des materiellen Rechts, und zwar des Actio-

nenrechts (§ 204) aus, und kann in unſrem Syſtem nur

hier ſeine Stelle finden.

 

Allein den angegebenen praktiſchen Zweck haben mit

ihm gar manche andere Rechtsinſtitute gemein, über welche

in dieſer Beziehung hier eine allgemeine Ueberſicht nicht an

unrechter Stelle ſeyn wird.

 

Dahin gehören zuerſt alle Maaßregeln, die auf Abkür-

zung und Beſchleunigung der Prozeſſe hinwirken ſollen.

So enthielt das ältere Römiſche Recht die ſtark eingrei-

fende Regel, daß jeder Prozeß verloren ſeyn ſolle, wenn

nicht in einer ſehr mäßigen Zeit das Urtheil erfolge (b);

dadurch wurde der Kläger zur eifrigen Betreibung der

Sache aufgefordert. Das neueſte Recht hat dieſe Vor-

ſchrift ganz aufgegeben.

 

Ferner kann jede gerechte Entſcheidung, und ſo auch

 

den. Zweitens wird eine Verän-

derung dieſer Art für das heutige

Recht behauptet; davon wird am

Schluß gehandelt (§ 278. 279).

(b) Gajus IV. § 104. 105. Ein

legitimum judicium ſollte auf-

hören mit dem Ablauf von Acht-

zehn Monaten; ein judicium quod

imperio continetur mit dem Ende

der Magiſtratur, von welcher der

Juder beſtellt war. Eine Erneue-

rung derſelben Klage war unmög-

lich, weil ſie in judicium deducirt,

alſo conſumirt war.

|0026 : 8|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

der Vortheil, der von dem Inſtitut der Litisconteſtation mit

ihren Wirkungen erwartet wird, auf faktiſche Weiſe ganz

oder theilweiſe vereitelt werden, indem nämlich eine Sache

zerſtört oder veräußert, oder indem das Vermögen eines

Schuldners erſchöpft wird. Dieſe Gefahren abzuwenden

oder zu vermindern, dienen zuerſt manche wichtige Prozeß-

inſtitute, wie die Prozeßcautionen, Arreſte und Sequeſtra-

tionen, die missio in possessionem. Außerdem dienten zu

demſelben Zweck manche Inſtitute des materiellen Rechts:

ſo die Geſetze gegen die Veräußerung des Eigenthums und

die Ceſſion von Schuldforderungen, ſobald eines dieſer

Rechte Gegenſtand eines Rechtsſtreits geworden war (res

litigiosa, actio litigiosa).

Wollte man dieſe Rechtsinſtitute wegen des überein-

ſtimmenden praktiſchen Zweckes, neben der Litisconteſtation

abhandeln, ſo würde daraus nur Verwirrung hervorgehen

können. Die meiſten derſelben können nur in dem Zuſam-

menhang des Prozeßrechts ihre rechte Stelle finden; und

auch diejenigen, welche in der That dem materiellen Rechte

angehören (wie das litigiosum), ſind doch nicht hier, ſon-

dern in Verbindung mit der Lehre vom Eigenthum oder

der Ceſſion, abzuhandeln.

 

§. 257.

Weſen der Litis Conteſtation. — I. R. R.

Der Standpunkt, den wir in dieſer Unterſuchung zu

nehmen haben, um zu einer befriedigenden Einſicht in den

 

|0027 : 9|

§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.

Inhalt unſrer Rechtsquellen zu gelangen, iſt das Zeit-

alter des Formularprozeſſes, oder der vorherrſchenden ordi-

naria judicia. Das Recht der früheren Zeit kann dabei

nicht mehr in Betracht kommen. Dagegen iſt allerdings

eine beſondere Rückſicht nöthig auf die Behandlung dieſes

Gegenſtandes in dem extraordinarium judicium, welches

ſchon frühe als Ausnahme in dem Zeitalter des Formular-

prozeſſes vorkam. Die Feſtſtellung dieſes exceptionellen

Zuſtandes wird dann den Uebergang bilden zu dem ſpäte-

ren R. R., in welchem der ordo judiciorum völlig ver-

ſchwindet, alſo die frühere Ausnahme als einzige Regel

erſcheint.

Ich will damit anfangen, den Rechtszuſtand, der in

den Stellen der alten Juriſten ſtets vorausgeſetzt werden

muß, im Zuſammenhang darzuſtellen, und dann erſt die

Rechtfertigung der einzelnen Sätze hinzufügen.

 

Die Litisconteſtation iſt (zu jener Zeit) eine Verhand-

lung der ſtreitenden Parteien vor dem Prätor, worin beide

den Streit durch gegenſeitige Erklärungen dergeſtalt feſt-

ſtellen, daß derſelbe zum Uebergang an den Juder reif

wird. Dieſe Verhandlung iſt der letzte Akt des Jus, das

heißt des vor dem Prätor vorgehenden Theils des Pro-

zeſſes; ſie iſt gleichzeitig mit der von dem Prätor ertheilten

formula (a), ſetzt alſo die Ernennung des Juder voraus,

da deſſen Perſon in der formula bezeichnet wird.

 

(a) Wenn es blos darauf an-

kam, den Zeitpunkt zu bezeichnen,

von welchem an gewiſſe Wirkungen

im Prozeß eintreten ſollten, ſo

|0028 : 10|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Da jene Verhandlung dazu beſtimmt war, den Streit

vollſtändig feſtzuſtellen, ſo durfte ſie ſich nicht auf eine

bloße Erklärung über die Thatſachen beſchränken, ſie mußte

vielmehr auch die Exceptionen, Replicationen und Dupli-

cationen umfaſſen, alſo den ganzen Inhalt der formula in

ſich aufnehmen, ſo daß die formula unmittelbar aus der

Verhandlung entnommen werden konnte (b).

 

Der Name der L. C. iſt von einem einzelnen Beſtand-

theil der ganzen Handlung hergenommen. Beide Par-

teien riefen dabei gemeinſchaftlich Zeugen auf, mit dem

Ausdruck: testes estote. — Dieſe Zeugen nun dürfen

durchaus nicht als die Beweiszeugen gedacht werden, nach

deren Ausſage künftig der Juder entſcheiden ſollte; ſolche

kommen in vielen Prozeſſen überhaupt nicht vor, und in

keinem Fall war jetzt ſchon die Zeit zu ihrer Vernehmung,

alſo auch kein Bedürfniß zu ihrer Vorführung, gekommen.

Vielmehr ſollten die Zeugen, die bei der L. C. erwähnt

werden, den Inhalt der gegenwärtigen Verhandlung an-

hören und künftig, wenn darüber Zweifel entſtände, be-

 

konnte man eben ſowohl die for-

mula concepta, als die L. C.,

angeben, oder auch mit beiden

Ausdrücken abwechſeln. Daß dieſes

nicht geſchehen, ſondern ſtets nur

die L. C. genannt worden iſt, er-

klärt ſich aus ihrer Vertragsnatur

(§ 258), von welcher ſogleich die

Rede ſein wird.

(b) Auf dieſen erſchöpfenden In-

halt der L. C darf jedoch nicht

allzu großes Gewicht gelegt wer-

den, da er in der That nur für

die ſtrengen Klagen als allgemein

durchgeführt angeſehen werden kann.

In den freyen Klagen konnte ſich

der Beklagte vorläufig mit einem

allgemeinen Widerſpruch begnügen,

und dennoch vor dem Juder Ex-

ceptionen geltend machen. (B. 5

S. 466).

|0029 : 11|

§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.

zeugen; ſie ſollten als lebendiges Protokoll dienen. Dazu

konnte allerdings eher in dem blos mündlichen Prozeß der

alten legis actiones ein Bedürfniß wahrgenommen werden,

als neben der ſchriftlich abgefaßten formula (c). Dennoch

kann ſich auch neben dem Formularprozeß dieſe Handlung,

wie ſo vieles Andere, als formelle Erinnerung an einen

älteren reellen Gebrauch erhalten haben; in jedem Fall

aber konnte ſich der Name erhalten, nachdem man längſt

aufgehört hatte, auch nur zum Schein Zeugen aufzurufen.

Die Hauptſtelle über das hier behauptete Weſen der

L. C. findet ſich bei Feſtus (im Auszug des P. Diaconus)

unter dem Wort Contestari, und lautet alſo:

Contestari est, cum uterque reus dicit: Testes estote.

Contestari litem dicuntur duo aut plures adver-

sarii, quod ordinato judicio utraque pars dicere solet:

Testes estote.

 

Hier wird der Ausdruck: contestari daraus erklärt,

daß mehrere Perſonen gemeinſchaftlich die Zeugen an-

rufen (d), und es wird in Anwendung auf den Prozeß

(alſo auf die litis contestatio) ausdrücklich bemerkt, daß

beide Parteien dieſe Handlung vornahmen. Es wird

hinzugefügt, die Handlung ſey geſchehen ordinato judicio,

d. h. alſo auch nachdem eine beſtimmte Perſon zum Juder

ernannt war, indem dieſe Ernennung weſentlich zur An-

 

(c) Keller § 1.

(d) Eben ſo wie compromissa

pecunia, weil beide Parteyen eine

Strafe verſprechen für den Fall des

Ungehorſams gegen den Schieds-

richter.

|0030 : 12|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ordnung des Judicium gehörte (e). Der Eingang aber,

in Verbindung mit dem nachfolgenden Haupttheil der

Stelle, deutet an, daß dieſe Handlung mit der angegebenen

Benennung auch zu anderen Zwecken vorgekommen ſey (f),

wodurch alſo die litis contestatio nur als einer unter

mehreren Fällen einer ſolchen feyerlichen Handlung be-

zeichnet wird.

Obgleich nun Feſtus den Ausdruck litem contestari auf

beide Parteien gleichmäßig bezieht, ſo geht doch der weit

überwiegende Sprachgebrauch dahin, die Handlung des

Klägers mit litem contestari, die des Beklagten mit judi-

dicium accipere oder suscipere zu bezeichnen (g).

 

Contestari iſt übrigens ein Deponens, ſo daß nach der

grammatiſchen Regel eigentlich nur von der Partei geſagt

 

(e) So wird auch anderwärts

ordinatum judicium, ordinata

lis oder causa gleichbedeutend ge-

braucht mit litis contestatio.

L. 24 pr. § 1. 2. 3, L. 25 § 2

de lib. causa (40. 12). — Eben-

ſo wird der Zeitpunkt der L. C.

bezeichnet mit den Worten: statim

atque judex factus est. L. 25

§ 8 de aedil. ed. (21. 1). Näm-

lich die Ernennung des Judex,

die L. C., und die Conception der

Formel, ſind fortlaufende Theile

deſſelben Prozeßaktes und liegen

der Zeit nach nicht aus einander,

ſo daß man das Eine wie das

Andere als Bezeichnung eines und

deſſelben Zeitpunktes gebrauchen

kann.

(f) So bei dem Teſtament die

suprema contestatio. L. 20 § 8

qui test. (28. 1) — Bei Ulpian.

XX. 9 heißt es dafür testatio,

gleichbedeutend mit nuncupatio;

bei Gajus II. § 104 blos nun-

cupatio. — Uebrigens kommt an-

ſtatt litis contestatio auch judi-

cium contestatum vor. L. 7 § 1

de her. pet. (5. 3) L. 19 sol.

matr. (24. 3); dagegen finde ich

contestatio allein, ohne lis oder

judicium, in dieſem Sinn nicht.

Denn in L. 1 § 1 C. de pet. her.

(3. 31) iſt das contestationis blos

eine verweiſende Wiederholung des

unmittelbar vorhergehenden Aus-

drucks litis contestationem (ſ. u.

§ 271 b).

(g) Winckler p. 298. Keller

§ 6.

|0031 : 13|

§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.

werden dürfte: litem contestatur, litem contestatus est.

Indeſſen iſt der paſſive Gebrauch des Wortes (alſo lis

contestatur, lis contestata) ſo häufig, daß das Verhältniß

von Regel und Ausnahme völlig verſchwindet. Aus den

Digeſten dafür Beiſpiele anzuführen, würde bei der großen

Zahl derſelben ganz überflüſſig ſein. Damit man aber

nicht glaube, daß ſolche Beiſpiele blos hier, als Zeichen

ſinkender Latinität, zu ſuchen ſeyen, muß bemerkt werden,

daß derſelbe Sprachgebrauch auch ſchon in der beſten Zeit

vorkommt, namentlich bei Cicero (h), bei Aufidius, einem

Schüler des Servius Sulpicius (i), in der Lex Rubria

de Gallia cisalpina (k), und in einer Rechtsregel, die

Gajus aus den Veteres anführt (l).

Die wichtigſte und beſtrittenſte Frage bleibt bei Feſtus

unentſchieden: ob nämlich die L. C. in das Jus fällt oder

in das Judicium, d. h. ob ſie die letzte Handlung vor dem

Prätor war, oder die erſte vor dem Judex. Beides ließe

 

(h) Pro Roscio Com. C. 11

und C. 12 „lis contestata“. —

Pro Flacco C. 11 „ab hac per-

enni contestataque virtute ma-

jorum.“

(i) Priscian. Lib. 8 C. 4

§ 18: „P. Aufidius: si quis alio

vocitatur nomine tum cum lis

contestatur, atque olim vocita-

batur, contestari passive po-

suit.“ Priſcian führt es als eine

grammatiſche Anomalie an. — Die

Ausgaben leſen hier ganz ſinnlos:

illis contestatur oder his con-

testatur (p. 371 ed. Krehl,

p. 791 (793) ed Putsch). Die

richtige Leſeart iſt hergeſtellt und

mit einer vortrefflichen ſachlichen

Erklärung der Stelle begleitet von

Huſchke, Zeitſchrift f. geſchichtl.

Rechtswiſſ. B. 10 S. 339. 340.

(k) Col. 1 lin. 48 quos inter

id judicium accipietur „leisve

contestabitur.“

(l) Gajus III. § 180 „apud

veteres scriptum est: ante

litem contestatam dare debi-

torem oportere, post litem

contestatam condemnari opor-

tere.“

|0032 : 14|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſich, nach der allgemeinen Beſtimmung der L. C., denken,

und das praktiſche Reſultat würde in beiden Fälleu nicht

ſehr verſchieden ſeyn. Beide Meinungen haben ihre Ver-

theidiger gefunden, allein die erſte iſt durch ſichere

Schlüſſe aus ſo vielen einzelnen Stellen begründet wor-

den (m), daß die Frage nunmehr als völlig entſchieden

betrachtet werden darf. Der vollſtändigſte Beweis dafür,

daß die L. C. vor dem Prätor vollzogen wurde, ergiebt

ſich aber aus folgender weiteren Betrachtung. Wenn die

die L. C. vor dem Prätor vorging, ſo war es gewiß ſehr

zweckmäßig, den künftigen Judex der Handlung beiwohnen

zu laſſen, und ich zweifle nicht, daß dieſes geſchehen ſeyn

wird, wenn der Judex zufällig gegenwärtig war, oder

wenn die Parteien ihn mit ſich vor den Prätor geführt

hatten. Darauf deutet nun in der That eine Stelle des

Papinian, nach welcher die Gegenwart und das Bewußt-

ſeyn des Judex bei deſſen Ernennung (addictio) nicht

nöthig ſeyn ſoll (n); woraus Papinian ſchließt, auch

ein Wahnſinniger könne zum Judex ernannt werden, und

dieſe Ernennung ſey wirkſam, wenn er nur nachher wieder

(m) Winckler § 3. 4. Keller

§ 1 — 5. — Die einzige ſchein-

bare Stelle für die entgegenge-

ſetzte Anſicht (L. un. C. de L. C.)

wird unten erklärt werden.

(n) L. 39. pr. de jud. (5. 1.)

„Cum furiosus judex addicitur

non minus judicium erit, quod

hodie non potest judicare ....

neque enim in addicendo prae-

sentia vel scientia judicis ne-

cessaria est“ Offenbar iſt hier

die addictio judicis als der Zeit

nach zuſammenfallend gedacht mit

der L. C., dem judicium acceptum

oder ordinatum, denn es wird aus-

drücklich geſagt, es ſey ſchon jetzt

ein wirkliches judicium vor-

handen.

|0033 : 15|

§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.

zu Verſtand komme; ja das judicium ſey für ihn von der

Ernennung an wirklich vorhanden. Offenbar alſo nimmt

Papinian an, die Ernennung des Judex, und der wirk-

liche Anfang ſeines Judicium, alſo das acceptum oder

ordinatum judicium (d. h. die L. C.) könne in Abweſen-

heit des Judex Statt finden, woraus von ſelbſt folgt, daß

die L. C. nicht eine vor dem Judex vollzogene, alſo unter

deſſen Mitwirkung vorgenommene Handlung geweſen ſeyn

kann. Ein gleich entſcheidendes Zeugniß liegt in einer

Stelle des Paulus. Wenn ein Provinziale als Legat

nach Rom kam, ſo brauchte er ſich daſelbſt in der Regel

nicht verklagen zu laſſen. Ausnahmsweiſe aber war er

dennoch dazu verpflichtet, jedoch nur ſo, daß die L. C. in

Rom (vor dem Prätor) vollzogen, das Judicium aber in

der Provinz (vor einem daſelbſt lebenden Judex) geführt

wurde (o).

Um die Veränderungen verſtehen zu können, die ſich

im ſpäteren R. R. mit der Form der L. C. zugetragen

haben, iſt es nöthig, zuvor für die Zeit des Formular-

prozeſſes die Stellung anzugeben, welche ſie neben den

extraordinariis judiciis einnahm.

 

Es leuchtet ſogleich ein, daß ſie in dieſen nicht gedacht

werden darf als eine förmliche Handlung der Parteien in

 

(o) L. 28 § 4 de jud. (5. 1.)

„causa cognita adversus eum

judicium praetor dare debet,

ut lis contestetur, ita ut in

provinciam transferatur.“

|0034 : 16|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Verbindung mit der Abfaſſung der formula, und dazu

beſtimmt, den Uebergang des Rechtsſtreits an den Judex

zu vermitteln; denn bei den extraordinariis judiciis kam

weder ein Judex, noch eine formula vor, indem der ganze

Rechtsſtreit vor dem Magiſtratus von Anfang bis zu Ende

durchgeführt wurde. Da aber wegen der wichtigen prak-

tiſchen Folgen auch hier die L. C. nicht zu entbehren war,

ſo mußte man dafür einen Zeitpunkt aufſuchen, welcher

mit dem Zeitpunkt der förmlichen L. C. im ordentlichen

Prozeß am meiſten Analogie hatte. Es konnte nun kein

Zweifel ſeyn, dafür die Zeit anzunehmen, in welcher ſich

die Parteien vor dem Magiſtratus über ihre gegenſeitigen

Behauptungen und Anſprüche vollſtändig ausgeſprochen

hatten. Dieſes war weſentlich daſſelbe wie die eigentliche

L. C., und der Unterſchied lag lediglich in der äußeren

Form der Handlung.

Dieſe, nach innerer Wahrſcheinlichkeit kaum zweifel-

hafte Annahme findet ihre Beſtätigung in folgenden Zeug-

niſſen, deren Erklärung zugleich dazu dienen kann, manche

Zweifel und Mißverſtändniſſe unſrer Schriftſteller zu

beſeitigen.

 

1. L. un. C. de litis contestatione (3. 9.) von Seve-

rus et Antoninus 203.

 

„Res in judicium deducta non videtur, si tantum

postulatio simplex celebrata sit, vel actionis species

ante judicium reo cognita. Inter litem enim con-

testatam et editam actionem permultum interest.

 

 

|0035 : 17|

§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.

Lis enim tunc contestata videtur, cum judex per

narrationem negotii causam audire coeperit.“

Aus dieſer Stelle haben zuerſt Manche beweiſen wollen,

die L. C. ſey nicht vor dem Prätor, ſondern vor dem Judex

vollzogen worden (Note m), eine Meinung, die ſchon oben

widerlegt worden iſt. Es kommt alſo darauf an, den

Schein zu entfernen, der allerdings in der Stelle für dieſe

Meinung enthalten iſt, indem zu der Zeit, worin dieſelbe

niedergeſchrieben wurde, der Formularprozeß noch in voller

Kraft beſtand.

 

Einige ſagen, die Kaiſer hätten die oben angegebene

Natur der vor dem Magiſtratus vollzogenen L. C. bezeich-

nen wollen, und unter dem judex den Magiſtratus ver-

ſtanden (p). Dieſe Erklärung iſt nicht anzunehmen, denn

obgleich der Ausdruck judex nicht ſelten dieſe Bedeutung

hat, ſo können ihn doch unmöglich die Kaiſer, wenn ihnen

das ordinarium judicium vor Augen ſtand, in dieſer ano-

malen Bedeutung (für den Magiſtratus) gebrauchen, wo-

durch ſie faſt unvermeidlich mißverſtanden werden mußten.

 

Andere nehmen an, die Kaiſer hätten wirklich den Ma-

giſtratus genannt, und die Stelle habe nur durch eine

durchgreifende Interpolation ihre gegenwärtige Geſtalt er-

halten (q). Zu einer ſolchen Interpolation kann ich ein

 

(p) So die bei Keller § 5

Note 5 angeführten Schriftſteller. —

Ganz unbefriedigend ſcheint mir die

Erklärung von Zimmern Rechts-

geſchichte B. 3 § 119 Note 13:

„Die L. C. iſt bereits eingetreten,

wenn das Judicium erſt begonnen

hat.“ Ein ſolcher Schluß der

Stelle würde mit dem Anfang in

gar keinem Zuſammenhang ſtehen.

(q) Keller § 5.

VI. 2

|0036 : 18|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Bedürfniß nicht anerkennen, da die Stelle, wenn ſie den

Magiſtratus anſtatt des Judex erwähnte, ſowohl zu dem

älteren als zu dem neueren Recht paſſen würde. Auch für

die ältere Zeit konnte man ſagen, die L. C. ſey vollzogen,

ſobald der Prätor die Parteien über ihre Behauptungen

gehört, und dadurch das Material zur Conception der For-

mel erlangt hatte. Hätten nun die Compilatoren in dem

urſprünglichen Text der Stelle die Erwähnung des Prätors,

des Proconſuls, oder des Präſes vorgefunden, ſo wäre es

unbegreiflich, warum ſie dieſem den zu ihrer Zeit weniger

paſſenden Judex ſubſtituirt hätten; eine Veränderung in

umgekehrter Richtung wäre eher denkbar geweſen.

Die einfachſte Erkärung ſcheint mir die, nach welcher

die Kaiſer von einem einzelnen Rechtsfall ſprachen, der zu

den extraordinariis judiciis gehörte. Dann war der Aus-

druck judex für magistratus ganz paſſend und keinem

Mißverſtändniß ausgeſetzt; die Stelle gäbe dann ein treues

Bild von der Stellung der L. C. in den Prozeſſen dieſer

Klaſſe. Das Reſcript ſollte nämlich ſagen, was als

Surrogat der wirklichen L. C. in denjenigen Prozeſſen

gedacht werden müſſe, worin eine ſolche nicht vorkam.

Zu dieſem Zweck wurden allgemeine, beſchreibende Aus-

drücke gebraucht, die bei der Beſchreibung der wahren

L. C. (im ordentlichen Prozeß) in dieſer Zeit gewiß nicht

gebraucht worden wären, und die der Stelle den unver-

dienten Schein einer Interpolation geben. — Allerdings

ſagt die Stelle, wie wir ſie vor uns haben, nicht, daß

 

|0037 : 19|

§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.

von einem ſolchen Rechtsſtreit die Rede ſey; allein ſie iſt

ein Reſcript, das wir gewiß nur ſehr unvollſtändig vor

uns haben (r), und aus deſſen weggelaſſenem Eingang

jene Vorausſetzung unzweifelhaft hervorgehen mochte. Ge-

wiſſermaaßen nimmt auch dieſe Erklärung eine Inter-

polation an, aber eine ſolche, die nicht durch Veränderung

des Inhalts, ſondern durch bloße Weglaſſung anderer

Theile der Stelle bewirkt wurde.

2. L. 33 de Obl. et Act. (44. 7. Paulus lib. 3 De-

cretorum).

 

„Constitutionibus quibus ostenditur heredes poena

non teneri, placuit, si vivus conventus fuerat, etiam

poenae persecutionem transmissam videri: quasi lite

contestata cum mortuo.“

 

Nach einer alten Regel ſollten Pönalklagen nicht gegen

die Erben des Schuldners übergehen, außer wenn die

L. C. vollzogen worden war (s). Die vorliegende Stelle

nun ſpricht nicht von einer gewöhnlichen Pönalklage unter

Privatperſonen, die in das jus ordinarium gehört und

wobei jene Regel unmittelbar zur Anwendung kommt.

Sie ſpricht vielmehr von einer fiscaliſchen Strafe, die vor

den Fiscalbeamten verfolgt wird, alſo extra ordinem, ſo

daß dabei kein Judex und keine eigentliche L. C. vorkam (t).

 

(r) Dieſe Unvollſtändigkeit er-

hellt unwiderſprechlich ſchon aus

dem Umſtand, daß ein anderer

Theil derſelben Stelle als L. 3

C. de edendo (2. 1) in den Co-

dex aufgenommen worden iſt.

(s) S. o. B. 5 § 211 g.

(t) Dieſe Annahme wird durch

die Inſeription der Stelle beſtä-

tigt. Denn in demſelben lib. 3

2*

|0038 : 20|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Dabei mußte der Uebergang auf die Erben an eine der

L. C. analoge Handlung geknüpft werden. In dieſem

Sinn ſagt nun Paulus, der Uebergang auf die Erben

müſſe angenommen werden, wenn nur bei dem Leben des

jetzt Verſtorbenen die Klage eingeleitet war (u); denn dieſe

Einleitung der Klage ſey in den extraordinariis judiciis

als der Akt zu betrachten, welcher der wirklichen L. C.

im ordentlichen Prozeß entſpreche (quasi lite contestata

cum mortus) (v). — Dieſe Stelle hat von jeher großen

Anſtoß erregt. Indem man das conventus zu eng, von der

blos erhobenen Klage, verſtand, und die Stelle auf den

ordentlichen Prozeß bezog, ſuchte man dadurch zu helfen,

daß man ſie von ſolchen Fällen verſtand, in welchen die

L. C. vom Verſtorbenen abſichtlich verzögert worden war,

welches widerrechtliche Verfahren ihn nicht gegen den

Übergang auf ſeine Erben ſchützen ſollte (w). Haloander

deeretorum des Paulus kom-

men mehrere Stellen über Fiscal-

klagen vor dem procurator Cae-

saris vor.

(u) Das conventus fuerat darf

nur nicht zu eingeſchränkt von der

blos erhobenen Klage, verſtan-

den werden, ſo wie conventus

und petitum in mehreren Di-

geſtenſtellen auch bei dem ordent-

lichen Prozeß vorkommt, wo es

das convenire cum effectu, alſo

die Zeit der vollzogenen L. C.,

bezeichnet. Eine entſcheidende Stelle

für dieſe Bedeutung des conven-

tus iſt L. 8 de nox. act. (9. 4)

Eben ſo für petitum die L. 22

de reb. cred. (12. 1) Vergl.

Wächter H. 3 S. 66. 67.

(v) Im Weſentlichen haben die

richtige Erklärung: Voorda In-

terpr. II., 19, Wächter H. 3

S. 112.

(w) Nach mehreren Vorgän-

gern hatte ich dieſe Erklärung an-

genommen, Bd. 5 § 211 g., die

ich jetzt ganz aufgebe, da die

Stelle durchaus keine Spur dieſer

Vorausſetzung enthält. — Kie-

rulff S. 281 betrachtet dieſe

Stelle als einen Beweis, daß ſchon

die Römer die Wirkungen der L. C

|0039 : 21|

§. 257. Weſen der L. C. — I. R. R.

ſuchte auf andere Weiſe zu helfen, durch die etwas kühne

Emendation: transmissam non videri, quasi lite con-

testata eo mortuo“ (x).

3. L. 20 § 6. 7. 11. de her. pet. (5. 3).

 

Das Sc. Iuventianum ſprach zunächſt von den An-

ſprüchen des Fiscus auf eine caduca hereditas, alſo von

einem extraordinarium judicium vor den Fiscalbeamten,

obgleich es allerdings auch auf den ordentlichen Prozeß

unter Privatperſonen angewendet wurde (y). Für den

urſprünglichen Fall dieſes Senatusconſults mußte daher

ein anderer Zeitpunkt angenommen werden, welcher an die

Stelle der L. C. im ordentlichen Prozeß treten konnte.

Von dieſer Bemerkung wird noch unter Gebrauch gemacht

werden (§ 264).

 

Die Stellung, welche ſo eben für die L. C. in den

extraordinariis judiciis der älteren Zeit nachgewieſen

worden iſt, konnte unverändert beibehalten werden, als

in der ſpäteren Zeit alle Klagen überhaupt in extraordi-

naria judicia verwandelt wurden. Die frühere Ausnahme

wurde nun zur allgemeinen Regel, ſonſt änderte ſich Nichts.

 

So erſcheint in der That die Sache in einer früheren

Conſtitution von Juſtinian (z), welche weſentlich über-

 

auf die Vorladung des Beklagten

übertragen hätten.“

(x) Einigen Anhalt zu dieſer

Emendation giebt die vulg.: „re-

missam non videri, die jedoch

dem Sinn nach ganz mit der

Florentina übereinſtimmt.

(y) L. 20 § 9 de her. pet.

(5. 3).

(z) L. 14 § 1 C. de jud. (3. 1).

|0040 : 22|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

einſtimmend mit dem oben angeführten Reſcript von

Sever und Antonin, den Zeitpunkt der L. C. ſo be-

zeichnet:

„cum lis fuerit contestata, post narrationem propo-

sitam et contradictionem objectam.“

In ſpäteren Geſetzen fügte Juſtinian folgende neue

Beſtimmungen hinzu.

 

Wenn dem Beklagten die Klage eingehändigt iſt, ſoll

derſelbe nach Ablauf von Zwanzig Tagen vor dem Gericht

erſcheinen, und daſelbſt die L. C. vornehmen. Jede inner-

halb dieſes Zeitraums abgegebene Erklärung ſoll den Be-

klagten nicht binden, und nicht als L. C. angeſehen

werden (aa).

 

Der Kläger ſoll von ſeiner Seite Caution ſtellen, daß

er die L. C. nicht über Zwei Monate aufhalten wolle (bb).

 

Dieſe Beſtimmungen betreffen die bloße Prozeßform,

und ändern das Weſen der L. C. auf keine Weiſe ab.

 

Wir können alſo auch noch für das neueſte Juſti-

nianiſche Recht den Begriff der L. C., weſentlich überein-

ſtimmend mit dem Begriff des älteren Rechts, dahin

beſtimmen:

Sie beſteht in der vor der richterlichen Obrigkeit ab-

gegebenen Erklärung beider Parteien über das Da-

ſeyn und den Inhalt des Rechtsſtreits.

 

(aa) Nov. 53 C. 3. Nov. 82

C. 10. Auth. Offeratur C. de

L. C. (3. 9)

(bb) Nov. 96 C. 1. Auth.

Libellum C. de L. C. (3. 9)

|0041 : 23|

§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)

Dabei iſt aber allerdings, nach der ganzen Wendung

die in dieſer Zeit der Prozeß genommen hatte, der factiſche

Unterſchied anzuerkennen, daß jetzt ſehr häufig, wohl in

den meiſten Fällen, die L. C. in dem Rechtsſtreit merklich

ſpäter eintreten mochte als in dem älteren Prozeß.

 

§. 258.

Weſen der Litis Conteſtation — I. R. R. (Fortſetzung.)

Bisher iſt die äußerliche Natur der L. C. in Erwä-

gung gezogen worden: die Form, der Zeitpunkt, die Be-

zeichnung dieſer Prozeßhandlung. Ich wende mich nun

zur Unterſuchung ihres inneren oder juriſtiſchen Weſens,

welche noch wichtiger iſt als jene erſte Erwägung, theils

weil ſie unmittelbar mit den Wirkungen zuſammenhängt,

theils weil ſie ein bleibenderes, von dem Wechſel hiſto-

riſcher Zuſtände weniger abhängiges, auch für unſere Zeit

gültiges Intereſſe mit ſich führt.

 

Es muß hier daran erinnert werden, daß jedes Klag-

recht, ohne Unterſchied des Rechts welches ihm zum

Grunde liegt, die Natur einer Obligation mit ſich führt

(§ 205). Die L. C. nun iſt als diejenige Prozeßhandlung

zu denken, wodurch dieſe Obligation ein wirkliches Daſeyn

und zugleich eine beſtimmte Geſtalt erhält.

 

Auf zweierlei Weiſe aber greift die L. C. in das be-

ſtehende Rechtsverhältniß ein: nach der Vergangenheit und

nach der Zukunft. Nach der Vergangenheit, indem die

vorhandene Klage in judicium deducirt, und dadurch

 

|0042 : 24|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

conſumirt, d. h. für jede neue Verfolgung unbrauchbar

gemacht wird: nach der Zukunft, indem die L. C. eine

weſentliche Modification für den Inhalt des künftigen

Urtheils begründet.

Die Wirkung auf die Vergangenheit, oder die

Conſumtion der Klage, wurde in zwei verſchiedenen For-

men bewirkt.

 

Bei denjenigen Klagen, welche in personam giengen,

zugleich eine juris civilis intentio hatten, und zugleich als

legitima judicia geltend gemacht wurden, ſollte die Con-

ſumtion ipso jure eintreten; bei allen übrigen Klagen nur

vermittelſt einer exceptio rei in judicium deductae (a).

 

Daneben kommt auch der Ausdruck Novatio vor; aus

alter Zeit und direct nur in einer Stelle von Papi-

nian (b); auf indirecte Weiſe in den Digeſten und in

einer Conſtitution von Juſtinian (c). Dennoch iſt kein

Grund vorhanden, die Ächtheit dieſes Kunſtausdrucks zu

 

(a) Gajus III. § 180. 181,

IV. § 106. 107. 98.

(b) Fragm. Vat. § 263 „..

nec interpositis delegationibus

aut inchoatis litibus actiones

novavit.“

(c) L. 29 de nov. (46. 2) „Aliam

causam esse novationis volun-

tariae, aliam judicii accepti,

multa exempla ostendunt.“ Der

Ausdruck novatio voluntaria deu-

tet nicht nothwendig, aber doch

möglicherweiſe, auf den Gegenſatz

einer in der L. C. enthaltenen

novatio necessaria, welcher Aus-

druck ſelbſt ohnehin nirgend vor-

kommt. Daß hier die in der

L. C. enthaltene Conſumtion als

Gegenſatz gemeint war, iſt aus

den in Note a und b angeführten

Stellen unzweifelhaft. — L. 3

pr. C. de us. rei jud. (7. 54)

„Si enim novatur judicati

actione prior contractus“ rel.

Hier wird ganz unpaſſenderweiſe

die längſt antiquirte novatio als

Rechtfertigung von Juſtinians

neuer Vorſchrift über die Urtheils-

zinſen angeführt.

|0043 : 25|

§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)

bezweifeln (d). Nach der außerdem bekannten Natur der

Novation ſind wir aber berechtigt zwei Beſtimmungen

anzunehmen, obgleich dafür keine unmittelbare Zeugniſſe

vorhanden ſind. Erſtlich, daß dieſer Ausdruck beſchränkt

war auf die Fälle, worin die Conſumtion ipso jure

wirkte (Note a), indem nämlich überall die Novation nur

als eine ipso jure wirkende Handlung erſcheint. Zweitens,

daß dieſe Novation, alſo jede ipso jure eintretende Con-

ſumtion, bewirkt wurde durch eine Stipulation, da der

allgemeine Begriff der Novation kein anderer iſt, als:

Vernichtung irgend einer Obligation durch Verwandlung

in eine verborum obligatio (e).

Ueber die ſpäteren Schickſale der Conſumtion überhaupt

und der damit verbundenen Novation insbeſondere können

wir nicht im Zweifel ſeyn. Sie ſind völlig untergegangen,

ohne irgend einen Ueberreſt, indem die practiſchen Folgen,

für welche ſie eingeführt waren, jetzt auf anderen und

ſichreren Wegen herbeigeführt werden. Ganz zufällig hat

ſich die wörtliche Erwähnung der Novation, ohne irgend

 

(d) Der Umſtand, daß Gajus

IV. § 176—179 die aus der frei-

willigen Stipulation hervorgehende

novatio abhandelt, und dann

§ 180. 181 die Conſumtion in der

L. C. darſtellt ohne dabei den Aus-

druck novatio zu wiederholen, kann

nicht als Widerlegung gelten. Er

erklärt ſich aus der auch in L. 29

de nov. (Note c) hervorgehobenen

ganz anomalen Natur dieſer No-

vation.

(e) L. 1. 2 de nov. (46. 2).

Gajus III. § 176—179. — Ich

gebe indeſſen zu, daß dieſer auf

Analogie gegründete Schluß nicht

auf volle Gewißheit Anſpruch

machen kann, da es bei dieſem in

jedem Fall anomalen Rechtsinſtitut

hierin auch wohl anders geweſen

ſeyn könnte.

|0044 : 26|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

eine praktiſche Bedeutung, in zwei Stellen des Juſti-

nianiſchen Rechts erhalten (Note c). Es iſt daher durch-

aus nicht zu rechtfertigen, wenn manche Schriftſteller

unſrer Zeit von der aus der L. C. entſpringenden Nova-

tion als von einem noch fortdauernden Inſtitut des

Juſtinianiſchen und ſelbſt des heutigen Rechts ſprechen (f).

Die eben ſo wichtige, und noch jetzt vorhandene Wir-

kung der L. C. in die Zukunft iſt in ſofern ganz un-

zweifelhaft, als in der That aus ihr ein obligatoriſches

Verhältniß entſteht, ganz entſprechend dem allgemeinen

in der Natur jedes Rechtsſtreits gegründeten Bedürfniß

(§ 256). Es iſt aber zuvörderſt zu unterſuchen, durch

welche juriſtiſche Formen dieſes obligatoriſche Verhältniß

bewirkt wurde: eine Frage, die nicht ohne Zweifel und

Verwicklungen iſt.

 

(f) So Glück B. 6 S. 205

und mehrere Andere. Vgl. dagegen

Wächter H. 3 S. 38 fg. — Ins-

beſondere muß ich auch jetzt die

neue Novation aufgeben, die ich

früher als im Urtheil liegend an-

genommen habe (B. 5 S. 325),

verleitet durch die Faſſung des al-

ten Rechtsſprüchworts bei Gajus

III. § 180 und der in der Note c

angeführten Aeußerung von Ju-

ſtinian. Es iſt für eine Nova-

tion im Nömiſchen Sinn we-

der ein praktiſches Bedürfniß, noch

irgend ein ſicheres Zeugniß vor-

handen. Vgl. hierüber Wächter

H. 3 S. 47. 48. — Die neuen

Rechtsverhältniſſe, die allerdings

jedes rechtskräftige Urtheil erzeugt,

ſollen damit nicht in Zweifel ge-

zogen werden; von ihnen wird

unten ausführlich gehandelt werden.

Der praktiſche Erfolg iſt hier auch

gewiß derſelbe wie bei einer wirk-

lichen Novation, indem der Kläger

nicht mehr ſein früheres Recht

neben dem Urtheil und wider das-

ſelbe geltend machen kann. Nur

bezweifle ich, daß jemals ein alter

Juriſt den Ausdruck novatio von

dem Urtheil gebraucht haben möchte;

die Tilgung ipso jure, die der

eigentliche Charakter der Novation

iſt, war ja mit der L. C. ſchon

vollendet, und für eine neue No-

vation war kein Raum vorhanden.

|0045 : 27|

§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)

Für die Klagen in rem läßt ſich hierüber eine beſtimmte

Behauptung durch ein unmittelbares Zeugniß des Gajus

begründen (g). Dieſer ſagt, dem Beklagten werde bei

ſolchen Klagen der Vortheil gewährt, die Sache auch wäh-

rend des Rechtsſtreits beſitzen zu dürfen (possidere conce-

ditur). Dafür müſſe er von ſeiner Seite für den Fall,

daß er künftig unterliege, durch eine stipulatio judicatum

solvi Entſchädigung verſprechen und zugleich durch Bür-

gen ſicher ſtellen (cum satisdatione cavere), wodurch

dann der Kläger die Befugniß erlange, künftig nach ſeiner

Wahl ſowohl den Beklagten ſelbſt, als deſſen Bürgen zu

verklagen (aut tecum agendi, aut cum sponsoribus tuis).

Worauf die stipulatio judicatum solvi dieſer Bürgen, und

alſo ohne allen Zweifel auch völlig gleichlautend die des

Beklagten ſelbſt, als des Hauptſchuldners, gerichtet war,

wird uns anderwärts ausführlich geſagt. Sie hatte drei

Clauſeln: de re judicata, de re defendenda, de dolo

malo (h). — Demnach müſſen wir bei den Klagen in rem,

neben der L. C., eine Stipulation annehmen, wodurch die

eigenthümlichen Obligationen begründet wurden, die uns

 

(g) Gajus IV. 89. Die Stelle

lautet vollſtändig ſo: „Igitur si

verbi gratia in rem tecum agam,

satis mihi dare debes. Aequum

enim visum est, te de eo, quod

interea tibi rem, quae an ad

te pertineat dubium est, pos-

sidere conceditur, cum satis-

datione mihi cavere: ut si victus

sis, nec rem ipsam restituas,

nec litis aestimationem sufferas,

sit mihi potestas, aut tecum

agendi, aut cum sponsoribus

tuis.“ — Daß dieſe Stipulation,

eben ſo wie bei den perſönlichen

Klagen, den Namen judicatum

solvi führte, ſagt ausdrücklich der

§ 91.

(h) L. 6. 17. 19. 21 jud. solvi

(46. 7).

|0046 : 28|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

gegenwärtig, als Folgen der L. C., beſchäftigen. Über die

formelle Einrichtung dieſer ganzen Prozeßhandlung enthalte

ich mich, in Ermangelung von Nachrichten, jeder Behaup-

tung; ich laſſe es alſo dahin geſtellt ſeyn, ob die L. C.

mit der Stipulation verſchmolzen war, oder ob beide als

getrennte, aber gleichzeitige Akte neben einander ſtanden.

Dieſe Stipulation darf übrigens nicht ſo gedacht werden,

als ob dadurch die künftige judicati actio im Voraus no-

virt, alſo an der Entſtehung verhindert worden wäre. Eine

ſolche Novation einer noch nicht fälligen Obligation war

allerdings an ſich wohl zuläſſig (i). Allein vor Allem ge-

hörte zu jeder Novation die Abſicht zu noviren, d. h. die

Abſicht eine andere Obligation durch Umtauſch zu zerſtö-

ren (k), und da dieſe Abſicht hier fehlte, ſo beſtand die

actio judicati daneben, ſo daß der Kläger, der den Prozeß

gewann, die Wahl hatte zwiſchen der judicati actio, der

Stipulationsklage gegen den Beklagten, und der Stipula-

tionsklage gegen die Bürgen (l).

 

Dieſe ganze Einrichtung bei der petitoria formula war

übrigens nichts Neues, ihr Eigenthümliches; es war viel-

mehr bloß die Fortſetzung und Entwicklung des uralten

 

(i) L. 5 de nov. (46. 2).

(k) L. 2 de nov. (46. 2).

(l) L. 8 § 3 de nov. (46. 2),

L. 38 § 2 de sol. (46. 3), Pau-

lus V. 9. § 3. — Dieſe Bemer-

kung macht richtig Buchka Ein-

fluß des Prozeſſes I. 234, obgleich

zu einem irrigen Zweck. — Von

einer Novation als Einwirkung auf

die Vergangenheit, alſo als Ver-

nichtung einer urſprünglichen Obli-

gation, ſo wie bei manchen per-

ſönlichen Klagen (Note a. b. c. d),

konnte hier ohnehin nicht die Rede

ſeyn, da den Klagen in rem über-

haupt keine Obligation zum Grunde

liegt.

|0047 : 29|

§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)

Rechtsſatzes, der bei der legis actio in den praedes litis et

vindiciarum, und bei dem Sponſionsprozeß in der stipu-

latio pro praede litis et vindiciarum geltend gemacht

wurde (m).

So verhielt es ſich alſo, nach ſicheren Zeugniſſen, bei

den Klagen in rem. Weniger einfach und klar iſt die

Sache bei den perſönlichen Klagen.

 

Betrachten wir zuerſt diejenigen perſönlichen Klagen,

bei welchen die Conſumtion ipso jure, vermittelſt einer

Novation, bewirkt wurde (Note a). Dieſe unterſcheiden

ſich von den Klagen in rem darin, daß dem Beklagten

während des Rechtsſtreits nicht etwas Beſonderes gewährt,

und eben ſo der Kläger nicht in die Gefahr der Zerſtörung

oder des Untergangs der ſtreitigen Sache geſetzt wird.

Darum braucht hier der Beklagte in der Regel nicht, ſon-

dern nur ausnahmsweiſe, Bürgen zu ſtellen (n). Dagegen

hat es kein Bedenken anzunehmen, daß er ſelbſt, für ſeine

Perſon, eine Stipulation geſchloſſen haben möchte; ja dieſe

Annahme hat ſogar einen beſondern Anhalt in dem Um-

ſtand, daß die Novation als ſolche das Daſeyn einer Sti-

pulation vorausſetzen läßt (Note e). Der Inhalt dieſer

Stipulation aber wird ohne Zweifel dieſelben drei Clauſeln

gehabt haben, welche überhaupt bei den Prozeßſtipulationen

der Bürgen gebraucht wurden (Note h), ſo daß hierin kein

Unterſchied zwiſchen dieſen Klagen und den Klagen in rem

geweſen ſein wird. — Ganz eben ſo, und zwar noch ge-

 

(m) Gajus IV. § 91. 94.

(n) Gajus IV. § 102.

|0048 : 30|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

wiſſer, müſſen wir eine ſolche Stipulation des Beklagten

annehmen bei denjenigen Fällen perſönlicher Klagen, bei

welchen ausnahmsweiſe, aus beſonderen Gründen, eine

Bürgſchaft judicatum solvi gefordert werden konnte. Denn

daß einer ſolchen Stipulation der Bürgen ſtets eine eigene

Stipulation des Beklagten zum Grunde gelegt wurde, läßt

ſich nicht nur aus innerer Wahrſcheinlichkeit annehmen,

ſondern es wird auch ausdrücklich bezeugt (o).

In den Fällen dieſer mit vielen perſönlichen Klagen

verbundenen Stipulationen, worin ſtets die doli clausula

enthalten war (Note h), erklärt ſich dann von ſelbſt der

Umſtand, daß auch die ſtrengen Klagen von der L. C. an

eine eben ſo freie Natur annahmen, wie ſie außerdem nur

bei den freien Klagen vorkommt (p).

 

Was endlich die große Zahl der, nach Abzug der eben

erwähnten, noch übrigen perſönlichen Klagen betrifft, alſo

diejenigen, bei welchen die Conſumtion durch die L. C.

nicht ipso jure, ſondern per exceptionem (ohne Novation)

bewirkt wurde, und bei welchen auch nicht etwa eine excep-

tionelle Caution durch Bürgen vorkam, ſo ließe ſich auch

bei ihnen eine mit der L. C. ſtets verbundene Stipulation

wohl denken, ſo daß unter dieſer Vorausſetzung eine Sti-

 

(o) L. 38 § 2 de sol. (46. 3).

Bei jeder satisdatio war alſo eine

repromissio; fehlte dagegen die

satisdatio, ſo hieß es nuda re-

promissio. L. 1 § 5 de stip.

praet. (46. 5).

(p) S. o. B. 5 S. 501. Der In-

halt dieſer Stelle muß nun durch

das jetzt Folgende in dem Umfang

der Anwendung beſchränkt werden;

die Sache ſelbſt bleibt richtig.

|0049 : 31|

§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)

pulation neben der L. C. allgemein Statt gefunden hätte.

Allein ein Zeugniß haben wir für dieſe Annahme nicht;

ſie wird vielmehr dadurch unwahrſcheinlich, daß alsdann

der einfachſte und leichteſte Erklärungsgrund für die ver-

ſchiedene Behandlung beider Klaſſen von Klagen wegfallen

würde, indem das Daſeyn der Stipulation die Novation

natürlich mit ſich führt, der Mangel derſelben die Novation

ausſchließt.

Nehmen wir nun an, bei dieſer zahlreichen Klaſſe von

Klagen ſey keine Stipulation vorgekommen, ſo müſſen wir

eine andere Rechtsform aufſuchen, an welche die mit der

L. C. auch bei dieſen Klagen unſtreitig verbundene neue

Obligation angeknüpft werden kann. Ganz daſſelbe Be-

dürfniß aber tritt ein für die extraordinaria judicia, die

zur Zeit des alten Formularprozeſſes als Ausnahmen, im

ſpäteren R. R. aber als die ganz allgemeine Regel, vor-

kommen. So nimmt alſo die Frage nach dieſer Rechtsform

in der That die größte Ausdehnung und Wichtigkeit in

Anſpruch.

 

Die von jeher gewöhnliche Auffaſſung für das Juſti-

nianiſche Recht geht dahin, die L. C. ſey ein Quaſicontract,

und erzeuge daher contractähnliche Obligationen (q). Mit

dieſer Auffaſſung können wir einſtimmen, indem dadurch

die contractliche Natur des Verhältniſſes anerkannt wird,

welches dennoch kein wahrer, auf freiem Entſchluß beru-

hender Vertrag iſt. Es iſt ein fingirter Vertrag, ſo

 

(q) Keller § 14, und vor ihm die meiſten Schriftſteller.

|0050 : 32|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

gut als die negotiorum gestio und die Tutel. Bei dieſen

entſteht die Obligation aus einſeitigen Handlungen, ohne

Mitwirkung des anderen Theils. Bei der L. C. erſcheinen

zwar beide Parteien als mitwirkend, aber die Gründung

einer Obligation beruht nicht auf ihrem freien Entſchluß

den ſie auch unterlaſſen könnten, ſondern auf den unab-

weislichen Vorſchriften des Prozeßrechts (r).

Über die Natur dieſes contractlichen, oder contractähn-

lichen, Verhältniſſes, wie es durch die L. C. in jeden

Rechtsſtreit eingeführt wird, ſollen jetzt noch einige Betrach-

tungen folgen.

 

Die allgemeinſte Anerkennung eines ſolchen Verhält-

niſſes, welches aus der L. C. neu entſpringt, und von dem

früher vorhandenen Rechtsverhältniß an ſich unabhängig

iſt, findet ſich in folgender Stelle des Ulpian:

L. 3 § 11 de peculio (15. 1): „Idem scribit, judicati

quoque patrem de peculio actione teneri, quod et

Marcellus putat; etiam ejus actionis nomine, ex

qua non potuit pater de peculio actionem pati; nam

 

 

(r) Bethmann-Hollweg

S. 75. 79 will keinen Contract an-

nehmen, ſondern einen prozeſſua-

liſchen Vertrag, gerichtet auf die

ausſchließende Unterwerfung unter

dieſes judicium. Dieſe Auffaſſung

iſt auch wahr, aber einſeitig, und

drückt die wichtigſten und bleibend-

ſten Seiten des geſammten Ver-

hältniſſes nicht aus. Ein ganz

dahin paſſender Ausdruck ſteht in

L. 3 pr. jud. solvi. (46. 7) „sen-

tentiae .... se subdiderunt.“ —

Donellus XII. 14. § 6—9 ſucht

mit großer Subtilität auszuführen,

die L. C. ſey kein Quaſicontract,

ſondern ein wirklicher, aber ſtill-

ſchweigender Vertrag. Er über-

ſieht dabei, daß zu dem ſtillſchwei-

genden Vertrag eben ſo, wie zu

dem ausdrücklichen, der freie Wille

erforderlich iſt, dieſer aber hier

fehlt.

|0051 : 33|

§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)

sicut stipulatione contrahitur cum filio, ita judicio

contrahi; proinde non originem judicii spectan-

dam(s), sed ipsam judicati velut obligationem(t).“

Dieſe Stelle iſt eben ſo wahr unter Vorausſetzung einer

in der L. C. enthaltenen wirklichen Stipulation, wie ſie im

älteren Recht theilweiſe ſicher vorkam, als unter Voraus-

ſetzung eines Quaſicontracts, und ſie drückt alſo das allge-

meine und bleibende Weſen des aus der L. C. hervorge-

henden Rechtsverhältniſſes ſehr beſtimmt aus.

 

Aus dieſem contractlichen oder contractähnlichen Ver-

hältniß erklären ſich befriedigend mehrere in dem vorher-

gehenden §. bemerklich gemachte Thatſachen. Erſtlich warum

zur Bezeichnung des in jedem Rechtsſtreit eintretenden,

beſonders wichtigen und entſcheidenden Zeitpunktes ſtets die

L. C., nicht die mit ihr gleichzeitige Conception der Formel

gewählt wird. Die in der L. C. enthaltene Contractsnatur

war der Entſtehungsgrund der von dieſer Zeit anfangenden

Rechtswirkungen, die Formel war blos eine Anweiſung

für den Juder, und hatte für die Parteien keine unmittel-

bar verbindende Kraft. — Zweitens warum die L. C. vor

dem Prätor vorgehen mußte, nicht vor dem Judex. Die

Autorität des Prätors konnte die Parteien ſicherer als die

 

(s) D. h. nicht das urſprüng-

liche, dem Rechtsſtreit vorherge-

hende, zum Grund liegende Rechts-

verhältniß.

(t) D. h. ſondern die Obligation,

welche aus der in der L. C. enthal-

tenen Stipulation neu entſpringt,

und hier auf die Erfüllung des

Judicats gerichtet iſt. L. 6 jud.

solvi (46. 7) „de re judicata.“

VI. 3

|0052 : 34|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

des Juder nöthigen, dieſen Vertrag einzugehen, der dem

ganzen Rechtsſtreit ſeine Haltung gab.

Es erklärt ſich daraus ferner der Umſtand, daß das

Recht eine Popularklage anzuſtellen, welches an ſich ein

gemeinſames Recht aller Römiſchen Bürger war, durch die

L. C. in eine wahre Obligation, in ein Vermögensrecht

des Klägers, umgewandelt wurde (u).

 

Die hier angegebenen, ſo wie alle übrigen Folgen der

Contractsnatur der L. C. ſind jedoch nicht ſo zu denken,

als ob dieſe Contractsnatur durch Zufall oder Willkühr

eingeführt worden wäre, und dann alle jene Folgen, die

man vielleicht an ſich als gleichgültig oder nachtheilig an-

ſehen mochte, auf dem Wege logiſcher Entwicklung nach

ſich gezogen hätte. Es verhielt ſich damit gerade umge-

kehrt. Jene Folgen waren es, welche, als der Natur des

Rechtsſtreits angemeſſen, herbeigeführt werden ſollten; für

ſie wurde die Contractsnatur der L. C. (urſprünglich bei

vielen Klagen durch eine wirkliche Stipulation) aufgeſtellt,

um dafür eine ſichere und angemeſſene juriſtiſche Grundlage

zu haben.

 

Der Inhalt des erwähnten contractlichen Verhält-

niſſes beſteht zunächſt in der Unterwerfung beider Parteien

unter dieſes Judicium (Note r). Dieſe Unterwerfung be-

zieht ſich bei allen Klagen auf das eigentliche Urtheil; bei

den arbiträren Klagen insbeſondere auch noch auf den Ge-

horſam gegen den vor dem Urtheil von dem Juder ausge-

 

(u) Die Zeugniſſe dafür ſ. o. B. 2 § 73 Note ee.

|0053 : 35|

§. 258. Weſen der L. C. — I. R. R. (Fortſetzung.)

ſprochenen, auf die Naturalreſtitution gerichteten, jussus

oder arbitratus (v). Der ſpeciellere Inhalt aber, ſo wie

die Veranlaſſung dieſes Inhalts, läßt ſich durch folgende

Betrachtung anſchaulich machen, die ſich an die allgemeine

Natur jedes Rechtsſtreits und das daraus hervorgehende

Bedürfniß (§ 256) anſchließt. Wenn zwei Parteien vor

den Richter treten, ſo iſt es zunächſt völlig ungewiß, wer

von beiden das Recht auf ſeiner Seite hat. In dieſer

Ungewißheit muß für jeden möglichen Ausfall Vorſorge

getroffen werden, und die Parteien werden genöthigt, hier-

über einen Vertrag zu ſchließen, oder auch (wie in dem

ſpäteren Recht allgemein) ſich ſo behandeln zu laſſen, als

ob ein ſolcher Vertrag geſchloſſen worden wäre. Der all-

gemeine Inhalt des Vertrages läßt ſich, übereinſtimmend

mit dem erwähnten Bedürfniß, ſo ausdrücken: es ſoll der

Nachtheil ausgeglichen werden, der aus der unvermeid-

lichen Dauer des Rechtsſtreits entſteht (w), oder mit an-

deren Worten: der Kläger ſoll, wenn er den Prozeß ge-

winnt, dasjenige erhalten, was er haben würde, wenn das

Urtheil gleich Anfangs hätte geſprochen werden können (x).

(v) Daraus erklärt es ſich, daß die

Unterlaſſung dieſes Gehorſams als

eine unerfüllte Obligation, als eine

Mora, betrachtet wurde, ſ. unten

§ 273 u.

(w) L. 91 § 7 de leg. 1. „cau-

sa ejus temporis, quo lis con-

testatur, repraesentari debet

actori.“

(x) L. 20 de R. V. (6. 1)

„ut omne habeat petitor, quod

habiturus foret, si eo tempore,

quo judicium accipiebatur, re-

stitutus illi homo fuisset.“ —

Eben ſo ſpricht L. 31 de R. C.

(12. 1), und viele andere Stellen.

Dieſe Aeußerungen, ſo wie die in

der Note w. angeführte, ſind bei

Gelegenheit einzelner Rechtsver-

hältniſſe entſtanden, und werden

3*

|0054 : 36|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Die Veranlaſſung und Rechtfertigung dieſes Vertrags aber

giebt Gajus für die Klagen in rem ſo an: Dem Beklag-

ten wird geſtattet, während des Rechtsſtreits die ſtreitige

Sache zu beſitzen, dafür muß er aber von ſeiner Seite die

in dem Vertrag enthaltene Entſchädigung verſprechen, und

ſogar durch Bürgen verſichern (y).

Die hier dargeſtellte contractliche Obligation für die

nach der L. C. eintretenden Umwandlungen hat ſich durch

alle Zeiten des R. R. erhalten, und iſt auch in unſer heu-

tiges Recht übergegangen. Nur hat ſich die Form einer

ausdrücklichen Stipulation, ſelbſt in den Fällen worin ſie

in der älteren Zeit angewendet wurde, im Juſtinianiſchen

Recht gänzlich verloren.

 

§. 259.

Weſen der Litis Conteſtation. — II. Canoniſches Recht

und Reichsgeſetze.

Das canoniſche Recht hält den Römiſchen Begriff der

L. C. (§ 257) unverändert feſt, beſchäftigt ſich aber haupt-

ſächlich mit der Frage, welche auch ſpäterhin als vorzugs-

weiſe wichtig behandelt wurde: ob und wann der Beklagte

verpflichtet ſey, dasjenige zu thun, welches von ſeiner Seite

 

unten im Zuſammenhang des De-

tails wieder vorkommen. Hier kam

es darauf an, den allgemeinen

Geſichtspunkt vorläufig zu be-

zeichnen.

(y) Gajus 4. § 89. — ſ. o.

Note g. Nämlich an ſich wäre für

denſelben Zweck auch wohl eine

Sequeſtration als Sicherungsmit-

tel denkbar geweſen; darauf geht

das possidere conceditur.

|0055 : 37|

§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.

zur Vollziehung einer wahren L. C. beigetragen werden

muß. Dazu gehört vor Allem die Erklärung auf den In-

halt der Klage, alſo auch auf den thatſächlichen Grund

derſelben: außerdem aber auch die Angabe der etwa vor-

handenen Exceptionen (§ 257). Es iſt einleuchtend, daß,

wenn ſich der Beklagte etwa auf Exceptionen beſchränken

wollte, ohne ſich über die Klage zu erklären, eine L. C.

darin nicht enthalten wäre und dadurch nicht entbehrlich

werden würde, daß alſo der Beklagte angehalten werden müßte,

das von ſeiner Seite zu einer wahren L. C. Fehlende noch

nachzubringen. Aus Vorſchriften dieſes beſonderen Inhalts,

die ich im R. R. noch nicht finde, konnte leicht der Schein

entſtehen, die L. C. ſey eine einſeitige Handlung des Be-

klagten, und zwar gerade die Erklärung auf die vom Klä-

ger vorgebrachten Thatſachen, anſtatt daß das R. R.

darunter eine weit umfaſſendere gemeinſame Handlung der

Parteien verſteht, ja ſogar wörtlich das litem contestari

als eine Thätigkeit des Klägers, nicht des Beklagten,

bezeichnet (§ 257. g). Es wird weiter unten gezeigt wer-

den, daß ein aus dieſem falſchen Schein hervorgehender

irriger Sprachgebrauch in ſpäterer Zeit ganz allgemein ge-

worden iſt. Jedoch muß bemerkt werden, daß dieſer Irr-

thum dem canoniſchen Recht in der That nicht zugeſchrieben

werden darf, dieſes vielmehr noch keinen vom R. R. ab-

weichenden Ausdruck enthält.

Die älteſte Stelle des canoniſchen Rechts über die L. C.

beſchäftigt ſich mit der hier entwickelten ſpeciellen Frage

 

|0056 : 38|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

noch nicht (a). Dem P. Gregor IX. war ein Fall vor-

gelegt, worin die Parteien über einzelne Stücke des Rechts-

ſtreits (super pluribus articulis) ſchriftliche Behauptungen

und Gegenbehauptungen (positiones et responsiones) dem

Richter eingereicht, auch dabei geäußert hatten, was ſie

vor Gericht zu erklären geſonnen ſeyen (quae partes volue-

runt proponere coram eis). Der Papſt ſpricht nun aus;

darin ſey noch keine gültige L. C. enthalten, dieſe müſſe

vielmehr noch nachgeholt werden, um einen rechtsgültigen

Prozeß zu begründen,

„quia tamen litis contestationem non invenimus esse

factam, quum non per positiones et responsiones ad

eas, sed per petitionem in jure propositam et re-

sponsionem secutam litis contestatio fiat.“

Der hier gedachte Gegenſatz ſchließt alſo die ſchriftlichen

Vorbereitungen des Rechtsſtreits, als ungenügend, aus,

und fordert zu einer wahren L. C. das gemeinſame Erſchei-

nen der Parteien im Gericht, und die vollſtändige Erklä-

rung derſelben über den Rechtsſtreit; es iſt der Gegenſatz

eines ſchriftlichen Vorverfahrens gegen das mündliche Ver-

fahren vor Gericht, und der Ausſpruch des Papſtes iſt

ganz dem R. R. gemäß.

 

Die zwei folgenden Decretalen betreffen das oben er-

wähnte Verhältniß der L. C. zu den Exceptionen.

 

(a) C. un. X. de litis cont.

(2. 5). — Wörtlich gleichlautend

iſt hierin eine andere Decretale

deſſelben Papſtes: C. 54 § 3 X.

de elect. (1. 6).

|0057 : 39|

§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.

P. Innocenz IV. verordnet, durch vorgebrachte Excep-

tionen dürfe der Beklagte die L. C. nicht hindern, noch ver-

zögern; jedoch mit Ausnahme der Exceptionen „de re ju-

dicata, transacta seu finita“ (b).

 

Dieſelbe Vorſchrift wiederholt P. Bonifaz VIII., mit

dem ſehr natürlichen Zuſatz, daß eine bloße Exception auch

nicht etwa ſelbſt ſchon als eine vollzogene L. C. angeſehen

werden dürfe (c).

 

Es iſt nun ferner von den Veränderungen in dem We-

ſen der L. C. Rechenſchaft zu geben, welche durch die

Reichsgeſetze, ſo wie durch die Praxis und Literatur der

neueren Zeit herbeigeführt worden ſind (d). Um für dieſe

Veränderungen einen feſten Standpunkt zu gewinnen, wird

es gut ſeyn, ſogleich das letzte Ziel anzugeben, wohin dieſe

ſehr allmälige Entwicklung geführt hat, alſo die Auffaſſung,

welche in der neueren Literatur des Prozeſſes, ſo wie in

der Praxis, ſo allgemeine Geltung gewonnen hat, daß jeder

Widerſpruch dagegen nur in dem Sinn einer gelehrten

Kritik, durch Zurückführung auf ältere Quellen, verſucht

worden iſt, wenngleich hie und da nicht ohne den Anſpruch,

der neu aufgeſtellten Behauptung auch in der Praxis wieder

einige Geltung zu verſchaffen.

 

(b) C. 1 de litis cont. in VI.

(2. 3) — Es ſind dieſes die nach-

her von unſren Schriftſtellern ſo-

genannten exceptiones litis in-

gressum impedientes.

(c) C. 2 de litis cont. in VI.

(2. 3).

(d) Ausführlich handelt von

dieſem Gegenſtand Wächter H. 3

S. 70—88.

|0058 : 40|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Dieſer moderne Begriff läßt ſich ſo darſtellen:

Die L. C. iſt eine einſeitige Handlung des Beklagten,

beſtehend in der Erklärung deſſelben auf die in der

Klage aufgeſtellten Thatſachen, alſo verſchieden von

allen Einreden.

 

In zwei Stücken weicht dieſe Auffaſſung weſentlich ab

von dem R. R.

 

Erſtlich indem ſie die L. C. als eine einſeitige Hand-

lung des Beklagten anſieht, anſtatt daß das R. R. dabei

ein gemeinſames Handeln beider Parteien annimmt, und

ſogar vorzugsweiſe die mitwirkende Thätigkeit des Klägers

mit jenem Namen bezeichnet (§ 257).

 

Dieſe Abweichung beruht weniger auf veränderten

Rechtsbegriffen, als auf der veränderten Form des Ver-

fahrens. Bei einem blos ſchriftlichen Verfahren iſt ein ge-

meinſames und gleichzeitiges Handeln der Parteien nicht

möglich, ſo daß man dabei genöthigt iſt, die L. C. von

einer Prozeßhandlung des Beklagten abhängig zu denken,

welche dann mit der vorhergehenden Handlung des Klägers,

dem Inhalt nach, ein Ganzes bildet, eben ſo wie im R. R.

die gleichzeitigen Reden und Gegenreden beider Parteien.

Daher iſt denn auch dieſe Abweichung den Reichsgeſetzen

fremd, welche ſtets noch ein mündliches Verfahren in Ter-

minen und Audienzen vorausſetzen (e).

 

(e) Artikel des K. G. zu Lindan

ꝛc. von 1500 Art. XIII. § 1. 2

(Neueſte Sammlung der R. A.,

Th. 2 S. 75). Anfangs wird ſo

geredet, als ſey die L. C. ein Ge-

ſchäft des Beklagten. Dann aber

heißt es: „Item, und ſo der Krieg

alſo von beyden Theilen be-

|0059 : 41|

§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.

Auch iſt dieſe Abweichung für unſern gegenwärtigen

Zweck, d. h. für die Aufſtellung eines feſten Anfangs-

punktes der materiellen Wirkungen der L. C., von keiner

Erheblichkeit. Es kommt nur darauf an, ſich deutlich

bewußt zu werden, daß hierin etwas von dem R. R. Ver-

ſchiedenes gedacht wird.

 

Zweitens weicht dieſe Auffaſſung von dem R. R.

darin ab, daß ſie die L. C. auf die rein thatſächlichen Er-

klärungen des Beklagten beſchränkt, anſtatt daß das R. R.

das geſammte in der formula enthaltene Material ſchon in

der L. C. vorkommen läßt, alſo, außer der Erklärung über

die Thatſachen, auch alle Exceptionen, Replicationen und

Duplicationen. Auf den erſten Blick ſcheint es, daß da-

durch eine Erleichterung und Beſchleunigung der L. C. be-

zweckt und bewirkt ſeyn möchte, indem eine bloße Erklärung

über die Thatſachen ſchneller herbeizuführen iſt, als jenes

weit umfaſſendere Material. Daß dennoch aus anderen

Gründen dieſer Erfolg nicht eintrat, wird ſogleich gezeigt

werden.

 

Aus dieſer Auffaſſung, verbunden mit jener erſten,

folgte mit Nothwendigkeit die dem R. R. völlig fremde

Eintheilung der L. C. in eine affirmative, negative

und gemiſchte, je nachdem der Beklagte alle in der Klage

 

feſtigt ꝛc.“ — K. G. O. von

1523 Art. 3 § 3 (a. a. O. S. 248):

„Würden aber keine Exceptiones

fürgewendt … ſoll der Kläger

alsbald darauf den Krieg

befeſtigen ꝛc.“ (Am Rande ſteht:

Litis Contestatio).

|0060 : 42|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

enthaltene Thatſachen bejaht, oder alle verneint, oder einige

bejaht, andere verneint (f) — Die affirmative darf übri-

gens nur in Verbindung mit Einreden gedacht werden, da

ſie außerdem gar nicht die Abſicht eines Rechtsſtreits in

ſich ſchließt, ſondern vielmehr die Natur einer Römiſchen

in jure confessio hat (g).

Die zweite Abweichung iſt allerdings ſchon in den

Reichsgeſetzen enthalten, die ſich beſonders damit beſchäf-

tigen, die Verzögerung der L. C. zu verhüten, jedoch nicht

etwa um dieſes Zweckes Willen einen neuen Begriff der

L. C. abſichtlich aufſtellen wollen, ſondern hierin vielmehr

 

(f) Man könnte auch etwa die

negative L. C. in einem bloßen

Widerſpruch gegen den Anſpruch

des Klägers beſtehen laſſen wollen,

wobei es ganz unbeſtimmt gelaſſen

würde, ob die Thatſachen ganz

oder theilweiſe verneint, und ob

Einreden aufgeſtellt werden ſollten.

Eine Erklärung dieſer Art iſt

nicht nur dem R. R. und dem

canoniſchen Recht fremd, ſondern

auch den ſpäteren Reichsgeſetzen,

wie ſogleich gezeigt werden wird.

Eine ſolche Erklärung enthält

Nichts, als die Ausſchließung

einer reinen confessio, alſo den

ausgeſprochenen Entſchluß, Pro-

zeß zu führen, worüber ohnehin

in den allermeiſten Fällen kein

Zweifel iſt. Gefördert wird da-

durch in dem Rechtsſtreit gar

Nichts, dieſe Handlung iſt alſo

nur ein verſchleppendes Element,

und es iſt durchaus kein Grund

vorhanden, practiſche Folgen daran

zu knüpfen. — Ältere Reichsgeſetze

nehmen allerdings eine L. C. in

dem hier erwähnten Sinn an

(Vergl. Note i).

(g) Die Gloſſatoren haben ſich

viel mit der Frage beſchäftigt, ob

eine reine confessio als L. C.

gelten könne, und ob darauf ein con-

demnatoriſches Urtheil zu ſprechen

ſey. Die Behandlung dieſes Falles

betrifft blos die äußere Prozeß-

form, und hat keine practiſche Wich-

tigkeit. Im R. R. galt die un-

zweifelhafte Regel: confessus pro

judicato est (L. 1 de confessis

42. 2), ſo daß ein Urtheil gewiß

nicht nöthig war, und nicht erlaſſen

wurde. Im Preußiſchen Prozeß

wird für dieſen Fall eine Agnitions-

Reſolution abgefaßt, welche die

Wirkung eines Erkenntniſſes hat

(A. G. O. I. 8. § 14 — 16).

|0061 : 43|

§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.

nur dem herrſchenden Sprachgebrauch der gleichzeitigen

Schriftſteller folgen.

Um dieſes zur Anſchauung zu bringen, iſt es nöthig,

auf den Inhalt der Reichsgeſetze genauer einzugehen, wo-

bei ſogleich mit der Kammergerichtsordnung von 1555 an-

gefangen werden kann, da die weit unvollſtändigeren frü-

heren Geſetze durch dieſe beſeitigt worden ſind.

 

Zum Verſtändniß dieſes Geſetzes muß bemerkt werden,

daß daſſelbe drei Audienzen in jeder Woche annimmt,

Montag, Mittwoch, Freitag. Jeder neue Termin ſoll ein-

treten in einem durch eine Anzahl von Audienztagen be-

ſtimmten Zeitraum nach der vorhergehenden Prozeßhand-

lung; bei Sachen des ordentlichen Prozeſſes (in ordinariis)

in der zwölften Audienz, bei ſummariſchen Sachen (in extra-

ordinariis) in der ſechsten; für beide Klaſſen von Sachen

ſollen die oben erwähnten Audienztage abwechſelnd ange-

wendet werden (Tit. 1 Tit. 2 § 1). — In der Regel ſoll

die L. C. im zweiten Termin vorgenommen werden, alſo

in der zwölften Audienz nach dem erſten Termin; dieſe

Regel leidet eine Ausnahme, wenn dilatoriſche oder

andere den Prozeß hindernde Einreden vorgebracht wer-

den (h). In dieſem Fall wird über ſolche Einreden in drei

 

(h) Tit. 13 § 1 „So .. ſetzen

Wir, ſofern .. der Antworter nicht

dilatorias, oder andere exceptio-

nes, dardurch das Recht verhindert,

oder aufgeſchoben, oder die Kriegs-

Befeſtigung verhindert würde, für-

zubringen hätte, daß alsdann der-

ſelbige in ordinariis in der zwölften

Audienz, auf die Klag zu ant-

worten, und den Krieg zu befeſtigen

ſchuldig ſeyn ſoll.

|0062 : 44|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Terminen verhandelt, vielleicht auch noch länger, wenn

darüber ein Beweisverfahren nöthig wird (Tit. 24—26).

Außerdem werden im vierten Haupttermin die übrigen

peremtoriſchen Einreden vorgebracht, und es wird darüber

gleichfalls in drei Terminen verhandelt (Tit. 27—29).

Über die L. C. iſt noch beſonders beſtimmt, daß der

Beklagte, wenn er die Klage beſtreiten, alſo Prozeß führen

wolle, dieſes nicht in weitläufigen Reden, wie es bisher

geſchehen, ſondern durch einen kurzen Widerſpruch gegen

die Klage überhaupt, nicht gerade gegen die einzelnen

darin enthaltenen Thatſachen thun ſolle (i). Die beſtimmte

Erklärung des Beklagten auf die von dem Kläger vorge-

brachten einzelnen Thatſachen ſollte erſt im vierten Termin

nachfolgen, und dieſe Responsiones auf die Artikel der

Klage werden daher von der L. C. ſowohl durch die Be-

zeichnung, als durch die im ganzen Prozeß angewieſene

Stelle, deutlich unterſchieden (Tit. 15 § 4).

 

Dieſe ganze Behandlung konnte als eine Erleichterung

und Beſchleunigung der L. C. angeſehen werden, da in

der That ein allgemeiner Widerſpruch nicht wohl mit

 

(i) Tit. 13 § 4 „Und nachdem

bisher die Procuratores in litis

contestationibus, je zu Zeiten

viel unnothdürftiger und überflüſſi-

ger Wort gebraucht … Wollen

Wir, daß fürhin ein jeder Pro-

curator, der .. mit nicht geſtehen

auf die Klag antworten, und alſo

litem negative contestiren will,

andere oder mehr Wort nicht ge-

brauchen ſoll, dann nemlich alſo:

In Sachen N. contra N. bin

ich der Klag nicht geſtändig,

bitt mich … zu erledigen, und

mit dieſen Worten ſoll der Krieg,

ob auch der Litis contestation

nicht ausdrücklich Meldung ge-

ſchehe, befeſtigt zu ſeyn gehalten

und verſtanden werden.“ Vergl.

oben Note f.

|0063 : 45|

§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon. Recht u. Reichsgeſetze.

einigem Schein zu verweigern iſt, und daher leichter und

ſchneller als eine ſpecielle Erklärung verlangt und bewirkt

werden kann. Auf der anderen Seite aber war dem Be-

klagten, der die Sache hinhalten wollte, ein freier Spiel-

raum eröffnet durch die mannichfaltigen Einreden, deren

langwierige Verhandlung ihn einſtweilen berechtigte, ſelbſt

jene höchſt allgemeine Erklärung nicht abzugeben, alſo die

L. C. zu unterlaſſen (Note h).

Hierin gewährte der N. A. von 1570 eine durch-

greifende Abhülfe, indem er vorſchrieb, daß auch neben

dilatoriſchen Einreden im zweiten Termin in jedem Fall

eine eventuelle L. C. vorgenommen werden ſollte (k).

 

Dieſe Vorſchrift wurde beſtätigt und weiter ausgeführt

in dem neueſten Reichsgeſetz über den Prozeß (l). Der

Jüngſte Reichsabſchied verordnet nämlich, daß der Beklagte

nicht erſt in dem zweiten, ſondern ſchon in dem erſten

Termin, wozu jedoch mindeſtens Sechszig Tage frei zu

laſſen ſind, ſowohl alle Exceptionen, bei Strafe der Präclu-

ſion, vorbringen, als auch eine beſtimmte Erklärung über

alle in der Klage enthaltene Thatſachen abgeben ſoll. —

Dieſe factiſche Erklärung heißt hier nicht L. C., der Name

aber kommt in demſelben Geſetz anderwärts vor (m), und

daß darunter die oben vorgeſchriebene Erklärung über die

Thatſachen verſtanden werde, kann wohl nicht bezweifelt

 

(k) R. A. 1570 § 89. 90, Neueſte

Sammlung Th. 3 S. 299.

(l) J. R. A. von 1654 § 36—40,

Neueſte Sammlung Th. 3 S. 648.

649. — Die Hauptſtelle iſt der § 37.

(m) § 110 „nicht allein vor

angefangenem Recht-Stand, und

litis contestation“ etc.

|0064 : 46|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

werden. Nur in dem einzigen Falle ſollte der Beklagte

die L. C. verweigern dürfen, wenn er die Competenz des

Richters durch eine Einrede beſtreiten wollte (n).

Es iſt nicht zu verkennen, daß durch dieſes Geſetz der

ganze Zuſtand weſentlich verbeſſert worden iſt, und daß es

hauptſächlich an dem Mangel einer ſtrengen Durchführung

deſſelben gelegen hat, wenn ſpäterhin der gemeine Prozeß

dem wahren Bedürfniß oft nicht entſprochen hat. Indeſſen

bleiben auch hier noch dem Beklagten, der die L. C. ver-

zögern will, manche Mittel übrig. Die Einrede der In-

competenz kann zu einer längeren Verhandlung misbraucht

werden. Wenn ferner der Beklagte im erſten Termin nicht

erſcheint, ſo führt auch das im § 36 angeordnete Con-

tumacialverfahren einen nicht geringen Aufſchub mit ſich.

 

Beſonders aber leidet jenes Geſetz keine unmittelbare

Anwendung auf den ſpäterhin in Deutſchland ſehr allge-

mein angewendeten rein ſchriftlichen Prozeß, worin gar

keine Termine mündlicher Verhandlung, ſondern regel-

mäßig Vier Schriftſätze, vorkommen. Denkt man ſich den

J. R. A. hierauf ehrlich und ſtreng angewendet, ſo wird

die L. C. ſtets in der ſogenannten Exceptionsſchrift zu

ſuchen ſeyn, welche die Erklärung über die Thatſachen der

Klage, ſey es mit oder ohne Exceptionen, enthalten muß.

Dieſe Stellung der L. C. iſt auch mit dem wahren Sinn

des R. R. übereinſtimmend, nur mit dem minder erheb-

lichen Unterſchied, daß in der Römiſchen L. C. auch ſchon

 

(n) § 37 am Ende und § 40.

|0065 : 47|

§. 259. Weſen der L. C. — II. Canon Recht u. Reichsgeſetze.

die Replicationen und Duplicationen vorkamen, die hier

erſt in dem dritten und vierten Schriftſatz erſcheinen (o).

Auch hier aber bleibt dem böswilligen Beklagten noch

manches Mittel übrig, die L. C. willkührlich zu verzögern,

und dadurch dem Kläger die Rechte zu ſchmälern, die ihm

in der That zugedacht ſind. Dazu können misbraucht

werden die wiederholten Friſtgeſuche, ferner die einer längeren

Verhandlung empfängliche Einrede der Incompetenz, endlich

die bloße Verweigerung oder Unterlaſſung der L. C., die

ſelbſt durch manche Scheingründe beſchönigt werden kann.

Einem ſolchen unredlichen Verfahren mit ſicherem Erfolg

entgegen zu treten, fehlt es im gemeinen Prozeß an be-

ſtimmten Rechtsregeln. Auch iſt dabei noch folgender Um-

ſtand zu berückſichtigen. Wenn die L. C., wie angenommen

wird, in der Erklärung auf die Thatſachen beſteht, ſo

bleibt ungewiß, wie es angeſehen werden ſoll, wenn

die Erklärung unbeſtimmt, unverſtändlich, unvollſtändig iſt,

etwa ſo daß ſie ſich nur auf einen kleinen Theil der that-

ſächlichen Grundlagen der Klage bezieht. Man könnte

ſagen, nun müſſe durch eine Art von Fiction eine wirk-

liche L. C. angenommen werden. Dann könnte man aber

noch einen Schritt weiter gehen, und in jeder Exceptions-

 

(o) Bollſtändiger übereinſtim-

mend mit dem Begriff der Römiſchen

L. C. iſt der dem Preußiſchen Pro-

zeß der allgemeinen Gerichtsord-

nung eigenthümliche Status causae

et controversiae. Nur tritt dabei

der practiſch ſehr erhebliche Unter-

ſchied ein, daß dieſer Status am

Ende von Terminen abgefaßt wird,

deren Anzahl und Zeit von einer

ſehr regelloſen Willkühr des De-

putirten und der Parteien abhängt.

|0066 : 48|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſchrift, auch wenn ſie keine Spur einer thatſächlichen Er-

klärung enthält, eine L. C. fingiren. Nur iſt dieſes Alles

völlig willkührlich, und es iſt eine bloße Illuſion, wenn

man glaubt, damit das R. R., oder die Reichsgeſetze, oder

auch nur die neuere Praxis wirklich anzuwenden. —

Wenn von allen dieſen Schwierigkeiten in vielen Ländern

keine merkliche Beſchwerde empfunden worden iſt, ſo liegt

dieſes theils an der guten Aufſicht der Gerichte, theils

darin daß die Praxis nicht bei der L. C. als Grund und

Zeitpunkt der materiellen Veränderungen während des

Prozeſſes ſtehen geblieben iſt, wovon am Schluß dieſer

ganzen Lehre gehandelt werden wird.

Wie weit aber hierin der Misbrauch und die Gefähr-

dung des Rechts getrieben werden kann, davon giebt der

Sächſiſche Prozeß Zeugniß. In dieſem kommt es ſehr

gewöhnlich vor, daß eine ganze Inſtanz hindurch über die

Verbindlichkeit des Beklagten zur L. C. geſtritten, und am

Ende durch Urtheil feſtgeſtellt wird, daß Beklagter, Ein-

wendens ungeachtet, auf die erhobene Klage ſich einzulaſſen

ſchuldig; dieſes Urtheil kann dann wieder durch Rechts-

mittel angegriffen und durch die Inſtanzen verfolgt werden.

 

§. 260.

Wirkungen der Litis Conteſtation. — Einleitung.

Indem nunmehr die Wirkungen der L. C. dargeſtellt

werden ſollen, ſind dieſelben an den oben angegebenen

Grundſatz anzuknüpfen, nach welchem die Aufgabe dieſes

 

|0067 : 49|

§. 260. Wirkung der L. C. — Einleitung.

Rechtsinſtituts auf die Ausgleichung der nachtheiligen

Folgen geht, welche aus der an ſich nicht wünſchens-

werthen, aber unvermeidlichen Dauer des Rechtsſtreits

entſpringen (§ 256. 258). Die jetzt im Einzelnen darzu-

ſtellenden Wirkungen ſind nur als Entwicklungen jenes

Grundſatzes anzuſehen. Es muß jedoch dazu noch durch

folgende Vorbemerkungen ein feſter Grund gelegt werden.

I. Die Ausſprüche der Römiſchen Juriſten über jene

Wirkungen beziehen ſich auf zwei verſchiedenartige Anwen-

dungen, deren Inhalt aber dergeſtalt zuſammenfällt, daß

ſie ohne Unterſchied als ganz gleichbedeutend angeſehen

werden dürfen.

 

Die meiſten dieſer Ausſprüche betreffen die Frage, wie

in Folge der L. C. das richterliche Urtheil eingerichtet

werden müſſe, und dieſe ſind auch auf unſren heutigen

Rechtszuſtand unmittelbar anzuwenden.

 

Mehrere Ausſprüche aber betreffen eine Frage, welche

nicht bei allen Klagen, ſondern nur bei den arbitrariae

actiones (§ 221), vorkommen konnte: Die Frage, welche

Handlungen nach der L. C. der Beklagte auf die Auf-

forderung des Judex vorzunehmen habe, um die Verur-

theilung von ſich abzuwenden. Dieſe Handlungen beſtanden,

wie oben gezeigt wurde, in einer Reſtitution oder Ex-

hibition. Hier alſo lautet die Frage ſo: Was muß der

Beklagte freiwillig thum, um nicht verurtheilt zu werden?

oder mit anderen Worten: Was gehört zu einer wahren,

 

VI. 4

|0068 : 50|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

genügenden, die Verurtheilung abwendenden Reſtitution? (a)

Was gehört zu einer wahren Exhibition? (b)

So verſchieden nun dieſe Fragen, ihrer wörtlichen

Faſſung nach, lauten, ſo ſind ſie dennoch in der That

identiſch, ſo daß die Antwort auf die eine Frage, ohne

Gefahr eines Irrthums, auch als Antwort auf die andere

Frage behandelt werden kann. Denn was der Beklagte

als genügende Reſtitution vornehmen muß um der Verur-

theilung zu entgehen, hat ganz denſelben Umfang wie Das,

wozu er verurtheilt wird, wenn er die freiwillige Reſti-

tution unterläßt (c), und eben ſo umgekehrt. — Da wir

übrigens keine arbitrariae actiones mehr haben (§ 224),

ſo gewähren uns die Ausſprüche über die wahre Reſti-

tution und Exhibition nur den indirecten Vortheil, daß

wir daraus lernen, worauf die Verurtheilung gerichtet

werden muß, wenn es überhaupt zu einer ſolchen kommt (d).

 

(a) L. 35. 75. 246 § 1 de

V. S. (50. 16), L. 20 L. 35 § 1

de rei vind. (6. 1).

(b) L. 9 § 5. 6. 7. 8. ad exhib.

(10. 4)

(c) Allerdings mit dem Unter-

ſchied, daß das Urtheil nur auf

Geld gehen konnte, anſtatt daß

die Reſtitution in Natur geſchah.

Vergl. B. 5 § 221. Auch kann

im einzelnen Fall, nach thatſäch-

lichen Verhältniſſen, in der Reſti-

tution etwas Anderes nöthig ſeyn

und genügen, als das worauf ſpäter

das Urtheil gelautet hätte. Im

Allgemeinen aber iſt die Identität

des Inhalts bei der Reſtitution

und dem Urtheil unverkennbar.

(d) In ſofern ſteht allerdings

unſer heutiges Recht dem älteren

R. R. gleich, daß auch bei uns

keine Verurtheilung erfolgt, wenn

der Beklagte während des Pro-

zeſſes das Verlangen des Klägers

vollſtändig erfüllt. Dieſer Fall

iſt aber in unſrem heutigen Recht

von keiner practiſchen Erheblichkeit,

anſtatt daß im R. R. die arbi-

trariae actiones künſtlich darauf

berechnet waren, daß der Beklagte

freiwillig reſtituiren oder erhibiren

ſollte, um größeren Nachtheilen

zu entgehen.

|0069 : 51|

§. 260. Wirkung der L. C. — Einleitung.

II. Die materiellen Wirkungen der L. C. ſind aller-

dings darauf berechnet, den Vortheil des Klägers zu beför-

dern. Denn der Kläger iſt es, der durch die unvermeid-

liche Dauer des Rechtsſtreits einen Nachtheil erleiden kann,

und eben gegen dieſen Nachtheil ſoll er künſtlich geſchützt

werden durch die Reduction des Urtheils auf den Zeit-

punkt der L. C. (e).

 

Indeſſen iſt dieſer Zweck nicht ſo abſtract aufzufaſſen,

als ob der Kläger in jedem einzelnen Falle durch jene

Neduction nothwendig gewinnen, oder auch nur nicht ver-

lieren müßte. Es können vielmehr durchkreuzende practiſche

Rückſichten eintreten, welche in einzelnen Fällen einen ande-

ren Erfolg herbeiführen. Solche Rückſichten können in

anderen Fällen auch wohl die Anwendung jener Reduction

ſelbſt ausſchließen.

 

Es iſt daher überhaupt in dieſem Rechtsinftitut eine

gewiſſe practiſche Biegſamkeit wahrzunehmen.

 

III. Der Grundſatz, mit deſſen Entwicklung in einzel-

nen Folgen wir uns nun zu beſchäftigen haben, beruht

auf einem ſo natürlichen Bedürfniß, daß wir eine frühe

Anerkennung deſſelben wohl erwarten dürfen. Und in der

That zeigt ſich derſelbe ſchon wirkſam in der uralten Vin-

dication durch legis actio. Bei dieſer mußten im An-

fang des Rechtsſtreits vom Beklagten praedes litis et vin-

diciarum geſtellt werden, Bürgen für die Sache ſelbſt und

die Früchte derſelben, alſo gegen die Nachtheile, die dem

 

(e) L. 86. 87 de R. I. (50. 17), L. 29 de nov. (46. 2).

4*

|0070 : 52|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Kläger daraus entſtehen konnten, daß er die Beendigung

des Rechtsſtreits abwarten mußte. In der ſpäteren Vindi-

cation per sponsionem trat an die Stelle jener alten

praedes eine Stipulation pro praede litis et vindiciarum,

das heißt als ein mit derſelben Wirkung verſehenes Sur-

rogat. Und dieſe wieder gieng bei der petitoria formula,

mit Veränderung der Form und des Namens, in eine

Stipulation judicatum solvi über (f).

Ich muß es daher als unhiſtoriſch verwerfen, wenn

neuerlich behauptet worden iſt, jener Grundſatz der Re-

duction auf die Zeit der L. C. ſey die neue Erfindung

eines poſitiven Geſetzes, des unter Hadrian über die

Erbſchaftsklage erlaſſenen Senatsſchluſſes (g). Der Grund-

ſatz ſelbſt war uralt, aber freilich nirgend abſtract aus-

geſprochen, ſondern nur in einzelnen Anwendungen aner-

kannt. Unter den Händen der juriſtiſchen Schriftſteller

wurde er allmälig ausgebildet und entwickelt. Auch der

 

(f) Gajus IV. § 91. 94. 89

Vergl. oben § 258. g. — Man

könnte glauben, bei der petitoria

formula fehle ein Verſprechen we-

gen der Früchte während des Rechts-

ſtreits. Allein dieſes liegt in den

Worten des § 89: „ut si victus

sis, nec rem ipsam restituas“

rel. Denn in dem restituere,

durch deſſen Unterlaſſen die Sti-

pulation des Beklagten und der

Bürgen verletzt und zur Klage

fällig gemacht (commissa stipu-

latio) wurde, lag auch der Er-

ſatz der omnis causa. Vgl.

die in Note a angeführten Stellen.

(g) Heimbach, Lehre von der

Frucht S. 155 fg. — Fände ſich

jener Grundſatz nur bei der Erb-

ſchaftsklage und der damit nahe

verwandten Eigenthumsklage er-

wähnt, ſo hätte die Behauptung

noch einigen Schein; allein er

kommt eben ſo auch bei den Con-

dictionen vor, und es wird wohl

Niemand annehmen wollen, daß

dieſe unter dem Einfluß des Sc.

Iuventianum geſtanden hätten.

Vgl. L. 31 de reb. cred. (12. 1).

|0071 : 53|

§. 260. Wirkung der L. C. — Einleitung.

angeführte Senatsſchluß nahm ihn in ſich auf, und trug

zur Ausbildung deſſelben bei. Es war alſo ſehr natürlich,

daß die gleichzeitigen und ſpäteren Schriftſteller dieſes Ge-

ſetz, vielleicht das ausführlichſte über den ganzen Gegen-

ſtand, zum Anhaltspunkt ihrer eigenen Ausführungen

wählten, ohne damit ſagen zu wollen, daß jener Grund-

ſatz erſt durch jenes Geſetz neu eingeführt worden ſey und

vor demſelben gar nicht gegolten habe (h).

IV. Der aufgeſtellte Grundſatz läßt ſich in zwei Haupt-

regeln auflöſen.

 

Es kann geſchehen, daß die juriſtiſchen Bedingungen

der Verurtheilung zur Zeit der L. C. vorhanden ſind,

während der Dauer des Rechtsſtreits aber verſchwinden.

Der Grundſatz führt dahin, daß nun die Verurtheilung

dennoch erfolgen muß.

 

Es kann ferner geſchehen, daß die Verurtheilung zwar

auch noch ſpäterhin erfolgt, aber dem Kläger weniger Vor-

theile verſchafft, als er jetzt haben würde, wenn ſie ſchon

zur Zeit der L. C. erfolgt wäre. Der Grundſatz führt

nun dahin, der Verurtheilung einen ſolchen Umfang zu

geben, daß dadurch dieſe Differenz ausgeglichen wird.

 

Die erſte Regel ſoll durch künſtliche Reduction auf den

Zeitpunkt der L. C. die Verurtheilung ſelbſt ſichern,

 

(h) So iſt zu verſtehen die

Stelle des Paulus in L. 40 pr.

de her. pet. (5. 3). „Illud quoque,

quod in oratione D. Hadriani

est, ut post acceptum judicium

id actori praestetur, quod ha-

biturus esset, si eo tempore,

quo petit, restituta esset here-

ditas, interdum durum est.“

|0072 : 54|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

da wo ohne dieſe Regel eigentlich eine Freiſprechung er-

folgen müßte.

Die zweite Regel ſoll den Umfang der Verurthei-

lung ſo beſtimmen, daß der Kläger nicht weniger Vor-

theile erhalte, als er durch eine zur Zeit der L. C. erfolgte

Verurtheilung jetzt haben würde.

 

Beide Regeln zuſammen, alſo der vollſtändige Grund-

ſatz in welchem ſie als verſchiedene Anwendungen ent-

halten ſind, werden bezeichnet durch den Ausdruck: causa

praestanda est oder causa restitui debet (i). Causa alſo,

oder omnis causa, causa omnis, heißt alles dasjenige,

welches in Anwendung jener Regeln durch das richterliche

Urtheil dem Kläger verſchafft werden ſoll.

 

§. 261.

Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.

Zuvörderſt ſind diejenigen Fälle zuſammen zu ſtellen, in

welchen die Bedingungen der Verurtheilung zur Zeit der

L. C. vorhanden ſind, während des Rechtsſtreits aber ver-

 

(i) In den meiſten Stellen, wo-

rin dieſe Ausdrücke vorkommen,

wird zufällig nur die zweite Regel

als die häufigere und wichtigere,

daran geknüpft; am häufigſten der

Erſatz der Früchte. In folgenden

Stellen aber wird der Ausdruck

ſo gebraucht, daß er entſchieden

beide Regeln umfaßt. § 3 I. de

off. jud. (4. 17), L. 35 de

V. S. (50. 16) „Restituere

autem is intelligitur, qui simul

et causam actori reddit, quam

is habiturus esset, si statim

judicii accepti tempore res ei

reddita fuisset, id est et asu-

capionis causam, et fructuum.“

Die usucapionis causa beſteht

eben in einer Anwendung der

erſten Regel.

|0073 : 55|

§. 261. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.

ſchwinden. Die L. C. ſoll hier die Wirkung haben, daß

die Verurtheilung dennoch geſichert bleibe (§ 260).

I. Klagverjährung nach der L. C.

Unter jene Fälle gehört, für Klagen aller Art, der Fall

der Klagverjährung, welche zur Zeit der L. C. erſt ange-

fangen war, während des Rechtsſtreits aber den für ihre

Vollendung beſtimmten Zeitpunkt erreicht hat.

 

Nach dem älteren Recht ſollte die L. C. die Wirkung

haben, daß die Verurtheilung dennoch ausgeſprochen würde,

oder mit anderen Worten: die L. C. ſollte die angefangene

Klagverjährung unterbrechen.

 

Dieſes hat ſich im neueren R. R. dadurch verändert,

daß ſchon die Inſinuation der Klage die Klagverjährung

völlig unterbrechen ſoll, wodurch alſo die erwähnte Wir-

kung, die im früheren Recht an die L. C. geknüpft war,

nunmehr abſorbirt wird (§ 242. 243).

 

II. Uſucapion nach der L. C.

Bei den Klagen in rem kann es geſchehen, daß das

Recht des Klägers (z. B. das Eigenthum), welches zur

Zeit der L. C. vorhanden war, während des Rechtsſtreits

untergegangen iſt; das ſoll die Verurtheilung nicht hindern.

 

Der wichtigſte Fall dieſer Art iſt der der Uſucapion;

wenn nämlich der Beklagte, der die Uſucapion zur Zeit der

L. C. angefangen hatte, dieſe während des Rechtsſtreits

vollendet, ſo daß zur Zeit des Urtheils in der That nicht

mehr der Kläger, ſondern vielmehr der Beklagte, wahrer

 

|0074 : 56|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Eigenthümer iſt. Wie iſt dagegen dem Kläger zu

helfen? (a)

Der Gedanke liegt ſehr nahe, dieſen Fall eben ſo zu

behandeln wie den der Klagverjährung, alſo in die L. C.

(oder auch in die Inſinuation) eine Unterbrechung der

Uſucapion zu legen die dann nicht ablaufen könnte, ſo daß

das Eigenthum unverändert bliebe.

 

Dieſer Gedanke iſt jedoch dem R. R. völlig fremd,

welches vielmehr den Fortgang und Ablauf der Uſucapion

während des Rechtsſtreits auf unzweifelhafte Weiſe aner-

kennt (b). Es hilft aber dem Kläger auf indirecte Weiſe,

indem es dem Beklagten die Verpflichtung auflegt, das

wirklich erworbene Eigenthum auf den Kläger zurück zu

übertragen, welches im älteren Recht oft durch Mancipation

geſchehen mußte, im neueſten Recht aber ſtets durch Tra-

dition bewirkt wird. Daneben ſoll der Beklagte auch noch

Caution ſtellen für den Fall, daß er etwa in der Zwiſchen-

zeit, worin er Eigenthümer war, nachtheilige Veränderungen

in dem Recht an der Sache vorgenommen haben ſollte (c).

 

(a) Sehr gut handelt von die-

ſem Fall Keller S. 173 — 179.

(b) L. 2 § 21 pro emt. (41. 4),

L. 17 § 1 in f. de rei vind. (6. 1).

— Auch die in der folgenden Note

angeführten Stellen beweiſen die-

ſen Satz völlig, weil eine Rück-

übertragung des Eigenthums weder

nöthig noch möglich wäre, wenn

nicht der Beklagte durch vollendete

Uſucapion Eigenthum erworben

hätte.

(c) L. 18. 20. 21 de rei vind.

(6. 1), L. 35 de V. S. (50. 16

vgl. oben § 260. i), L. 8 § 4 si

serv. (8. 5) „quemadmodum pla-

cet in dominio aedium.“ —

Wenn L. 18 cit. ſagt: „debet eum

tradere,“ ſo iſt das eine unzwei-

felhafte Interpolation, da Gajus

|0075 : 57|

§. 261. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.

Aus zwei verſchiedenen Gründen iſt behauptet worden,

daß im heutigen Recht dieſe Regeln nicht mehr gelten,

indem jetzt auch für die Uſucapion eine wahre Unterbrechung

durch die L. C. (oder durch die Inſinuation) eintrete.

 

Erſtlich iſt behauptet worden, die L. C. mache den Beſitz

zu einem unredlichen, die Uſucapion aber werde durch jede

mala fides, auch durch die mala fides superveniens, nach den

Vorſchriften des canoniſchen Rechts unterbrochen (§ 244). —

Von der Unredlichkeit des Beſitzes, die durch die L. C. be-

wirkt werden ſoll, wird unten ausführlich geſprochen werden

(§ 264). Wenn man ſie auch in einem figürlichen Sinn,

durch eine Art von Fiction, annehmen wollte, ſo kann ſie

doch in der unmittelbaren Bedeutung, wie ſie das cano-

niſche Recht unzweifelhaft auffaßt, unmöglich behauptet

werden; es wäre widerſinnig zu ſagen, jeder Beklagte be-

finde ſich von der L. C. an in einem ſündlichen Zuſtand,

und in dieſem Sinn faßt das canoniſche Recht die mala fides

auf. — Dieſer Grund für eine veränderte Rechtsregel muß

alſo entſchieden als unhaltbar verworfen werden (d).

 

Ein zweiter Grund für eine Veränderung der Rechts-

regeln hat ungleich mehr Schein. Neben der Uſucapion,

und als Ergänzung derſelben, wurde ſchon frühe eine longi

temporis praescriptio von zehen oder zwanzig Jahren ein-

geführt. Dieſes war eine reine Klagverjährung, und es

 

ſehr wohl wußte, daß das Eigen-

thum eines Sklaven nicht durch

Tradition, ſondern nur durch Man-

cipation oder in jure cessio über-

tragen werden konnte.

(d) So wird die Sache richtig

dargeſtellt von Kierulff S. 277,

und Wächter H. 3 S. 105.

|0076 : 58|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

iſt unzweifelhaft, daß ſie, ſo wie jede andere Klagverjäh-

rung, durch die L. C. (ſpäter durch die Inſinuation) unter-

brochen wurde (e). Nun hat Juſtinian an die longi tem-

poris possessio, welche früher nur eine praescriptio begrün-

dete, bei unbeweglichen Sachen die Wirkung der Uſucapion

geknüpft: im Fall der bona fides ſogar auch an den dreißig-

oder vierzig-jährigen Beſitz, und ohne Unterſchied der beweg-

lichen und unbeweglichen Sachen (f). Hierüber haben ſich

zwei verſchiedene Meinungen gebildet. Nach der einen

Meinung hat der Erwerb von 10, 20, 30 Jahren, auch

nachdem ihm gleiche Wirkung mit der Uſucapion beigelegt

worden iſt, dennoch ſeine urſprüngliche Natur einer Klag-

verjährung beibehalten, ſo daß darauf die Unterbrechung

durch Inſinuation der Klage anzuwenden iſt (g). Nach

der anderen Meinung iſt jeder Erwerb, welchem Juſtinian

die Wirkung einer Uſucapion beigelegt hat, als eine wahre,

eigentliche Uſucapion, nur mit anderen Zeitfriſten als denen

des älteren Rechts anzuſehen, und es ſind darauf alle Be-

ſtimmungen des älteren Rechts über die Uſucapion unmit-

telbar anzuwenden, namentlich auch die Beſtimmung, daß

die L. C. den Lauf dieſer Uſucapionen nicht unterbricht,

ſondern nur eine Verpflichtung des Beklagten zur Rückgabe

des Eigenthums erzeugt.

(e) L. 1. 2. 10 C. de praescr.

longi temp. (7. 33), L. 2 C. ubi

in rem (3. 19), L. 26 C. de rei

vind. (3. 32).

(f) L. 8 pr. § 1 C. de praescr.

XXX. (7. 39) vom J. 528.

(g) Wächter H. 3 S. 99—104.

|0077 : 59|

§. 261. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.

Ich halte die zweite Meinung für die richtige, und

zwar hauptſächlich deswegen, weil Juſtinian ſelbſt den

Beſitz von 3, 10, 20 Jahren geradezu als Uſucapion

bezeichnet (h), und dadurch als einen Rechtsbegriff aufſtellt,

auf welchen er die in ſeinen Rechtsbüchern über die Uſu-

capion aufgeſtellten Vorſchriften angewendet wiſſen will. —

Für die entgegengeſetzte Meinung wird ein Geſetz von Ju-

ſtinian angeführt, welches folgenden Inhalt hat (i). Wenn

der Eigenthümer eine Vindication gegen den Beſitzer ſeiner

Sache deswegen nicht anbringen kann, weil dieſer Be-

ſitzer abweſend, oder Kind, oder wahnſinnig iſt, ſo darf der

Eigenthümer ſeine Klage bei dem Präſes, oder dem Biſchof,

oder dem Defenſor einreichen u. ſ. w.,

„et hoc sufficere ad omnem temporalem interruptio-

nem, sive triennii, sive longi temporis, sive triginta

vel quadraginta annorum sit.“ (Vorher heißt es:

interruptionem temporis facere, et sufficere hoc ad

plenissimam interruptionem.)

 

Aus dieſen Worten wird gefolgert, die Klage unter-

breche jetzt wirklich die Uſucapion. Allein Juſtinian hatte

 

(h) pr. j. de usuc. (2. 6) „et

ideo Constitutionem super hoc

promulgavimus, qua cautum

est, ut res quidem mobiles per

triennium, immobiles vero per

longi temporis possessionem,

i. e. inter praesentes decennio,

inter absentes viginti annis,

usucapiantur.“ — Daß hier der

dreißigjährige Beſitz nicht mit auf-

geführt iſt, mag aus Nachläſſigkeit

oder aus Rückſicht auf deſſen

exceptionelle Natur und Beſchaffen-

heit herrühren; eine weſentliche

Verſchiedenheit kann aus dieſer

Auslaſſung auch für dieſen Fall

nicht abgeleitet werden. Auch er

enthält eine wahre Uſucapion, und

wird nur zufällig nicht ſo genannt.

(i) L. 2 C. de ann. exc. (7. 40).

|0078 : 60|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

in dieſem Geſetz augenſcheinlich nur den Zweck, für einen

ſeltenen Nothfall eine rein practiſche Auskunft zu erfinden,

nicht die feinere Natur dieſer Rechtsverhältniſſe zu beſtim-

men. Für jenen practiſchen Zweck war durch die neue

Vorſchrift völlig geſorgt, und in dieſer Hinſicht konnte man

es eine interruptio nennen, weil es für den vorliegenden

Zweck, wenn der Kläger wirklich Eigenthum hatte, ganz

gleichgültig war, ob die Uſucapion unterbrochen, oder dem

Kläger ein Anſpruch auf Verurtheilung des Gegners zur

Rückgabe des Eigenthums geſichert war. Die dreijährige

Uſucapion war doch gewiß nicht aus einer alten Klagver-

jährung hervorgegangen, und bei ihr iſt alſo nicht einmal

eine ſcheinbare Veranlaſſung anzugeben, weshalb ſie hätte

die Natur einer eigentlichen Uſucapion verlieren, und in

die einer Klagverjährung umgebildet werden ſollen; dennoch

iſt auch ſie, wie die übrigen Fälle, in jenem Geſetz ausdrücklich

mit aufgeführt, und mit ihnen ganz auf gleiche Linie geſtellt.

Dieſe ganze Streitfrage übrigens iſt von geringer prac-

tiſcher Erheblichkeit. Die Fälle, in welchen die Gefahr

einer Uſucapion durch Klage abgewendet werden muß, ſind

überhaupt nicht häufig, und wo ſie vorkommen, iſt es für

die Sicherheit des alten Eigenthümers ziemlich gleichgültig,

ob er durch Unterbrechung der Uſucapion geſchützt wird,

oder vielmehr, wie ich glaube, auf dem Wege, den dafür

das ältere R. R. angiebt.

 

Dieſelben Regeln, welche hier für die Uſucapion aufge-

ſtellt worden ſind, müſſen auch angewendet werden, wenn

 

|0079 : 61|

§. 261. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.

eine Servitut durch confeſſoriſche Klage verfolgt wird, und

während des Rechtsſtreits, nach der L. C., die für den

Nichtgebrauch beſtimmte geſetzliche Friſt abläuft. In dieſem

Fall geht die Servitut durch Nichtgebrauch wirklich unter,

der Beklagte muß aber verurtheilt werden, ſie durch eine

neue juriſtiſche Handlung wiederherzuſtellen: nach dem älte-

ren Recht durch in jure cessio, nach dem neueren durch

Vertrag (k).

III. Perſönliche Klagen, deren Grund nach der

L. C. verſchwindet.

Bei den perſönlichen Klagen kommt zuerſt der Fall in

Betracht, wenn während des Rechtsſtreits die Obligation

untergeht, und zwar durch freiwillige Leiſtung von Seiten

des Beklagten. Man ſollte glauben, es hätte nie bezwei-

felt werden können, daß nun der Rechtsſtreit von ſelbſt zu

Ende ſey. Bei den arbiträren Klagen war dieſes auch in

der That der Fall, indem durch die ganze Behandlung der-

ſelben recht abſichtlich auf die freiwillige Erfüllung mit

dem Erfolg der Freiſprechung hingewirkt werden ſollte.

Allein bei den übrigen Klagen war die Sache ſtreitig,

jedoch wahrſcheinlich nur bei den ſtrengen Klagen. Die

härtere Meinung der Proculianer gieng dahin, daß dennoch

der Beklagte verurtheilt werden ſollte. Die mildere Mei-

nung der Sabinianer nahm die Freiſprechung an, und dieſe

Meinung wurde durch die Regel ausgedrückt: omnia judi-

 

(k) L. 5 § 5 si ususfr. (7. 6), L. 10 de usufr. accresc. (7. 2),

L. 8 § 4 si serv. (8. 5). Vgl. Keller S. 175.

|0080 : 62|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

cia esse absolutoria (l). Natürlich hat Juſtinian dieſe

mildere Meinung angenommen (m).

Außer der Erfüllung kommen noch folgende einzelne,

weniger erhebliche, Fälle vor, worin während des Rechts-

ſtreits die urſprünglich vorhandene Bedingung einer perſön-

lichen Klage wegfallen kann.

 

Wegen des von einem Sklaven begangenen Diebſtahls

hatte der Beſtohlene eine Noxalklage gegen den Eigenthü-

mer des Sklaven; das Eigenthum wurde erfordert zur

Zeit der L. C. Wenn nun der Beklagte den Sklaven nach

der L. C. veräußerte, ſo entgieng er dadurch der Verur-

theilung nicht, ſelbſt wenn die Veräußerung an den Kläger

geſchah (n).

 

Bei der Klage ad exhibendum beſteht die Hauptbedin-

gung in einem rechtlichen Intereſſe des Klägers an der

Exhibition. Wenn nun dieſes zur Zeit der L. C. vorhanden

iſt, nachher verſchwindet, ſo müßte nach unſrem Grundſatz

der Beklagte verurtheilt werden. Hier aber tritt eine Aus-

nahme ein, indem die Verurtheilung nur dann erfolgen ſoll,

 

(l) Gajus IV. § 114. Aber auch

nach der ſtrengeren Meinung ſollte

doch wahrſcheinlich nicht der Be-

klagte die doppelte Leiſtung bekom-

men und behalten. Vielleicht wurde

er dagegen durch eine condictio

sine causa geſchützt. Ausführlich

handelt von dieſer Frage Keller

S. 180 —184.

(m) § 2 J. de perpet. (4. 12).

Eine Spur des verworfenen ſtren-

geren Grundſatzes iſt wahrſchein-

lich aus Verſehen in die L. 84 de

V. O. (45. 1) übergegangen. Vgl.

oben B. 5 S. 135, und Wächter

H. 3 S. 26.

(n) L. 37 L. 38 pr. de nox.

act. (9. 4).

|0081 : 63|

§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung. (Fortſetz.)

wenn auch noch zur Zeit des Urtheils das Intereſſe des

Klägers fortdauert (o).

Nach der L. Julia ſollte die Klage gegen einen Freige-

laſſenen auf eine operarum obligatio ausgeſchloſſen ſeyn,

wenn der Freigelaſſene zwei Kinder hatte. Wenn nun

nach der L. C., während des Rechtsſtreits, das zweite Kind

geboren wurde, ſo hätte eigentlich, nach unſrem Grundſatz,

die Verurtheilung erfolgen müſſen. Hier aber wurde das

Gegentheil angenommen, offenbar aus derſelben Begünſti-

gung, woraus dieſes ganze Privilegium entſprungen war (p).

 

§. 262.

Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung ſelbſt geſichert.

(Fortſetzung.)

IV. Uebergang der Klagen auf die Erben.

Unter den perſönlichen Klagen finden ſich viele, die nicht

gegen die Erben des urſprünglichen Schuldners angeſtellt

werden können, und unter dieſen ſind die wichtigſten die

Pönalklagen. Für alle dieſe Klagen gilt die durchgreifende

Regel, daß ſie auf die Erben übergehen, wenn der Beklagte

erſt nach der L. C. ſtirbt (a). Dieſe Regel iſt die unmit-

 

(o) L. 7 § 7 ad exhib. (10. 4).

(p) L. 37 pr. § 6 de op. libert.

(38. 1).

(a) L. 58 de O. et A. (44. 7),

L. 29 de nov. (46. 2), L. 87. 139

pr. de R. J. Vgl. B. 5 § 211. g,

§ 230, und Keller § 20. — Die

L. 33 de O. et A. (44. 7), die

hierin beſondere Schwierigkeit

macht, iſt ſchon oben § 257 erklärt

worden. — Die, ohnehin weit ſelt-

neren Klagen, die von Seiten des

Klagberechtigten unvererblich ſind,

richten ſich nach ganz anderen Re-

geln, und werden nicht erſt durch

die L. C. der Vererbung fähig.

|0082 : 64|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

telbare Folge der in der L. C. enthaltenen contractlichen

Obligation, durch welche diejenige Eigenſchaft des urſprüng-

lichen Rechtsverhältniſſes abſorbirt wird, in welcher die

Unvererblichkeit deſſelben gegründet war.

V. Entſtehung des Rechts nach der L. C.

Bisher ſind die Fälle erwogen worden, in welchen das

zur Zeit der L. C. vorhandene Recht des Klägers während

des Rechtsſtreits verſchwindet; unſer Grundſatz führte

dahin, daß dieſe Änderung dem Kläger nicht ſchaden ſoll.

Wir haben jetzt den umgekehrten Fall zu betrachten, wenn

das Recht des Klägers zur Zeit der L. C. nicht vorhanden

iſt, während des Rechtsſtreits aber entſteht; wenn alſo

z. B. ein Nichteigenthümer vindicirt und während des

Rechtsſtreits Erbe des Eigenthümers wird, oder wenn ein

Anderer als der Creditor eine wirklich vorhandene Schuld

einklagt, während des Rechtsſtreits aber durch Beerbung

des wahren Creditors die Forderung erwirbt (b).

 

Hier iſt zuvörderſt einleuchtend, daß unſer Grundſatz

keine Anwendung finden kann. Wollte man auf das neu

erworbene Recht eine Verurtheilung gründen, ſo würde

dadurch nicht etwa ein durch die Dauer des Rechtsſtreits

herbeigeführter Verluſt von dem Kläger abgewendet werden

(worauf allein unſer Grundſatz abzweckt), ſondern der

Kläger würde durch jene Dauer Etwas gewinnen, da

 

(b) Von dieſer Frage handeln:

Voetius VI. 1 § 4 (kurz und

gründlich), Glück B. 8 S. 147

bis 151, mit ausführlicher Angabe

der Schriftſteller, und Wächter

H. 3 S. 120 — 124.

|0083 : 65|

§. 262 Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)

er zur Zeit der L. C. unzweifelhaft abgewieſen worden

wäre.

Ferner iſt das practiſche Intereſſe dieſer Frage an ſich

weit geringer. In dem bisher betrachteten umgekehrten

Fall kam es darauf an, den Kläger gegen den Verluſt des

Rechts ſelbſt zu ſchützen, den er z. B. durch den unge-

ſchwächten Fortgang der Klagverjährung oder der Uſucapion

erlitten haben würde. Dieſer Verluſt des Rechts ſelbſt

kann hier in keinem Fall eintreten. Laſſen wir die Beach-

tung des neu erworbenen Rechts im gegenwärtigen Prozeß

zu, ſo erreicht der Kläger ſeinen Zweck ſogleich; laſſen

wir ſie nicht zu, ſo wird der Beklagte freigeſprochen, der

Kläger kann aber in einer neuen Klage ſein Recht geltend

machen, und verliert alſo blos Zeit und Prozeßkoſten.

Dieſes galt ſelbſt nach der Strenge des alten R. R., da

das neu erworbene Recht eine nova causa bildete, alſo

durch die frühere Klage nicht in judicium deducirt und

conſumirt war (c). Das Intereſſe der Frage iſt alſo nicht

materiell, nur prozeſſualiſch, woraus übrigens nicht folgt,

daß wir deshalb weniger ſorgfältig auf die Entſcheidung

derſelben einzugehen hätten.

 

A. Nach R. R. muß angenommen werden, daß der

ſpätere Erwerb des Rechts die Verurtheilung nicht recht-

fertigt. Dafür ſind folgende Stellen entſcheidend:

L. 23 de jud. (5. 1) von Paulus: „Non potest

 

 

(c) L. 11 § 4. 5 de exc. rei jud. (44. 2). Dieſe Stelle wird in

der Lehre vom Urtheil vollſtändig benutzt werden.

VI. 5

|0084 : 66|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

videri in judicium venisse id, quod post judicium

acceptum accidisset, ideoque alia interpellatione opus

est.“ Das heißt: die nach der L. C. eintretenden

Veränderungen dürfen auf das Urtheil dieſes Juder

keinen Einfluß haben; es bedarf alſo einer neuen

Klage (d) um ſie geltend zu machen. Dieſe Regel

wird hier ganz allgemein aufgeſtellt, ohne Unterſchied

zwiſchen in rem und in personam, zwiſchen stricti

juris und bonae fidei actio.

L. 35 de jud. (5. 1) von Javolenus: „Non

quemadmodum fidejussoris obligatio in pendenti

potest esse, et vel in futurum concipi, ita judicium

in pendenti potest esse, vel de his rebus, quae

postea in obligationem adventurae sunt. Nam ne-

minem puto dubitaturum, quin fidejussor ante obli-

gationem rei accipi possit: judicium vero, antequam

aliquid debeatur, non posse.“ Dieſe Stelle ſpricht

blos von perſönlichen Klagen, von dieſen aber ganz

allgemein, ohne Unterſchied zwiſchen ſtrengen und

freien.

Eine beſtätigende Anwendung der aufgeſtellten Regel

findet ſich bei der actio ad exhibendum. Die Bedingung

dieſer Klage iſt ein rechtliches Intereſſe des Klägers bei

der Exhibition. Wenn nun dieſes Intereſſe zur Zeit der

 

(d) Interpellare für judicio

interpellare, verklagen, komm

auch ſonſt öfter vor, z. B. L. 1

de distr. (20. 5), L. 13 § 3 de

zujur. (47. 10).

|0085 : 67|

§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)

L. C. fehlt, während des Rechtsſtreits aber entſteht, ſo

ſoll dennoch keine Verurtheilung erfolgen, indem das Da-

ſeyn des Intereſſe in beiden Zeitpunkten (L. C. und Urtheil)

erfordert wird (e).

Eine fernere Beſtätigung liegt in folgender wichtigen

Regel, deren vollſtändiger Zuſammenhang erſt weiter unten

in der Lehre vom Urtheil erklärt werden kann. Wenn der

Kläger das Eigenthum der vindicirten Sache erſt nach der

L. C. erwirbt, ſo ſoll ihm das abweiſende Urtheil bei einer

neu angeſtellten Vindication nicht als Exception entgegen

geſetzt werden können (f). Dies wird hier allgemein aus-

geſprochen, ohne Unterſchied, ob der neue Erwerb vor oder

nach dem erſten Urtheil eingetreten iſt. Zwar wird zunächſt

nur die Wirkſamkeit der exceptio rei judicatae im zweiten

Prozeß verneint, und es wird nicht ausdrücklich die Frage

berührt, ob etwa auch ſchon in der erſten Vindication der

Richter wegen des inzwiſchen erworbenen Eigenthums ver-

urtheilen dürfe. Allein die Gründe, die der Juriſt zur Be-

ſtätigung ſeines Ausſpruchs anführt, laſſen keinen Zweifel,

daß er eine ſolche Verurtheilung für unmöglich halten

mußte (g).

 

Viele Schriftſteller haben einen Widerſpruch gegen die

 

(e) L. 7 § 7 ad exhib. (10. 4),

vgl. oben § 261. o.

(f) L. 11 § 4. 5 de exc. rei

jud. (44. 2).

(g) L. cit. „… alia enim

causa fuit prioris dominii, haec

nova nunc accessit. Itaque ad-

quisitum quidem postea domi-

nium aliam causam facit, mu-

tata autem opinio petitoris non

facit.“

5*

|0086 : 68|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

hier aufgeſtellte Behauptung in folgender Stelle des Pau-

lus finden wollen (h):

„Si mandavero tibi, ut a Titio decem exigeres, et

ante exacta ea, mandati tecum egero, si ante rem ju-

dicatam exegeris, condemnandum te esse constat.“

Dieſer Widerſpruch iſt in der That nicht vorhanden.

Durch den übernommenen Auftrag das Geld einzufordern,

iſt die actio mandati bereits vollſtändig begründet, und

durch die während des Rechtsſtreits erfolgte Einforderung

kann höchſtens der Inhalt und Umfang des Urtheils etwas

anders beſtimmt werden. Paulus will alſo nicht ſagen,

daß nur im Fall einer früheren Einforderung eine Verur-

theilung überhaupt erfolgen ſolle (i); die Meinung geht

vielmehr dahin, daß nach der Einforderung unbedingt auf

die Auszahlung des erhobenen Geldes erkannt werde, an-

ſtatt daß vor der Einforderung auf die Vollziehung des

Auftrags (nach R. R. auf das Intereſſe) erkannt werden

müßte. Der Ausſpruch des Paulus muß daher in Ge-

danken ſo ergänzt werden: decem condemnandum te esse

constat. — Um den vermeintlichen Widerſpruch zwiſchen

dieſer Stelle und den oben angeführten zu löſen, haben

mehrere Schriftſteller (k) einen Unterſchied zwiſchen den

 

(h) L. 17 mandati (17. 1).

(i) So verſtehen die Gegner die

Stelle, indem ſie durch das arg.

a contrario hinzudenken: si non

exegeris, absolvendum te esse.

Allein die unbedingte Anwendung

dieſes Arguments iſt überall be-

denklich, und ſie muß beſonders

hier verworfen werden, da die Ab-

ſolution, nach der allgemeinen Na-

tur der Mandatsklage, in keinem

Fall zu rechtfertigen wäre.

(k) Keller S. 185. 187. Wäch-

ter H. 3 S. 121.

|0087 : 69|

§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)

stricti juris und bonae fidei actiones behauptet; bei jenen ſoll

die ſtrengere, bei dieſen (wohin denn eben die Mandatsklage

zu rechnen wäre) die mildere Regel gegolten haben. Durch

die eben aufgeſtellte Erklärung fällt das Bedürfniß einer

ſolchen Vereinigung hinweg. Sie wird aber auch dadurch

widerlegt, daß die oben angeführten Stellen über die ſtren-

gere Regel nicht auf die stricti juris actiones beſchränkt ſind,

während umgekehrt gerade bei der actio ad exhibendum die

ſtrengere Regel eintritt (Note e), obgleich die actio ad exhi-

bendum unter die arbiträren, alſo unter die freieſten Kla-

gen überhaupt, gehört.

In der That hängt aber auch die hier erörterte Regel

mit den ſtrengen, buchſtäblichen Formen des alten Prozeſſes

gar nicht zuſammen. Sie beruht vielmehr auf der ganz

natürlichen Betrachtung, daß für Fälle wie der hier vor-

ausgeſetzte die Anſtellung einer neuen Klage an ſich zweck-

mäßiger iſt, und daß die entgegengeſetzte Behandlung das

Recht des Beklagten gefährden kann, indem dieſer bis dahin

unmöglich ſeine Vertheidigung auf das angeblich neu er-

worbene Recht des Klägers einrichten konnte.

 

Andere Stellen, wodurch man die hier vertheidigte Regel

zu widerlegen geſucht hat, beziehen ſich gar nicht auf den

Fall, wenn das Recht des Klägers zur Zeit der L. C. fehlt,

ſpäter erworben wird (von welchem Fall hier allein die

Rede iſt), ſondern vielmehr auf die während des Prozeſſes

eintretenden factiſchen Veränderungen; von dieſen aber wird

weiter unten (No. VI.) noch beſonders die Rede ſeyn.

 

|0088 : 70|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Mit Unrecht hat man mit der Erörterung unſrer Frage

folgende ganz andere in Verbindung zu bringen geſucht.

Wenn der Kläger aus Verſehen in der Klage einen unrich-

tigen Gegenſtand, oder eine zu geringe Summe bezeichnet,

ſo ſoll ihm dieſes für die Erhaltung ſeines Rechts keine

Gefahr bringen; und zwar nach dem älteren Recht, indem

es ihm ſtets frei ſtand, durch eine neue Klage den Irr-

thum zu berichtigen (l): nach dem Juſtinianiſchen Recht,

indem er die Berichtigung noch in demſelben Prozeß mit

Erfolg vornehmen kann (m). — Eine ſolche Berichtigung

der in der Klage begangenen Irrthümer iſt von dem hier

vorliegenden Fall eines erſt während des Rechtsſtreits neu

entſtandenen Rechts des Klägers völlig verſchieden.

 

B. Nach dem canoniſchen Recht hat unſre Rechts-

regel eine weſentliche Abänderung erlitten. P. Inno-

cenz IV. hat nämlich folgenden Unterſchied aufgeſtellt (n).

Wenn in der Klage nicht nur das Recht ſelbſt, ſondern

auch der Erwerbsgrund deſſelben, beſtimmt ausgedrückt ſey,

ſo ſolle im Fall eines ſpäteren Erwerbs (ganz wie im R. R.)

die Verurtheilung nicht erfolgen dürfen, ſondern vielmehr

eine neue Klage erforderlich ſeyn. Wenn dagegen die Klage

 

(l) Gajus IV. § 55. 56. — In

manchen Fällen war nach altem

Recht auch ſchon in dem erſten

Prozeß eine Berichtigung des be-

gangenen Irrthums zuläſſig, und

zwar gerade in ſolchen Fällen,

worin außerdem eine neue Klage

durch die Conſumtion ausgeſchloſſen

ſeyn würde.

(m) § 34. 35 J. de act. (4. 6).

Nach den Regeln des heutigen

gemeinen Prozeſſes würde eine

ſolche Veränderung des Klaglibells

nicht mehr zuläſſig ſeyn.

(n) C. 3 de sentent. in VI.

(2. 14).

|0089 : 71|

§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)

nur das Recht ſelbſt (z. B. Eigenthum), nicht den Erwerbs-

grund (z. B. Uſucapion), ausdrücke, ſo ſolle der während

des Rechtsſtreits eintretende Erwerb auch ſchon jetzt, ohne

neue Klage, zur Verurtheilung führen.

Um dieſe ſehr weitläufige Verordnung gegen die un-

richtige Deutung zu ſchützen, die dafür neuerlich verſucht

worden iſt (o), muß die Bemerkung vorausgeſchickt werden,

daß dieſe Decretale, ſo wie viele andere, aus zwei verſchie-

denen Theilen zuſammengeſetzt iſt. Sie enthält zuerſt einen

Auszug der Prozeßacten, alſo die Behauptungen und

Gründe beider Parteien. Darauf folgt das ausgeſprochene

Urtheil des Richters, welches am Schluß des ganzen Ge-

ſetzes der Papſt beſtätigt, und dadurch zur geſetzlichen Kraft

erhebt (p). In dem Urtheil des Richters, alſo in dem

geſetzlichen Theil der ganzen Stelle, lauten die entſchei-

denden Worte alſo:

„Ex iis enim, quae post inchoatum judicium eveniunt,

quando causa fuit exposita specialis, nec debet nec

potest judicis animus ad proferendam sententiam in-

formari, quia, quum certae causae facta est mentio,

utpote donationis vel venditionis aut alterius specia-

lis, oportet incepti judicii tempus attendi, ut liquido

cognoscatur, an tunc interfuerit actoris, propter illa,

 

 

(o) Wächter H. 3 S. 122. 123.

(p) „Nos igitur, cardinalis

ejusdem sententiam ratam ha-

bentes, eam auctoritate aposto-

lica confirmamus.“ — Die rich-

terliche Entſcheidung, die hier mit

Geſetzeskraft verſehen wird, fängt

an mit den Worten: „Praefatus

igitur cardinalis, praemissis

omnibus.“

|0090 : 72|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

quae specialem comitantur causam et necessario ad-

esse debent, veluti locus et tempus et hujusmodi,

quae sunt sollicite attendenda, et sine quibus causa

vacua et invalida censeretur. Sed quum est in ge-

nere absque alicujus causae declaratione petitum,

non sic oportet accepti judicii tempus inspici, quia

non requiruntur, nec sunt opportuna, nec attendi

possunt hujusmodi comitantia in hoc casu.“

In dieſen Worten iſt genau und unzweideutig die Un-

terſcheidung von zwei Fällen möglicher Abfaſſung der Klage

(nämlich mit oder ohne Angabe des Erwerbsgrundes für

das eingeklagte Recht) enthalten, welchen ich oben als In-

halt des Geſetzes angegeben habe (q). Und dieſe Unter-

ſcheidung muß daher auch für unſer heutiges gemeines

Recht maaßgebend ſeyb.

 

(q) Wächter H. 3 S. 122. 123.

faßt die Sache ſo auf, als ſey die

Benutzung des neuen Erwerbes

auch in dem Fall zuläſſig, wo aus

einem ſpeciellen Erwerbsgrunde ge-

klagt wird, wenn nur ſpäterhin

„gerade derjenige Erwer-

bungsgrund, auf welchen die ding-

liche Klage geſtützt wird, durch ein

ſpäteres Ereigniß begründet wurde;“

welches ohne Zweifel ſo viel heißen

ſoll, als: der ſpätere wahre Er-

werbungsgrund müſſe mit dem frü-

heren falſchen gleichnamig ſeyn —

denn identiſch iſt er mit demſelben

niemals, wie es gerade in den

Worten der Decretale ſehr richtig

anerkannt wird. Wächter beruft

ſich zum Beweiſe dieſer Behaup-

tung auf eine Stelle der Decretale,

welche nicht zu der richterlichen

und geſetzlichen Entſcheidung, ſon-

dern zu den Prozeßacten gehört,

alſo an ſich gar nichts beweiſen

kann. Dieſe Verwechſlung ver-

ſchuldet zunächſt Glück, welcher

S. 149. 150 gerade dieſe Stelle der

Prozeßacten als das eigentliche

Geſetz irrig abdrucken läßt. Aber

auch ſelbſt die allegirte Stelle der

Prozeßacten hat, genauer angeſehen,

nicht den von Wächter angenom-

menen Inhalt, ſondern ſtimmt ei-

gentlich ganz mit der nachfolgenden

geſetzlichen Entſcheidung überein.

|0091 : 73|

§. 263. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)

Es verſteht ſich aber dabei von ſelbſt, daß auch in dem

von dem Papſt anerkannten Fall der Kläger dennoch keinen

Gebrauch von dem während des Rechtsſtreits eingetretenen

Erwerb des Rechts machen kann, wenn die allgemeinen

für den Prozeßgang beſtehenden Regeln damit im Wider-

ſpruch ſind; insbeſondere alſo in dem Fall, wenn erſt nach

dem Beweistermin der neue Erwerb Statt findet (r).

 

§. 263.

Wirkung der Litis Conteſtation. — I. Verurtheilung

ſelbſt geſichert. (Fortſetzung.)

VI. Factiſche Verhältniſſe.

Wenn man die Bedingungen vollſtändig anzugeben ver-

ſucht, durch welche eine Verurtheilung überhaupt, oder doch

der Umfang einer Verurtheilung, beſtimmt wird, ſo finden

ſich unter denſelben außer dem Rechte des Klägers, wovon

allein bisher die Rede war, auch noch manche factiſche

Verhältniſſe, die in Vergleichung mit jenem Rechte des

Klägers (der eigentlichen Grundlage jeder Klage), als Ne-

benumſtände aufgefaßt werden können. Bei der Vindication

z. B. iſt die Hauptbedingung der Klage das Eigenthum des

Klägers: daneben aber iſt auch der Beſitz des Beklagten

nöthig, wenn eine Verurtheilung erfolgen ſoll. Auch für

ſolche factiſche Verhältniſſe muß die Frage beantwortet

werden, in welcher Zeit das Daſeyn derſelben erforderlich

iſt. Wenngleich nun ſich dabei zeigen wird, daß die L. C.

 

(r) Stryk Lib. 6. Tit. 1 § 11. Wächter S. 124.

|0092 : 74|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

nicht der erforderliche Zeitpunkt iſt, ſo darf dennoch auch

hier dieſe Unterſuchung nicht abgelehnt werden, weil außer-

dem neben den Wirkungen der L. C. ein benachbarter unbe-

ſtimmter Raum übrig bleiben würde, in welchem Zweifel

und Misverſtändniſſe über die L. C. Platz nehmen können,

und wirklich nicht ſelten genommen haben (a).

Es ſind dabei in gleicher Art, wie es bei dem Recht

des Klägers geſchehen iſt, zwei Fälle zn unterſcheiden.

 

Erſtlich kann ein ſolches factiſches Verhältniß zur Zeit

der L. C. vorhanden ſeyn, nachher verſchwinden. Zweitens

kann daſſelbe zur Zeit der L. C. fehlen, nachher entſtehen.

 

Der erſte Fall wird zweckmäßiger weiter unten, in

anderem Zuſammenhang, betrachtet werden. Wenn näm-

lich bei der Vindication der zur Zeit der L. C. vorhandene

Beſitz des Beklagten während des Rechtsſtreits verloren

geht, ſo gehört die Beurtheilung dieſes Falles in die Reihe

der möglichen Verminderungen, für welche der Beklagte

nach Umſtänden Entſchädigung zu leiſten oder nicht zu

leiſten hat. Davon wird in vollſtändigem Zuſammenhang

bei den Wirkungen der L. C. auf den Umfang der Ver-

urtheilung gehandelt werden (§ 272 fg.).

 

Es bleibt alſo hier nur der zweite Fall zu erwägen

übrig, wenn das erforderliche factiſche Verhältniß zur Zeit

der L. C. fehlt, während des Rechtsſtreits aber entſteht.

 

Hier iſt als Regel anzunehmen, daß der Zuſtand zur

 

(a) Von dieſer Frage handeln: Keller S. 190—194. Wächter

H. 3 S. 126.

|0093 : 75|

§. 262. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)

Zeit der L. C. Nichts bedeutet, und daß es allein dar-

auf ankommt, ob das factiſche Verhältniß zur Zeit des

Urtheils vorhanden iſt. Es gilt alſo hierin die umge-

kehrte Regel von derjenigen, welche oben für das Recht

des Klägers angegeben worden iſt (§ 262).

Die hier aufgeſtellte Regel ſoll zunächſt bei den ein-

zelnen Klagen, worin ſie vorkommt, nachgewieſen werden;

daran wird ſich eine allgemeinere Betrachtung anſchließen

können.

 

A. Bei der Vindication des Eigenthums iſt es gleich-

gültig, ob der Beklagte zur Zeit der L. C. den Beſitz hat;

zur Zeit des Urtheils muß dieſer Beſitz nothwendig vor-

handen ſeyn (b).

 

Eine bloße Anwendung dieſer Regel iſt es, daß der

Erbe des Beklagten, der als ſolcher zur Uebernahme der

Vindication nicht verpflichtet iſt (c), in dieſe Verpflichtung

eintritt, ſobald er ſelbſt den Beſitz erwirbt (d).

 

B. Bei der Erbſchaftsklage wird der Beklagte verur-

 

(b) L. 30 pr. de pec. (15. 1),

L. 27 §. 1 de rei vind. (6. 1)

„.. si litis contestatae tempore

non possedit, quo autem judi-

catur possidet, probanda est

Proculi sententia, ut omnimodo

condemnetur.“ Zu dieſem ganz

klaren Ausſpruch, welcher mit allen

übrigen Stellen übereinſtimmt (ſ. die

folgenden Noten) paßt freilich nicht

der Anfang des §: „Possidere

autem aliquis debet utique et

litis contestatae tempore, et

quo res judicatur.“ Es muß

dahin geſtellt bleiben, ob bei dieſem

Widerſpruch eine ungenaue Faſſung

der angeführten Anfangsworte zum

Grunde liegt, oder vielmehr die

Erwähnung einer älteren Contro-

verſe, die nur in dem unvollſtän-

digen Excerpt der Compilatoren

nicht mehr erkennbar iſt. Keller

S. 191. 192.

(c) L. 42 de rei vind. (6. 1).

(d) L. 8 in f. ad exhib. (10. 4).

|0094 : 76|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

theilt, je nach dem Beſitz den er zur Zeit des Urtheils an

Erbſchaftsſachen hat, ohne Rückſicht darauf, ob er vielleicht

zur Zeit der L. C. aus der Erbſchaft gar Nichts oder

weniger als zur Zeit des Urtheils, beſeſſen hatte (e).

C. Bei der actio ad exhibendum kommt es lediglich

darauf an, ob der Beklagte zur Zeit des Urtheils die Sache

beſitzt (f), und eben ſo iſt der Erbe des urſprünglichen

Beklagten zu verurtheilen, wenn er ſelbſt nur vor dem

Urtheile Beſitzer geworden iſt (g).

 

D. Bei der actio de peculio hängt der Erfolg von

dem Geldwerthe ab, welchen das Peculium hat. Dieſer

Werth aber wird beſtimmt nach der Zeit des Urtheils,

nicht der L. C. (h). Ja ſelbſt wenn der mit dieſer Klage

Belangte während des Rechtsſtreits den Sklaven verkauft,

ſo wird er dennoch bis auf die Höhe desjenigen Werthes

verurtheilt, welcher ſich zur Zeit des Urtheils findet (i).

 

E. Wenn bei der actio depositi der Beklagte zur Zeit

des Urtheils die Sache beſitzt und zu ihr gelangen kann,

ſo wird er verurtheilt, ſelbſt wenn im Anfang des Rechts-

ſtreites, weil es an einem dieſer Umſtände fehlte, eine

Freiſprechung hätte erfolgen müſſen (k).

 

(e) L. 18 § 1 de her. pet.

(5. 3), L. 4 L. 41 pr. eod. —

Bloße Anwendungen dieſer Regel

ſind es, welche ſich in L. 16 pr.

und L. 36 § 4 eod. finden.

(f) L. 7 § 4 ad exhib. (10. 4),

L. 30 pr. de pec. (15. 1).

(g) L. 8 ad exhib. (10. 4).

(h) L. 30 pr. de pec. (15. 1). —

L. 7 § 15 quib. ex causis (42. 4),

L. 5 § 2 de lib. leg. (34. 3), L. 35

de fidej. (46. 3).

(i) L. 43 de pec. (15. 1). —

Stirbt der Sklave während des

Rechtsſtreits, ſo wird auf den

Werth zur Zeit des Todes geſehen.

(k) L. 1 § 21 depos. (16. 3).

Die einzelnen Ausdrücke dieſer Stelle

|0095 : 77|

§. 263. Wirkung der L. C. — I. Verurtheilung geſichert. (Fortſ.)

F. Die Verurtheilung bei der actio pignoratitia hängt

davon ab, daß die Schuld, wofür das Pfand gegeben

war, getilgt ſein muß (l). Wenn aber nur der Kläger

auch während des Rechtsſtreits die Zahlung der Schuld

anbietet, ſo muß dennoch die Verurtheilung auf Rückgabe

des Pfandes erfolgen (m).

 

Ulpian giebt als Grund dieſer Regel und ihrer ein-

zelnen Anwendungen den Umſtand an, daß von jenen

factiſchen Verhältniſſen (dem Beſitz, dem Werth des peculii,)

nichts in der Intentio ſtehe, weshalb der Mangel jener

Verhältniſſe die Richtigkeit der Klage, und alſo auch die

Verurtheilung, nicht ausſchließe (n).

 

Dieſen Grund könnte man ſo auffaſſen, als ob blos

in dieſer zufälligen Abfaſſung der Klagformeln der Grund

jener Regel enthalten wäre, ſo daß es blos einer Ver-

beſſerung der Formeln bedurft hätte, um etwa eine ganz

andere Regel herbeizuführen, und die ganze Beurtheilung

 

erklären ſich aus der Vergleichung

mit Gajus IV. § 47.

(l) L. 9. § 3 de pign. act.

(13. 7).

(m) L. 9 § 5 de pign. act.

(13. 7).

(n) L. 30 pr. de pec. (15. 1)

„quaesitum est, an teneat actio

de peculio, etiamsi nihil sit

in peculio, cum ageretur: si

modo sit rei judicatae tempore?

Proculus et Pegasus nihilo mi-

nus teneri ajunt: intenditur

enim recte, etiamsi nihil sit in

peculio. Idem et circa ad exhi-

bendum et in rem actionem

placuit: quae sententia et a

nobis probanda est.“ — Daher

heißt es auch in L. 9 de rei vind.

(6. 1) „Officium autem judicis

in hac actione in hoc erit, ut

judex inspiciat an reus possi-

deat;“ nämlich in der formula

war von dem Beſitz des Beklagten

nicht die Rede: die Prüfung des-

ſelben gehörte alſo zu den Stücken,

wozu der Judex auch außer der

Inſtruction berechtigt und ver-

pflichtet war, d. h. eben zu dem

officium judicis.

|0096 : 78|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

auch dieſes Punktes nach dem Zuſtand zur Zeit der L. C.

einzurichten. Man muß aber vielmehr umgekehrt an-

nehmen, daß aus inneren Gründen die oben aufgeſtellte

Regel angenommen wurde, ſo daß die oben erwähnte Ab-

faſſung der Formeln nicht als Grund, ſondern als Folge

und Ausdruck der Regel anzuſehen iſt.

Der innere Grund der Regel iſt aber wohl ſo zu

denken. Wenn der Kläger behauptet, daß ſein Eigenthum

zwar zur Zeit der L. C. noch nicht vorhanden geweſen,

nachher aber entſtanden ſey (§ 262), ſo iſt es für die

gründliche Entſcheidung des Rechtsſtreits zuträglicher, daß

deshalb eine neue Klage angeſtellt werde, weil außerdem

der Beklagte in ſeiner Vertheidigung verkürzt werden

könnte. Wenn dagegen das Eigenthum des Klägers von

Anfang an vorhanden war, und nur behauptet wird daß

der Beſitz des Beklagten erſt während des Rechtsſtreits ent-

ſtanden ſey, ſo läßt ſich auch ſchon in dem gegenwärtigen

Rechtsſtreit ein befriedigendes Urtheil erwarten; ja die

Verweiſung auf einen neuen Prozeß würde in dieſem Fall

nur zu einer unnöthigen Verſchleppung der Sache hin-

führen.

 

§. 264.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung.

Einleitung.

Die Wirkungen der L. C. ſind ſchon oben auf zwei

Hauptregeln zurückgeführt worden: Sicherung der Ver-

 

|0097 : 79|

§ 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

urtheilung überhaupt (die Abwendung der Frei-

ſprechung), und Sicherung des Umfangs der Verur-

theilung (die Abwendung eines zu beſchränkten Urtheils)

[§. 260. No. IV.].

Die erſte dieſer beiden Regeln iſt bis jetzt dargeſtellt

worden. Die zweite, deren Entwicklung nunmehr folgt,

kann nur unter der Vorausſetzung zur Anwendung kommen,

daß während des Rechtsſtreits in dem Gegenſtand des-

ſelben Veränderungen eintreten.

 

Solche Veränderungen in dem Gegenſtande des Rechts-

ſtreits können in zwei entgegengeſetzten Richtungen vor-

kommen.

 

a) Als Erweiterungen, wohin vorzüglich die Früchte

und Zinſen gehören.

 

b) Als Verminderungen, wohin der Untergang der

Sache, die Corruption derſelben, der Berlnſt des Beſitzes,

und Ähnliches zu rechnen iſt.

 

Bevor aber die hier einſchlagenden wichtigen Fragen

im Einzelnen erwogen werden, iſt es nöthig, dazu den

Grund zu legen durch die genaue Betrachtung von zwei

Rechtsbegriffen, deren Einfluß mit dem der L. C. oft ſo

nahe verwandt iſt, daß ſie ſelbſt mit derſelben nicht ſelten

identificirt worden ſind. Ich meine die Mora, und die

mala fides, oder den unredlichen Beſitz.

 

Die Mora bezieht ſich auf Obligationen und perſön-

liche Klagen, der unredliche Beſitz auf dingliche Rechte und

Klagen in rem. Beide enthalten ein Unrecht mit Bewußt-

 

|0098 : 80|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſeyn, ſie ſind daher delictähnlich, und haben auch oft

delictartige Folgen. Nur iſt dabei der Unterſchied zu

beachten, daß die Mora in einer bloßen Unterlaſſung be-

ſteht, und nicht nothwendig auf Dolus, ſondern oft auf

bloßem Geldmangel beruht; anſtatt daß der unredliche Be-

ſitz in einem poſitiven Handeln beſteht, und ſtets mit Dolus

verbunden iſt.

Die L. C. dagegen iſt ein contractähnliches Verhält-

niß (§ 258), und hat keine Verwandſchaft mit einem De-

lict. Die Führung des Rechtsſtreits iſt an ſich von Seiten

des Beklagten nicht nothwendig tadelnswerth, ſelbſt dann

wenn am Ende das Urtheil gegen ihn ausfällt.

 

Nun iſt es eine unter unſeren Schriftſtellern ſehr ver-

breitete Behauptung, daß jede L. C., je nachdem die Klage

perſönlich, oder in rem iſt, ſtets die Mora oder die mala

fides begründe (a). Nach allgemeiner Betrachtung muß

dieſer Satz unbedenklich verworfen werden, theils weil die

eben erwähnte juriſtiſche Natur dieſer drei Rechtsbegriffe

(die Ähnlichkeit mit Delicten und Contracten) von Grund

aus verſchieden iſt, theils weil ſowohl die Mora, als die

mala fides, jede ihre eigenthümlichen Bedingungen hat, ſo

daß das Daſeyn derſelben in jedem einzelnen Fall von

 

(a) Bayer Civilprozeß S. 233.

234. Linde § 200 Note 4. 5. —

Daß hier die Annahme der Mora

oder der mala fides ſogar auf

den Zeitpunkt der Inſinuation zu-

rückgeführt wird, beruht auf wei-

teren Fragen, deren ſelbſtſtändige

Erörterung an ihrem Orte erfol-

gen wird. Auf dem gegenwärtigen

Standpunkt der Unterſuchung iſt

dieſe fernere Differenz unerheblich.

|0099 : 81|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

einer rein factiſchen Frage abhängt, deren Bejahung auf

keine Weiſe aus dem Daſeyn der L. C. an ſich gefolgert

werden kann (b). Dagegen muß auf der anderen Seite

unbedingt eingeräumt werden, daß die L. C. großentheils

ähnliche Wirkungen herbeiführt, wie die welche aus

der Mora oder der mala fides folgen, wenngleich aus ver-

ſchiedenen Gründen (c).

Die Frage iſt aber nun noch genauer für die Mora

und die mala fides beſonders zu erörtern.

 

A. Mora.

Zur regelmäßigen Begründung der Mora wird erfor-

dert, daß der Schuldner zur Erfüllung ſeiner Verpflichtung

aufgefordert werde, und ſie ohne Grund unterlaſſe. Es

iſt daher keine Mora vorhanden, wenn zwar eine Schuld

ſelbſt anerkannt iſt, aber der Betrag derſelben noch nicht

feſtſteht; ferner wenn die Schuld ſelbſt als zweifelhaft an-

zuſehen iſt. Wenn alſo der aufgeforderte Schuldner ſich

verklagen läßt, ſo hängt die Annahme einer Mora von

den Umſtänden ab. Sie iſt anzunehmen, wenn er ohne

Grund, oder aus offenbar unhaltbaren Gründen, nur um

den Gegner hinzuhalten, die Erfüllung verweigert; nicht

 

(b) Dieſe richtige Auffaſſung,

daß das Daſeyn der Mora und

der mala fides ſtets eine facti

quaestio iſt, findet ſich bei Byn-

kershoek obss. VIII. 12, Leyser

83. 5 und 99. 6, Kierulff S. 277

bis 281, Wächter H. 3 S. 106

bis 108.

(c) Leyſer (Note b) überſieht

Dieſes, und behauptet deshalb

irrig, es dürfe nicht immer von

der L. C. an auf Erſatz der Früchte

erkannt werden, weil nicht immer

die mala fides mit der L. C. ver-

bunden ſey.

VI. 6

|0100 : 82|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

anzunehmen, wenn er Gründe der Weigerung angiebt,

wodurch die Vorausſetzung eines rechtswidrigen Willens,

eines Unrechts mit Bewußtſeyn, ausgeſchloſſen wird (d).

Wer alſo die Schuld beſtreitet, weil er ſeine eigene obli-

gatoriſche Handlung nicht mehr zu wiſſen behauptet, wird

dem Vorwurf der Mora nicht entgehen; anders wenn ein

Erbe die Handlungen ſeines Erblaſſers bezweifelt, oder

wenn die Klage durch eine Exception beſtritten wird (e).

Durch dieſe Unterſcheidungen wird die oben behauptete

Verwandtſchaft der Mora mit der mala fides beſtätigt. Bei

perſönlichen Klagen kann man allgemein annehmen, daß

jede frivole (mit dem Bewußtſeyn des Unrechts vorgenom-

mene) Prozeßführung des Beklagten ſtets eine Mora vor-

ausſetzt, oder wenigſtens jetzt begründet.

Man kann daher behaupten, daß nicht leicht gerade

durch die L. C. eine Mora begründet werden wird, ſon-

dern daß ſie meiſt entweder früher vorhanden iſt, oder

ſpäter anfängt, im äußerſten Fall freilich mit dem rechts-

kräftigen Urtheil. Selbſt in dem ſeltenen Fall, wenn der

 

(d) L. 63 de R. J. (50. 17)

„Qui sine dolo malo ad judi-

cium provocat, non videtur

moram facere.“ L. 24 pr. de

usur. (22. 1) „… utique si juste

ad judicium provocavit.“ Das

heißt nicht: wenn er am Ende

Recht behält, und daher freige-

ſprochen wird, ſondern es iſt gleich-

bedeutend mit dem vorhergehenden

sine dolo malo, und drückt den

Gegenſatz des frivolen Rechts-

ſtreits aus. Eben ſo L. 82 § 1

de V. O. (45. 1) „Et hic moram

videtur fecisse, qui litigare

maluit quam restituere,“ d. h.

der es aus reiner Willkühr, ohne

ſcheinbaren Grund, auf den Pro-

zeß ankommen läßt. (Vgl. unten

Note g und § 273. k). L. 47

de usur. (22. 1).

(e) L. 42 de R. J. (50. 17),

L. 21 de usur. (22. 1).

|0101 : 83|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

Kläger jede außergerichtliche Aufforderung vor dem Rechts-

ſtreit unterläßt, wird öfter vielleicht die Inſinuation der

Klage, weil ſie eine Interpellation enthält, die Mora begrün-

den können, die L. C. wird dabei ſeltener in Betracht kommen.

Ganz in dieſem Sinn ſpricht Papinian bei Gelegen-

heit der Fideicommiſſe (f). In den meiſten Fällen, ſagt er,

wird das Fideicommiß klar und gewiß ſeyn, dann hat die

Mora meiſt ſchon vor dem Rechtsſtreit angefangen, mit der

außergerichtlichen Aufforderung. Wenn aber die Gültig-

keit und die Höhe des Fideicommiſſes zweifelhaft iſt, z. B.

weil der Abzug der Falcidiſchen Quart in Betracht kommt,

dann wird die Mora wenigſtens mit dem rechtskräftigen Urtheil

anfangen. In dieſer Ueberſicht möglicher Fälle erwähnt er

der L. C. gar nicht, ſo daß er dieſen Zeitpunkt gar nicht

als erheblichen Moment zur Begründung der Mora an-

ſieht; er erwähnt auch ſelbſt die Anſtellung der Klage nicht,

ohne Zweifel indem er den in ſolchen Fällen gewöhnlichen

Hergang, die außergerichtliche Aufforderung, vorausſetzt.

 

Wie verbreitet alſo die Behauptung neuerer Schrift-

ſteller von einem allgemeinen und nothwendigen Anfang

der Mora mit der L. C. auch ſeyn möge, ſo hat ſie doch

weder in der Natur der hier einſchlagenden Verhältniſſe,

noch in den Quellen des R. R. irgend einen haltbaren

Grund (g). Etwas anders verhält es ſich in der letzten

Hinſicht mit der mala fides.

 

(f) L. 3 pr. de usur. (22. 1).

(g) Gewöhnlich berufen ſich die

Vertheidiger der aus der L. C.

entſpringenden Mora auf L. 82

6*

|0102 : 84|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

B. Mala fides.

Es finden ſich zwei Stellen des Ulpian, welche die

mala fides als nothwendige, unzertrennliche Folge des

bloßen Rechtsſtreits ſo beſtimmt auszuſprechen ſcheinen,

daß die hierauf gleichfalls gerichtete Behauptung vieler

neueren Schriftſteller darin eine ſcheinbare Rechtfertigung

findet (h):

 

§ 1 de V. O. (45. 1, ſ. o. Note d),

die man allerdings ſo verſtehen

könnte, als ob jeder Beklagte durch

den bloßen Entſchluß zum Rechts-

ſtreit in eine Mora verfiele. Nur

muß man bei dieſer Erklärung

ganz vergeſſen, was aus den um-

gebenden übrigen Stellen (Note d)

und aus allgemeinen Rechtsgrund-

ſätzen unwiderſprechlich folgt, und

mit jener Erklärung durchaus nicht

zu vereinigen iſt. Alles was man

in der hier bekämpften Meinung

als wahres Element etwa ein-

räumen kann, iſt Folgendes. Die

Mora iſt überhaupt der freieſten

richterlichen Beurtheilung in jedem

einzelnen Fall anheim gegeben

(cum sit magis facti quam juris.

L. 32 pr. de usur.). Der Rich-

ter kann alſo vielleicht finden,

daß eine Mora vor allem Rechts-

ſtreit, oder daß ſie mit der In-

ſinuation, oder auch daß ſie mit

der L. C. angefangen hat; dieſes

Letzte etwa, wenn bei der L. C.

die frivole, unredliche Prozeßfüh-

rung ſicher hervorgetreten iſt. Dar-

aus laſſen ſich mehrere ſcheinbare

Antinomieen befriedigend auflöſen.

So z. B. wenn der Anfang der

Prozeßzinſen die einem Legatar

zu zahlen ſind, bald der Mora,

bald der L. C. zugeſchrieben wird

(§ 271). Eben ſo bei der Ver-

pflichtung des Schuldners, für den

zufälligen Untergang der Sache

einzuſtehen (§ 273).

(h) Andere, weniger entſchei-

dend lautende Stellen, wie L. 45

de rei vind. (6. 1) und L. 31

§ 3 de her. pet. (5. 3) werden

weiter unten (Note o) erwähnt

werden. Am meiſten ſcheint ſich

jenen Stellen durch unbedingten

Ausdruck anzuſchließen L. 2 C. de

fruct. (7. 51, d. h. L. 1 C. Th.

eod.): „ex eo tempore, ex quo,

re in judicium deducta, scien-

tiam malae fidei possessionis

accepit.“ Allein dieſe Worte, wie

ſie in den meiſten Ausgaben lauten,

laſſen doch eine zwiefache Deu-

tung zu. Sie können heißen:

Von der L. C. an, weil er da-

durch in malam fidem kommt —

oder auch, wenn er dadurch in

malam fidem kommt. Anders

noch ſtellt ſich die Sache, wenn

man mit manchen Hſſ. und mit

dem Theodoſiſchen Codex lieſt:

malae possessionis (ohne fidei;

|0103 : 85|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

1. „post litem contestatam omnes incipiunt malae fidei

possessores esse: quinimo post controversiam motam (i).

2. „ex quo quis scit a se peti … incipit esse malae

fidei possessor … si scit … puto debere: coepit enim

malae fidei possessor esse“ (k).

Dieſe Stellen ſind dadurch ſehr wichtig geworden, daß

ſie auf die Ausbildung der Rechtstheorie in neueren Zeiten

überwiegenden Einfluß ausgeübt haben, wobei nur allzu-

ſehr das Bedürfniß unbeachtet geblieben iſt, ſie mit allge-

meinen Grundſätzen, ſo wie mit einer großen Zahl ganz

anders lautender Stellen des R. R., in Einklang zu

bringen. In jenen Stellen aber haben zwei eigenthümliche

Meinungen ihre ſcheinbare Rechtfertigung gefunden: erſt-

lich die mala fides als allgemeine Folge des bloßen Rechts-

ſtreits; zweitens die Zurückführung dieſer Folge ſo wie

mancher anderen, von der L. C. auf den Zeitpunkt, worin

der Beklagte von dem Anſpruch Nachricht bekommt. Beide

Meinungen machen eine ſorgfältige Prüfung nöthig. Die

erſte iſt in ihren practiſchen Folgen weniger erheblich ge-

worden, theils weil viele Wirkungen der mala fides mit

denen der L. C. ohnehin zuſammentreffen, theils weil die

einzelnen Wirkungen meiſt durch beſondere, unzweifelhafte

 

vgl. die Noten der Herrmannſchen

Ausgabe). Nun iſt gar nicht von

einem unredlichen Beſitz die

Rede, ſondern von einem unſiche-

ren, zweifelhaften; von dieſem

Begriff wird noch unten die Rede

ſeyn (Note p).

(i) L. 25 § 7 de her. pet.

(5. 3).

(k) L. 20 § 11 de her. pet

(5. 3).

|0104 : 86|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Vorſchriften geregelt werden. Die zweite dagegen hat die

Folge gehabt, daß die neueren Schriftſteller faſt allgemein

angenommen haben, das R. R. ſelbſt habe ſchon manche

der wichtigſten Wirkungen des Rechtsſtreits nicht mehr

gerade an die L. C. angeknüpft; obgleich ſich auch in dieſer

Annahme wieder die mannichfaltigſten Abſtufungen finden.

a) Mala fides als allgemeine Folge des bloßen

Rechtsſtreits.

 

Dieſe Behauptung müſſen wir zunächſt nach allgemeiner

Betrachtung entſchieden zurück weiſen. Die Unredlichkeit des

Bewußtſeyns iſt, wie ſchon oben bemerkt wurde, eine

reine Thatſache, die nur aus den Umſtänden jedes ein-

zelnen Falls erkannt, nicht aus dem allgemeinen Daſeyn

des bloßen Rechtsſtreits gefolgert werden kann. Sie wird

alſo oft vor dem Rechtsſtreit vorhanden ſeyn, oft während

des ganzen Rechtsſtreits fehlen, welches beſonders durch

die Erwägung einleuchtend wird, daß ja der Beklagte mit

Unrecht verurtheilt werden kann, und in dieſem Fall doch

gewiß kein unredliches Bewußtſeyn gehabt hat. Eine An-

knüpfung an die L. C. hat alſo gar keinen inneren Grund (l),

 

(l) Ganz verwerflich iſt die Er-

klärung von Bynkershoek obss.

VIII. 12, die Römer hätten mit

der Klage ſogleich ihre Beweis-

urkunden vorgelegt, daher ſey bei

ihnen der Beklagte ſtets im An-

fang des Rechtsſtreits von ſeinem

Unrecht überführt worden. Allein

ſehr viele Prozeſſe werden gar nicht

aus Urkunden entſchieden, und

eben ſo kann die Beweiskraft der

vorgebrachten Urkunden oft zwei-

felhaft ſeyn, ja ſelbſt vom Richter

mit Unrecht angenommen werden.

Er folgert daraus, daß jene An-

nahme für uns nicht mehr gelte,

und ſchließt daraus weiter ganz

irrig, daß wir auch keine Prozeß-

|0105 : 87|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

und ſie könnte alſo nur auf einer Fiction des Dolus be-

ruhen, der gefährlichſten und willkührlichſten aller Fictionen,

wovon ſich anderwärts nirgend eine Spur findet.

Ganz in dieſem Sinn entſcheidet Paulus unſre

Frage in einer ſpeciellen Anwendung (m). Wenn nach der

L. C. die mit einer hereditatis petitio oder einer Vindi-

cation eingeklagte Sache durch Zufall untergeht, ſo ent-

ſteht die Frage, ob der Beklagte als ſolcher unbedingt

dafür Erſatz geben muß. Nach den Worten des oben an-

geführten Senatsſchluſſes konnte man Dieſes bei der here-

ditatis petitio annehmen, und daher hatten es auch wirk-

lich Manche, und ſelbſt bei der Vindication, angenommen.

Paulus aber ſagt, man müſſe überall unterſcheiden

zwiſchen dem redlichen und unredlichen Beſitzer. Der

unredliche müſſe für den Zufall einſtehen, der redliche

nicht, wofür der folgende ſehr einleuchtende Grund ange-

geben wird:

„Nec enim debet possessor aut mortalitatem praestare,

aut propter metum hujus periculi temere indefensum

jus suum relinquere.“

 

Hier iſt ganz deutlich anerkannt, daß der redliche Be-

ſitzer durch die L. C. nicht zu einem unredlichen werde,

und daß man ihm nicht zumuthen könne, die Verfolgung

ſeines vermeintlichen Rechts zu unterlaſſen (n).

 

zinſen mehr annehmen dürften.

Vgl. über einen ähnlichen Irrthum

von Leyſer oben Note c.

(m) L. 40 pr. de her. pet. (5. 3).

(n) Allerdings iſt der Ausdruck

dieſer Stelle von dem Ausdruck

der oben angeführten Stellen des

Ulpian ſehr verſchieden, dennoch

|0106 : 88|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Ich will es verſuchen, den Widerſpruch der angeführ-

ten Stellen des Ulpian mit allgemeinen Grundſätzen und

mit anderen Stellen zu löſen oder zu vermitteln.

 

Dazu können zunächſt einige Momente dienen, die an

ſich wahr, auch nicht unwichtig, aber doch für den eigent-

lichen Zweck noch nicht ausreichend ſind.

 

Erſtlich iſt ſchon oben bemerkt worden, daß die L. C.

manche Wirkungen mit der mala fides gemein habe, und

dieſe Gemeinſchaft in Wirkungen konnte wohl hier und da

den nicht ganz vorſichtigen Ausdruck veranlaſſen, als ſey

mit der L. C. die mala fides wirklich verbunden. Dieſe

Erklärung iſt wohl auf manche, bisher noch nicht berührte,

Stellen anwendbar (o); für die abſoluten Ausſprüche des

Ulpian reicht ſie offenbar nicht aus.

 

Zweitens kann man eine relative mala fides als Folge

der L. C. allerdings annehmen. Selbſt wenn nämlich der

 

iſt ein directer Widerſpruch nicht

vorhanden. Ulpian ſpricht nicht

von der ſpeciellen Frage wegen des

zufälligen Untergangs, womit al-

lein ſich hier Paulus beſchäftigt.

Dagegen bezieht ſich die Contro-

verſe, die Paulus erwähnt, zu-

nächſt nur auf die Vindication, ſo

daß die wörtliche Behauptung des

Ulpian über die mala fides bei

der L. C. in der hereditatis pe-

titio von Paulus nicht berührt

wird. Indeſſen iſt es unzweifel-

haft, daß Paulus den Erſatz für

den Zufall bei beiden Klagen von

dem redlichen Beſitzer abwenden will.

(o) L. 31 § 3 de her. pet. (5. 3).

Der redliche Beſitzer ſoll für Ver-

nachläſſigungen der Sache bis zur

L. C. nicht verantwortlich ſeyn:

„postea vero et ipse praedo

est,“ nämlich in Beziehung auf

jene Verantwortlichkeit, ſo daß

praedo est hier ſo viel heißt als:

praedonis loco est. — L. 45 de

rei vind. (6. 1). — Ganz befon-

ders aber L. 25 § 7 de her. pet.

(5. 3) in den Worten: „post mo-

tam controversiam omnes pos-

sessores pares fiunt, et quasi

praedones tenentur.“

|0107 : 89|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

Beklagte die feſte Ueberzeugung von ſeinem guten Recht

hat, ſo kann er ſich doch nicht die Möglichkeit verbergen,

den Prozeß zu verlieren. Wenn er ſich daher durch Ver-

äußerung oder Aufzehrung der Sache wiſſentlich außer

Stand ſetzt, der möglichen Verurtheilung zu genügen, ſo

liegt in dieſen Handlungen (wenngleich nicht in der

Fortſetzung des Beſitzes ſelbſt) eine Unredlichkeit, indem er

in der Klage eine Aufforderung ſehen mußte, ſich ſolcher

Handlungen zu enthalten (p); durch dieſelben, wenn

er ſie dennoch vornimmt, verfällt er in die mala fides (q).

Gerade in dieſer Beziehung ſchreibt auch wirklich Ulpian

dem urſprünglich redlichen Beſitzer, von der L. C. an, die

gleichartige Verantwortlichkeit mit einem praedo zu (r).

Dennoch reicht auch die Wahrheit dieſer Bemerkung nicht

hin zur Erklärung der abſoluten Behauptung Ulpians,

daß jeder Beklagte von der L. C. an wirklich ein unredlicher

Beſitzer ſey (s).

(p) L. 10 C. de adqu. poss.

(7. 32) „ex interposita con-

testatione, et causa in judicium

deducta, super jure possessio-

nis vacillet ac dubitet.“ Vgl.

oben Note h. über die L. 2 C. de

fructibus.

(q) Dieſe richtige Bemerkung

findet ſich bei Glück B. 7 S. 547

bis 557 und Kierulff S. 277.

(r) L. 25 § 2 de her. pet. (5. 3)

„ait Senatus: Eos, qui bona

invasissent, … etiamsi ante

litem contestatam fecerint, quo

minus possiderent, perinde con-

demnandos quasi possiderent.“

Zu dieſen Worten des Sc. ſetzt

der § 7 folgende Erklärung hinzu:

„Si ante litem contestatam,

inquit, fecerint. Hoc ideo ad-

jectum, quoniam post litem

contestatam omnes … pares

fiunt, et quasi praedones te-

nentur.“ Alſo von der L. C. an

iſt das willkührliche Aufgeben

des Beſitzes für alle Arten von

Beſitzern eine gleich unredliche und

daher gleich verpflichtende Hand-

lung.

(s) Ganz beſonders erklären ſich

|0108 : 90|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Die eigentliche Löſung der Schwierigkeit liegt in der

beſonderen Natur der Rechtsverhältniſſe, womit wir es

hier, bei der Erbſchaftsklage, zu thun haben, und womit

ſich ſowohl der Senatsſchluß von K. Hadrian, als

Ulpian in den angeführten Stellen, beſchäftigt.

 

Der Senatsſchluß von Hadrian (das Sc. Juventianum)

handelt unmittelbar nur von einer hereditatis petitio des

Fiscus auf eine caduca hereditas, und er ſpricht dabei von

zweierlei Beklagten: von redlichen Beſitzern, und daneben

von denjenigen qui bona invasissent, cum scirent ad se

non pertinere, welche von den alten Juriſten gewöhnlich

praedones genannt werden. Unter dieſen praedones denkt

man ſich meiſt gewöhnliche Diebe oder Räuber, aber ganz

mit Unrecht. Die Sache hat vielmehr folgenden Zuſam-

menhang.

 

Nach uraltem R. R. war es Jedem überhaupt geſtattet,

Erbſchaftsſachen, die der Erbe noch nicht in Beſitz ge-

nommen hatte, ſelbſt an ſich zu nehmen, und durch ein-

jährige Uſucapion in ſein Eigenthum zu bringen. Man hatte

bei dieſem ſeltſamen Rechtsinſtitut die Abſicht, den Erben

zu einer recht ſchleunigen Beſitznahme und Vertretung der

Erbſchaft zu bewegen (t). Solche Beſitzer nun hatten eine

zweideutige Natur, und ſtanden gewißermaaßen in der Mitte

 

daraus nicht die Worte in L. 25

§ 7 de her. pet. (5. 3) „post mo-

tam controversiam … coepit

scire rem ad se non pertinentem

possidere is qui interpellatur.“

Dieſes iſt für den wahrhaft red-

lichen Beſitzer augenſcheinlich un-

wahr.

(t) Gajus II. § 52—58.

|0109 : 91|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

zwiſchen redlichen und unredlichen Beſitzern. Sie wußten,

daß ſie kein wirkliches, gegenwärtiges Recht, ſowie ein

wahrer Erbe, auf die Sachen hatten (cum scirent ad se

non pertinere), aber ſie handelten doch in Kraft einer all-

gemeinen geſetzlichen Befugniß, ſie konnten glauben, es

werde Niemand die Erbſchaft antreten wollen, ja ſie hatten

die Ausſicht, in ſehr kurzer Zeit wahre Eigenthümer durch

Uſucapion zu werden. Der Zuſtand derſelben wurde noch

verwickelter und zweifelhafter durch dieſelbe Verordnung von

Hadrian, indem nunmehr der wahre Erbe auch nach

vollendeter Uſucapion die Erbſchaftsſachen durch eine Art

von Reſtitution abfordern konnte (u).

Die Lage, und beſonders das Bewußtſeyn ſolcher Be-

ſitzer mußte durch eine angeſtellte Klage von Grund aus

verändert werden. Die bis zu dieſer Zeit mögliche Meinung,

daß Niemand ſich der Erbſchaft annehmen wolle, war ſelbſt

durch die neue Verordnung nicht ausgeſchloſſen. Sobald

aber ein Kläger (ſey es der Erbe, oder der Fiscus) gegen

ſie auftrat, hörte die bisherige halbe Redlichkeit ihres Be-

wußtſeyns auf, und ſie wurden nun in der That unredliche

Beſitzer im vollen Sinne des Worts. Auch mußte dieſe

Veränderung eintreten, nicht erſt von der L. C. an, ſondern

ſobald ihnen die wirkliche Anſtellung einer Klage bekannt

wurde.

 

Daß nun gerade von dieſem eigenthümlichen Rechtsver-

hältniß in dem Senatsſchluß von Hadrian die Rede war,

 

(u) Gajus II. § 58.

|0110 : 92|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

iſt nach mehreren Stellen ganz unzweifelhaft (v), und hieraus

erklären ſich die oben mitgetheilten abſoluten Aeußerungen

des Ulpian über die durch den Prozeß bewirkte mala fides

des Beklagten auf ganz einfache Weiſe. Ich muß einräumen,

daß nicht bei allen hier einſchlagenden Stellen die Unter-

ſcheidung der eben bemerkten verſchiedenen Arten von Be-

ſitzern völlig erkennbar und unzweifelhaft durchzuführen iſt.

Es muß aber wohl erwogen werden, daß wir die Stellen

des Senatsſchluſſes nur durch die unvollſtändigen Auszüge

des Ulpian, und die Stellen des Ulpian nur durch die

unvollſtändigen Auszüge der Compilatoren kennen. Daher

muß es ganz dahin geſtellt bleiben, ob die für uns vor-

handene Zweideutigkeit des Ausdrucks, und insbeſondere

die nicht überall ſichtbare Unterſcheidung der wahrhaft

redlichen Beſitzer von jenen zweideutigen, aus einer urſprünglich

ungenauen Rede der Verfaſſer, oder aus der Unvollſtändigkeit

der überlieferten Auszüge hervorgegangen iſt.

Nimmt man dieſe Erklärung an, und erwägt man

zugleich, daß jenes eigenthümliche Rechtsverhältniß ſchon

im Juſtinianiſchen Recht völlig verſchwunden war, ſo iſt es

einleuchtend, daß aus den angeführten Stellen des Ulpian

für die mala fides als allgemeine, auf alle Arten von

Klagen anwendbare Folge der L. C. durchaus kein Beweis

geführt werden kann.

 

b) Zurückführung der Folgen der L. C. auf den Zeit-

 

(v) L. 20 § 6, L. 25 § 2. 3. 5. 6 de her. pet. (5. 3).

|0111 : 93|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

punkt, worin der Beklagte von dem Anſpruch Nachricht

bekommt.

Dieſe wichtige Aenderung wird in folgenden ganz deut-

lichen Worten des Senatsſchluſſes von Hadrian aufge-

ſtellt, worauf ſich die Erklärungen des Ulpian beziehen (w):

Petitam autem fisco hereditatem ex eo tempore exi-

stimandum esse, quo primum scierit quisque eam a

se peti, id est cum primum aut denunciatum esset ei,

aut litteris vel edicto evocatus esset, censuerunt.

 

Dieſe Abweichung von ſo vielen anderen Ausſprüchen

des R. R. iſt aus folgenden zwei, von einander ganz un-

abhängigen, Umſtänden zu erklären.

 

Erſtlich, aus der ganz eigenthümlichen Lage des eben

erwähnten, nur bei der hereditatis petitio vorkommenden

praedo, deſſen entſchiedene mala fides allerdings ſchon von

der ihm bekannt gewordenen Anſtellung der Klage ange-

nommen werden mußte. Von dieſem Umſtand iſt ſo eben

ſchon ausführlich geredet worden.

 

Zweitens daraus, daß der Senatsſchluß von Hadrian

nur von Fiscalklagen auf verfallene Erbſchaften handelte.

Dieſe Fiscalklagen wurden aber nicht im ordentlichen Pro-

zeß vor den gewöhnlichen Obrigkeiten, in welchem allein

eine wahre L. C. vorkommen konnte, ſondern extra ordi-

nem vor den Fiscalbeamten verhandelt, und es bedurfte

alſo dabei eines Surrogates für die L. C. (§ 257). Dieſes

 

(w) L. 20 § 6 de her. pet. (5. 3), verglichen mit § 11 eod. und

L. 25 § 7 eod.

|0112 : 94|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Surrogat, welches man bei allen extraordinären Prozeſſen

aufzuſuchen hatte, wurde in dieſem Fall durch den Senats-

ſchluß ſelbſt in den Zeitpunkt geſetzt, in welchem entweder

eine denunciatio, oder eine evocatio litteris vel edicto ein-

getreten war; dieſes war eine ganz poſitive Beſtimmung, die

aus der allgemeinen Natur der extraordinären Klagen keines-

weges folgte (§ 257), und die einen fiscaliſchen Character hat.

Die beiden eben angeführten Umſtände, woraus ſich die

Beſtimmung eines beſonderen Zeitpunktes, abweichend von

der L. C., befriedigend erklärt, ſind ſchon dem Juſtiniani-

ſchen Recht völlig fremd, und es kann daher in der That

aus dieſen Stellen nicht bewieſen werden, daß im Sinn

des Juſtinianiſchen Rechts ein anderer Zeitpunkt als der

der L. C. für irgend eine Wirkung anzunehmen ſey.

 

Auch wenn man die hier verſuchte Löſung mit ihren

Folgen nicht annehmen wollte, ſo kann doch auf keine

Weiſe die Art gebilligt werden, wie die meiſten neueren

Schriftſteller die hier unterſuchten Stellen des Ulpian zu

behandeln pflegen. Man betrachtet nämlich meiſt den wört-

lichen Inhalt dieſer Stellen als die entſcheidende, für alle

Klagen überhaupt anwendbare, Regel des neueſten Rechts,

und ignorirt daneben die ſehr zahlreichen übrigen Stellen,

die damit geradezu im Widerſpruch ſtehen, indem ſie noch

immer die L. C. als den entſcheidenden Zeitpunkt für die

im Rechtsſtreit eintretenden Wirkungen anerkennen. Dieſes

Verfahren aber muß als willkürlich und unkritiſch ſchlecht-

hin verworfen werden. Man kann ſich auch nicht mit der

 

|0113 : 95|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

Annahme helfen, als ob hierin eine Controverſe der alten

Juriſten, oder etwa ein Verhältniß des neueren Rechts zu

einem abgeſchafften älteren Rechtsgrundſatz vorläge. Denn

die Stellen, worin die L. C. als entſcheidender Zeitpunkt

angegeben wird, rühren theilweiſe aus derſelben Zeit, ja

von demſelben Ulpian her, aus deſſen Stellen man be-

weiſen will, daß ein anderer und früherer Zeitpunkt allge-

mein an die Stelle der L. C. geſetzt worden ſey.

Wollte man ſich hierin genau an den Buchſtaben des

Juſtinianiſchen Rechts halten, ſo würde doch nur folgende

Annahme übrig bleiben. Bei der Erbſchaftsklage müßte,

abweichend von allen übrigen Klagen, ein etwas früherer

Termin für den Anfang der materiellen Wirkungen des

Rechtsſtreits angenommen werden: nämlich anſtatt der

L. C. ſchon die Bekanntmachung der erhobenen Klage, alſo

die Inſinuation. Allein bei dieſer Behauptung muß man

zugeben, daß dieſe Eigenthümlichkeit ihren Grund hatte,

nicht in der inneren Natur jener Klage ſelbſt, ſondern in

hiſtoriſchen Umſtänden, die zu Juſtinians Zeit längſt ver-

ſchwunden waren, ſo daß die Aufbewahrung dieſer Eigen-

thümlichkeit in den Digeſten in jedem Fall (auch wenn man

ſie noch als practiſches Recht gelten laſſen will) zu den

mancherlei Inconſequenzen zu rechnen iſt, die den Compi-

latoren zum Vorwurf gereichen (x).

 

(x) Der Senatsſchluß von Ha-

drian nämlich, der urſprünglich

nur für die fiscaliſche heredita-

tis petitio, alſo für eine publica

causa, eingeführt war, wurde nach-

her auch auf die Erbrechtsklage der

|0114 : 96|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Es iſt hier gezeigt worden, welche Schwankungen ſchon

in die Aeußerungen der alten Juriſten aus beſonderen hiſto-

riſchen Veranlaſſungen gekommen ſind, und wie ſich dieſe

in die neuere juriſtiſche Literatur fortgepflanzt haben, darin

aber durch mancherlei Misverſtändniſſe noch erweitert worden

ſind. Dabei iſt es lehrreich zu ſehen, welchen Einfluß wie-

derum dieſe Literatur des gemeinen Rechts auf die neuere

Geſetzgebung gehabt hat, obgleich man hier freie Hand

hatte, diejenigen Beſtimmungen zu treffen, die dem inneren

Bedürfniß angemeſſen waren.

 

Das Preußiſche Allgemeine Landrecht hat dieſe Lehre

in den Titel vom Beſitz aufgenommen, und hier in folgender

Weiſe behandelt (y).

 

Es wird daſelbſt in eben ſo abſoluten Ausdrücken, wie

es oben in einigen Stellen des Ulpian über die hereditatis

petitio nachgewieſen worden iſt (Note h. k) dem Rechts-

ſtreit an ſich die Wirkung zugeſchrieben, den Beklagten in

den Zuſtand eines unredlichen Beſitzers zu verſetzen,

und zwar wird der Anfang dieſes Zuſtandes, wenn nur

 

Privatperſonen angewendet und da-

durch zum gemeinen Recht gemacht

(L. 20 § 6. 11 de her. pet., 5. 3);

ob aber in allen ſeinen Theilen,

oder nur in denen, die in der That

auch auf Privatkläger paßten, kann

bezweifelt werden. Die Beſtim-

mung des § 6: aut denunciatum

esset ei, aut litteris vel edicto

evocatus esset ſcheint doch auf

Privatklagen gar nicht zu paſſen,

während andere Beſtimmungen,

z. B. über das dolo facere quo

minus possiderent, und die ver-

ſchiedene Behandlung des bonae

fidei und malae fidei possessor,

überall anwendbar ſind.

(y) A. L. R., Th. 1 Tit. 7. Die

ſehr merkwürdigen Materialien zu

dieſem Titel ſind abgedruckt in:

Simon u. Strampff Zeitſchrift

für preußiſches Recht B. 3. Ber-

lin 1836. 8.

|0115 : 97|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

nicht ein früheres unredliches Bewußtſeyn nachgewieſen

werden kann, mit der Inſinuation der Klage angenommen.

§. 222. „Wenn kein früherer Zeitpunkt der Unredlich-

keit des Beſitzes ausgemittelt werden kann, ſo

wird der Tag der dem Beſitzer durch die Gerichte

behändigten Klage dafür angenommen.“

Dieſer Ausſpruch ſtimmt mit der Lehre vieler neuerer

Romaniſten wörtlich überein. Man iſt jedoch bei der Be-

arbeitung des Preußiſchen Geſetzes erſt allmälig auf dieſe

Vorſchrift gekommen. In irgend einem älteren Entwurf

war der Zeitpunkt des eröffneten Urtheils als Anfang der

Unredlichkeit angenommen worden. Dieſer Beſtimmung

widerſprach Tevenar, indem er behauptete, jeder nicht

rechtmäßige Beſitzer könne und ſolle aus der inſinuirten

Klage ſein Unrecht abnehmen, und wenn er es nicht ein-

ſehen wolle, ſo verdiene dieſe Verſtockung keine Scho-

nung (z). Dazu bemerkte Suarez: „damit bin ich völlig

einverſtanden,“ entkräftete aber ſogleich dieſe Beſtimmung

durch den Zuſatz: „Übrigens iſt es ja dem Richter über-

laſſen, den Anfang der Unredlichkeit nach den Umſtänden

auch anders zu beſtimmen.“

 

(z) Simon a. a. O., S. 171. —

Dieſe ganz willkührliche Behaup-

tung wird durch die ſehr gewöhn-

liche Erfahrung widerlegt, daß viele

Beklagte, die am Ende verurtheilt

werden, dennoch den Prozeß mit

feſter Ueberzeugung von ihrem Recht

durchführen. Wer hieran zweifeln

wollte, möge doch erwägen, wie

oft in Richtercollegien verſchiedene

Meinungen über Freiſprechung oder

Verurtheilung vorkommen. Was

nun die Minorität redlich glaubt,

muß wohl auch dem Beklagten zu

glauben geſtattet werden.

VI. 7

|0116 : 98|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Ganz im Sinn dieſer letzten Äußerung wurde nun die

Vorſchrift in dem gedruckten Entwurf des Geſetzbuchs ſo

gefaßt (aa):

„Wenn kein früherer oder ſpäterer Zeitpunkt der

Unredlichkeit des Beſitzes ausgemittelt worden, ſo wird

der Tag der .. Behändigung der Klage dafür ange-

nommen.“

 

Dadurch wurde der Inſinuation die Kraft einer ziemlich

unſchuldigen und wirkungsloſen Präſumtion beigelegt, und

Alles in des Richters freies Ermeſſen geſtellt. Allein da-

gegen wurden wieder große Bedenken erhoben; Goßler

behauptete, mit anderen Monenten, Ueberzeugung ſey ein

Internum, worauf der Geſetzgeber ſich nicht einlaſſen könne;

daher müſſe das Geſetz den Anfang der Unredlichkeit unab-

änderlich beſtimmen, und die Alternative („oder ſpä-

terer“) müſſe weggelaſſen werden (bb). So iſt es denn

auch in dem A. L. R. geſchehen, wie die oben abgedruckte

Stelle zeigt, worin die früher vorgeſchlagene Präſumtion

nunmehr die Natur einer abſoluten Vorſchrift, einer Fiction

der mala fides, angenommen hat, ganz übereinſtimmend mit

den ſo eben vorgelegten Motiven dieſer Abänderung. —

Wie wenig aber damit die Sache zu ſicherer Entſcheidung

und zu klaren, feſten Begriffen gebracht war, zeigt folgende

Äußerung von Suarez (cc). Er unterſcheidet dreierlei

 

(aa) Entwurf eines Geſetzbuchs

für die Pr. Staaten Th. 2 (1787)

Tit. 4 § 153.

(bb) Simon S. 321. 322.

(cc) Simon S. 330 No. 2.

(Vgl. auch ebendaſelbſt S. 633). —

Die in dieſer Äußerung von Sua-

rez zuſammengeſtellten ſubtilen Un-

|0117 : 99|

§. 264. Wirkung der L. C. — Umfang. Einleitung.

mögliche Zuſtände in dem Bewußtſeyn des Beſitzers:

1. unredlicher Beſitzer; dahin gehört jeder, dem die Klage

inſinuirt iſt; ferner jeder, der ſeinen Beſitz aus einem ver-

ſchuldeten factiſchen Irrthum für rechtmäßig hält; endlich

jeder, der bei Erlangung des Beſitzes an der Rechtmäßig-

keit zweifelt; 2) Beſitzer, der es weiß, daß ſeine Poſ-

ſeſſion unrechtmäßig ſey (d. h. der wahre malae fidei

possessor); 3. betrüglicher Beſitzer, d. h. der dolose zum

Beſitz gelangt iſt. Zu allen dieſen kommt aber noch (als

eine ganz beſondere Klaſſe) der Beſitzer, der durch eine

ſtrafbare Handlung zum Beſitz gelangt iſt (dd).

Alle dieſe Beſtimmungen ſchließen ſich in der Haupt-

ſache (nur mit etwas ſubtileren Unterſchieden) an die Auf-

faſſung neuerer Romaniſten an, welche gleichfalls die Fiction

einer mala fides auf den Anfang des Rechtsſtreits grün-

den (ee). So wie bei dieſen, hat auch im A. L. R. die

erwähnte Fiction keinen anderen Zweck, als einen Rechts-

grund abzugeben für die Verpflichtung des Beklagten, die

während des Rechtsſtreits bezogenen Nutzungen (die omnis

causa) heraus zu geben (ff). Die Aehnlichkeit der Auf-

 

terſcheidungen ſind denn auch in

das A. L. R., nicht zu deſſen Vor-

theil, übergegangen: Th. 1 Tit. 7

§ 11—17. 222. 229. 239—242.

(dd) Simon S. 332 No. 12.

(ee) Wollte man noch etwa be-

zweifeln, daß Suarez mit der

von ihm fingirten mala fides

durchaus nicht etwas Neues ein-

zuführen vermeinte, ſondern ledig-

lich an das damals beſtehende R. R.

dachte, ſo würde dieſer Zweifel

durch zwei andere von ihm her-

rührende Äußerungen gänzlich be-

ſeitigt werden. Kamptz Jahr-

bücher B. 41 S. 8. 9.

(ff) A. L. R. § 223—228, ver-

bunden mit § 222.

7*

|0118 : 100|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

faſſung zeigt ſich auch darin, daß das Preußiſche Recht

(ſo wie jene neuere Romaniſten) aus dem Anfang des

Rechtsſtreits die Mora, eben ſo wie die Fiction der Unred-

lichkeit, entſpringen läßt, und an die Mora dieſelben Wir-

kungen knüpft, welche aus dem unredlichen Beſitz ent-

ſpringen (gg).

Die entſchiedene Abweichung dieſer ganzen Auffaſſung

von dem wahren R. R. beſteht aber darin, daß das R. R.

den Rechtsſtreit als ſolchen, den es in der L. C. gleichſam

perſonificirt, zum Entſtehungsgrund einer eigenthümlichen

Obligation macht, unabhängig von unredlichem Beſitz und

von Mora, die daneben vorhanden ſeyn können oder nicht.

Dieſe eigenthümliche Obligation des R. R. wird im A. L. R.

ignorirt. Die practiſche Folge, daß die omnis causa geleiſtet

werden muß, iſt hier wie dort dieſelbe, und in ſofern hat

allerdings dieſe Abweichung eine mehr theoretiſche als prac-

tiſche Natur. Gerade daraus aber erhellt um ſo mehr,

daß dieſe Abweichung im A. L. R. nicht mit Bewußtſeyn,

in der Abſicht einer practiſchen Verbeſſerung, vorgenommen

worden iſt. Aus den oben angeführten Stellen der Mate-

rialien geht auch klar hervor, daß man ſich im Ganzen an

die damals herrſchende Lehre des gemeinen Rechts an-

ſchließen, und dieſe höchſtens etwas genauer beſtimmen wollte.

 

(gg) A. G. O., Th. 1 Tit. 7

§ 48. d, und A. L. R. Th. 1 Tit. 16

§ 18. Ohne Zweifel aber ſoll

hier in den Wirkungen die Mora

nur dem unredlichen Beſitz des

§ 222 (I. 7.) gleich geſtellt werden,

d. h. alſo der leichteſten Art des

unredlichen Beſitzes überhaupt

(nach der Auffaſſung von Sua-

rez ſ. o. Note cc).

|0119 : 101|

§. 265. Wirkung der L. C. — Erweiterungen.

§. 265.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung.

a) Erweiterungen.

Die Wirkung der L. C. auf den Umfang der Verur-

theilung äußert ſich zunächſt in den Erweiterungen,

welche zu dem urſprünglichen Gegenſtand des Rechtsſtreits

nach der L. C. hinzutreten können, und deren Werth dem

Kläger für den Fall der Verurtheilung verſchafft werden

ſoll (§ 264). Es iſt hier zuerſt eine Ueberſicht über die

verſchiedenen Arten ſolcher Erweiterungen zu geben, dann

aber die Behandlung derſelben bei den einzelnen Klaſſen

der Klagen zu beſtimmen.

 

Die Erweiterungen laſſen ſich auf zwei Hauptarten zu-

rück führen, die ich als Früchte (regelmäßigen Erwerb)

und zufälligen Erwerb bezeichne.

 

Der urſprüngliche Begriff der Frucht ſteht in Verbin-

dung mit den Geſetzen der organiſchen Natur. Was nach

dieſen Geſetzen aus einer Sache erzeugt wird, heißt eine

Frucht dieſer Sache.

 

Dieſer an ſich bloß natürliche Begriff bekommt eine

juriſtiſche Bedeutung durch folgende Eigenſchaften ſolcher

Erzeugniſſe. Sie ſind einer periodiſchen Wiederholung

empfänglich, auf welche mit mehr oder weniger Sicherheit

gerechnet werden kann. Daher iſt dieſe Fähigkeit zur

Fruchterzeugung dasjenige, wodurch die fruchttragende Sache

vorzugsweiſe (oft ganz allein) Werth für den Verkehr be-

 

|0120 : 102|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung

kommt, um deren Willen wir ſie zu erwerben und zu haben

pflegen. — Die wichtigſten Fälle der Anwendung dieſes

Begriffs ſind: Pflanzen jeder Art, ſo wie die einzelnen

Beſtandtheile der Pflanzen, als Früchte des Bodens. Eben

ſo bei Thieren: die Jungen (als Früchte der Mutter), die

Wolle, die Milch.

Nun findet ſich aber unter denjenigen Erwerbungen,

welche ſich lediglich auf Rechtsgeſchäfte gründen, alſo mit

den Geſetzen der organiſchen Natur nichts gemein haben,

manche Fälle, in welchen die eben erwähnten juriſtiſchen

Eigenſchaften der Früchte gleichfalls wahrgenommen werden:

namentlich die Abhängigkeit des Erwerbs von einem ſchon

vorhandenen anderen Vermögensſtück, die periodiſche Repro-

duction, die Wahrſcheinlichkeit, mit der auf ſie gerechnet

werden kann, ſowie der Werth den durch ſie das zum

Grund liegende Vermögensſtück erhält. Wegen dieſer

ähnlichen Eigenſchaften werden ſolche Erwerbungen den

Früchten gleich geachtet, oder nach der Analogie der Früchte

behandelt (a). — Die wichtigſten Fälle derſelben ſind:

Pacht- und Miethgeld von Grundſtücken und beweglichen

 

(a) L. 34. de usuris (22. 1)

„vicem fructuum obtinent,“

L. 36. eod. „pro fructibus acci-

piuntur,“ L. 121 de V.S. (50. 16)

„Usura pecuniae, quam perci-

pimus, in fructu non est: quia

non ex ipso corpore, sed ex

alia causa est, id est, nova

obligatione.“ Das: in fructu

non est iſt nach dieſer Zuſammen-

ſtellung gleichbedeutend mit dem:

pro fructibus und vicem obti-

nent der vorhergehenden Stellen;

der hinzugefügte Grund läßt über

die Richtigkeit dieſer Erklärung

keinen Zweifel.

|0121 : 103|

§. 265. Wirkung der L. C. — Erweiterungen.

Sachen, die Zinſen eines Capitals (b), ſo wie bei den

Römern jeder aus der Arbeit von Sclaven hervorgehende

Erwerb, indem die Arbeit als die regelmäßige und natür-

liche Benutzung der Sclaven angeſehen wurde.

Die Neueren nennen die hier aufgeſtellten zwei Klaſſen

von Früchten: fructus naturales und civiles.

 

Bei den eigentlichen (organiſchen) Früchten wird das

Eigenthum unmittelbar durch die organiſche Erzeugung dem

Eigenthümer der fruchttragenden Sache, auch ohne deſſen

Wiſſen und Zuthun, erworben. Sie ſind zunächſt bloß

Beſtandtheile der fruchttragenden Sache, und werden erſt

durch die Abſonderung von derſelben ſelbſtſtändige Ver-

mögensſtücke (c). Das ſo erworbene Eigenthum hört auf

durch Aufzehrung oder Veräußerung (fructus consumti),

nach welcher höchſtens der Geldwerth derſelben im Ver-

mögen zurück bleiben kann.

 

Bei den ſ. g. civilen Früchten entſteht eine Erwerbung

von Eigenthum gar nicht durch ihre eigenthümliche Frucht-

natur, ſondern ſo wie bei anderen Rechtsgeſchäften durch

 

(b) L. 34 de usuris (22. 1)

„Usurae vicem fructuum obti-

nent: et merito non debent a

fructibus separari.“ Die ſchein-

bar widerſprechenden Worte der

L. 121 de V. S. (Note a) „usura

in fructu non est,“ wollen alſo

nur ſagen, daß die Zinſen nicht

durch organiſche Erzeugung, ſon-

dern vermittelſt eines Rechtsge-

ſchäfts, erworben werden. Mit

anderen Worten ſagt daſſelbe Pa-

pinian in L. 62 pr. de rei vind.

(6. 1) „vectura, sicut usura,

non natura pervenit, sed jure

percipitur,“ in welcher Stelle die

Gleichartigkeit des Erwerbes

an dem Miethgeld und an den

Geldzinſen anerkannt wird.

(c) L. 15 pr. de pign. (20. 1),

L. 83 pro soc. (17. 2).

|0122 : 104|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Tradition (d). Sie ſtehen alſo gleich Anfangs zu dem

Erwerber in demſelben Verhältniß, wie die organiſchen

Früchte nach der Veräußerung, d. h. ſie haben von Anfang

an die Natur der fructus consumti.

Mit der erwähnten beſonders wichtigen Eigenſchaft aller

Früchte, nach welcher auf ſie eine regelmäßige Erwartung,

eine wahre Berechnung, gerichtet werden kann, ſteht noch

folgender Rechtsbegriff in Verbindung. Wer durch das

fruchttragende Vermögensſtück in der Lage iſt, Früchte zu

erwerben, kann dieſe Fähigkeit entweder gebrauchen, oder

auch (abſichtlich oder aus Unthätigkeit) unbenutzt laſſen.

Dieſe Unterlaſſung iſt an ſich eben ſo gleichgültig, wie jede

andere verſtändige oder unverſtändige Behandlung des Ei-

genthums. Sie kann aber eine juriſtiſche Bedeutung

bekommen, wenn der Unterlaſſende in einem beſonderen

Rechtsverhältniß ſteht, das ihn zur Sorgfalt verpflichtet.

Dieſen Fall bezeichnen neuere Schriftſteller durch den Aus-

druck fructus percipiendi, welcher weder römiſch noch an

ſich zweckmäßig iſt (e). Ich werde dafür den Ausdruck:

verſäumte Früchte gebrauchen.

 

(d) Das Product der Sclaven-

arbeit wurde bei den Römern er-

worben in Folge des allgemeinen

Grundſatzes, nach welchem alle zum

Erwerb geeignete Handlungen eines

Sclaven dem Herrn zu gut kom-

men konnten und mußten; alſo

nicht eigentlich durch ein Rechts-

geſchäft, aber doch vermöge einer

poſitiven Rechtsregel.

(e) Ich will nicht ſagen, daß

an ſich die Zuſammenſetzung dieſer

beiden Ausdrücke unlateiniſch ſey,

allein als techniſche Bezeichnung

des oben angegebenen Verhältniſſes

kommt ſie bei den Römern nie-

mals vor, welche ſtets Umſchrei-

bungen dafür gebrauchen. Der

Ausdruck iſt auch unpaſſend, weil

er an ſich auch auf die nur noch nicht

|0123 : 105|

§. 265. Wirkung der L. C. — Erweiterungen.

Unter den zufälligen Erwerb aus ſchon vorhandenen

anderen Vermögensſtücken werden wir alle diejenigen Fälle

zu rechnen haben, in welchen die oben angegebenen Eigen-

ſchaften der Früchte fehlen, ſo daß namentlich ihre regel-

mäßige Entſtehung nicht der Grund iſt, um deſſen Willen

wir die Hauptſache zu haben pflegen. Dahin gehören

folgende Fälle: Die Erweiterung eines Grundſtücks durch

Alluvion u. ſ. w. Die Bereicherung durch Poenalklagen,

in Folge der an unſren Sachen verübten Verletzungen.

Ferner bei den Römern der Erwerb eines Herrn aus den

Erbſchaften oder Legaten, welche ſeinen Sclaven hinterlaſſen

wurden, ſo wie der Eigenthums-Erwerb des Herrn an den

von ſeiner Sclavin gebornen Kindern (f).

 

Alle dieſe Gegenſtände kommen für unſre gegenwärtige

Unterſuchung in ſofern in Betracht, als ſie wegen ihrer

Entſtehung während eines Rechtsſtreits auf den Umfang

der Verurtheilung in der Hauptſache Einfluß haben können.

Es darf aber dabei nicht überſehen werden, daß dabei auch

noch andere Rechtsverhältniſſe und ſelbſtſtändige Klagen in

 

abgeſonderten, ſelbſt auf die un-

reifen Früchte paßt, ſo daß das

entſcheidende Moment des Verſäum-

niſſes oder der Unterlaſſung und des

daraus entſpringenden Verluſtes,

darin gar nicht angedeutet iſt.

(f) Allerdings ſtehen nach na-

türlicher Betrachtung die Sclaven-

kinder zu der Mutter in demſelben

organiſchen Verhältniß, wie die

Jungen der Thiere. Der Grund,

weshalb ſie nicht als Früchte an-

geſehen wurden, lag darin: „quia

non temere ancillae ejus rei

causa comparantur, ut pa-

riant.“ (L. 27 pr. de her. pet.

5. 3). Das war die Anſicht der

Römer, als ſie noch nichts von

Chriſtenthum wußten. Bekanntlich

haben die chriſtlichen Einwohner

der Nordamerikaniſchen Sclaven-

ſtaaten andere Anſichten und Ge-

wohnheiten.

|0124 : 106|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Betracht kommen können: insbeſondere bei den organiſchen

Früchten, wenn ſie von der Hauptſache abgeſondert ſind,

eigene Vindicationen, oder, als Surrogate derſelben Con-

dictionen (g).

Wenn nun behauptet wird, daß irgend ein Anſpruch

auf ſolche Gegenſtände Wirkung der L. C. ſey, ſo ſetzt dieſe

Behauptung nothwendig voraus, daß, abgeſehen von der

L. C. und vor derſelben, dieſer Anſpruch gar nicht, oder

doch nicht in gleichem Umfange, vorhanden ſey. Dieſe

Differenz, worin die eigenthümliche Wirkung der L. C.

beſteht, muß für jeden einzelnen Fall genau angegeben

werden.

 

§. 266.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —

a. Erweiterungen. (Fortſetzung.)

Es iſt jetzt zu unterſuchen, wie die Erweiterungen,

deren Natur im § 265 angegeben worden iſt, auf die ein-

zelnen Klaſſen der Klagen anzuwenden ſind. Dabei muß

zum Grund gelegt werden die Unterſcheidung der Klagen

in rem von den perſönlichen Klagen.

 

A. Klagen in rem.

1. Eigenthumsklage, das heißt die rei vindicatio der Di-

geſten, oder die petitoria formula bei Gajus, welche eine

arbitraria actio, alſo eine Klage der freieſten Art war.

(g) S. o. B. 5 S. 524 Note b.

|0125 : 107|

§. 266. Wirkung der L. C. — Erweiterungen. (Fortſ.)

2. Erbſchaftsklage, d. h. die hereditatis petitio der

Digeſten, oder die petitoria formula in Beziehung auf

Erbſchaften.

Beide Klagen müſſen hier zuſammengefaßt werden,

theils weil ſie nur in dieſer Verbindung richtig beurtheilt

werden können, theils weil in der umfaſſendſten Stelle aus-

drücklich bezeugt wird, daß für beide die hier vorliegende

Frage völlig gleich zu beantworten ſey (a). Im All-

gemeinen wird die Regel aufgeſtellt, daß die Verurtheilung

auch die omnis causa umfaſſen müſſe, alſo ſowohl Früchte

im ausgedehnteſten Sinn des Worts, als auch den zufälligen

Erwerb, welcher nicht die Natur von Früchten hat (b).

 

Der Einfluß der L. C. auf die Anwendung dieſer Regel

iſt auf folgende Weiſe zu beſtimmen (c):

 

a) der redliche Beſitzer ſoll ſich bereichern dürfen durch

alle vor der L. C. gewonnene Früchte, nur mit Ausnahme

derjenigen organiſchen Früchte, welche noch zur Zeit der

L. C. in Natur vorräthig ſind. — Dagegen ſoll Derſelbe,

von der Zeit der L. C. an, nicht nur den Werth der ver-

zehrten und veräußerten, ſondern auch den Werth der

verſäumten Früchte erſetzen.

 

Hier iſt alſo die Wirkung der L. C. ſehr bedeutend,

und der Grund derſelben liegt in dem obligatoriſchen Ver-

hältniß der L. C., welches ihn nöthigt, die Sache als eine

 

(a) § 2 J. de off. jud. (4. 17).

(b) Für die Eigenthumsklage:

L. 17 § 1, L. 20. 35 § 1 de rei vind.

(6. 1). — Für die Erbrechtsklage:

L. 25 § 9, L. 27 pr., L. 29 de

her. pet. (5. 3).

(c) § 2 J. de off. jud. (4. 17),

L. 22 C. de rei vind. (3. 32).

|0126 : 108|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

vielleicht fremde anzuſehen und zu verwalten, und dabei

für ſeine Culpa einzuſtehen (d).

b) Daß der unredliche Beſitzer, von der L. C. an,

ebenſo ſtrenge Verpflichtungen hat wie der redliche, verſteht

ſich von ſelbſt. Bei ihm aber wird dieſelbe Strenge auch

für die ganze Dauer des Beſitzes vor der L. C. geltend

gemacht, ſo daß hierin an die L. C. gar keine praktiſche

Wirkung mehr angeknüpft iſt. — Indeſſen war Dieſes

bei dem unredlichen Beſitzer nicht der urſprüngliche Grund-

ſatz; vielmehr ſollte er vor der L. C., weil er noch in

keinem obligatoriſchen Verhältniß ſtand, nicht für die ver-

ſäumten Früchte einſtehen. Erſt das Sc. Juventianum

verordnete, daß bei der Erbſchaftsklage der unredliche Be-

ſitzer vom Anfang ſeines Beſitzes an ſo beurtheilt werden

ſollte, als ob er in einem obligatoriſchen (offenbar delict-

artigen) Verhältniß geſtanden hätte. Man nannte dieſes

den dolus praeteritus (e), und folgerte daraus u. a. auch

die Verpflichtung, für die vor der L. C. verſäumten Früchte

Entſchädigung zu leiſten (f). Dieſe gegen den unredlichen

Beſitzer neu eingeführte Strenge, wodurch für ihn die L. C.

ihren practiſchen Einfluß verlor, wurde dann durch die

 

(d) § 2 J. de off. jud. (4. 17)

„qui culpa possessoris percepti

non sunt.“ — Paulus I. 13 A.

§ 9: „Hi fructus in restitutione

praestandi sunt petitori, quos

unusquisque diligens paterfami-

lias et honestus colligere po-

tuisset.“

(e) L. 20 § 6, L. 25 § 2. 7,

L. 13 § 2 de her. pet. (5. 3).

(f) L. 25 § 4. 9 de her. pet.

(5. 3).

|0127 : 109|

§. 266. Wirkung der L. C. — Erweiterungen. (Fortſ.)

alten Juriſten von der Erbſchaftsklage auch auf die Eigen-

thumsklage ausgedehnt (g).

Die hier aufgeſtellten Grundſätze über die Wirkung der

L. C. bei der Eigenthumsklage waren ihrem Princip nach

keine neue Erfindung der Römiſchen Juriſten, ſondern bloß

die genauere Entwicklung uralter Rechtsregeln. Dieſe ſind

anerkannt ſchon in den alten praedes litis et vindiciarum (h),

in welchem Kunſtausdruck vindiciae die Früchte bedeutet.

Daneben galt im älteren Recht ſogar noch eine Verpflichtung

des Beklagten zum doppelten Erſatz der Früchte, welche

jedoch im neueſten Recht ſpurlos verſchwunden iſt (i).

 

3. Die actio ad exhibendum iſt zwar eine perſönliche

Klage, wird aber in Hinſicht auf die hier vor-

liegende Frage ganz nach den Grundſätzen der Eigen-

thumsklage beurtheilt (k). Daſſelbe gilt von folgenden

Klagen:

4. A. finium regundorum (l).

5. A. confessoria (m).

6. A. hypothecaria (n).

(g) L. 27 § 3 de rei vind.

(6. 1).

(h) Gajus IV. § 91. 94.

(i) Paulus V. 19 § 2, L. 1

pr. C. Th. de us. rei jud. (4. 19),

L. 1 C. Th. de fruct. (4. 18),

aus welcher interpolirt iſt, die L. 2

C. de fruct. (7. 51); beide Texte

zuſammengeſtellt bei Heimbach

Lehre von der Frucht S. 160. —

L. Rom. Burg. ed. Barkow

Tit. 8 lin. 17—20, Tit. 35 lin. 11

bis 13. — Der ſehr dunkle Zu-

ſammenhang dieſes Rechtsinſtituts

ſoll hier nicht weiter verfolgt werden,

da er auf das neueſte Recht ganz

ohne Einfluß iſt. Vgl. darüber

Heimbach S. 163—166.

(k) § 3 J. de off. jud. (4. 17),

L. 9 § 5—8 ad exhib. (10. 4).

(l) L. 4 § 2 fin. reg. (10. 1).

(m) L. 5 § 4 si ususfr. (7. 6),

L. 19 § 1 de usur. (22. 1).

(n) L. 16 § 4 de pign. (20. 1).

|0128 : 110|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

B. Perſönliche Klagen.

Bei dieſen kommt ein ganz anderes Verhältniß in Be-

tracht, als bei den Klagen in rem. Da ſie nämlich ſtets

auf Obligationen beruhen, welche vor der L. C. vorhanden

geweſen ſeyn müſſen, ſo kommt es darauf an, welche Ver-

pflichtung aus dieſen Obligationen an ſich, unabhängig

von allem Rechtsſtreit, hervorgeht. Da wo dieſe Ver-

pflichtung ſchon vom Anfang der Obligation an auf Erſtat-

tung der Früchte führt, kann natürlich die L. C. nichts

Neues hinzuthun, ſo daß von einer Wirkung der L. C.

auf den Erſatz der Früchte nur bei denjenigen Obligationen

die Rede ſeyn kann, welche nicht ſchon an ſich einen

ſolchen Erſatz begründen.

 

Die Grundlage der hier einſchlagenden Regeln bildet

nicht, wie in vielen andern Fällen, die Unterſcheidung der

stricti juris und bonae fidei actiones, ſondern vielmehr

folgende ganz andere Unterſcheidung. Die perſönlichen

Klagen gehen entweder auf eine repetitio, d. h. auf die

Wiedererlangung einer Sache oder eines Werthes die

ſchon früher zu unſerem Vermögen gehört haben, oder aber

ſie gehen auf einen unſerem Vermögen bisher fremden

Gegenſtand (ad id consequendum quod meum non fuit,

veluti ex stipulatu) (o).

 

(o) Die hier aufgeſtellte wich-

tige Unterſcheidung wird von Pau-

lus durchgeführt in den zwei wich-

tigſten hier einſchlagenden Stellen:

1. die L. 65 de cond. indeb. (12. 6)

handelt blos von den Klagen auf

repetitio. 2. L. 38 de usuris

(22. 1) ſpricht von beiden Klaſſen

von Klagen, ſtellt aber nicht den

Gegenſatz derſelben an die Spitze,

|0129 : 111|

§. 266. Wirkung der L. C. — Erweiterungen. (Fortſ.)

1. Bei den Klagen auf repetitio gilt die Regel, daß

die Früchte und andere Erweiterungen ſchon von Anfang

an erſetzt werden müſſen, ſo daß in dieſer Hinſicht die

L. C. ohne allen Einfluß iſt. Auch macht es dabei durch-

aus keinen Unterſchied, ob eine ſolche Obligation durch

eine ſtrenge oder freie Klage verfolgt wird, wie denn na-

mentlich die der condictio indebiti zum Grunde liegende

Obligation von Anfang an, alſo vor allem Rechtsſtreit,

und auch ohne Mora, den Fruchterſatz mit umfaßt (p).

 

2. Unter den Klagen auf einen bisher fremden Gegen-

ſtand (quod meum non fuit) wurden die freien und

ſtrengen Klagen unterſchieden.

 

a) Bei den freien Klagen dieſer Klaſſe galt, wie es

ſcheint, von jeher und ohne allen Widerſtreit die Regel,

daß Früchte erſtattet werden müßten (q). Hier aber war

die Sache deswegen von keiner Erheblichkeit, weil meiſt

der eigenthümliche Inhalt jeder beſonderen Obligation, und

insbeſondere die Einwirkung der Mora, eine frühere Ver-

 

ſondern deutet ihn erſt an in dem

§ 7 (ſ. u. Note s), obgleich ſie

ihn durchweg unverkennbar vor-

ausſetzt.

(p) L. 65 pr. § 5. 7, L. 15 pr.

de cond. indeb. (12. 6). Auf dieſelbe

Klaſſe von Klagen bezieht ſich augen-

ſcheinlich L. 38 pr. § 1—6, § 10

bis 15 de usur. (22. 1). Bloße An-

wendungen auf das Interdict unde

vi, und auf die actio pignoratitia

finden ſich in L. 4 C. unde vi (8. 4),

und L. 3 C. de pign. act. (4. 24).

Allerdings können Zinſen mit

der cond. indebiti nicht gefordert

werden, welches jedoch unten be-

ſonders erklärt werden wird.

(q) L. 38 § 15 de usur. (22. 1)

„In ceteris quoque bonae fidei

judiciis fructus omnimodo prae-

stantur.“

|0130 : 112|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

pflichtung zum Fruchterſatz mit ſich führt, und alſo die

Wirkung der L. C. abſorbirt (r).

b) Bei den ſtrengen Klagen (den Condictionen) war

von Anfang der Obligation an keine Verpflichtung zum

Fruchterſatz vorhanden, und ſelbſt die Mora erzeugte eine

ſolche Verpflichtung nicht. Wenn alſo z. B. ein Land-

gut durch Stipulation verſprochen worden war, ſo konnte

der Creditor nur das Landgut ſelbſt einklagen, nicht die

ſeit der Zeit des Vertrags oder der Mora gezogenen

Früchte, und es blieb alſo ihm überlaſſen, durch ſchleunige

Anſtellung der Klage den möglichen Verluſt abzuwenden,

der ihm aus der Anwendung dieſer Regel entſtehen konnte.

Hier aber zeigte ſich eine wichtige Wirkung der L. C.,

indem von dieſer an die omnis causa geleiſtet werden

mußte. Zwar auch dieſe Regel galt in der älteſten Zeit

nicht; aber ſchon frühe (und wahrſcheinlich nach der Ana-

logie der Eigenthumsklage) erkannte man die Billigkeit der-

ſelben an, Sabinus und Caſſius erklärten ſich für

dieſelbe, und ſie wurde dann allgemein angenommen (s).

 

(r) So z. B. bei dem Kauf

L. 38 § 8 de usur. „Ex causa

etiam emptionis fructus resti-

tuendi sunt.“ Hier kommt theils

die Mora, theils die gegenſeitige

Zahlung des Kaufpreiſes, alſo

überhaupt die auf völlige Gegen-

ſeitigkeit gerichtete Natur dieſes

Vertrags, in Betracht. — Eben

ſo wird bei Legaten und Fidei-

commiſſen bald die Mora, bald

die L. C. als Anfangspunkt des

Fruchterſatzes angegeben; die L. C.

kann nur ſo gemeint ſeyn, wenn

nicht ſchon früher eine Mora vor-

handen war (§ 271).

(s) L. 38 § 7 de usur. (22. 1)

„Si actionem habeam ad id

consequendum, quod meum non

fuit, veluti ex stipulatu, fructus

non consequar, etiam si mora

facta sit. Quod si acceptum

est judicium, tunc Sabinus et

Cassius ex aequitate fructus

|0131 : 113|

§. 267. Wirkung der L. C. — Verſäumte Früchte.

§. 267.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —

a) Erweiterungen (Fortſetzung. Verſäumte Früchte).

Schon oben iſt an mehreren Stellen die Rede geweſen

von dem Erſatz für verſäumte Früchte, oder die ſ. g.

fructus percipiendi (§ 265. 266). Hierüber herrſchen

unter neueren Schriftſtellern manche Misverſtändniſſe,

welche meiſt aus einer zu ſubtilen Behandlung des an ſich

einfachen Gegenſtandes entſtanden zu ſeyn ſcheinen. Dar-

auf ſoll gegenwärtig näher eingegangen werden.

 

Eine ſichere Grundlage für dieſe Unterſuchung bildet

der deutlich ausgeſprochene Grundſatz, daß die Verpflich-

tung zum Erſatz ſolcher Früchte ſtets auf die Culpa des

Beſitzers, der ſie zu gewinnen verſäumte, zurückzuführen

iſt (§ 266. d). Jede Streitfrage in dieſer Lehre kann alſo

nur aus dem Daſeyn oder dem Mangel einer ſolchen

Culpa entſchieden werden.

 

So hat man ſich in neuerer Zeit viele, wie es ſcheint

vergebliche, Mühe gegeben mit der Unterſuchung der Frage,

ob die unbenutzte Möglichkeit des Fruchtgewinnes nach

der Perſon des Klägers oder nach der des Beklagten ab-

zumeſſen ſey. Manche wollen hierin zwiſchen der Eigen-

thumsklage und Erbſchaftsklage unterſcheiden (a), Andere

zwiſchen dem redlichen und unredlichen Beſitzer (b), noch

 

quoque post acceptum judicium

praestandos putant, ut causa

restituatur: quod puto recte

dici.“

(a) Buchholtz, Abhandlungen

S. 13 — 15.

(b) Glück, B. 8 S. 262. 296.

298.

VI. 8

|0132 : 114|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Andere behaupten ganz allgemein, daß lediglich auf die

Perſon des Klägers geſehen werden müſſe (c).

Nicht ſowohl die eine oder die andere dieſer Beant-

wortungen der erwähnten Frage, als vielmehr die Stellung

der Frage ſelbſt, iſt verwerflich. Es liegt dabei die Vor-

ausſetzung zum Grunde, als ob die Fruchtgewinnung von

beſonderen perſönlichen Geſchicklichkeiten abhinge, welche

bald bei dem einen, bald bei dem andern Theil gefunden

oder vermißt werden könnten.

 

Nach dem eben aufgeſtellten Princip iſt dieſes ganze

Verfahren grundlos. Alles kommt allein auf das Daſeyn

der Culpa in dem Benehmen des Beſitzers an. Das Da-

ſeyn der Culpa aber wird nach allgemeinen bekannten

Grundſätzen feſtgeſtellt durch die Vergleichung des perſön-

lichen Benehmens jedes im einzelnen Fall zu beurtheilenden

Schuldners mit demjenigen Thun und Laſſen, welches in

gleichem Fall von einem diligens paterfamilias zu erwar-

ten geweſen wäre. Dem urtheilenden Richter alſo ſoll

die allgemeine Handlungsweiſe eines beſonnenen Mannes

als Maaßſtab dienen, wobei auf die Eigenthümlichkeit des

Schuldners gar nichts ankommt (d). Allerdings wird in

einigen Stellen die Verpflichtung zum Erſatz wörtlich davon

abhängig gemacht, daß der Kläger hätte die Früchte ge-

 

(c) Heimbach, Lehre von der

Frucht S. 168 — 170 S. 184.

(d) In wenigen und nicht be-

deutenden Fällen wird auf die

Individualität des Schuldners aus-

nahmsweiſe ſchonende Rückſicht

genommen (diligentia quam suis

rebus adhibere solet). Von

einem ſolchen Fall iſt hier gar

nicht die Rede.

|0133 : 115|

§. 267. Wirkung der L. C. — Verſäumte Früchte.

winnen können (e); allein in noch mehreren Stellen wird

die Frage ſo geſtellt, ob der Beklagte Dieſes thun

konnte oder ſollte (f). Beide Arten des Ausdrucks

haben aber ganz denſelben Sinn, und werden daher mit

Recht in willkührlicher, zufälliger Abwechslung gebraucht.

Daß in der That dieſe beide Arten die Frage aufzu-

faſſen gar nicht verſchieden ſind, folgt daraus, daß beide,

verglichen mit dem allgemeinen Princip der Culpa keinen

anderen Sinn haben als den: was in dieſem Fall ein be-

ſonnener Hausvater wirklich gethan hätte. Da wo in

unſren Rechtsquellen die für den Kläger vorhandene

Möglichkeit der Fruchtgewinnung erwähnt wird, ſteht

ſie als Gegenſatz gegen das, was der Beklagte wirklich

gewonnen hat, welches dann für gleichgültig erklärt

wird (g). In keiner Stelle wird die Möglichkeit für

den Kläger der Möglichkeit für den Beklagten als etwas

Verſchiedenes gegenüber geſtellt (h), ſowie es die neueren

Schriftſteller in ihrer Controverſe fälſchlich vorausſetzen.

 

(e) L. 62 § 1 de rei vind.

(6. 1), L. 39 § 1 de leg. 1. (30),

L. 4 C. unde vi (8. 4).

(f) L. 25 § 4 de her. pet. (5. 3),

L. 2 C. de fruct. (7. 51), L. 5

C. de rei vind. (3. 32), L. 1

§ 1 C. de her. pet. (3. 31), L. 3

C. de pign. act. (4. 24).

(g) L. 4 C. unde vi (8. 4)

„fructus etiam quos vetus pos-

sessor percipere potuit, non

tantum quos praedo percepit.“

(h) Allerdings iſt in dieſem

Sinn aufgefaßt worden L. 62 § 1

de rei vind. (6. 1) „constat ani-

madverti debere, non an ma-

lae fidei possessor fruiturus

sit, sed an petitor frui potue-

rit, si ei possidere licuisset,“

und dieſe Stelle ſcheint faſt allein

das Misverſtändniß veranlaßt zu

haben, als ob die Geſchicklichkeit

des Klägers mit der des Beklag-

ten abzuwägen, und zwiſchen bei-

den Geſchicklichkeiten als Maaß-

ſtab der Beurtheilung zu wählen

wäre. Allein die Florentiniſche

Leſeart fruiturus sit, iſt ohnehin

8*

|0134 : 116|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Ferner iſt in der neueſten Zeit behauptet worden, ein

Erſatz für verſäumte Früchte ſey nur dann zu leiſten, wenn

die Früchte wirklich vorhanden waren, und der Beſitzer ſie

einzuſammeln unterließ; dagegen ſoll ihn kein Vorwurf

und keine Verpflichtung treffen, wenn er die Anſtalten

unterläßt, ohne welche eine Entſtehung der Früchte un-

möglich iſt (i). Daher würde die unterlaſſene Erndte einen

Anſpruch auf Erſatz begründen, die unterlaſſene Beſtellung

des Feldes aber nicht.

 

Bei einer richtigen Anwendung unſres Princips von

der Culpa, und bei der practiſchen Auffaſſung des ganzen

Rechtsverhältniſſes, muß dieſe Meinung gänzlich verworfen

werden. Wenn der Beſitzer eines Landgutes, der voraus-

ſieht, daß er in der Eigenthumsklage unterliegen werde,

obgleich dieſe durch mehrere Jahre hingezogen werden

kann, die Aecker unbeſtellt läßt, und dadurch ohne allen

Fruchtertrag bleibt, ſo kann man unmöglich ſagen, daß

er das gethan habe, was ein diligens pater familias ge-

than hätte, ſo wie es doch Paulus fordert (§ 266. d).

Es wird ferner ausdrücklich geſagt, daß der unredliche

Beſitzer auch verantwortlich ſey wegen Unterlaſſung der

für die Sache nöthigen Ausgaben (k), und es wird dabei

 

verwerflich und finnlos, da von

einer Beurtheilung der Zukunft

gar nicht die Rede ſeyn kann. Nimmt

man aber die Vulgata fruitus

sit an, die gar kein Bedenken hat,

ſo verſchwindet ſelbſt jener ſchwache

Schein völlig, und die Stelle ſagt

dann wörtlich daſſelbe, wie die

vorher angeführte Stelle des Co-

dex (Note g).

(i) Heimbach, Lehre von der

Frucht, S. 171 — 178.

(k) L. 31 § 3 de her. pet.

(5. 3). „Sumtum … si facere

|0135 : 117|

§. 267. Wirkung der L. C. — Verſäumte Früchte.

durchaus nicht unterſchieden zwiſchen Ausgaben für die

Erhaltung der Sache ſelbſt, oder für die Beſtellung zur

Fruchterzeugung.

Wenn man jene Behauptung auf die ſ. g. civilen

Früchte anwendet, ſo würde ſie zu folgender Unterſcheidung

führen. Der Beſitzer wäre verpflichtet, Miethgeld und

Zinſen einzukaſſiren, wenn die Contracte hierüber ſchon

geſchloſſen ſind; nicht verpflichtet, ſolche Contracte zu

ſchließen, auch ſelbſt an ſolchen Sachen, die ihrer Natur

nach zum Vermiethen beſtimmt ſind. Nun wird aber

gerade hiervon das Gegentheil ausdrücklich geſagt. Der

unredliche Beſitzer ſoll für verſäumte Früchte einſtehen,

wenn er Sachen unvermiethet läßt, deren Vermiethung

herkömmlich iſt (l). Eben ſo ſoll der Erbe, wenn er die

Auszahlung eines Geldlegats ohne Grund verzögert, da-

von landübliche Zinſen zahlen (m).

 

Sehr richtig wird dieſes ganze Rechtsverhältniß in

folgender Stelle der Weſtgothiſchen Interpretation beur-

theilt (n):

 

debuit, nec fecit, culpae hujus

reddat rationem.“

(l) L. 62 pr. de rei vind.

(6. 1) „Si navis a malae fidei

possessore petatur, et fructus

aestimandi sunt, ut in taberna

et area quae locari solent.“ —

L. 19 pr. de usur. (22. 1) am

Ende der Stelle.

(m) L. 39 § 1 de leg. 1. (30).

Aus den landüblichen Zinſen folgt,

daß nicht blos die Einkaſſirung,

ſendern auch das Ausleihen von

dem Erben erwartet wird. Denn

wäre die Rede von einem ſchon

ausgeliehenen Capital, ſo würden

nicht landübliche, ſondern die im

Contract verſprochenen Zinſen ge-

fordert werden.

(n) Interpr. L. 1 C. Th. de

fruct. (4. 18).

|0136 : 118|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

quales per diligentem culturam consequi proprii

domini utilitas potuisset.

Die ganze hier widerlegte Meinung ſcheint überhaupt

nur aus einer zu buchſtäblichen Auffaſſung der Worte

percipere und colligere hervor zu gehen, die freilich un-

mittelbar blos den Act des Einſammelns bezeichnen, dem

Sinn nach aber auch die unerläßlichen vorbereitenden

Handlungen mit in ſich ſchließen. Wäre die Rede davon,

dem Beſitzer ungewöhnliche Anſtrengungen von Kraft und

Geſchicklichkeit zuzumuthen, ſo würde jene Meinung richtig

ſeyn; es wird aber nichts von ihm verlangt, als daß er

dasjenige thue, welches Niemand, ſelbſt an ſeinem eigenen

Vermögen, unterlaſſen kann ohne den Vorwurf einer ent-

ſchiedenen Nachläſſigkeit auf ſich zu ziehen.

 

Zuletzt iſt noch eine Bemerkung hinzuzufügen, über die

Rechtsmittel womit für die verſäumten Früchte Erſatz

verlangt werden kann. Wegen der vorhandenen oder ver-

zehrten Früchte ſind nach Umſtänden ganz verſchiedene

Rechtsmittel anwendbar: die Hauptklage, durch welche

auch die Früchte mit umfaßt werden, dann die Vindi-

cation oder eine Condiction, je nachdem die Früchte vor-

handen oder verzehrt ſind.

 

Nicht ſo verhält es ſich mit dem Erſatz für die ver-

ſäumten Früchte. Dieſer kann allerdings durch die auf die

Sache ſelbſt gerichtete Hauptklage mit verfolgt werden,

und hierdurch werden in der That die ſo eben aufgeſtellten

Regeln geltend gemacht. Dagegen kann von einer Vindication

 

|0137 : 119|

§. 267. Wirkung der L. C. — Verſäumte Früchte.

dieſer Früchte nicht die Rede ſeyn, indem dieſelben niemals

im Beſitz des Beklagten geweſen ſind. Eben ſo wenig

aber iſt eine Condiction auf dieſelben möglich, weil die

Grundbedingung einer ſolchen, nämlich die Bereicherung

aus fremder Sache, fehlt (o).

Dieſer letzte Satz wird in folgender Stelle anerkannt,

welche leicht misverſtanden werden kann (p):

Si ejus fundi, quem alienum possideres, fructum

non coëgisti, nihil ejus fundi fructuum nomine te

dare oportet.

 

Flüchtig angeſehen, könnte dieſe Stelle als ein Wider-

ſpruch gegen die ganze Lehre von dem Erſatz für verſäumte

Früchte aufgefaßt werden. Wenn man aber die unzweifel-

hafte techniſche Bedeutung der Worte dare oportere erwägt,

ſo liegt in der angeführten Stelle nichts Anderes, als die

ſo eben gerechtfertigte Verneinung einer ſelbſtſtändigen

Condiction. Der Verfaſſer der Stelle will alſo nur

ſagen, daß für verſäumte Früchte niemals mit einer Con-

diction Erſatz gefordert werden könne; er widerſpricht aber

damit nicht der Forderung dieſes Erſatzes überhaupt, indem

ja die Vindication der Hauptſache dieſen Erſatz mit um-

faſſen kann (q).

 

Man darf auch nicht glauben, daß dieſe Unter-

ſcheidung ein blos theoretiſches Intereſſe habe, und practiſch

 

(o) S. o. B. 5. S. 524. b.

(p) L. 78 de rei vind. (6. 1).

(q) Dieſe richtige Erklärung der

Stelle findet ſich bei Heimbach,

Lehre von der Frucht, S. 94. 95.

|0138 : 120|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

werthlos ſey. Denn wenn der unredliche Beſitzer den

Beſitz der Hauptſache ohne ſeinen Dolus verliert, ſo kann

gegen ihn eine Vindication überhaupt nicht mehr angeſtellt

werden, ſo daß auch eine Rachforderung der etwa früherhin

verſäumten Früchte nicht mehr möglich iſt. Wäre dagegen

für dieſe eine ſelbſtſtändige Condiction zuläſſig, ſo würde

dieſelbe auch jetzt noch angeſtellt werden können.

Eine eigenthümliche Beſtimmung über die ſ. g. fructus

percipiendi enthält das Preußiſche A. L. R. Es ver-

pflichtet nicht, ſo wie das R. R., jeden Beklagten, die

Früchte zu erſetzen, welche zu gewinnen er während der

Dauer des Rechtsſtreits etwa verſäumt haben möchte,

ſondern nur Den, welcher es weiß, daß die Sache, die er

als ſeine eigene beſitzt, einem Anderen zugehöre, alſo den

wahren, eigentlichen malae fidei possessor (r). — Dieſe

Abweichung kann ich nicht billigen. Jedem Beklagten, auch

wenn er noch ſo feſt von ſeinem Recht überzeugt iſt, kann

man ohne Unbilligkeit zumuthen, daß er die Möglichkeit

bedenke, den Prozeß zu verlieren, und für dieſen möglichen

Fall ſich als den Verwalter eines fremden Gutes anſehe,

 

(r) A. L. R. Th. 1 Tit. 7 § 229.

Auf den erſten Blick könnte man

glauben, es ſey hier nur derſelbe

unredliche Beſitzer gemeint wie in

§ 222, d. h. eben der Beklagte über-

haupt. Daß aber in der That ein

Unterſchied, ein Gegenſatz gemeint

iſt, zeigt erſtlich der verſchiedene

Ausdruck beider §§, zweitens die

Vergleichung der § 223—228 mit

§ 229, welcher letzte offenbar etwas

Neues ſagen will, drittens die Be-

merkungen von Suarez bei Si-

mon Zeitſchrift B. 3 S. 330 N. 2,

S. 172. Vgl. auch ebendaſ. S. 633

und oben § 264.

|0139 : 121|

§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.

dem eine beſondere Sorgfalt obliegt. Wenn er alſo in

dieſer Lage aus Trägheit unterläßt, den ſtreitigen Acker zu

beſtellen, oder die Früchte einzuſammeln, ſo trifft ihn, bei

der Verurtheilung in der Hauptſache, auch die Entſchädigung

für dieſe verſäumten Früchte mit allem Recht. Ich glaube,

daß dieſe unrichtige Beſtimmung lediglich aus dem falſchen

Standpunkte hervorgegangen iſt, welcher überhaupt im

A. L. R. bei der Feſtſtellung der eigenthümlichen Prozeß-

verpflichtungen gewählt worden iſt (§ 264). Man wollte

Alles auf das unredliche Bewußtſeyn des Beſitzers zurück

führen, und glaubte nun, in dieſem ſtets verſchiedene

Grade unterſcheiden, und mit verſchiedenen Wirkungen

verſehen zu müſſen.

§. 268.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —

a) Erweiterungen. (Fortſetzung. Prozeßzinſen.)

Unter den Erweiterungen, von deren Erſatz in Folge

der L. C. bisher die Rede geweſen iſt, befindet ſich eine,

deren Behandlung vorzugsweiſe zweifelhaft und beſtritten,

und zugleich practiſch ſehr wichtig iſt; dieſes ſind die

Prozeßzinſen. Zu einer erſchöpfenden Behandlung der-

ſelben iſt es unumgänglich nöthig, eine zuſammenhängende

Überſicht des Zinſenſyſtems überhaupt vorauszuſchicken.

Ohne eine ſolche Überſicht iſt es nicht möglich, eine falſche

Auffaſſung und Benutzung mancher der wichtigſten Quellen-

zeugniſſe mit Sicherheit abzuwehren.

 

|0140 : 122|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Dem allgemeinen Begriff der Zinſen liegt zum Grunde

die Unterſcheidung eines zweifachen im täglichen Verkehr

vorkommenden Werthes: des Sachwerthes (Eigenthums-

werthes) und des Gebrauchswerthes. Die Rechts-

geſchäfte, worin beide vorzüglich zur Anſchauung kommen,

ſind der Kauf und der Miethsvertrag. Da der Gebrauchs-

werth auf einer fortgeſetzten Thätigkeit der gebrauchenden

Perſon im Verhältniß zur Sache beruht, ſo hat er über-

haupt nur Bedeutung, in ſofern ein durch dieſe Thätigkeit

erfüllter Zeitraum hinzugedacht wird.

 

Für den Gebrauchswerth wie für den Sachwerth, iſt

ein Erſatz oder eine Vergütung möglich in der verſchiedenſten

und willkührlichſten Weiſe: durch eine Geldſumme, durch

Arbeit, durch den gegenſeitigen Gebrauch anderer Sachen

u. ſ. w. Für die meiſten Fälle ſolcher Art iſt weder die

Möglichkeit noch das Bedürfniß einer gemeinſamen Be-

handlung und Regulirung vorhanden; ein ſolches Bedürfniß

findet ſich nur bei einer Art von Sachen, deren eigenthüm-

liche Natur hier zunächſt zu beſtimmen iſt.

 

Es ſind dies diejenigen Sachen, deren Werth nach der

im Verkehr vorherrſchenden Anſicht nicht auf ihrer Indivi-

dualität, ſondern lediglich auf Zahl, Maaß oder Gewicht

innerhalb einer gewiſſen Gattung beruht, ſo daß bei gleichem

Umfange verſchiedene Individuen derſelben Gattung völlig

gleichgeltend ſind. Die Römer bezeichnen dieſe Eigenthüm-

lichkeit durch den Ausdruck: res quae pondere, numero,

mensura continentur (consistunt), welcher genau richtige

 

|0141 : 123|

§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.

Ausdruck durch ſeine Weitläufigkeit zum gewöhnlichen

Gebrauch unbequem iſt. Die neueren Schriftſteller nennen

ſie ſeit Jahrhunderten mit einem barbariſch gebildeten Aus-

druck res fungibiles (a). Ich werde dafür den Ausdruck:

Quantitäten gebrauchen, der die entſchiedene Autorität

der Römiſchen Juriſten für ſich hat. Denn obgleich in

vielen, ja den meiſten, Stellen der Ausdruck quantitas ſo

viel bedeutet als: Größe oder Umfang, alſo eine allgemeine

Eigenſchaft die den verſchiedenſten Sachen zukommt, ſo

wird er doch auch in mehreren unzweifelhaften Stellen geradezu

gebraucht um die hier erwähnte beſondere Art von Sachen

zu bezeichnen, alſo Sachen die nach Zahl, Maaß oder

Gewicht einer beſtimmten Gattung, nicht nach ihrer Indi-

vidualität, als Gegenſtände von Rechtsverhältniſſen be-

handelt zu werden pflegen. Eine Sache ſolcher Art heißt

quantitas, im Gegenſatz von corpus oder species, d. h. einer

Sache, die den individuellen Gegenſtand eines Rechts-

geſchäfts bildet (b).

(a) Die Veranlaſſung zu dieſem

Ausdruck liegt in L. 2 § 1 de reb.

cred. (12. 1) „quia in genere

suo functionem recipiunt per

solutionem.“ Es ſcheint, daß

der Ausdruck res fungibiles ein-

geführt worden iſt von Zasius in

§ 30 J. de actionibus N. 17. 18,

wenigſtens thut er ſich etwas darauf

zu gut, die anderen Schriftſteller zu-

recht zu weiſen, die dafür quanti-

tas ſagen „sed male et barbare:

sola enim pecunia quantitas

dicitur, quia per eam quanta

quaeque res sit aestimatur.“

(b) L. 34 § 3—6 de leg. 1. (30),

L. 15 § 4 de usufr. (7. 1), L. 94

§ 1 de solut. (46. 3). Allerdings

iſt in dieſen Stellen zunächſt von

Geldſummen die Rede, die ohnehin

die häufigſte und wichtigſte quan-

titas bilden. Allein in der erſten

Stelle wird damit auch alles Übrige

quod pondere, numero, men-

|0142 : 124|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

An Quantitäten nun kann der Gebrauchswerth, eben

ſo wie an allen anderen Sachen, auf die verſchiedenſte

Weiſe beſtimmt werden; es kann dies u. a. aber in Quoten

gleichartiger Sachen geſchehen, und dieſe Behandlung iſt

für den Verkehr ſo wichtig und bequem, daß dafür zu

allen Zeiten beſondere Beſtimmungen nöthig gefunden

worden ſind. Hierauf bezieht ſich das Rechtsinſtitut der

Zinſen (usura auch usurae).

 

Zins heißt ein beſtimmtes Maaß einer Quantität,

welches als Erſatz oder Vergütung dient für den Gebrauch

einer gleichartigen Quantität, welche das Kapital genannt

wird. Das Zinſenverhältniß iſt an ſich anwendbar auf

Quantitäten aller Art, alſo auf Getreide, Wein, Oel, und

u. a. auch auf Geld. Dieſe letzte Anwendung iſt aber ſo

ſehr die wichtigſte und häufigſte, daß man gewöhnlich an

ſie allein denkt, wenn von Verzinſung überhaupt die Rede

iſt. — Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß Zinſen im

juriſtiſchen Sinn als Früchte des Kapitals betrachtet

werden (c). Dies iſt jedoch nicht ſo zu verſtehen, als ob

 

sura continetur, zuſammengeſtellt,

und der Gegenſatz von corpus und

species paßt auf alles Dieſes

gleichmäßig. Daher iſt der Tadel

des Zaſius gegen dieſe Benennung

(Note a) ungegründet. — Die von

Mehreren neuerlich verſuchte Be-

nennung: vertretbare Sachen

iſt ohne hinzugefügte Erklärung

kaum verſtändlich, da auch alle

andere Sachen einer Vertretung

(durch Geldentſchädigung) empfäng-

lich ſind. — Die Eigenſchaften der

Quantitäten und der ver-

brauchbaren Sachen ſind an

ſich ſelbſt ganz verſchieden, obgleich

ſie in der Anwendung meiſt an

denſelben Sachen zuſammentreffen.

(c) L. 34 de usuris (22. 1),

L. 121 de V. S. (50. 16), L. 62

pr. de rei vind. (6. 1). Vgl. oben

§ 265. a. b.

|0143 : 125|

§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.

hierin das baare Geld (die Zinſen) eine Frucht des baaren

Geldes (des Kapitals) wäre; vielmehr wird die Zinſen-

forderung als eine aus der Kapitalforderung ent-

ſprungene Frucht betrachtet.

Die wichtigſte Frage iſt nun die, auf welchen Wegen

überhaupt eine Zinſenforderung entſtehen kann. Es giebt

dafür im Allgemeinen zwei Entſtehungsgründe:

 

I. Der Wille des Schuldners, welcher faſt immer in

der Form eines Vertrages erſcheint, und II. eine

allgemeine Rechtsregel.

I. Vertrag als Entſtehungsgrund einer Zinſenfor-

derung. Ein ſolcher konnte bei den Römern vorkommen,

ſowohl in der Form einer Stipulation, als in der eines

bloßen Pactum.

 

A. Die Stipulation von Zinſen war überall an-

wendbar, und konnte ſtets eine Klage bewirken. Sie konnte

geſchloſſen werden ohne Unterſchied, ob die Kapitalſchuld

ſelbſt aus einer Stipulation mit oder ohne Darlehn, aus

einem bloßen Darlehn ohne Stipulation, oder aus irgend

einer anderen obligatoriſchen Handlung entſprungen war.

 

Bei den Römern war der wichtigſte und häufigſte Fall

der, in welchem beide Obligationen, des Kapitals und der

Zinſen, durch Stipulation begründet und zwar auf Geld

gerichtet wurden. Ob dieſes, der wörtlichen Faſſung nach,

in zwei abgeſonderten Verträgen geſchah (alſo mit einem

doppelten spondes? spondeo), oder aber in einem zuſammen-

gefaßten einfachen Vertrag, an deſſen Schluß jene Frage

 

|0144 : 126|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

und Antwort ausgeſprochen wurde, dieſes war für den

Erfolg gleichgültig. Denn auch in dem letzten Fall waren

in der That ebenſo wie in dem erſten, zwei verſchiedene,

und zwar ſogar ungleichartige Stipulationen geſchloſſen:

eine certa auf das Kapital, und eine incerta auf die

Zinſen (d). Die Kapitalsſtipulation war nothwendig certa,

weil die Summe des Kapitals völlig gewiß und überſehbar

war; die Zinſenſtipulation nothwendig incerta, weil ſich

nicht vorherſehen ließ, wie viele Zinspoſten fällig werden

würden, und wie hoch daher die einzuklagende Zinſenſumme

im Ganzen ſeyn werde. Waren es aber zwei verſchieden-

artige Stipulationen, ſo mußten hierauf nothwendig auch

zwei verſchiedene Klagen gegründet werden, eine certi und

eine incerti condictio (beide bekanntlich von ganz verſchie-

dener Natur), indem ſtets der Stipulation die Klage

genau entſprechen mußte, und hierin eine Willkühr des

Klägers durchaus nicht zuläßig war (e).

Ganz eben ſo verhielt es ſich, wenn neben einem bloßen

Darlehn (ohne Stipulation) Zinſen ſtipulirt waren. Auch

hier mußten nothwendig zwei verſchiedene Klagen angeſtellt

werden, eine certi und eine incerti condictio.

 

(d) L. 75 § 9 de verb. obl.

(45. 1) „qui sortem stipulatur,

et usuras quascunque, certum

et incertum stipulatus videtur:

et tot stipulationes sunt, quot

res sunt“ (alſo hier zwei. Dieſe

letzten Worte verweiſen auf eine

allgemeine ſprüchwörtliche Rechts-

regel; vgl. L. 86 eod.). — L. 8

de eo quod certo loco (13. 4)

„ibi enim duae stipulationes

sunt“ (es war von Kapital und

Zinſen die Rede).

(e) Gajus IV. § 53. „sicut

ipsa stipulatio concepta est,

ita et intentio formulae con-

cipi debet.“

|0145 : 127|

§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.

B. Ein Pactum auf Zinſenzahlung hatte eine ver-

ſchiedene Wirkung je nach der verſchiedenen Natur der

Hauptſchuld. Es konnte nämlich vorkommen, a) neben

einem b. f. contractus, b) neben einer Stipulation,

c) neben einem Darlehn.

 

a) Das Pactum auf Zinſen neben einem b. f. contractus

war nach allgemeinen Grundſätzen klagbar, jedoch nicht

mit einer ſelbſtſtändigen Klage, ſondern nur in Verbindung

mit der aus dem Contract entſpringenden Hauptklage (f).

Dieſes auf bekannten allgemeinen Rechtsregeln beruhende

Rechtsverhältniß wird namentlich anerkannt bei dem Kauf,

der Miethe, dem Mandat, dem Depoſitum (g).

 

b) Auch wenn neben einer Stipulation auf das Kapital

ein bloßes Pactum auf Zinſen gleichzeitig geſchloſſen war,

ſo ſollte dennoch auf die Zinſen wie aus einer Stipulation

(alſo mit einer incerti condictio) geklagt werden können.

Dieſer Rechtsſatz war der alten ſtrengen Natur der Stipu-

lation fremd, und wurde erſt durch die neue freiere Be-

handlung des Vertrages vermittelt. Auch wird ausdrücklich

bemerkt, daß dieſer Satz erſt allmälig und nicht ohne

Widerſpruch anerkannt worden ſey (h). Es lag dabei

 

(f) L. 4 C. depos. (4. 34) „non

duae sunt actiones, alia sortis

alia usurarum sed una.“ Hier

gilt alſo gerade die entgegengeſetzte

Regel von der für die ſtipulirten

Zinſen ſo eben bemerkten.

(g) L. 5 C. de pact. int. emt.

(4. 54), L. 17 § 4 de usuris

(22. 1), L. 24 pr. in f. mandati

(17. 1), L. 24 L. 26 § 1 depos.

(16. 3).

(h) L. 40 de reb. cred. (12. 1).

Über dieſe, durch ihre Schwierig-

keit berühmte, Stelle (L. Lecta)

vgl. Glück B. 4 S. 268—276,

Schulting notae III. 31. Auf

|0146 : 128|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

folgender Gedanke zum Grunde. Wenn die Parteien die

Vorſicht gebraucht hätten, zuerſt den ganzen Inhalt ihrer

Verabredung (wegen Kapital und Zinſen) auszuſprechen

und dann am Schluß die allgemeine Formel hinzuzufügen:

ea omnia dare spondes? spondeo, ſo würde unſtreitig die

Stipulation alle Theile des Verſprechens, auch die Zinſen,

umfaßt haben. Daß ſie nun hierin ungenau verfuhren

und die rechte Form verſäumten, ſollte ihnen, wie ſo

mancher andere Verſtoß gegen die ſtrenge alte Form, nicht

ſchaden. Es wurde alſo gewiſſermaaßen fingirt, es ſey die

in der Mitte der ganzen Handlung ausgeſprochene Stipu-

lationsformel am Schluß der Handlung wiederholt worden. —

Dieſe freiere Behandlung der Stipulation war ganz gleich-

artig mit derjenigen, nach welcher ſchon zur Zeit der alten

Juriſten in einer fremden Sprache, in verſchiedenen

Sprachen, und mit nicht buchſtäblicher Gleichförmigkeit,

gefragt und geantwortet werden durfte, ohne die Wirk-

ſamkeit der Stipulation zu ſchwächen.

c) Endlich das Pactum auf Zinſen neben dem bloßen

Darlehn führt am meiſten Verwicklungen mit ſich, und

hat Gelegenheit zur irrigen Auffaſſung mehrerer ſchwierigen

 

eine vollſtändige Erklärung der-

ſelben kann es hier nicht an-

kommen; der hierher gehörende

Theil, den ich für nicht zweifelhaft

halte, iſt in folgenden Worten ent-

halten: „pacta incontinenti fa-

cta stipulationi inesse credun-

tur … Pactum autem, quod

subjectum est, quidam dicebant

.. tantum ad exceptionem prod-

esse … et si, ut ille putabat,

ad exceptionem tantum prod-

esset pactum, quamvis senten-

tia diversa obtinuerit“ rel.

|0147 : 129|

§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.

Stellen des R. R. gegeben, weshalb hierbei eine beſonders

genaue Behandlung nöthig iſt.

Vergleichen wir zuerſt das Darlehn mit der ſo eben

abgehandelten Stipulation, ſo finden wir die Regel aus-

geſprochen, daß dem Darlehn alles Dasjenige rechtsgültig

hinzugefügt werden könne, welches in einer Stipulation

zuläſſig ſey:

„Omnia quae inseri stipulationibus possunt, eadem

possunt etiam numerationi pecuniae: et ideo et

conditiones“(i).

 

Da nun ſo eben gezeigt worden iſt, daß das Pactum

auf Zinſen neben der Stipulation als Grund einer Klage

ſpäterhin zugelaſſen wurde, ſo würde die Conſequenz dahin

geführt haben, dieſelbe Wirkung auch neben dem Darlehn

zuzulaſſen, ohne daß deſſen ſtrenge Contractsnatur (die ja

nicht ſtrenger war, als die der Stipulation) ein Hinderniß

hätte darbieten können. Ich ſage, ſo hätte es conſequenter

Weiſe ſeyn müſſen ſowohl bei dem Darlehn in Geld, als

bei dem in anderen Quantitäten. Auch wurde dieſe Con-

ſequenz in der That durchgeführt und anerkannt in dieſem

zweiten Fall des Darlehns (an Getreide u. ſ. w.), wie

ſogleich gezeigt werden wird. Bei dem Gelddarlehn da-

gegen war es anders, dieſe Verſchiedenheit hatte aber ihren

Grund nicht in der Natur des Contracts, ſondern vielmehr

in der ganz eigenthümlichen Natur der dieſem Contract

ausſchließend angewieſenen Klage.

 

(i) L. 7 de reb. cred. (12. 1).

VI. 9

|0148 : 130|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Die einzig mögliche Klage nämlich aus einem Gelddar-

lehn war die certi condictio, worin die Intentio nothwen-

dig eine beſtimmte Geldſumme ausſprechen und die Con-

demnatio mit dieſer Summe übereinſtimmen mußte. Nun

hatte der Juder keine andere Wahl, als entweder freizu-

ſprechen, oder auf die ausgedrückte Summe zu verurtheilen.

Hätte er dieſe Summe durch die verſprochenen Zinſen in

dem Urtheil erhöht, ſo würde er das Ganze aus eigenem

Vermögen haben erſetzen müſſen (k).

 

Hierin allein liegt der Grund der in ſo vielen Stellen

ausgeſprochenen Regel, daß bei einem Gelddarlehn auf

Zinſen niemals geklagt werden könne, wenn nicht dieſe Zinſen

in einer Stipulation verſprochen worden ſeyen (l). Lag

aber der Grund hierin, alſo in der Klagformel, und nicht

in der Natur des Contracts, ſo war es ganz inconſequent,

im Juſtinianiſchen Recht (in welchem die Klagformeln gänz-

 

(k) Gajus IV. § 52 „alioquin

litem suam facit.“

(l) L. 24 pr. de praescr. verb.

(19. 5), L. 10 § 4 mand. (17. 1),

L. 11 § 1 de reb. cred. (12. 1),

L. 3. 7 C. de usur. (4. 32). Paul.

II. 14 § 1. — Der Unterſchied von

dem vorhergehenden Fall, wo das

Pactum der Stipulation angehängt

war, lag darin, daß hier der bloße

Formfehler durch milde Auslegung

verbeſſert wurde, indem man es ſo

anſah, als wäre die Stipulations-

formel erſt am Ende des ganzen

Akts ausgeſprochen worden. Neben

dem Darlehn war dieſe Behand-

lung unmöglich, da bei den Zinſen

die Fiction eines Darlehns keinen

Sinn gehabt hätte, ohne dieſelbe

aber die Klage aus dem Pactum

ohne allen Entſtehungsgrund ge-

weſen wäre. — Man darf übri-

gens die aufgeſtellte Regel nicht

ſo verſtehen, als ob ein ſolches

Pactum ganz wirkungslos geweſen

wäre; es ſollte nur keine Klage

begründen, eine naturalis obli-

gatio entſprang daraus allerdings.

L. 5 § 2 de sol. (46. 3), L. 3. 4.

22 C. de usur. (4. 32). Auch

zweifelte hieran ſelbſt die ſtrengſte

Partei der Juriſten nicht (Note h).

|0149 : 131|

§. 268. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen.

lich verſchwunden ſind) dieſe Regel dennoch beizubehalten;

ſie hätte ſchon hier gänzlich aufgegeben werden müſſen (m).

Daß dieſe Auffaſſung richtig iſt, geht unwiderſprechlich

hervor aus der Art, wie das R. R. das Darlehn an Ge-

treide und anderen Quantitäten, wenn dabei Zinſen durch

bloßes Pactum verſprochen waren, unzweifelhaft behandelt,

obgleich dieſes Darlehn ein völlig eben ſo ſtrenger Con-

tract war und durchaus keine andere Contractsnatur hatte,

als das Gelddarlehn. Hierüber ſind folgende Stellen

ganz entſcheidend.

 

1. „Frumenti vel hordei mutuo dati accessio ex nudo

pacto praestanda est“ (n).

Hier iſt ausdrücklich anerkannt, daß bei einem Dar-

lehn von Getreide, Zinſen aus einem bloßen Pactum

eingeklagt werden konnten, nur iſt die Klage nicht

genannt.

2. „Oleo quidem vel quibuscunque fructibus mutuo

datis, incerti pretii ratio, additamentum usurarum

ejusdem materiae suasit admitti“ (o).

Dieſe Stelle iſt zu allen Zeiten Gegenſtand großer

 

(m) Zweifelhaft iſt die Behand-

lung des nauticum foenus, wobei

die Klage nicht angegeben wird

(L. 5 § 1, L. 7 de naut. foen.

22. 2). Vielleicht wurde dabei ſtets

eine Stipulation angewendet; es

ließ ſich aber auch ohne Stipula-

tion eine Klage nach den Grund-

ſätzen der Innominatcontracte wohl

denken. Denn die Form des Dar-

lehns war dabei nur ein äußerer

Schein, in der That war es das

Geben einer Summe auf die Ge-

fahr des Verluſtes, mit dem gegen-

ſeitigen Verſprechen einer höheren

Summe für den Fall wenn der

Verluſt nicht eintrat, alſo ein Ge-

ſchäft nach der Form do ut des.

(n) L. 12 C. de usur. (4. 32).

(o) L. 23 C. de usur. (4. 32).

9*

|0150 : 132|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Zweifel und Misverſtändniſſe geweſen. Vor Allem iſt

darin nicht geſagt, von welcherlei Zinſen die Rede iſt.

Man könnte dabei denken an Verzugszinſen oder Prozeß-

zinſen, welches jedoch ſchlechthin verworfen werden muß,

da dieſe, wie unten gezeigt werden wird, nur bei baarem

Gelde vorkommen können. Eben ſo wenig iſt an ſtipulirte

Zinſen zu denken, da bei dieſen die Klagbarkeit ohnehin

keinen Zweifel haben konnte, welches zu dem Ausdruck der

Stelle nicht paßt. Es bleibt alſo nur der einzige Fall an-

zunehmen übrig, wenn die Zinſen durch bloßes Pactum

verſprochen waren, alſo genau derſelbe Fall wie in der

vorhergehenden Stelle, nur hier mit dem wichtigen Zuſatz,

daß die Klagbarkeit ſolcher Zinſen nicht auf der ſtrengen

Rechtsregel, ſondern auf einer neueren Zulaſſung aus

Billigkeit beruhe („suasit admitti“). — Einer beſonderen

Erklärung bedürfen aber noch die Worte incerti pretio

ratio. Dieſe drücken geradezu den oben aufgeſtellten Ge-

genſatz eines ſolchen Darlehns gegen das Gelddarlehn aus.

Anſtatt daß bei dem Gelddarlehn die certi condictio jede

Ausdehnung des Urtheils auf Zinſen unmöglich machte,

war hier in der Klage eine incerta Condemnatio enthalten

(quanti ea res est), deren unbeſtimmter Ausdruck dem

Juder die prozeſſualiſche Freiheit gewährte, auch die Zinſen

mit in das Urtheil aufzunehmen, während die materielle

Zuläſſigkeit der Zinſen aus den oben angegebenen Gründen

ohnehin anerkannt werden mußte (p).

(p) Ich muß daher folgende neuerlich verſuchte Erklärungen der

|0151 : 133|

§. 269. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

§. 269.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —

a) Erweiterungen. (Prozeßzinſen. Fortſetzung).

Unter den zwei möglichen Entſtehungsgründen einer

Zinſenforderung (§ 268) iſt die erſte (der Vertrag) bisher

abgehandelt worden; es bleibt noch übrig, auch die zweite

darzuſtellen.

 

II. Allgemeine Rechtsregel als Entſtehungsgrund

einer Zinſenforderung.

 

Dieſe Rechtsregel beruht auf folgender, in der Erfah-

rung begründeten, Betrachtung. Bei entwickeltem Verkehr

iſt die zinsbare Benutzung des baaren Geldes in ſolchem

Grade üblich und verbreitet, daß man als durchſchnittliche

Regel ohne Bedenken annehmen darf, es könne jede große

oder kleine Geldſumme in jedem beliebigen Zeitraum zins-

bar benutzt werden. Die Richtigkeit dieſer Annahme wird

beſonders anſchaulich, wenn man dabei an das Daſeyn

von öffentlichen Banken oder Sparkaſſen denkt, oder auch

an das Verhältniß laufender Rechnung, in welches irgend

 

Stelle verwerfen. Die incerti

pretii ratio ſoll nach Einigen den

ſchwankenden Preis des Getreides

bedeuten; es iſt aber durchaus kein

Grund denkbar, warum bei ganz

unwandelbaren Preiſen nicht auch

Zinſen zuläſſig ſeyn ſollten. —

Von Anderen wird alles Gewicht

auf die Worte ejusdem materiae

gelegt, ſo daß die Stelle eigentlich

die Abſicht habe, ein Zinsverſprechen

in anderen Stoffen zu unterſagen.

Allein dieſe Worte ſind daraus zu

erklären, daß auf ein Verſprechen

anderer Stoffe der Begriff und

Name der Zinſen überhaupt nicht

paßt; ein Verbot ſollte darin nicht

enthalten ſeyn. — Nach der hier

gegebenen Erklärung der Stelle iſt

nun auch die Behauptung zu be-

richtigen, welche auf eine irrige

Auffaſſung derſelben oben (B. 5

S. 465) gegründet worden war.

|0152 : 134|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Jemand zn einem Banquier eintritt, wobei jede eingezahlte

oder erhobene Summe von dem Tage der Zahlung an

zinsbar berechnet wird. Es darf dabei nur nicht der Vor-

ſtellung Raum gegeben werden, als ob das Darlehn

gerade die einzige Form zinsbarer Benutzung des Geldes

wäre. Auch würde es unrichtig ſeyn, die aufgeſtellte An-

nahme nur für unſeren heutigen ſehr entwickelten Geld-

verkehr zuzulaſſen, für die Römiſchen Zuſtände aber zu

verneinen. Gerade die Römiſchen Juriſten gehen ent-

ſchieden von der hier aufgeſtellten Vorausſetzung aus, wie

ſogleich gezeigt werden wird. Auch diente bei ihnen das

Inſtitut der Argentarien zu einer beſonders leichten Ver-

mittelung des Zinsgeſchäftes (a).

Die hier aufgeſtellte Anſicht führt zu folgender Be-

handlung der Rechtsverhältniſſe. Wenn der Gebrauch

irgend einer Sache eine Zeit hindurch bei Demjenigen ſich

findet, dem er nicht gebührt, alſo einem Anderen mit Un-

recht entzogen wird, und zugleich ein Rechtsgrund vor-

handen iſt, für dieſes Unrecht Vergütung zu fordern, ſo

kommt es in jedem einzelnen Fall darauf an zu beweiſen,

wie hoch ſich das Intereſſe dieſes erlittenen Unrechts belaufe,

worüber aber eine durchgreifende Regel durchaus nicht auf-

geſtellt werden kann.

 

(a) Eine merkwürdige Aner-

kennung der hier behaupteten all-

gemeinen Sitte und Erfahrung,

auch in Beziehung auf die Zu-

ſtände des Alterthums, findet ſich

an einem Orte, wo man es kaum

erwarten ſollte, in dem Gleichniß

von dem faulen Knechte, Mat-

thäus 25, 27 und Lucas 19, 23.

|0153 : 135|

§. 269. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Hierin tritt nun für Denjenigen, der eine ſolche Ver-

gütung fordert, eine große Erleichterung ein, wenn der

Gegenſtand des mit Unrecht entbehrten Gebrauchs in

baarem Gelde beſteht. Ein beſonderer Beweis für den

Betrag des erlittenen Schadens wird dadurch entbehrlich,

daß der Kläger die landüblichen Zinſen des entbehrten

Geldes fordern kann. Allerdings kann in einzelnen Fällen

auch wohl eine höhere Entſchädigung gefordert werden,

dazu aber bedarf es jedesmal einer ſpeciellen geſetzlichen

Vorſchrift, oder auch eines beſonderen Beweiſes. Für die

landüblichen Zinſen dagegen bedarf es eines beſonderen

Beweiſes nicht, indem derſelbe durch den oben aufgeſtellten

durchgreifenden Erfahrungsſatz entbehrlich gemacht wird.

 

Dieſe practiſch höchſt wichtige Regel findet u. a., und

vorzüglich, Anwendung auf die Verzugszinſen, indem

als Erſatz für die Mora bei einer Geldſchuld, ohne weite-

ren Beweis des erlittenen Schadens, landübliche Zinſen

gefordert werden können (b). Es iſt aber ganz unrichtig

dieſen Fall, wie es gewöhnlich geſchieht, als eine ganz be-

ſondere Klaſſe von Zinſen anzuſehen, und davon andere

Klaſſen unter verſchiedenen Namen ſtrenge zu unterſcheiden (c).

 

(b) L. 32 § 2 de usuris (22. 1).

(c) So z. B. werden mitunter

folgende Klaſſen von Zinſen auf-

geſtellt: usurae exmora, legales,

punitoriae (Schilling Inſtitu-

tionen III. 108). — Es ſoll durch

dieſe Bemerkung keinesweges in

Zweifel gezogen werden, daß für

manche einzelne Rechtsverhältniſſe

poſitive Beſtimmungen, z. B. wegen

ungewöhnlich hoher Zinſen, beſte-

hen; namentlich in den Fällen,

worin der Verwalter eines frem-

den Vermögens das verwaltete

Geld unredlich in eignen Nutzen

verwendet. L. 38 de neg. gest.

|0154 : 136|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap IV. Verletzung.

Vielmehr liegt in den Verzugszinſen nur der häufigſte

Fall der Anwendung, während ganz daſſelbe Princip auch

ohne Mora bei vielen Rechtsverhältniſſen zur Anwendung

kommt. So ſoll insbeſondere Jeder, der fremde Geſchäfte

verwaltet, und dafür aus eigenem Vermögen Auslagen

macht, landübliche Zinſen des ausgelegten Geldes fordern

können, auch wenn ſeinem Gegner eine Mora nicht zur

Laſt fällt (d).

Es iſt ferner unrichtig, wenn Manche die Verzugs-

zinſen als ein beſonderes Privilegium derjenigen Verträge

und Klagen anſehen, die den beſonderen Namen bonae

fidei actiones führen. Vielmehr beruhen ſie auf einer

durchgreifenden Regel für alle Obligationen überhaupt,

deren Anwendung nur bei den Condictionen (den ſtrengen

Klagen) durch die beſondere Natur dieſer Klagen gehindert

wird. Daher galten die Verzugszinſen ohne Zweifel von

jeher auch bei allen denjenigen freien Klagen, welche nicht

den Namen bonae fidei actiones führten, alſo insbeſondere bei

den prätoriſchen Klagen und den extraordinariae actiones (e).

 

(3. 5); eben ſo die usurae rei

judicatae nach Juſtinians

neuen Vorſchriften. Nur iſt der

Entſtehungsgrund der Zinſenfor-

derung in dieſen einzelnen Fällen

nicht ſpecifiſch verſchieden, anſtatt

daß die Vertragszinſen von den aus

einer allgemeinen Rechtsregel ent-

ſtehenden durchaus verſchieden ſind.

(d) So z. B. bei dem Mandat,

der negotiorum gestio, der So-

cietät und Tutel. L. 12 § 9 mand.

(17. 1), L. 19 § 4 de neg. gest.

(3. 5). Wenn in dieſen Fällen

der Geſchäftsführer beweiſen kann,

daß er zu ungewöhnlich hohen

Zinſen Geld anfnehmen mußte um

die Auslage zu machen, ſo kann

er auch dafür Erſatz fordern. Das

liegt wieder außer den Grenzen

unſrer allgemeinen Präſumtion.

(e) So gelten Verzugszinſen

|0155 : 137|

§. 269. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Es muß aber wohl bemerkt werden, daß die hier auf-

geſtellte Anſicht mit ihren wichtigen Folgen nicht auf

Quantitäten überhaupt, ſondern lediglich auf Geld-

ſchulden Anwendung findet; hierin eben liegt ein ſehr

wichtiger Unterſchied zwiſchen den Vertragszinſen, die auf

Quantitäten aller Art angewendet werden können, und

den aus einer allgemeinen Rechtsregel abgeleiteten Zinſen,

welche nur bei Geldſchulden vorkommen (f).

 

Der Grund dieſes wichtigen Unterſchiedes iſt darin zu

ſuchen, daß die zinsbare Benutzung des Geldes zu jeder Zeit

möglich iſt, anſtatt daß das Zinsgeſchäft bei Getreide und

anderen Quantitäten nur in ſeltenen Fällen und unter ſehr

zufälligen Umſtänden vorzukommen pflegt. Wenn daher der

Gebrauch des Getreides einem Anderen mit Unrecht ver-

weigert wird, ſo ſoll keinesweges dem Beſchädigten ein

Erſatz wegen des erlittenen Unrechts verſagt werden. Nur

muß er die Höhe des Intereſſe beweiſen, und er ſoll nicht

den Vortheil wie bei einer Geldſchuld genießen, dieſen

Beweis durch die Präſumtion zu erſetzen, daß er das Ge-

treide einſtweilen hätte gegen Zinſen ausleihen können.

Denn gerade zu einer ſolchen Präſumtion, welche bei einer

 

bei der Pollicitation, die gewiß

nicht ein bonae fidei contractus

iſt. L. 1 pr. de pollic. (50. 12). —

Ebenſo werden in L. 38 § 8—16

de usur. (22. 1) die bonae fidei

actiones mit den prätoriſchen

Klagen in der Lehre von der Cauſa

ganz auf gleichen Fuß geſtellt. —

Endlich gelten Verzugszinſen auch

bei den Fideicommiſſen, welche

gleichfalls nicht mit einer bonae

fidei actio verbunden waren.

(f) So liegt denn auch hierin

der entſcheidende Beweis dafür,

daß die L. 23 C. de usur. (ſ. o.

§. 268 Note o) durchaus nicht

von Verzugszinſen verſtanden wer-

den darf.

|0156 : 138|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Geldſchuld wohl begründet wäre, iſt bei dem Getreide und

anderen Quantitäten kein Grund vorhanden (g).

§. 270.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —

a) Erweiterungen. (Prozeßzinſen. Fortſetzung).

Die ganze bisher angeſtellte Unterſuchung über das

Zinſenrecht (§ 268. 269) ſollte nur als Grundlage dienen

für denjenigen Theil deſſelben, welcher allein in den Kreis

unſrer gegenwärtigen Aufgabe gehört, nämlich für die

Prozeßzinſen, für welche nur von jenem vollſtändigen Zu-

ſammenhang aus eine befriedigende Einſicht gewonnen

werden kann.

 

Der verurtheilte Beklagte ſoll für die Früchte des

Streitgegenſtandes Erſatz leiſten, welche dem Kläger durch

die Dauer des Rechtsſtreits entzogen worden ſind (§ 265).

Wenn nun der Gegenſtand des Rechtsſtreits in einer Geld-

ſumme beſteht, ſo entſteht die practiſch ſehr wichtige Frage,

ob die Zinſen dieſes Geldes als ſolche zu vergütende

Früchte zu betrachten ſind, ob alſo überhaupt ein Anſpruch

des Klägers auf Prozeßzinſen zu behaupten iſt. Dieſe

Frage iſt im hohen Grade beſtritten, und der Streit darüber

hat ſich bis in die neueſte Zeit fortgeſetzt.

 

(g) Man könnte die Sache ſo

denken, als ob nicht eben Getreide-

zinſen für das entbehrte Getreide,

wohl aber Geldzinſen für den Kauf-

preis des Getreides gefordert werden

könnten. Allein dieſe Anſicht würde

wiederum nicht den Quantitäten

eigenthümlich ſeyn, ſondern auch

auf alle andere Sachen angewendet

werden können, und ſie iſt im All-

gemeinen durchaus zu verwerfen,

wie unten gezeigt werden wird.

|0157 : 139|

§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Bevor eine Antwort auf dieſe Frage verſucht werden

kann, iſt für den Fall, daß in der That Prozeßzinſen an-

zunehmen ſeyn möchten (alſo hypothetiſch), das Verhältniß

derſelben zu den Verzugszinſen feſtzuſtellen. Wenn nämlich

vor dem Anfang eines Rechtsſtreits ein Anſpruch auf Ver-

zugszinſen entſtanden iſt, ſo gehen dieſe während des

ganzen Rechtsſtreits fort, und es kann daneben von Prozeß-

zinſen nicht die Rede ſeyn, indem dieſe von den früher

entſtandenen Verzugszinſen abſorbirt werden. Daher kann

von Prozeßzinſen überhaupt nur in ſolchen Fällen die

Frage entſtehen, in welchen entweder eine Mora für die

eingeklagte Geldſchuld (als Bedingung der Verzugszinſen)

gar nicht vorhanden iſt, oder bei vorhandener Mora dennoch

keine Verzugszinſen gefordert werden können.

 

Der letzte Fall trat entſchieden ein bei den ſtrengen

Klagen des R. R. Da hier Verzugszinſen auch bei vor-

handener Mora nicht gefordert werden konnten (§ 269), ſo

war für die Entſtehung von Prozeßzinſen allerdings die

Möglichkeit vorhanden. — Der erſte Fall (der Mangel

der Mora ſelbſt) kann verſchiedene Gründe haben. Er

kann darin gegründet ſeyn, daß die Forderung an ſich

zweifelhaft, oder in ihrem Umfang ungewiß (illiquid) iſt (a).

Ferner darin, daß eine Mahnung an den Schuldner über-

haupt nicht ergangen iſt, oder nicht für einen beſtimmten

Zeitpunkt bewieſen werden kann. Oft iſt auch die Zwiſchen-

 

(a) L. 24 pr., L. 21. 47. 3 pr. de us. (22. 1), L. 42. 63 de R. J.

(50. 17).

|0158 : 140|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

zeit zwiſchen der Mahnung und dem Anfang des Rechts-

ſtreits zu unbedeutend als daß es der Mühe lohnte, den

Beweis der Mahnung zur Begründung früherer Verzugs-

zinſen zu unternehmen. — In allen dieſen Fällen iſt für

den Anſpruch auf Prozeßzinſen hinlänglicher Raum vor-

handen, und die Erfahrung zeigt es auch, daß von ihnen

ſogar noch häufiger als von Verzugszinſen die Rede iſt.

Die Hauptfrage aber iſt die, ob überhaupt Prozeßzinſen

gefordert werden können. Ich habe kein Bedenken, dieſe

Frage zu bejahen, und zwar ſelbſt für das ältere R. R.

ohne Unterſchied der ſtrengen und der freien Klagen. Die

folgende Unterſuchung wird zuerſt das Princip feſtzuſtellen,

dann die Anwendung auf die wichtigſten einzelnen Klagen

zu machen haben.

 

I. Princip der Prozeßzinſen.

Dieſes wird im Allgemeinen anerkannt durch die ſchon

oben angeführte Stelle, welche geradezu ausſpricht, daß Zinſen

die juriſtiſche Natur der Früchte an ſich tragen (b). Der

Text derſelben muß hier vollſtändig angegeben und erklärt

werden:

„Usurae vicem fructuum obtinent, et merito non

debent a fructibus separari. Et ita in legatis et

fideicommissis, et in tutelae actione, et in ceteris

 

 

(b) L. 34 de usur. (22. 1) aus

Ulpian. lib. XV. ad Ed., vgl.

oben § 265. b. Der ſcheinbare Wi-

derſpruch, der aus L. 121 de V. S.

(50. 16) hergenommen werden

könnte, iſt ſchon oben §. 265. a. b.

beſeitigt worden.

|0159 : 141|

§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

judiciis bonae fidei servatur. Hoc idem igitur in

ceteris obventionibus dicemus.“

Daß dieſe wichtige Stelle gerade auf die hier vorlie-

gende Frage wegen der Verpflichtungen des Beklagten im

Prozeß bezogen werden muß, wird unzweifelhaft durch die

Inſcription der Stelle, wodurch dieſelbe in Verbindung

tritt mit einer ſehr ausführlichen Stelle Ulpians, nach

welcher der Beklagte bei der Erbſchaftsklage Früchte und

Zinſen herausgeben muß (c). — Daß in dem zweiten

Satz der angeführten Stelle die b. f. actiones erwähnt

werden, könnte den Gedanken veranlaſſen, als ſollte nach

dem arg. a contrario für die ſtrengen Klagen das Gegen-

theil behauptet werden. Dazu iſt indeſſen kein Grund vor-

handen, vielmehr ſcheint dieſe Erwähnung blos eine

beiläufige Hindeutung auf die bei den b. f. actiones allein

geltenden Verzugszinſen (verſchieden von den Prozeß-

zinſen) zu enthalten. Umgekehrt könnte man in dem

Schlußſatz die ceterae obventiones auf die str. j. actiones

beziehen wollen, für welche dann die Anwendbarkeit der

Prozeßzinſen durch unſre Stelle unmittelbar bewieſen

wäre. Allein auch dieſe Erklärung muß verworfen werden;

obventio heißt das aus einer Sache Aufkommende, und die

ceterae obventiones ſind alſo andere Arten von Nutzungen,

welche eben ſowohl als die Zinſen unter den allgemeinen

Begriff der fructus bezogen werden ſollen.

 

(c) L. 20 de her. pet. (5. 3).

Von dieſer Stelle wird unten bei

der Anwendung auf einzelne Kla-

gen Gebrauch gemacht werden.

|0160 : 142|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Sind nun nach dieſem Zeugniß die Zinſen eine Art von

Früchten, und ſteht es nach anderen, oben angeführten

Stellen, feſt, daß der Beklagte von der L. C. an alle

Früchte erſetzen muß, ohne Unterſchied der freien und

ſtrengen Klagen (d), ſo folgt aus dieſer Combination un-

widerſprechlich, daß der Beklagte von der L. C. an bei

allen Arten von Klagen Zinſen zahlen muß. — Damit

ſind alſo die Prozeßzinſen als ſolche erwieſen, ver-

ſchieden von den Verzugszinſen, indem die L. C. eine

Mora in der That nicht erzeugt (§ 264), aber mit den

Verzugszinſen gleichartig und auf demſelben Boden ruhend,

nämlich eben ſo wie ſie aus der allgemeinen Rechtsregel

entſpringend, nach welcher die Entſchädigung für jede

widerrechtlich entbehrte Geldſumme in der Zahlung land-

üblicher Zinſen für dieſe Summe beſteht (§ 269).

 

Auch noch folgende Stelle iſt häufig als eine Aner-

kennung unſres Princips behandelt worden:

„Lite contestata usurae currunt“(e).

 

Dieſe Stelle läßt jedoch zwei verſchiedene gleich be-

rechtigte Auslegungen zu, und kann wegen dieſer Zweideu-

tigkeit nicht als Beweis benutzt werden. Das currunt

kann nämlich erſtens heißen: currere incipiunt (f); dann

enthält die Stelle in der That den Ausſpruch unſres

 

(d) S. o. § 266 die Noten o bis s.

(e) L. 35 de usur. (22. 1).

(f) Für dieſe Bedeutung ſind

Parallelſtellen L. 40 de reb. cred.

(12. 1), L. 7 § 7 de administr.

(26. 7). Beide Bedeutungen ſind

richtig nachgewieſen von Huber

praelect. in Pand. XXII. 1. § 17.

|0161 : 143|

§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Princips. Es kann aber auch heißen: currere pergunt (g),

d. h. die Zinſen werden durch die L. C. nicht unterbrochen,

nicht gehindert; dann hat die Stelle keine Verbindung mit

unſrem Princip, ſie enthält vielmehr den ganz anderen,

ohnehin unzweifelhaften Satz, daß die in der Klage auf

ein Kapital vollzogene L. C. nicht die Wirkung einer Con-

ſumtion auf die Zinſenforderung ausübt. Beide Erklärungen

ſind an ſich zuläſſig; jedoch erhält die zweite eine größere

Wahrſcheinlichkeit durch folgende Parallelſtelle, welche durch

die Inſcription mit der unſrigen zuſammenhängt:

„Novatione legitime facta liberantur hypothecae et

pignus, usurae non currunt“(h).

Hält man beide Stellen zuſammen, ſo ergeben ſie fol-

genden Sinn. Die wahre Novation (d. h. die Stipulation

außer dem Prozeß) zerſtört unter andern auch den Zinſen-

lauf. Die L. C., obgleich auch ſie in manchen Fällen als

Novation bezeichnet wird, zerſtört den Zinſenlauf nicht (i).

 

Könnte nun nach dieſen allgemeinen Gründen die

Wahrheit des Princips noch irgend zweifelhaft bleiben, ſo

würde doch jeder Zweifel durch die unten folgenden An-

wendungen auf einzelne Klagen gehoben werden, worin das

Princip ſelbſt deutlich anerkannt iſt, und dieſe Anwendungen

 

(g) Parallelſtelle für dieſe Be-

deutung: das non currunt in L.

18 de nov. (46. 2).

(h) L. 18 de nov. (46. 2).

Beide Stellen ſind genommen aus

Paulus lib. LVII. ad Ed.

(i) Dieſe Erklärung findet ſich

bei Madai Mora S. 369—371,

Wächter III. S. 24, wo nur

etwas zu excluſiv die Richtigkeit

derſelben behauptet wird, da die

erſte Erklärung an ſich auch nicht

verwerflich iſt.

|0162 : 144|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

würden die Wahrheit des Princips beweiſen, auch wenn

es in keiner Stelle allgemein ausgeſprochen wäre.

Bevor aber dieſe einzelnen Anwendungen dargeſtellt

werden, müſſen noch an das Princip ſelbſt einige Fol-

gerungen und nähere Beſtimmungen angeknüpft werden.

 

1. Prozeßzinſen können nur gefordert werden wenn der

Rechtsſtreit Geld, nicht wenn er andere Quantitäten,

z. B. Getreide, zum Gegenſtand hat. Alle Gründe, die

für dieſen Satz ſchon oben (§ 269) bei den Verzugszinſen

ausgeführt worden ſind, finden völlig gleiche Anwendung

auch auf die Prozeßzinſen (k).

 

Hier muß aber noch eine beſondere Wendung näher

erwogen werden, wodurch man verſuchen könnte, die größere

Ausdehnung der Prozeßzinſen, nicht blos auf andere

Quantitäten, ſondern ſogar auf alle Sachen überhaupt, zu

retten.

 

Man könnte nämlich nicht ohne einigen Schein folgende

Betrachtung anſtellen. Wenn der Kläger die Sache zur

Zeit der L. C. erhalten hätte, ſo konnte er ſie verkaufen

und aus dem erlöſten Gelde Zinſen ziehen. Da er dieſen

Vortheil entbehrt hat, ſo muß ihm derſelbe durch Zins-

zahlung erſetzt werden. — Allein es kommt hier zunächſt

auf die Stellung und Verpflichtung des Beklagten an.

Wollte man ihm den Erſatz dieſer Zinſen aufbürden, ſo

 

(k) Damit iſt denn auch der

Beweis geführt, daß die L. 23

C. de usur. (§ 268. o) durchaus

nicht von Prozeßzinſen verſtanden

werden darf, eben ſo wenig als

von Verzugszinſen (§ 269. f).

|0163 : 145|

§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

könnte dieſes nur unter der Vorausſetzung geſchehen, daß

man darauf das Princip der verſäumten Früchte (§ 265. 266)

anwendete, d. h. daß man ihm den unterlaſſenen Verkauf

als eine Culpa anrechnete. Dieſes iſt aber deswegen un-

möglich, weil er ſelbſt bei den ſtrengen Klagen das Recht

hat, ſich auch während des Rechtsſtreits durch Naturalreſti-

tution von jedem weiteren Anſpruch wegen der Sache ſelbſt

zu befreien (§ 261). — Die richtige Anſicht der Sache

iſt in folgender Entſcheidung eines einzelnen Falles ausge-

ſprochen. Wenn Gefäße von Gold oder Silber durch

Fideicommiß hinterlaſſen werden, und der Erbe mit der

Entrichtung in Mora iſt, ſo braucht er doch nur dann

Zinſen zu zahlen, wenn der Erblaſſer die Geräthe zum

Verkauf beſtimmt hatte, außerdem nicht; alſo nur dann,

wenn eigentlich ein Geldfideicommiß gemeint war, welches

nur durch den Verkauf jener Gefäße zur Ausführung ge-

bracht werden ſollte (l).

2. Sehr verbreitet iſt die Meinung, daß Prozeßzinſen

zwar bei freien, aber nicht bei ſtrengen Klagen gefordert

werden könnten. Dieſe Meinung hat vielen Schein durch

die ganz unzweideutige Vorſchrift, nach welcher mit der

condictio indebiti lediglich das irrig gezahlte Geld ſelbſt,

durchaus keine Zinſen deſſelben, gefordert werden können (m).

 

(l) L. 3 § 4 de usur. (22. 1). —

In L. 51 § 1 de her. pet. (5. 3), aus

der man noch einen Zweifel her-

nehmen könnte, iſt offenbar voraus-

geſetzt, daß der Erbe die vor der

L. C. gewonnenen Früchte verkauft,

alſo in baares Geld, welches er

nun ſchuldig iſt, verwandelt hat.

S. u. § 271. c.

(m) L. 1 C. de cond. ind.

VI. 10

|0164 : 146|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

In dieſer unbedingten Verneinung liegt dreierlei: es können

keine Zinſen gefordert werden von der irrigen Zahlung an,

aber auch nicht von der Mora, und endlich auch nicht von

der L. C. an, welcher letzte Satz unmittelbar hierher

gehört. Dabei liegt es nun ſehr nahe, dieſe Entſcheidung

daraus abzuleiten, daß jene Klage eine Condiction war,

alſo eben darin einen Ausdruck der Regel zu finden, nach

welcher bei allen Condictionen keine Prozeßzinſen gefordert

werden könnten. Dennoch iſt dieſe Annahme ohne Grund,

und die Sache hat vielmehr folgenden Zuſammenhang.

Wenn baares Geld aus einem Darlehn, oder einer

Stipulation, oder einem gezahlten Indebitum gefordert

wurde, ſo konnte Dieſes nicht anders geſchehen als ver-

mittelſt einer certi condictio. Die beſondere Natur dieſer

Klage führte es mit ſich, daß die beſtimmte Geldſumme

in der Intentio und Condemnatio übereinſtimmend ange-

geben werden mußte, und dieſe unabänderliche Anweiſung

an den Juder ſchloß jede zuſätzliche Erhöhung der Summe

in dem Urtheil, alſo auch jede zuſätzliche Rückſicht auf

Zinſen, gänzlich aus.

 

Wenn dagegen eine Stipulation zwar auch Geld zum

Gegenſtand hatte, aber die Geldſumme ſelbſt nicht ausſprach,

ſondern von einem außer ihr liegenden Umſtand abhängig

machte (n), ſo war zwar auch eine ſtrenge Klage, eine

 

(4. 4) „… Usuras autem ejus

summae praestari tibi frustra

desideras: actione enim con-

dictionis ea sola quantitas re-

petitur, quae indebita soluta

est.“

(n) z. B. quanti fundus Cor-

nelianus est, dare spondes?

|0165 : 147|

§. 270. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Condiction, begründet, aber dieſe konnte nur eine incertae

pecuniae Condemnatio haben (o), und darin lag kein

Hinderniß für den Juder, die oben entwickelte allgemeine

Regel der Prozeßzinſen zur Anwendung zu bringen.

Demnach war es ſelbſt bei den Römern nicht die

Natur der ſtrengen Klagen an ſich, welche die Verurtheilung

auf Prozeßzinſen ausſchloß, ſondern lediglich die beſondere

Natur der certi condictio, da wo dieſe zur Anwendung

kam, und wir müſſen daher behaupten, daß die Prozeß-

zinſen auch bei den ſtrengen Klagen (nur mit Ausnahme

jeder certi condictio) zur Anwendung kamen (p). Incon-

ſequent aber war es, daß Juſtinian bei der condictio indebiti

den unbedingten alten Grundſatz aufnahm, obgleich zu ſeiner

Zeit alle Formeln längſt verſchwunden waren.

 

3. Endlich iſt unter Denen, die überhaupt Prozeßzinſen

zulaſſen, die Frage ſtreitig geworden, ob dieſelben blos bei

liquiden, oder auch bei illiquiden eingeklagten Geldſummen

anzuwenden ſeyen (q). Soll die Sache irgend einen prac-

 

(o) Gagus IV. § 49—51. Die

Formel ging nun auf quanti res

est, oder quidquid dari fieri

oportet.

(p) Die Meinungen ſind über

dieſe Frage von jeher ſehr getheilt

geweſen. Verneint werden die

Prozeßzinſen bei allen stricti ju-

ris actiones von Noodt de foe-

nore et us. III. 12, Winckler

p. 345, Madai Mora S. 369,

Liebe Stipulation S. 52; dage-

gen werden ſie zugelaſſen von

den Gloſſatoren Martinus und

Jacobus (Haenel diss. do-

minorum § 56 p. 42), Huber,

praelect. in pand. XXII. 1. § 17,

Keller § 21 Note 2 und 10. —

Ich ſelbſt hatte früher die erſte

Meinung angenommen (B. 5 S. 141.

142. 465), welche ich jetzt zurück-

nehme.

(q) Für die einſchränkende Mei-

nung iſt Cannegiesser decis.

Cassell. T. 1 Dec. 56 No. 6,

indem er erſt von der feſtgeſtellten

10*

|0166 : 148|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

tiſchen Werth haben, ſo darf ein ſolcher Unterſchied nicht

gemacht werden, vielmehr müſſen auch bei illiquiden

Summen Zinſen gezahlt werden. Damit geſchieht dem

Beklagten kein Unrecht, weil ja dieſe ganze Zinszahlung

auf der Vorausſetzung beruht, daß Geld überhaupt nicht

müßig aufbewahrt, ſondern ſtets in irgend einer Form zu

einem Ertrag benutzt wird. Wollte man aber jenen Unter-

ſchied zulaſſen, ſo würde es niemals dem Beklagten ſchwer

fallen, unabhängig von der Beſtreitung des Anſpruchs

ſelbſt, in die Höhe deſſelben irgend einen Zweifel zu bringen,

und dadurch das ganze Princip der Prozeßzinſen in der

Anwendung zu vereiteln.

§. 271.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —

a. Erweiterungen. (Prozeßzinſen. Fortſetzung.)

II. Anwendung der Prozeßzinſen auf die

wichtigſten einzelnen Klagen.

Die Zeugniſſe hierüber ſind im R. R. ſeltener als man

bei der practiſchen Wichtigkeit des Gegenſtandes erwarten

möchte. Allein die wirklich vorhandenen ſind ſehr ent-

ſcheidend, und es fehlt nicht an Erklärungsgründen, wes-

halb bei vielen Klagen ſolche Zeugniſſe nicht vorkommen,

 

Liquidität an Zinſen zuläßt. Da-

bei ſcheint der unrichtige Gedanke

einer Strafe zum Grunde zu liegen,

die den Beklagten nicht treffen

dürfe, ſo lange eine Ungewißheit

vorhanden ſey. Für die unbe-

ſchränkte Zulaſſung iſt Hommel

rhaps. Obs. 234.

|0167 : 149|

§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

ſo daß jene Seltenheit an der Wahrheit des Princips

keinen Zweifel erregen darf.

1. Bei der Eigenthumsklage auf beſtimmte Geld-

ſtücke kann das Princip gewiß nicht zur Anwendung

kommen. Sollte es angewendet werden, ſo müßte dabei

die Zumuthung an den Beklagten zum Grunde liegen, das

vindicirte Geld zu veräußern um es zinsbar zu benutzen;

aber gerade die Veräußerung und Verzehrung der vin-

dicirten Sache iſt dem Beklagten durchaus unterſagt

(§ 264. p. q. r). Der Unterſchied von der perſönlichen

Schuldklage auf eine Geldſumme liegt alſo darin, daß

durch dieſe dem Beklagten ſein eigenes Geld abgefordert

wird, deſſen Veräußerung und zinsbare Benutzung ihm

nicht unterſagt iſt (a).

 

2. Bei der Erbſchaftsklage verhält es ſich ganz

anders, und gerade hier finden ſich die vollſtändigſten

Zeugniſſe für die Anwendung unſres Princips. Zwar iſt

auch dieſe Klage in rem, ſo gut als die Eigenthums-

klage, allein ſie bezieht ſich nicht ſo wie dieſe auf eine

beſtimmte einzelne Sache, ſondern auf eine Vermögens-

maſſe, und umfaßt alſo nothwendig auch viele Gegen-

 

(a) Dieſe Eigenthümlichkeit der

Vindication in Beziehung auf die

Prozeßzinſen iſt richtig bemerkt

von Buchka Einfluß des Pro-

zeſſes S. 265. — Man möchte

Daſſelbe erwarten bei der (perſön-

lichen) actio depositi, da auch

hier beſtimmte Geldſtücke gefordert

werden, und deren Veräußerung

gleichfalls rechtswidrig iſt. Allein

hier ſind meiſt die Prozeßzinſen

durch die Mora abſorbirt, die oft

ſchon vor dem Rechtsſtreit ein-

tritt, ſpäteſtens aber mit der In-

ſinnation der Klage, alſo in bei-

den Fällen vor der L. C. (Vgl.

unten Note h).

|0168 : 150|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſtände, die für ſich betrachtet eine obligatoriſche Natur

haben. — Bei dieſer Klage finden ſich folgende einzelne

Beſtimmungen über Prozeßzinſen.

a) Der Beſitzer zahlt, von der L. C. an, Zinſen des-

jenigen Geldes, welches er vor der L. C. aus verkauften

Erbſchaftsſachen gelöſt hat, und das dadurch Beſtandtheil

der Erbſchaftsmaſſe geworden iſt (b). Unter dieſe ver-

kaufte Erbſchaftsſachen gehören natürlich auch die Natural-

früchte, die er bezogen und dann veräußert hat (c); eben

ſo ohne Zweifel auch das eingenommene Mieth- und

Pachtgeld.

 

Hierin nun ſind unverkennbar reine Prozeßzinſen enthalten,

welches ſich auch darin zeigt, daß das Princip der ver-

ſäumten Früchte darauf angewendet wird. Wenn näm-

lich der Beklagte das bedungene Kaufgeld einzutreiben

unterläßt, ſo muß er dennoch auch davon Zinſen zahlen (d). —

Gegen den unredlichen Beſitzer hat der Kläger die Wahl,

ob er, ſo wie gegen den redlichen, das erlöſte Kaufgeld

mit Zinſen, oder aber den wahren Werth der Sache mit

 

(b) L. 1 § 1 C, de her. pet.

(3. 31) „usuras pretii rerum

ante L. C. venditarum, ex die

contestationis computandas, om-

nimodo reddere compellan-

tur.“ — Damit ſtimmt überein

L. 20 § 11 de her. pet. (5. 3),

nur daß hier, wie oben bemerkt,

die denuntiatio anſtatt der L. C.

erwähnt wird. Die in L. 20 § 6

eod. verneinte Zinsverpflichtung

iſt von den vor dem Rechtsſtreit

durch den redlichen Beſitzer erho-

benen Zinſen zu verſtehen.

(c) Darauf geht L. 51 § 1 de

her. pet. (5. 3), wobei nur hin-

zugedacht werden muß, daß die

vor der L. C. gewonnenen Früchte

verkauft worden ſind, ſ. o.

§ 270. l. —

(d) L. 20 § 15 de her. pet.

(5. 3).

|0169 : 151|

§ 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Einrechnung der möglichen Früchte derſelben, fordern

will (e). Das will ſagen, er kann den geſchloſſenen Ver-

kauf mit ſeinen Folgen anerkennen oder nicht, je nachdem

ihm das Eine oder das Andere vortheilhafter dünkt.

(b) Das Geld, wovon der Beklagte nach der eben auf-

geſtellten Regel Zinſen zahlen ſoll, war von ihm ſelbſt in

die Erbſchaftsmaſſe gebracht worden. Es fragt ſich aber,

ob er auch von dem in der Erbſchaft vorgefundenen baaren

Geld Zinſen zu zahlen hat. Nach allgemeiner Betrach-

tung müſſen wir geneigt ſeyn, dieſes ganz nach derſelben

Regel, wie das vorher erwähnte, zu behandeln. Er iſt

Verwalter eines möglicherweiſe fremden Vermögens, und

hat daher deſſen Beſtandtheile, je nach ihrer Art, als guter

Hausvater zu behandeln. Ein ſolcher aber wird nicht

Geldſummen müßig liegen laſſen. Wenn alſo z. B. der

Verſtorbene kurz vor ſeinem Tode ein zinsbares Capital

eincaſſirt, und nicht Zeit genug gehabt hat, es wieder

auszuleihen, ſo dürfte der Beſitzer ſchwerlich zu rechtfertigen

ſeyn, der es während des ganzen Rechtsſtreits unbenutzt

liegen laſſen wollte.

 

Dennoch ſcheint ganz unerwartet Papinian in fol-

gender von Ulpian angeführten Stelle ſagen zu wollen,

daß der Beſitzer der Erbſchaft von allem vorgefundenen

baaren Geld niemals Zinſen zu zahlen habe:

„Papinianus autem libro tertio quaestionum, si pos-

sessor hereditatis pecuniam inventam in hereditate

 

 

(e) L. 20 § 12. 16, L. 36 § 3 de her. pet. (5. 3).

|0170 : 152|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

non attingat, negat eum omnino in usuras conve-

niendum.“(f).

Glücklicherweiſe haben wir aber aus demſelben Werke

des Papinian, welches hier von Ulpian angeführt

wird, eine Stelle, welche dazu dient, den aufgeſtellten

Grundſatz nicht nur gegen dieſen ſcheinbaren Widerſpruch

des Papinian zu retten, ſondern zugleich durch eine

nothwendige nähere Beſtimmung vollſtändiger auszubilden:

„de pecunia deposita, quam heres non attingit, usu-

ras praestare non cogitur“(g).

 

In beiden Stellen iſt die Rede von einer pecunia

quam non attingit, nur wird in der erſten, als der nicht

Berührende, der possessor hereditatis genannt, in der

zweiten der heres, und dieſer Ausdruck, verbunden mit

der Erwähnung der pecunia deposita, führt zunächſt dahin,

die Stelle von einer actio depositi gegen den wahren Er-

ben des Depoſitars zu erklären. Dennoch glaube ich dieſe

Erklärung ſchlechthin verwerfen zu müſſen. Die ganze

Stelle, woraus dieſes kleine Stück genommen iſt, ſpricht

von dem Beklagten in einer Vindication, und mit dieſem

kann wohl der Beklagte in einer Erbſchaftsklage, aber nicht

der Beklagte in einer actio depositi, zuſammen geſtellt

werden. Daher halte ich folgende Erklärung für richtiger (h).

 

(f) L. 20 § 14 de her. pet.

(5. 3).

(g) L. 62 pr. de rei vind.

(6. 1) aus Papinianus lib. VI.

Quaestionum.

(h) Ich will jedoch nicht ver-

ſchweigen, daß auch noch eine

andere Erklärung der Stelle ju-

riſtiſch möglich iſt. Es kann

allerdings die Rede ſeyn von dem

|0171 : 153|

§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Heres ſteht hier für possessor hereditatis, wodurch beide

Stellen auf einen und denſelben Fall bezogen werden.

Pecunia deposita heißt eine Geldſumme, welche der Ver-

ſtorbene dazu beſtimmt hatte, nicht in der Haushaltung

verbraucht, auch nicht ausgeliehen, ſondern vielmehr als

ein Rothpfennig baar aufbewahrt zu werden, welcher Fall

anderwärts genau angegeben und mit dem ganz ver-

wandten Ausdruck: pecunia praesidii causa reposita

(oder auch seposita) bezeichnet wird (i). Solches Geld

Erben eines Depoſitars, gegen

welchen die actio depositi ange-

ſtellt wird. Nur müſſen dann fol-

gende Vorausſetzuugen hineinge-

tragen werden: 1. daß nicht ſchon

der Verſtorbene in Mora war,

denn ſonſt würde die Mora (mit

der Zinſenverpflichtung) auf den

Erben übergegangen ſeyn, ohne

daß dieſen das Nichtberühren des

Geldes ſchützen könnte (L. 87

§ 1 in f. de leg. 2); 2. daß auch

er ſelbſt, nicht durch Mahnung

in Mora verſetzt war, aus dem-

ſelben Grunde. Dieſes letzte ließe

ſich allerdings ſo denken, daß der

Erbe Nichts von dem Depoſitum

gewußt hätte, welches die Mora

abwendet (L. 42 de R. J.), und

daß er doch zugleich aus Gewiſ-

ſenhaftigkeit erklärte, er wolle das

Geld einſtweilen unberührt laſſen,

wodurch dieſer Fall dem des vin-

dicirten Geldes ähnlich würde

(Note a). — Daß nun aber bei

dieſer Erklärung ſo Vieles hinzu-

gedacht werden muß, wenn der

Ausſpruch nicht durch andere un-

zweifelhafte Rechtsregeln widerlegt

werden ſoll, macht dieſe Erklärung

ſehr bedenklich, und giebt der erſten

den Vorzug, welche ohnehin durch

die wörtliche Ähnlichkeit bei-

der Stellen unterſtützt wird.

(i) L. 79 § 1 de leg. 3 (32)

„His verbis: quae ibi mobilia

mea erunt do lego, nummos

ibi repositos ut mutui darentur,

non esse legatos Proculus ait:

at eos, quos praesidii causa

repositos habet, ut quidam bellis

civilibus factitassent, eoslegato

contineri: Et audisse se rusti-

cos senes ita dicentes, pecu-

niam sine peculio fragilem esse:

peculium appellantes, quod

praesidii causa seponeretur.“ —

Dieſe Erklärung iſt ſchon ange-

geben von Glück B. 8 S. 297.

298. Zur Unterſtützung derſelben

kann noch folgende Bemerkung

dienen. Die von Papinian an

zwei Orten erwähnte pecunia in-

venta (deposita) in hereditate

quam heres (possessor here-

ditatis) non attingit hat offen-

|0172 : 154|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſoll auch der Beſitzer der Erbſchaft fernerhin unberührt

aufbewahren dürfen, ohne dafür Zinſen zu bezahlen, in-

dem er nur die von dem Erblaſſer angefangene Behand-

lungsweiſe dieſes Geldes fortſetzt. — Erklärt man nun

die von Ulpian referirte Äußerung des Papinian von

dieſem ganz beſonderen Fall, wofür die ähnlichen Aus-

drücke (das non attingit) ſehr deutlich ſprechen, ſo iſt der

oben aufgeſtellte Grundſatz gegen jeden Widerſpruch ge-

rettet: denn es wird Niemand zweifeln, daß ein ſolches

Verfahren ganz in den Gränzen verſtändiger Vermögens-

verwaltung liegt, nnd die Freiſprechung von Prozeßzinſen

gründet ſich alsdann darauf, daß der erwähnte Nothpfennig

überhaupt gar nicht als baares, zum Umlauf beſtimmtes,

Geld in Betracht kommt.

3. Bei der Klage auf Legate oder Fideicommiſſe,

die in baarem Gelde beſtehen, ſind Zinſen eben ſo wie

andere Früchte von der Zeit der L. C. an zu entrichten (k),

und darin liegt eine entſchiedene Anerkennung des Princips

der Prozeßzinſen. Indeſſen muß dabei ſtets die Voraus-

ſetzung hinzugedacht werden, daß aus zufälligen Gründen

 

bar das Anſehen einer ſprüchwört-

lich erzählten Curioſität, ſo wie

Gajus III. § 196 „quod veteres

scripserunt de eo qui in aciem

perduxisset,“ und Gajus III.

§ 202 „et hoc veteres scrip-

serunt de eo qui panno rubro

fugavit armentum.“ Dieſes paßt

nun ſehr gut zu dem von Procu-

lus erwähnten ſingulären Fall der

praesidii causa nummi repositi.

(k) L. 1. 2 C. de usur. et

fruct. (6. 47). — Für die Früchte

allein (ohne Erwähnung der Zin-

ſen) wird die L. C. als Anfangs-

punkt bezeichnet in L. 51 pr. fam.

herc. (10. 2), L. 4 C. de usur.

et fruct. (6. 47).

|0173 : 155|

§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

nicht etwa ſchon früher eine Mora begründet war, da die

Prozeßzinſen überall durch die Verzugszinſen abſorbirt

werden.

Daß nämlich bei Legaten und Fideicommiſſen die Mora

an ſich, vor allem Rechtsſtreit, die Forderung von Ver-

zugszinſen begründet, eben ſo wie von allen anderen

Früchten, iſt unzweifelhaft. Anfangs galt dieſes blos bei

Fideicommiſſen, ſpäter auch bei dem legatum sinendi modo,

zuletzt eben ſo bei dem damnationis und vindicationis

legatum (l).

 

Die Stellen nun, welche bald die Mora, bald die L. C.

als Anfangspunkt einer ſolchen Verpflichtung erwähnen,

ſind nicht ſo zu verſtehen, als ob über dieſen Gegenſatz

entweder Streit, oder eine Verſchiedenheit des älteren und

neueren Rechts, beſtanden hätte; vielmehr war die Mora

allgemeine Regel, und die L. C. trat oft nachhelfend ein,

da wo im einzelnen Fall die Bedingungen der Mora

fehlten (§ 264. g). Ganz beſonders aber ſollten beide

Ausdrücke, ohne unter ſich einen wahren Gegenſatz zu

bilden, vielmehr den gemeinſamen Gegenſatz feſtſtellen gegen

die auch wohl denkbare Meinung, nach welcher Früchte

und Zinſen von der Zeit des Todes an zu rechnen ge-

 

(l) Gajus II. § 280 (Fidei-

commiß und leg. sinendi modo),

L. 51 pr. fam. herc. (10. 2 Vin-

dicationslegat), L. 91 § 7 de leg. 1

(30. Damnationslegat), L. 3 pr.

de usuris (22. 1. Fideicommiß),

L. 39 § 1 de leg. 1 (30. unbe-

ſtimmt), L. 4 C. de us. et fruct.

(6. 47. Fideicommiß, leg. damn.

und vind. zugleich, ſ. u. Note m).

|0174 : 156|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

weſen wären. Dieſe Meinung ſollte durch alle jene Stellen

vorzugsweiſe zurück gewieſen werden (m).

4. Bei den perſönlichen Klagen endlich werden

die Prozeßzinſen zufällig gar nicht erwähnt; die Gründe

dieſer Erſcheinung ſind ſchon oben angedeutet worden. Bei

den freien Klagen nämlich wurden die Prozeßzinſen oft

durch die vorhergehende Mora abſorbirt, und konnten alſo

nur in ſolchen Fällen zur Anwendung kommen, worin die

Mora zufällig fehlte. Bei den ſtrengen Klagen aber waren

die Prozeßzinſen gerade für die wichtigſte Art derſelben, die

certi condictio, ausgeſchloſſen, und daher auf den engeren

Kreis der übrigen Condictionen beſchränkt.

 

In der ſchwierigen Lehre von den Prozeßzinſen würden

noch immer manche Zweifel zurück bleiben können, wenn

nicht eine dem älteren R. R. angehörende Frage, die mit

manchen Stellen des Juſtinianiſchen Rechts in Verbindung

ſteht, unterſucht und beantwortet wird. Es iſt nämlich

oben bemerkt worden, daß die L. C. bei allen Klagen eine

Conſumtion des Klagerechts, bei manchen perſönlichen

Klagen auch eine Novation der zum Grunde liegenden

Obligation zur Folge hatte: die Novation jedoch mit weit

beſchränkteren Wirkungen als die, welche aus einer gewöhn-

lichen, nichtprozeſſualiſchen, Novation entſprangen (§ 258).

 

(m) L. 4 C. de us. et fruct.

(6. 47) „In legatis et fideicom-

missis fructus post litis con-

testationem non ex die mortis

consequuntur, sive in rem sive

in personam agatur.“

|0175 : 157|

§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Die Frage iſt nun die: wirkte die Conſumtion und die

Novation auf eine Zinſenforderung?

Dabei müſſen die oben dargeſtellten Gattungen der

Zinſen genau unterſchieden werden.

 

A. Viele derſelben hatten gar keinen ſelbſtſtändigen

Rechtsgrund, indem ſie nur entweder ein Stück einer

anderen Obligation bildeten (wie das Pactum auf Zinſen

neben einem b. f. contractus), oder überhaupt nicht auf

einer eigentlichen Obligation, ſondern nur auf dem officium

judicis beruhten (wie die Verzugszinſen und die Prozeß-

zinſen).

 

Bei dieſen hat die Sache keinen Zweifel. Die An-

ſtellung der Hauptklage conſumirte gewiß die Zinſenfor-

derung, ſo daß niemals ſpäterhin eine neue Klage auf ſolche

Zinſen angeſtellt werden konnte.

 

Eine Novation konnte für dieſe Zinſenforderungen nicht

eintreten, weil ſie überhaupt nicht auf einer vorhergehenden

Obligation, wenigſtens nicht auf einer ſelbſtſtändigen,

beruhten.

 

B. Andere dagegen hatten einen ſelbſtſtändigen Ent-

ſtehungsgrund, wohin namentlich die auf einer Stipulation

beruhenden Zinſen (neben Darlehn, oder Stipulation, als

Hauptobligation) gehörten.

 

Hier iſt vor Allem die oben durchgeführte Regel in

Erinnerung zu bringen, daß in dieſen Fällen niemals mit

Einer Klage auf Kapital und Zinſen geklagt werden konnte,

ſondern ſtets mit zwei verſchiedenen Klagen, einer certi und

 

|0176 : 158|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

einer incerti condictio. War die Hauptobligation ein

b. f. contractus, ſo waren es gleichfalls zwei verſchiedene

Klagen: die b. f. actio und die incerti condictio.

Wenn nun auf das Kapital geklagt wurde, ſo konnte

dieſe Klage die völlig verſchiedene Zinſenklage nicht con-

ſumiren, d. h. dieſe war durch die Kapitalklage nicht

in judicium deducirt.

 

Die in der L. C. der Hauptklage liegende Novation

konnte die bereits fällig gewordenen Zinspoſten gewiß nicht

tilgen, da dieſe ja ſelbſt durch baare Zahlung des Kapitals

nicht getilgt worden wären. Eine andere, und zwar be-

ſtrittene Frage aber iſt es, ob durch die Novation der

Hauptklage die Entſtehung neuer Zinſen, alſo namentlich

für die ganze Zeit des dauernden Rechtsſtreits, unmöglich

gemacht wurde. Man könnte dieſes mit einigem Schein

behaupten, weil ja die Zinsobligation eine acceſſoriſche

Natur hat; iſt nun die Kapitalforderung durch Novation

getilgt, ſo ſcheint dadurch auch der acceſſoriſche Zinſenlauf

für die Folge vernichtet zu ſeyn. Indeſſen muß aus fol-

gendem Grunde das Gegentheil behauptet werden.

 

Es giebt außer den Zinſen auch noch manche andere

Acceſſionen einer Obligation: namentlich Pfänder und

Bürgſchaften. Alle dieſe Acceſſionen gehen durch eine ei-

gentliche, vertragsmäßige Novation, eben ſo wie durch baare

Zahlung, wirklich unter. Wollte man nun dieſelbe Wirkung

auch der in der L. C. liegenden Prozeß-Novation zuſchreiben,

ſo würde durch die L. C. der Kläger in Nachtheil gerathen,

 

|0177 : 159|

§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

da dieſelbe doch dazu beſtimmt iſt, ihm Vortheil zu bringen.

Daher gehen durch die L. C. die Acceſſionen nicht unter.

Für das Pfand iſt dieſes ausdrücklich geſagt (n). Für die

Zinſen (worauf allein es hier ankommt) ſoll es ſogleich

durch ein Reſcript von Severus bewieſen werden. Nur

bei den Bürgſchaften verhält es ſich anders, aber nicht

wegen der Novation, ſondern aus einem ganz anderen, viel

weiter greifenden Grunde, der auch bei ſolchen Klagen ein-

wirkte, in welchen die L. C. nicht mit einer Novation ver-

bunden war. Die Klage gegen den Bürgen hatte mit der

Klage gegen den Hauptſchuldner eine und dieſelbe Intentio,

war alſo mit ihr (wenn auch nicht in der Bezeichnung der

Perſonen, doch objectiv) identiſch, und deswegen wurde

durch die Hauptklage zugleich die Klage gegen den Bürgen

in judicium deducirt und conſumirt. Dieſer Satz wird

von Cicero bezeugt, und galt bis auf Juſtinian, der

ihn ausdrücklich aufhob (o). Ein ähnlicher Grund trat bei

den Zinſen nicht ein, deren Lauf daher durch die L. C. über

die Hauptklage nicht unterbrochen wurde.

Wenn ferner auf die Zinſen geklagt wurde, ſo wurde

damit die ganze Zinſenſtipulation in judicium deducirt und

conſumirt, alſo ſowohl für die verfallenen als für die noch

 

(n) L. 11 pr. § 1 de pign.

act. (13. 7), L. 13 § 4 de pign.

(20. 1). Eben ſo iſt es mit dem

privilegium dotis et tutelae.

L. 29 de nov. (46. 2), wo zugleich

der allgemeine Grund ausgeſpro-

chen iſt.

(o) Cicero ad Att. XVI. 15.

L. 28 C. de fidejuss. (8. 41).

Ausführlich und gründlich handelt

von dieſem Satz Keller § 52,

wo alle hierher gehörende Quellen-

zeugniſſe angeführt ſind.

|0178 : 160|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

künftig zu erwartenden Zinſen, weil beide auf einer und

derſelben Stipulation beruhten, die als Obligation ein

Ganzes bildete. Auf die verfallenen ſprach der Juder nun

wirklich, auf die künftigen zu ſprechen hatte er gegenwärtig

noch keinen Grund; da aber die Klage auf dieſelbe con-

ſumirt war, ſo waren dieſe künftigen Zinſen für immer

verloren. Um dieſe Gefahr zu vermeiden, mußte der Kläger

eine Präſcription: cujus rei dies fuit ſeiner Klage hinzu

fügen (p).

Dieſe Sätze mußten voran geſchickt werden, um die Er-

klärung der folgenden wichtigen Stelle vorzubereiten, die

auf mancherlei Weiſe misverſtanden worden iſt:

„Judicio coepto, usurarum stipulatio non est peremta;

superest igitur, ut debitorem ejus temporis quod

non est in judicium deductum convenire possis“(q).

 

Der erſte Satz dieſer Stelle beſtätigt unmittelbar die

ſo eben aufgeſtellte Behauptung, daß die Anſtellung der

Kapitalklage keine Conſumtion und keine Novation für die

Zinſenſtipulation bewirke, dieſe Stipulation alſo nicht zer-

ſtöre. Der zweite Satz knüpft daran die Folgerung, daß

auch nach angeſtellter Kapitalklage noch immer eine abge-

ſonderte Zinſenklage angeſtellt werden könne. Dieſes Letzte

jedoch mit der Einſchränkung, wenn nicht etwa die Klage

auf die jetzt fällig gewordenen Zinspoſten durch eine ſchon

früher angeſtellte Zinſenklage conſumirt ſey. Eine ſolche

 

(p) Gajus IV. § 131.

(q) L. 1 C. de jud. (3. 1) von Severus und Antoninus.

|0179 : 161|

§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Conſumtion aber war nicht vorhanden, ſowohl wenn noch

gar nicht auf Zinſen geklagt worden war, als wenn bei

einer früheren Zinſenklage die oben erklärte Präſcription

angewendet war, um die Conſumtion der künftig eintretenden

Zinspoſten abzuwenden (r).

Um die Lehre von den Prozeßzinſen ganz abzuſchließen,

bleibt nur noch übrig, die Meinung neuerer Schriftſteller

über den Zuſtand des heutigen Rechts in dieſer Lehre kurz

anzugeben.

 

Neuerlich iſt von Mehreren die Zuläſſigkeit von Prozeß-

zinſen gänzlich verworfen worden, indem ſie dieſelben nicht

ſowohl negirt, als ignorirt haben. Sie gehen nämlich da-

von aus, es gebe überhaupt, aus Veranlaſſung eines

Rechtsſtreits, keine andere Zinſen als Verzugszinſen. Da

nun (welches auch ich annehme) die L. C. keine Mora be-

gründe, ſo könnten Prozeßzinſen, d. h. Zinſen die durch die

 

(r) Mayer Litisconteſtation

S. 35—38 behauptet, im Wider-

ſpruch mit den hier aufgeſtellten

Sätzen, die Kapitalklage habe durch

die Novation der L. C. den ferneren

Zinſenlauf zerſtört. Er verwechſelt

dabei die Conſumtion und Nova-

tion, ſo wie er die zwei verſchie-

denen Klagen auf Kapital und

Zinſen nicht unterſcheidet, und ohne

Grund einen practiſchen Unterſchied

zwiſchen Pfändern und Zinſen be-

hauptet, welche ſelbſtgemachte

Schwierigkeit er dann nicht ohne

Scharfſinn zu beſeitigen ſucht durch

die Unterſcheidung alter und neuer

Rechtsinſtitute. Sein Hauptbeweis

liegt in L. 90 de V. O. (45. 1),

welche für den Fall der poenae

stipulatio (einer anderen Form

als das Zinsgeſchäft, aber mit

ähnlichem Zweck und Erfolg) ganz

richtig daſſelbe behauptet, welches

in L. 1 C. de jud. für die Zinſen

geſagt iſt. Er ſieht darin eine ver-

ſteckte Anſpielung darauf, daß bei

den Zinſen das Gegentheil gelte,

trägt alſo ganz willkührlich ein ar-

gumentum a contrario in die

Stelle hinein.

VI. 11

|0180 : 162|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

L. C. als ſolche begründet würden, niemals vorkommen.

Insbeſondere ſeyen ſie bei den stricti juris Contracten ganz

unmöglich, weil für dieſe überhaupt keine Verzugszinſen

zugelaſſen würden (s). Das practiſch Wichtige in dieſer

Meinung liegt nicht ſowohl darin, daß man den Namen

der Prozeßzinſen nicht zulaſſen, ſondern nur von Verzugs-

zinſen reden will, als vielmehr darin, daß in allen Fällen,

in welchen die beſonderen Bedingungen einer Mora nicht

vorhanden ſind, überhaupt gar keine Zinſen gelten ſollen.

Die hier vertheidigte Meinung dagegen hat zu allen

Zeiten zahlreiche Anhänger gefunden. Eigentlich gehören

dahin alle Schriftſteller, welche für das R. R. die Gültig-

keit der Prozeßzinſen bei den ſtrengen Klagen behaupten

(§ 270. p). Dieſe meinen damit in der That die allge-

meine Gültigkeit der Prozeßzinſen überhaupt im gemeinen

Recht, wie ſich denn namentlich Huber zur Unterſtützung

ſeiner Meinung auf die heutige Praxis beruft. Außerdem

aber haben ſich auch mehrere Andere von dem rein practi-

ſchen Standpunkt aus für die Annahme von Prozeßzinſen

als ſolchen erklärt (t).

 

Bei dem Oberappellationsgericht zu Lübeck, welches für

die Praxis der Vier freien Städte Zeugniß giebt, werden

 

(s) Göſchen Vorleſungen B. 1.

S. 478. — Madai Mora S. 369

bis 373. Wächter Heft 2 S. 54.

55, Heft 3 S. 24.

(t) Bayer Prozeß S. 233. 234.

Linde Prozeß § 200 Note 5.

Daß dieſe zugleich den Anfang von

der Inſinuation berechnen, anſtatt

von der L. C., ändert in dem We-

ſen der Sache Nichts. Von dieſer

Veränderung des Anfangspunktes

wird unten beſonders die Rede ſeyn.

|0181 : 163|

§. 271. Wirkung der L. C. — Prozeßzinſen. (Fortſ.)

Prozeßzinſen ganz allgemein angenommen, und zwar von

der Inſinuation der Klage an. In dieſem Gerichtsſprengel

findet ſich ein Fall, in welchem die eigenthümliche Natur

der Prozeßzinſen, verſchieden von den Verzugszinſen, beſon-

ders ſcharf hervortritt. In Hamburg werden (wenigſtens

nach der Meinung mancher Schriftſteller) Verzugszinſen zu

Fünf, Prozeßzinſen zu Sechs Procent berechnet, ſo daß bei

einer vor dem Anfang des Rechtsſtreits wirklich vorhande-

nen Mora die Zinſen durch die Inſinuation um Ein Pro-

cent ſteigen (u).

Der Reviſions- und Caſſationshof zu Berlin, welcher

als Oberappellationsgericht für die vormals Naſſauiſchen

Landestheile nach gemeinem Recht und gemeinem Prozeß

entſcheidet, erkennt regelmäßig auf Prozeßzinſen von der

Inſinuation an (v). In den Gründen eines Urtheils vom

J. 1832 wurde hier die eigenthümliche Natur der Prozeß-

zinſen, als verſchieden von den etwa ſchon vorhergegangenen

Verzugszinſen, bei einer beſonderen Veranlaſſung ausdrück-

lich anerkannt.

 

Genau dieſelbe Praxis findet ſich auch bei der Juriſten-

facultät zu Berlin, die in ihrer Eigenſchaft als Spruch-

collegium gleichfalls für Länder, worin das gemeine Recht

gilt, Recht zu ſprechen hat (w).

 

(u) Ich verdanke dieſe Notiz

einer ſchriftlichen Mittheilung mei-

nes Freundes Blume.

(v) Die Bezeichnung des An-

fangs des Zinſenlaufs lautet ver-

ſchieden: von der Inſinuation, von

der Zuſtellung der Klage, von der

Klage an. Es iſt überall die In-

ſinuation gemeint.

(w) Auch hier kommen dieſelben

11*

|0182 : 164|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Die Preußiſche Geſetzgebung ſchließt ſich ganz an die

hier aufgeſtellten Regeln des gemeinen Rechts an, nur

werden die Prozeßzinſen nicht wörtlich von den Verzugs-

zinſen unterſchieden, ſondern bloß als ein einzelner Fall

derſelben behandelt, der jedoch bei jeder Geldforderung ſtets

eintreten ſoll, wenn nicht ſchon vorher zufällig Verzugs-

zinſen laufend waren. Außergerichtlich nämlich entſteht der

Verzug, und durch ihn eine Zinſenforderung, durch den

Eintritt eines vorbeſtimmten Zahlungstages, oder wo ein

ſolcher fehlt durch Interpellation (x). War nun ein ſolcher

Verzug vor dem Rechtsſtreit nicht vorhanden, ſo entſteht

derſelbe mindeſtens mit der Inſinuation der Klage, und von

dieſer Zeit fängt dann auch der Zinſenlauf an (y).

 

§. 272.

Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der Ver-

urtheilung. — b. Verminderungen.

Die Veränderungen in dem Gegenſtand eines Rechts-

ſtreits, durch deren Eintritt eine Einwirkung der L. C. auf

das materielle Rechtsverhältniß nöthig werden kann, ſind

theils Erweiterungen, theils Verminderungen (§ 264). Von

dieſen letzten ſoll nunmehr gehandelt werden.

 

Varietäten vor, welche in der

Note v erwähnt werden, jedoch mit

überwiegender wörtlicher Erwäh-

nung der Inſinuation, die oh-

nehin dem Sinn nach allgemein

gedacht iſt.

(x) A. L. R. Th. 1 Tit. 16 § 15.

16. 20. 64. 67. 68, und Tit. 11

§ 827—829.

(y) A. G. O. Th. 1 Tit. 7

§ 48. d.

|0183 : 165|

§. 272. Wirkung der L. C. — Verminderungen.

Auch bei ihnen kommt die oben dargeſtellte Verwandt-

ſchaft und Zuſammenwirkung von drei an ſich verſchiedenen

Rechtsbegriffen in Betracht: Mora, mala fides, und Litis-

conteſtation, und es ſind dadurch nicht blos unter den

neueren Schriftſtellern große Streitigkeiten entſtanden, ſon-

dern ſelbſt in den Quellen des R. R. fehlt es nicht an

verſchiedenen Meinungen, ſo wie an zweifelhaften und

ſchwankenden Zeugniſſen. Ich will es verſuchen, diejenigen

Regeln anzugeben, welche nach unbefangener Betrachtung

und Vergleichung der Quellenzeugniſſe als letztes Reſultat

aus denſelben hervorgehen.

 

Ehe aber die auf die Verminderungen bezüglichen Rechts-

regeln aufgeſtellt werden können, iſt es nöthig, über die

Natur dieſer Verminderungen ſelbſt und die verſchiedenen

möglichen Gründe derſelben eine Ueberſicht zu geben.

 

Dahin gehört vor Allem der körperliche Untergang der

Sache die den Gegenſtand eines Rechtsſtreites bildet,

wohin der Tod eines Thieres, oder (bei den Römern) eines

Sclaven, das Aufzehren der Sache, die durchgreifende Ver-

arbeitung derſelben mit Zerſtörung ihrer bisherigen Form

und Individualität, zu rechnen iſt. — Eben ſo aber auch der

partielle Untergang, wenn das auf einem ſtreitigen Grund-

ſtück ſtehende Gebäude einſtürzt oder abbrennt, ſo wie wenn

ein Thier verwundet oder verſtümmelt wird.

 

Es gehört dahin ferner der Verluſt des Beſitzes einer

ſtreitigen Sache, indem dadurch die Herausgabe derſelben

 

|0184 : 166|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

dem Beklagten eben ſo unmöglich gemacht wird wie durch

den Untergang.

Alle dieſe Veränderungen ſind Gegenſtände ſinnlicher

Wahrnehmung, indem ſie theils den körperlichen Zuſtand

einer Sache, theils deren räumliches Verhältniß zu dem

Beſitzer betreffen. Daß dieſe durch die jetzt anzuſtellende

Unterſuchung betroffen werden, kann keinem Zweifel unter-

worfen ſeyn.

 

Allein es giebt noch andere, und zwar unſichtbare, Fälle

der Verminderung, welche darin beſtehen, daß der Geld-

werth einer Sache abnimmt, während ihre Integrität und

das bisherige Beſitzverhältniß unverändert bleibt; ein Fall,

der beſonders bei ſchwankenden Waarenpreiſen im Handels-

verkehr Statt findet. Dieſe Veränderlichkeit des Geld-

werthes kommt auch bei dem Untergang einer Sache in

Betracht, indem dabei, wenn überhaupt eine Entſchädigung

zu leiſten iſt, die Frage entſteht, nach welcher Zeit der

Geldwerth beſtimmt werden ſoll, welche Frage weiter unten

beantwortet werden wird. Von dieſer Frage nun iſt aller-

dings die eben berührte verſchieden, welche dahin geht, ob,

auch bei unveränderter objectiven Beſchaffenheit der Sache,

die bloße Verminderung des Geldwerthes Grund einer

Entſchädigung werden kann. Indeſſen ſtehen doch dieſe

beiden Fragen in einem ſo nahen Zuſammenhang, daß eine

gemeinſame Unterſuchung durchaus räthlich erſcheint. Für-

jetzt alſo werden wir uns ganz auf die Folgen derjenigen

 

|0185 : 167|

§. 272. Wirkung der L. C. — Verminderungen.

Veränderungen beſchränken müſſen, welche blos eine ob-

jective, äußerlich erkennbare Beſchaffenheit haben.

Ich will zuerſt diejenigen Regeln aufſtellen, die am

wenigſten Zweifel mit ſich führen.

 

Wenn der Untergang oder der Beſitzverluſt einer ſtreiti-

gen Sache nach der L. C. bewirkt wird durch Dolus

oder Culpa des Beklagten, ſo muß dafür unbedingt Ent-

ſchädigung geleiſtet werden, der Beklagte mag redlicher oder

unredlicher Beſitzer ſeyn, in einer Mora ſich befinden oder

nicht. Dieſes gehört unter die wichtigſten Wirkungen der

L. C., und iſt eine Folge der obligatoriſchen Natur der

L. C., welche den Beklagten verpflichtet, die Sache mit der

größten Sorgfalt zu verwalten. — Die aufgeſtellte Regel

wird in folgenden wichtigen Anwendungen anerkannt.

 

1. Bei der Eigenthumsklage, wenn der Untergang

der Sache durch nachläſſiges Thun oder Unterlaſſen

bewirkt wird (a).

Eben ſo wenn durch Nachläſſigkeit der Verluſt des

Beſitzes herbeigeführt wird (b).

Eine wichtige Erweiterung erhält dieſe Regel für den

Fall des unredlichen Beſitzers; dieſer ſoll auch für den in

dem Zeitraum vor der L. C. begangenen Dolus oder Culpa

Entſchädigung leiſten. Dieſes iſt der wahre Inhalt folgen-

der, nicht ſelten unrichtig aufgefaßter, Stelle (c):

 

(a) L. 36 § 1, L. 33, L. 51 de

rei vind. (6. 1), L. 91 pr. de

verb. obl. (45. 1).

(b) L. 63, L. 36 § 1, L. 21,

L. 17 § 1 de rei vind. (6. 1),

L. 21 § 3 de evict. (21. 2).

(c) L. 45 de rei vind. (6. 1)

aus Ulpianus lib. LXVIII. ad ed.

|0186 : 168|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

„Si homo sit, qui post conventionem restituitur(d),

si quidem a bonae fidei possessore, puto cavendum

esse de dolo solo debere: ceteros, etiam de culpa

sua(e): inter quos erit et bonae fidei possessor post

litem contestatam“(f).

Der redliche Beſitzer, ſagt hier Ulpian, iſt verpflichtet

für Dolus und Culpa einzuſtehen, die er nach der L. C.

begeht, der unredliche Beſitzer auch für die vorher began-

genen Handlungen ſolcher Art. Hat aber die von dem

redlichen Beſitzer vor der L. C. begangene Handlung die

Natur eines Dolus, ſo muß dafür allerdings auch er ein-

ſtehen (g). — Dieſe ſtrengere Behandlung des unredlichen

 

(d) post conventionem heißt,

ſo wie auch anderwärts, ſo viel

als post litis contestationem

(§ 257. u). — Die hier erwähnte

Reſtitution iſt die, welche bei den

arbiträren Klagen auf die Auffor-

derung des Judex geſchah. Dieſe

ſollte nur dann genügen, wenn

Caution geſtellt wurde, daß dadurch

dem Kläger eben ſo viel, wie au-

ßerdem durch das Urtheil, verſchafft

wurde: Daher iſt der Inhalt dieſer

Caution zugleich ein Zeugniß für

den Inhalt des Urtheils (§ 260

Num. 1), in welchem Sinn es auch

in meiner Erklärung aufgefaßt wird.

(e) Durch den Gegenſatz der

folgenden Worte iſt es klar, daß

die Culpa vor und nach der L. C.

den unredlichen Beſitzer verant-

wortlich machen ſoll.

(f) d. h. für diejenigen

Handlungen, die er nach der

L. C. begeht, die ihn alſo wegen

Dolus und Culpa verantwortlich

machen ſollen.

(g) Es ſcheint widerſprechend,

daß der redliche Beſitzer eines Do-

lus fähig ſeyn ſoll. Die Sache

iſt aber ſo zu denken. Wenn er

vor der L. C. den Sclaven manu-

mittirt oder verpfändet hat, ſo war

das zwar damals eine ehrliche

Handlung. Wenn er ſie aber jetzt,

bei der Reſtitution (die dadurch

unwirkſam wird), verſchweigt, ſo

macht er ſich dadurch eines Dolus

ſchuldig; daher muß er Caution

ſtellen, daß dergleichen nicht vor-

gefallen ſey. — Wetzell Vindica-

tionsprozeß S. 206—211 erklärt

die Stelle willkührlich und gezwun-

gen, indem er unter andern einen

grundloſen Unterſchied zwiſchen der

Eigenthumsklage und Erbrechts-

klage behauptet.

|0187 : 169|

§. 272. Wirkung der L. C. — Verminderungen.

Beſitzers für die Zeit vor der L. C. ſcheint im Zuſammen-

hang zu ſtehen mit dem oben bei den Erweiterungen er-

wähnten, durch das Sc. Juventianum eingeführten, dolus

praeteritus (§ 266. e. g), obgleich ſie über den Buchſtaben

dieſes Ausdrucks noch hinaus geht.

2. Bei den perſönlichen Klagen, und zwar namentlich

bei den Condictionen, bei welchen man es am erſten

bezweifeln könnte, gilt dieſelbe Regel. Der Beklagte

muß alſo Entſchädigung leiſten, wenn er nach der

L. C. durch Dolus oder Culpa irgend einer Art den

Untergang oder den Beſitzesverluſt der Sache bewirkt

hat. Es liegt Dieſes in der omnis causa, zu welcher

auch ihn die L. C. verpflichtet, und die darauf geht,

dem Kläger alle Nachtheile zu vergüten, die aus der

Dauer des Rechtsſtreites entſpringen (h). Vor der

L. C. iſt der Stipulationsſchuldner (wenn keine Mora

vorhanden iſt) nur ſchuldig die poſitiven Handlungen

zu unterlaſſen, wodurch die Erfüllung unmöglich

werden würde (i).

(h) L. 31 pr. de reb. cred.

(12. 1) „Cum fundus vel homo

per condictionem petitus esset,

puto hoc nos jure uti, ut post

judicium acceptum causa omnis

restituenda sit: id est, omne

quod habiturus esset actor, si

litis contestandae tempore so-

lutus fuisset.“ — Eben ſo iſt

bei der Eigenthumsklage die omnis

causa zu leiſten (L. 17 § 1 de rei

vind. (6. 1), und auch daraus folgt

die Entſchädigungspflicht für jeden

durch Culpa bewirkten Verluſt der

Sache. L. 36 § 1 de rei vind.

(6. 1).

(i) L. 91 pr. de verb. obl.

(45. 1).

|0188 : 170|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

§. 273.

Wirkung der L. C. II. Umfang der Verurtheilung. —

b) Verminderungen. (Fortſetzung.)

Schwieriger und beſtrittener als die bisher unterſuchten

Fälle der Verminderung iſt der Fall, wenn ohne Dolus

und Culpa des Beklagten, alſo durch Zufall, die Ver-

minderung bewirkt, z. B. die Sache zerſtört oder dem

Beſitz des Beklagten entzogen wird.

 

Unzweifelhaft iſt es, daß in vielen Fällen dieſer Art

der Beklagte Entſchädigung leiſten muß, und daß insbeſon-

dere bei perſönlichen Klagen die Mora, bei Klagen in rem

der unredliche Beſitz, Beſtimmungsgründe für dieſe

Verpflichtung ſind. Allein theils die näheren Beſtimmungen

hierüber, theils das Verhältniß der L. C. zu den beiden

erwähnten Momenten, iſt in hohem Grade ſtreitig.

 

Unter den neueren Schriftſtellern iſt die Meinungsver-

ſchiedenheit großentheils ſo zu beſtimmen. Einige ſagen,

dem unredlichen Beſitz nach der L. C. ſey völlig gleiche

Wirkung mit der Mora zuzuſchreiben; beide nämlich be-

gründeten eine Verpflichtung zum Erſatz nur unter gewiſſen

Einſchränkungen. Andere dagegen nehmen an, dieſe Ein-

ſchränkungen ſeyen nur auf den unredlichen Beſitz anzu-

wenden, die Verpflichtung aus der Mora dagegen ſey ganz

unbedingt (a).

 

(a) Buchka Einfluß des Prozeſſes S. 202, wo viele Schriftſteller

angeführt werden. Wächter H. 3 S. 133.

|0189 : 171|

§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

Aber nicht blos unter den Neueren iſt ein ſolcher

Widerſtreit wahrzunehmen; auch bei den Römiſchen Juriſten

finden ſich theils unter den Schulen, theils unter den Ein-

zelnen, ſehr abweichende Meinungen (b). Insbeſondere

werden von Einzelnen extreme Meinungen nach beiden

Richtungen hin, d. h. bald zu unbedingter Bejahung, bald

zu unbedingter Verneinung der Verbindlichkeit zum Erſatz

angeführt. Die ſpäteren großen Juriſten aber ſuchten dieſe

Extreme zu einer billigen Vermittelung hinzuführen.

 

Die oben angedeuteten Einſchränkungen beziehen ſich

auf zwei Punkte. Es ſoll, wie behauptet wird, die Ent-

ſchädigung davon abhängig gemacht werden, ob der Kläger

die Sache, wenn ſie nicht untergegangen wäre, verkauft

haben würde; imgleichen davon, ob der jetzt eingetretene

Untergang auch dann eingetreten ſeyn würde, wenn der

Kläger den Beſitz der Sache früher erhalten hätte. Beide

Einſchränkungen werden bald einzeln, bald in Verbindung

behauptet. Bei beiden endlich kommt es noch darauf an,

wer von beiden Theilen das Daſeyn oder die Abweſenheit

beider thatſächlichen Bedingungen zu beweiſen hat. — Ich

werde dieſe Fragen zunächſt ganz unberührt laſſen, und erſt

am Schluß dieſer Unterſuchung darauf zurückkommen.

 

I. Bei den perſönlichen Klagen iſt die Mora das

entſcheidende Moment, und hierüber ſind bei folgenden ein-

zelnen Klagen ausdrückliche Beſtimmungen vorhanden.

 

(b) Keller S. 170.

|0190 : 172|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

A. Bei der Stipulation findet ſich in vielen un-

zweifelhaften Stellen der unbedingte Ausſpruch, daß von

der Mora an, alſo oft vor allem Rechtsſtreit, der zufällige

Untergang der verſprochenen Sache den Schuldner zur

Entſchädigung verpflichte (c). Dieſe Regel erhält ihre

vollſtändige Beſtimmung durch den Gegenſatz des Rechts-

zuſtandes, welcher vor der Mora, in Folge des blos ge-

ſchloſſenen Vertrages, ſtattfindet. In dieſem Zeitraum

haftet der Schuldner nur für denjenigen Untergang, welcher

durch ſeine Abſicht, oder durch ſeine culpoſe Handlungen

(nicht durch bloße Unterlaſſungen) bewirkt wird (d).

 

B. Ganz derſelbe Grundſatz einer unbedingten Ver-

pflichtung ſoll gelten bei allen Obligationen, auch außer

der Stipulation, welche mit einer Klage auf dare opor-

tere (einer Condiction) verbunden ſind (e). — Eine

bloße Anwendung dieſer Regel iſt es, daß der Dieb von

dem Augenblick des Diebſtahls an, durch welchen er ſtets

in eine Mora verſetzt wird, den zufälligen Untergang

 

(c) L. 82 § 1, L. 23 de verb.

obl. (45. 1), L. 39 § 1 de leg. 1

(30). — Weniger direct ausge-

ſprochen, aber dennoch erkennbar,

findet ſich dieſelbe Regel auch in

L. 91 pr. de verb. obl. (45. 1),

L. 5 § 4 de in litem jur. (12. 3),

L. 23 de pec. const. (13. 5).

(d) L. 91 pr. de verb. obl. (45. 1).

Aber ſelbſt bei der abſichtlichen

Veräußerung, welche hiernach ge-

wiß zum Erſatz verpflichtet, kann

dieſe Wirkung hinterher dadurch

entkräftet werden, daß die Sache

durch Zufall untergeht, indem nun

die Veräußerung keinen Unterſchied

mehr macht. L. 45 de verb. obl.

(45. 1).

(e) L. 5 de reb. cred. (12. 1).

Das dare oportere iſt, hier wie

in vielen anderen Stellen, die Be-

zeichnung der Condictionen und

zwar gerade der ſtrengeren Arten

derſelben, mit Ausſchluß der auf

dare facere oportere gerichteten

incerti condictio.

|0191 : 173|

§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

der geſtohlenen Sache erſetzen muß; denn gegen ihn geht

die auf dare oportere gerichtete condictio furtiva (f).

C. Bei dem Kaufcontract haftet gleifalls der Ver-

käufer für den zufälligen Untergang der verkauften Sache (g).

 

D. Dieſelbe Regel wird endlich auch bei Legaten

erwähnt, wenn dem Erben zur Zeit des zufälligen Unter-

gangs der Sache eine Mora zur Laſt fällt (h).

 

Es bedarf keines Beweiſes, daß in allen dieſen Fällen

der Schuldner um ſo mehr zur Entſchädigung verpflichtet

iſt, wenn der Untergang der ſtreitigen Sache durch ſeine

Culpa, nicht durch Zufall, bewirkt wird.

 

Als Grund dieſer ſtrengen, durch die Mora herbeige-

führten Verpflichtung wird in einer der angeführten Stellen

der Umſtand angegeben, daß durch die Mora (alſo durch

eine bewußte Rechtsverletzung) dem Berechtigten jede Mög-

lichkeit entzogen worden ſey, die Sache zu verkaufen,

wodurch er ſich gegen allen Verluſt geſchützt haben

würde (i).

 

Wenn nun dieſe ſtrenge Verpflichtung von der Mora

an behauptet werden muß, ſo wird dieſelbe in den meiſten

hierher gehörenden Fällen um ſo weniger bezweifelt werden

können, wenn es (ohne daß eine frühere Mora nachzuweiſen

iſt) in dem Rechtsſtreit zur Inſinuation der Klage, oder

 

(f) L. 20, L. 8 § 1 de cond.

furt. (13. 1), L. 9 C. de furtis

(6. 2).

(g) L. 4. 6 C. de peric. (4. 48).

(h) L. 39 § 1, L. 47 § 6, L. 108

§ 11 de leg. 1 (30), L. 23 de verb.

obl. (45. 1).

(i) L. 47 § 6 de leg. 1 (30).

|0192 : 174|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſogar zur L. C. gekommen iſt. Denn gerade in dieſen

Fällen, bei dem Rechtsſtreit über eine beſtimmte einzelne

Sache (bei welcher allein von dem Untergang die Rede iſt),

wird nicht leicht ein Rechtsſtreit anfangen, ohne daß der

Schuldner in einer Mora ſich befände. Beſonders wird

dieſes gelten bei der Stipulation, deren formelle Natur

meiſt allen Zweifel über das Daſeyn der Schuld aus-

ſchließen muß (k).

Dieſe Bemerkung iſt wichtig für die Erklärung einiger

anderen Stellen, in welchen leicht ein Widerſpruch gegen

die aufgeſtellte Regel angenommen werden könnte. In

dieſen Stellen nämlich wird geſagt, eine Verpflichtung

wegen des zufälligen Unterganges ſey vorhanden von der

L. C. an. Dieſes wird namentlich erwähnt bei der Sti-

pulation, dem Legat, dem Depoſitum, und der Obligation

aus einer in jure confessio (l).

 

Es liegt ſehr nahe, in dieſe Stellen ein argumentum

a contrario hineinzutragen, ſo daß der Sinn derſelben ſeyn

würde: nur von der L. C., und nicht ſchon von der

Mora an. Dadurch würden dieſe Stellen in einen unauf-

löslichen Widerſpruch mit den vorher angeführten zahl-

reichen Zeugniſſen treten, und es würde dieſer Widerſpruch

 

(k) In dieſer Bemerkung liegt

noch eine Beſtätigung der oben in

§ 264. d aufgeſtellten Erklärung

der L. 82 § 1 de verb. obl. (45. 1)

„Et hic moram videtur fecisse,

qui litigare maluit quam resti-

tuere,“ nach welcher dieſe (von

der Stipulation handelnde) Stelle

nicht von jeder Prozeßführung über-

haupt, ſondern nur von einer fri-

volen, böswilligen, zu verſtehen iſt.

(l) L. 8 de re jud. (42. 1),

L. 12 § 3 depos. (16. 3), L. 5

de confessis (42. 2).

|0193 : 175|

§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

als eine aus Verſehen in die Digeſten aufgenommene Con-

troverſe der alten Juriſten anzuſehen ſeyn. — Allein dieſe

Erklärung iſt ſchon deswegen entſchieden zu verwerfen,

weil derſelbe Pomponius in Einer Stelle die Mora, in

einer andern die L. C. als unzweifelhaften Grund jener

ſtrengen Verpflichtung bei der Stipulation angiebt (m).

Jene ſcheinbar widerſprechende Stellen ſind alſo dahin zu

vereinigen, daß die ſtrenge Verpflichtung von der Mora,

und wo dieſe zufällig fehlt, von dem Rechtsſtreit anfängt,

wobei nach den beſonderen Umſtänden des einzelnen Falles

gerade die L. C. der Zeitpunkt ſeyn kann, in welchem der

Richter die ſichere Annahme einer anfangenden Mora

zuläſſig findet (§ 264. g). Vielleicht waren auch einige

dieſer Äußerungen veranlaßt durch wirkliche Fälle, in

welchem der Untergang zufällig in die Zeit nach der L. C.

fiel, ſo daß ein Zurückgehen auf die frühere Zeit (von der

Mora an) ohne practiſche Erheblichkeit war.

Außerdem aber findet ſich noch die Erwähnung, daß

Sabinus und Caſſius jede Verpflichtung des Beklagten

wegen des zufälligen Unterganges für unbillig und ver-

werflich erklärten (n). Dieſe Erwähnung einer ſo ſtark

 

(m) L. 5 de reb. cred. (12. 1)

und L. 12 § 3 depos. (16. 3), beide

aus Pomponius lib. XXII. ad

Sabinum. Dabei iſt doch wohl

an eine Controverſe gar nicht zu

denken.

(n) L. 14 § 1 depos. (16. 3)

„… veluti si homo mortuus

fuerit, Sabinus et Cassius, ab-

solvi debere eum cum quo

actum est dixerunt: quia ae-

quum esset, naturalem interi-

tum ad actorem pertinere: uti-

que cum interitura esset ea

res, etsi restituta esset actori.“

Der letzte Satz der Stelle wird

unten berückſichtigt werden.

|0194 : 176|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

abweichenden Meinung hat nur eine hiſtoriſche Bedeutung,

wie denn ſelbſt der Juriſt bei dem ſie ſich findet, eine

eigene Beſtätigung derſelben nicht hinzufügt.

Ich habe abſichtlich die ſchwierigſte unter den hierher

gehörenden Stellen erſt zum Schluß erwähnen wollen, um

nicht das Ergebniß der ſicheren Zeugniſſe durch Einmiſchung

eines dunklen unnöthig zu verwirren und zu ſchwächen.

Dieſe von Ulpian herrührende Stelle hat folgenden

Inhalt (o). Wenn ein Sclave durch Drohungen dem

Eigenthümer abgenöthigt wird, ſo hat dieſer eine actio

quod metus causa auf Rückgabe des Sclaven. Stirbt nun

der Sclave durch Zufall, ſo kann das geſchehen entweder

nach dem rechtskräftigen Urtheil, oder vor demſelben. Im

erſten Fall, ſagt Ulpian, braucht der Beklagte Nichts

mehr zu bezahlen, weil er ſchon wegen der verweigerten

Natural-Reſtitution den dreifachen Werth als Strafe hat

entrichten müſſen, wodurch jede fernere Leiſtung abſorbirt

wird. Im zweiten Fall dagegen muß er den Werth des

zufällig verlornen Sclaven erſetzen (p). Dieſer zweite Fall

muß nun ſo gedacht werden, daß der Untergang des

Sclaven in die Zeit zwiſchen der L. C. und dem Urtheil

fiel (q), ſo daß dieſe Stelle in die Reihe der ſo eben ange-

 

(o) L. 14 § 11 quod metus

(4. 2).

(p) l. c. „si autem ante sen-

tentiam .. mortuus fuerit, te-

nebitur (nämlich auf einfachen

Schadenserſatz) … Itaque inter-

dum hominis mortui pretium

recipit.“

(q) Und zwar muß noch beſtimm-

ter angenommen werden, daß der

Tod auch vor dem Reſtitutions-

befehl des Judex Statt fand, ſonſt

|0195 : 177|

§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

führten Stellen gehört, nach welchen der zufällige Unter-

gang nach der L. C. zum Erſatz verpflichten ſoll (r).

Ulpian fügt hinzu, Daſſelbe müſſe auch gelten bei den

beiden Interdicten de vi und quod vi.

Wenn man übrigens die Wirkung der L. C. in der

hier dargeſtellten Weiſe auffaßt, ſo iſt es einleuchtend,

daß, bei dieſem Fall der ſtrengen Verpflichtung des Be-

klagten, die L. C. als ſolche (d. h. durch ihre obliga-

toriſche Kraft) eigentlich gar nicht für ein entſcheidendes

Moment angeſehen werden kann.

 

II. Bei den Klagen in rem finden ſich über die Ent-

ſchädigung wegen des zufälligen Untergangs folgende

Ausſprüche.

 

A. Eigenthumsklage.

 

Viele ältere Juriſten hatten behauptet, durch den zu-

fälligen Untergang der Sache, ſelbſt nach der L. C., werde

der Beklagte durchaus nicht zum Erſatz verpflichtet.

Ulpian berichtigt dieſe extreme Meinung auf folgende

Weiſe (s). Wenn der Untergang erfolge, nachdem ſchon

 

würde wegen des Ungehorſams die

Strafe des dreifachen Werthes ein-

getreten ſeyn, welche ſo wie in

dem erſten Fall den einfachen

Schadenserſatz abſorbirt hätte. Es

wäre nun eine eigentliche Mora

geweſen.

(r) Ich will es nicht für un-

möglich erklären, daß auch die

Analogie der Eigenthumsklage hier

vorgeſchwebt haben kann, indem

allerdings bei den drei hier ge-

nannten perſönlichen Klagen der

Beklagte auch als ein unredlicher

Beſitzer angeſehen werden kann,

und indem die Klage quod metus

eine in rem scripta iſt. — Ueber-

haupt mag es dahin geſtellt blei-

ben, ob das allerdings ſehr con-

fuſe Ausſehen dieſer Stelle dem

Verfaſſer zur Laſt fällt oder von

einer ungeſchickten Behandlung der

Compilatoren herrührt.

(s) L. 15 § 3 de rei vind. (6. 1).

VI. 12

|0196 : 178|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

der Judex das Recht des Klägers vorläufig anerkannt und

die Natural-Reſtitution anbefohlen hatte (welches vor dem

eigentlichen Urtheil geſchah § 221), ſo ſey der Beklagte

allerdings zum Erſatz verpflichtet, indem nun die verzögerte

Reſtitution eine wahre Mora enthalte, und daher die (oben

entwickelten) Grundſätze der Mora in Obligationen anwend-

bar ſeyen. Dies iſt der Sinn folgender Worte der ange-

führten Stelle:

„Si servus petitus, vel animal aliud demortuum sit

sine dolo malo et culpa possessoris, pretium non

esse praestandum plerique ajunt. Sed est verius,

si forte distracturus erat petitor si accepisset(t),

moram passo debere praestari(u): nam si ei resti-

tuisset, distraxisset, et pretium esset lucratus.“

(t) Dieſe Worte werden weiter

unten berückſichtigt werden.

(u) Die Mora in dieſer und

der gleich folgenden Stelle wer-

den gewöhnlich in dem allgemei-

nen Sinn aufgefaßt, als ob ſie

blos die in der Natur des Rechts-

ſtreits liegende Verzögerung be-

deuteten, alſo von Seiten des Be-

klagten die (an ſich nicht zu ta-

delnde) Prozeßführung anſtatt des

freiwilligen Nachgebens. Schon

an ſich iſt es unwahrſcheinlich,

daß ein ſo beſtimmter und wich-

tiger Kunſtausdruck in einer ſo

vagen Bedeutung, völlig verſchie-

den von dem wahren und techni-

ſchen Sinn, gebraucht ſeyn ſollte.

Seitdem wir aber die Natur der

arbiträren Klagen aus Gajus

kennen, kann es keinem Zweifel

unterliegen, daß die hier erwähnte

mora den Ungehorſam gegen den

Reſtitutionsbefehl des Judex be-

zeichnet, alſo daſſelbe, welches

anderwärts contumacia heißt.

L. 1. L. 2 § 1 de in litem jur.

(12. 3). Ohne Zweifel iſt in

dieſer Stelle von einem redlichen

Beſitzer die Rede. Die Mora iſt

hier übrigens im eigentlichſten

Sinn zu nehmen, und zwar auf

die Obligation in der L. C. zu

beziehen (§ 258. v). — Die rich-

tige Erklärung der mora in dieſen

Stellen hat Wetzell Vindications-

prozeß S. 179 — 181, der aber

außerdem die Stelle gezwungen

und unrichtig erklärt.

|0197 : 179|

§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

Eine Beſtätigung dieſes Ausſpruchs enthält auch die

Fortſetzung derſelben Stelle (v) in folgenden Worten:

„Idem Julianus eodem libro scribit, si moram fece-

rit in homine reddendo possessor et homo mortuus

sit, et fructuum rationem usque ad rei judicatae

tempus spectandam esse“(w).

 

Außerdem aber iſt, unabhängig von dieſer Mora und

ſchon vor derſelben, der Beklagte für den zufälligen Unter-

gang verhaftet, wenn er ein unredlicher Beſitzer iſt, und

der Untergang nach der L. C. erfolgt (x).

 

B. Erbrechtsklage.

 

Hier hatten die älteren Juriſten eine unbedingte Ver-

pflichtung des Beklagten wegen des nach der L. C. ein-

getretenen zufälligen Untergangs behauptet. Sie waren

dazu veranlaßt worden durch die zu abſolut gefaßten Aus-

drücke des Sc. Inventianum. Paulus berichtigt dieſe zu

weit gehende Behauptung durch die Unterſcheidung des

 

(v) L. 17 § 1 de rei vind.

(6. 1).

(w) Wenn ſogar dieſe ver-

ſäumten Früchte erſetzt werden

ſollen, ſo iſt gewiß vor Allem die

Entſchädigung für den Werth

des Sclaven ſelbſt als ein begrün-

deter Anſpruch des Klägers gedacht.

(x) Vgl. die ſogleich folgende

L. 40 pr. de her. pet. (5. 3), die

ausdrücklich auch von der Eigen-

thumsklage ſpricht. — Wenn übri-

gens Paulus in L. 16 pr. de

rei vind. (6. 1) ſagt: „non enim

post litem contestatam utique

et fatum possessor praestare

debet,“ ſo reiht er ſich damit

nicht etwa an die plerique an,

die Ulpian in L. 15 § 3 eod.

anführt und widerlegt; denn er

verneint hier nur die unbedingte

Erſatzverpflichtung, und dieſe ne-

gative Behauptung iſt eben ſo

vereinbar, mit der durch die

mora neu entſtehenden Verpflich-

tung (wie ſie Ulpian aufſtellt),

als mit der beſonderen Verpflich-

tung des unredlichen Beſitzers,

(wie ſie Paulus ſelbſt in L. 40

pr. de her. pet. anerkennt).

12*

|0198 : 180|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

redlichen und unredlichen Beſitzers. Gegen den unredlichen

Beſitzer ſey dieſe Strenge allerdings begründet, gegen den red-

lichen durchaus nicht. Er fügt hinzu, ganz Daſſelbe wie bei der

Erbrechtsklage, müſſe auch bei der Eigenthumsklage zur Anwen-

dung kommen. — Dies iſt der Sinn folgender Worte (y):

„quid enim, si post litem contestatam mancipia, aut

jumenta, aut pecora deperierint? damnari debebit

secundum verba orationis, quia potuit petitor, resti-

tuta hereditate distraxisse ea. Et hoc justum esse

in specialibus petitionibus Proculo placet. Cassius,

contra sensit. In praedonis persona Proculus recte

existimat: in bonae fidei possessoribus Cassius. Nec

enim debet possessor aut mortalitatem praestare, aut

propter metum hujus periculi temere indefensum

jus suum relinquere.“

Es hat jedoch keinen Zweifel, auf die Erbrechtsklage

auch den Fall der unbedingten Verpflichtung des Beklagten

anzuwenden, welcher oben bei der Eigenthumsklage in

Folge einer eigenthümlichen Art der Mora, nachgewieſen

 

(y) L. 40 pr. deher. pet. (5. 3).

Nach einer buchſtäblichen Inter-

pretation könnte man die Sache

ſo auffaſſen. Bei der Eigenthums-

klage werde in der That von Pau-

lus zwiſchen dem redlichen und

unredlichen Beſitzer unterſchieden.

Aber bei der Erbrechtsklage müſſe

die (obgleich harte) Vorſchrift

des Senatsſchluſſes auch für den

redlichen Beſitzer gelten. Offen-

bar will jedoch Paulus ſagen,

die Härte des Scts. gegen den

redlichen Beſitzer liege zwar in

den Worten, aber nicht in dem

Sinn deſſelben. In dieſer Hin-

ſicht will er beide Klagen völlig

gleich behandelt wiſſen. Die Rich-

tigkeit dieſer Erklärung geht aus

den Schlußworten unwiderſprech-

lich hervor, die ja auf beide Kla-

gen gleichmäßig paſſen.

|0199 : 181|

§. 273. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

worden iſt. Denn beide Klagen waren gleichmäßig arbi-

trariae, bei beiden kam eine vorläufige Anerkennung des

Rechts und ein Reſtitutionsbefehl des Judex vor, und bei

beiden mußte der Ungehorſam gegen dieſen Befehl gleich

ſtrenge Wirkungen hervorbringen.

Es ergiebt ſich aus dieſer Zuſammenſtellung, daß in

dieſen beiden Klagen die extremen Behauptungen der älteren

Juriſten ſpäterhin zu einer billigen Mitte, die eine von

Ulpian, die andere von Paulus, hingeführt worden ſind.

 

Zugleich geht aus der hier gegebenen Darſtellung für

die eigenthümliche Wirkung der L. C. als ſolcher Fol-

gendes hervor. In dem Fall der beſonderen Mora (des

Ungehorſams gegen den Reſtitutionsbefehl) iſt die L. C.

ſelbſt gar kein entſcheidendes Moment; ſie iſt nur mittel-

bar wichtig, indem gerade durch ihre vorhergehende Voll-

ziehung der nachher eintretende Ungehorſam die Natur

einer wahren Mora annimmt. Dagegen iſt im Fall des

unredlichen Beſitzes die L. C. als ſolche das Entſchei-

dende; dieſer Fall iſt daher der einzige überhaupt, von

welchem man behaupten kann, daß der Zeitpunkt der L. C.

die Verpflichtung des Beklagten für jeden nachher ein-

tretenden zufälligen Untergang beſtimmt.

 

C. Man kann dieſen Klagen in rem auch noch die

actio ad exhibendum hinzufügen, welche zwar eine per-

ſönliche Klage iſt, aber doch großentheils nach den Regeln

der Eigenthumsklage beurtheilt wird. Auch bei dieſer

Klage wird eine Verpflichtung des Beklagten wegen des

 

|0200 : 182|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

zufälligen Untergangs ausgeſprochen, jedoch ohne nähere

Angabe der Gränzen derſelben (z).

Fragen wir zuletzt, welche unter den bisher aufge-

ſtellten Regeln auch noch im heutigen Recht anwendbar

ſind, ſo kann die Antwort kaum zweifelhaft ſeyn. — Die

allgemeine Verpflichtung des im Zuſtand der Mora befind-

lichen Schuldners iſt unbedenklich anwendbar. Eben ſo

auch die Verbindlichkeit des unredlichen Beſitzers bei den

Klagen in rem von der L. C. an. Dagegen kann die

eigenthümliche Art der Mora bei der Eigenthumsklage und

der Erbrechtsklage bei uns nicht mehr vorkommen, da ſie

durch das ganz beſondere, für uns ſpurlos verſchwundene,

Prozeßverfahren bei den arbiträren Klagen des R. R.

bedingt iſt. Bei uns kann daher der Fall gar nicht mehr

eintreten, in welchem das R. R. den Beklagten wegen

einer ſolchen eigenthümlichen Mora, nämlich wegen des

Ungehorſams gegen den vor dem Urtheil erlaſſenen Reſti-

tutionsbefehl, den zufälligen Untergang zu vergüten ver-

pflichtete.

 

Das Preußiſche A. L. R. ſchließt ſich hier im Allge-

meinen dem R. R. an. Es verpflichtet zur Vergütung

 

(z) L. 12 § 4 ad exhib. (10. 4)

„interdum .. damnandus est.“

Mit dieſem Ausdruck wird auf

beſchränkende Bedingungen der Ver-

pflichtung hingedeutet, ohne dieſe

näher zu bezeichnen. Ohne Zwei-

fel ſind es dieſelben Bedingungen

wie bei der Eigenthumsklage:

alſo entweder der unredliche Beſitz

des Beklagten, oder deſſen Mora,

d. h. der Ungehorſam gegen den

Exhibitionsbefehl des Judex, in-

dem auch dieſe Klage unter die

arbiträren gehört.

|0201 : 183|

§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

des Zufalls nicht jeden Beklagten überhaupt, obgleich dem-

ſelben von der Inſinuation an ein fingirter unredlicher

Beſitz zugeſchrieben wird, ſondern nur allein den eigent-

lich unredlichen Beſitzer, alſo den, welcher wirklich

weiß, daß er mit Unrecht beſitzt (aa). Dieſelbe Verpflich-

tung aber trifft auch den Schuldner, der mit der Ueber-

gabe einer Sache im Verzug ſich befindet (bb). — Es

findet ſich hier zwiſchen beiden Rechten völlige Ueberein-

ſtimmung, nur unter verſchiedenen Ausdrücken, wie ſie

aus der Verſchiedenheit der allgemeinen Auffaſſung her-

vorgehen mußte.

§. 274.

Wirkung der Litis Conteſtation. — II. Umfang der Ver-

urtheilung. — b) Verminderungen. (Fortſetzung.)

Ich wende mich jetzt zu der oben (§ 273) ausgeſetzten

Frage wegen der angeblichen Einſchränkungen der ſtrengen

Erſatzverbindlichkeit des Beklagten.

 

(aa) A. L. R., Th. 1 Tit. 7

§ 241. Der „eigentlich unred-

liche Beſitzer“ iſt hier allerdings

zunächſt geſagt im Gegenſatz des

unrechtfertigen (§ 240), der hierin

gelinder behandelt werden ſoll.

Wenn aber ſchon der unrechtfer-

tige, deſſen Bewußtſeyn doch immer

etwas fehlerhaft iſt, von dieſer

ſtrengen Verpflichtung frei ſeyn

ſoll, ſo muß dieſelbe Befreiung

um ſo mehr demjenigen gebühren,

dem blos die fingirte Unredlich-

keit wegen der Inſinuation (§ 222)

zugeſchrieben werden kann, und

deſſen Bewußtſeyn daneben viel-

leicht vollkommen tadellos iſt.

Inſofern bezeichnet das eigent-

lich auch (wenigſtens indirect)

einen Gegenſatz gegen den § 222. —

Von der Einſchränkung am Schluß

des § 241 wird im folgenden §

die Rede ſeyn.

(bb) A. L. R., Th. 1 Tit. 16

§ 18.

|0202 : 184|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

I. Die erſte dieſer Einſchränkungen wird darin geſetzt,

daß der Kläger die ſtreitige Sache, wenn ſie ihm zu rechter

Zeit gewährt worden wäre, verkauft und eben dadurch

jeden Schaden für ſein Vermögen abgewendet haben müßte.

Natürlich wird dabei hinzugedacht, daß der Kläger beweiſen

müſſe, er würde verkauft haben.

 

Betrachten wir zuerſt dieſe Frage im Allgemeinen, nach

der inneren Natur des Rechtsverhältniſſes, ſo muß uns

jene Behauptung ſehr bedenklich erſcheinen. Wer einem

Andern eine Sache zu geben ſchuldig iſt, und dieſes mit

wahrer Mora unterläßt, begeht dadurch ein Unrecht mit

Bewußtſeyn, welches unter andern die Folge hat, daß dem

Creditor einſtweilen der Verkauf der Sache unmöglich

gemacht wird (a). Für dieſen Nachtheil kann er dem

Gegner im Fall eines zufälligen Untergangs nur dadurch

wahren, vollſtändigen Erſatz leiſten, daß er ihm den Werth

der Sache bezahlt. Dabei erſcheint alſo die entzogene

Möglichkeit des Verkaufs als Motiv der ſtrengen Ver-

pflichtung. Durch die oben angegebene Behauptung ſoll

nun dieſes Motiv in eine Bedingung verwandelt werden,

ſo daß der Kläger nur dann einen Erſatz fordern könnte,

wenn er bewieſe, daß er von jener Möglichkeit Gebrauch

gemacht, alſo in der That verkauft haben würde. Dadurch

wird aber die ganze Regel ſo gut als völlig entkräftet.

 

(a) Nämlich factiſch unmöglich

faſt immer, ſo lange der Beſitz

(vielleicht auch das zu verſchaffende

Eigenthum) dem Kläger entzogen

iſt; zuweilen auch juriſtiſch un-

möglich, während des Rechtsſtreits,

wegen der Vorſchriften über das

litigiosum.

|0203 : 185|

§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

Denn der Beweis, daß der Kläger unter einer gewiſſen

(jetzt fehlenden) Vorausſetzung Etwas gethan haben würde,

iſt ſchon an ſich als eigentlicher Beweis unmöglich, ſo daß

Diejenigen, die ihn dennoch fordern, anſtatt des Beweiſes

eine gewiſſe factiſche Wahrſcheinlichkeit anzunehmen ge-

nöthigt ſeyn werden, die doch in der That kein Beweis

iſt (b). Beſonders einleuchtend iſt Dieſes gerade in dem

vorliegenden Fall, indem ſelbſt derjenige, der zu einem

Verkauf entſchiedene Neigung hätte, einen Käufer nicht

wird ſuchen und finden können, ſo lange ihm der Beſitz

der Sache (bei perſönlichen Klagen auf Tradition ſogar

das Eigenthum) fehlt. Nach dieſer allgemeinen Betrachtung

müſſen wir alſo den für den Kläger verhinderten Verkauf

als Motiv der ganzen Rechtsregel, nicht als Bedingung

ihrer Anwendung, betrachten.

Sehen wir nun zu, in welcher Weiſe das R. R. dieſe

Frage auffaßt.

 

A. Für den Fall der Mora bei den perſönlichen Klagen

ſagen die meiſten unter den zahlreichen Stellen des R. R.

hierüber gar Nichts. Sie ſprechen die unbedingte

Verpflichtung des Beklagten zum Erſatz für den zufälligen

Untergang aus, ohne irgend eine Ausnahme, ohne Erwäh-

nung eines dem Kläger verhinderten Verkaufs.

 

(b) Allerdings giebt es Fälle,

worin es factiſch größere Wahr-

ſcheinlichkeit hat, daß der Kläger

verkauft haben würde: namentlich

wenn der Kläger Kaufmann iſt,

und Waaren einklagt, die zu ſei-

nem Handelsgeſchäft gehören. Aber

auch in dieſem Fall bleibt es noch

ungewiß, ob er vor dem eingetre-

tenen Untergang Käufer zu den

von ihm geſtellten Preiſen gefunden

hätte.

|0204 : 186|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Eine einzige unter dieſen zahlreichen Stellen, die von

Ulpian herrührt, erwähnt den Verkauf, und zwar in

folgenden Worten (c):

„Item si fundus chasmate periit, Labeo ait, utique

aestimationem non deberi: quod ita verum est, si

non post moram id evenerit: potuit enim eum ac-

ceptum legatarius vendere.“

 

Hier iſt die Sache genau ſo aufgefaßt, wie ich ſie ſo

eben nach allgemeiner Betrachtung zu begründen geſucht habe.

Die Verpflichtung zum Erſatz, von der Zeit der Mora an,

wird unbedingt ausgeſprochen. Als Motiv der Verpflichtung

wird die bloße Möglichkeit des Verkaufs angegeben; nicht

aber wird die hypothetiſche Wirklichkeit des Verkaufs in

eine Bedingung verwandelt, ohne deren Beweis die Ver-

pflichtung nicht gelten ſollte.

 

Allerdings kann außer der ſo eben angeführten Stelle

des Ulpian auch noch die ſchon oben angeführte, ſehr ver-

worrene, Stelle deſſelben Juriſten über die actio quod metus

causa in Betracht kommen, die von einer perſönlichen Klage,

und in derſelben von den Wirkungen der Mora, oder der

die Mora vertretenden L. C. ſpricht (d). Allein dieſe

Stelle iſt durch die zweideutige Unbeſtimmtheit ihres Aus-

drucks für die vorliegende Streitfrage ganz unentſcheidend.

Sie lautet ſo:

 

(c) L. 47 § 6 de leg. 1 (30)

aus Ulpianus lib. XXII. ad Sa-

binum.

(d) L. 14 § 11 quod metus

(4. 2). Vgl. oben § 273.

|0205 : 187|

§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

„Itaque interdum hominis mortui pretium recipit, qui

eum venditurus fuit, si vim passus non esset.“

Das qui kann hier ſprachlich eben ſowohl den Sinn

von quia, als von si haben. Es kann alſo heißen: „weil

er ihn vielleicht verkauft haben wird,“ als „wenn er ihn

etwa verkauft haben wird.“ Die Stelle beweiſt alſo Nichts,

weil ſie für beide Meinungen ausgelegt werden kann. Am

wenigſten beweiſt ſie für die Annahme der Bedingung,

weil derſelbe Ulpian in der unmittelbar vorher angeführten

Stelle den Verkauf nicht als Bedingung, ſondern als

Motiv aufgefaßt hat, welche Auffaſſung alſo auch in der

gegenwärtig vorliegenden Stelle bei ihm für den Fall der

Mora (oder L. C.) in perſönlichen Klagen vorauszuſetzen iſt.

 

B. Genau auf dieſelbe Weiſe wird von Paulus bei

den Klagen auf Erbrecht oder Eigenthum die Verpflichtung

des unredlichen Beſitzers von der L. C. an behandelt (e):

„post acceptum judicium . . . . damnari debebit se-

cundum verba orationis, quia potuit petitor, restituta

hereditate, distraxisse ea. Et hoc justum esse in

specialibus petitionibus Proculo placet … In prae-

donis persona Proculus recte existimat.“

 

Auch hier wieder iſt die vorausgeſetzte allgemeine

Möglichkeit des Verkaufs als Motiv einer unbedingten

Verpflichtung ausgedrückt, und es iſt daraus nicht eine

einſchränkende Bedingung für den Fall eines wirklichen

Verkaufs gemacht.

 

(e) L. 40 pr. de her. pet. (5. 3). Vgl. § 273.

|0206 : 188|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

C. Bei den Klagen in rem, in welchen die ſtrenge Ver-

pflichtung des Beklagten durch die dieſen Klagen eigen-

thümliche Art der Mora (den Ungehorſam gegen den

Reſtitutionsbefehl) begründet wird, drückt ſich Ulpian ſo

aus (f):

„Sed est verius, si forte distracturus erat petitor

si accepisset, moram passo debere praestari: nam si

ei restituisset, distraxisset, et pretium esset lucratus.“

 

Hier iſt allerdings ein Ausdruck gebraucht, der ein

Bedingungsverhältniß bezeichnet. Wollten wir nun deshalb

einen Widerſpruch mit den vorhergehenden Stellen an-

nehmen, ſo würde Dieſes dadurch ſehr bedenklich werden,

daß eine dieſer Stellen gleichfalls von Ulpian herrührt.

Wollten wir, um dieſem Widerſpruch zu entgehen, an-

nehmen, es habe hierin bei der Mora in den Klagen in rem

ein anderes Recht gegolten, als bei der Mora in Obliga-

tionen und bei dem unredlichen Beſitzer, ſo würde dieſe

Vorausſetzung kleinlich und unwahrſcheinlich ſeyn.

 

Dieſen Schwierigkeiten können wir jedoch durch folgende

Erklärung der zuletzt angeführten Stelle entgehen, die

zugleich eine vermittelnde Natur für die ganze hier vor-

liegende Controverſe hat. Si forte distracturus erat heißt

wörtlich: „wenn es als eine Möglichkeit erſcheint, daß er

verkauft hätte“ (alſo forte für: möglicherweiſe). Geſetzt

nun, der Beklagte könnte in einem einzelnen Fall den

 

(f) L. 15 § 3 de rei vind. (6. 1) aus Ulpianus lib. XVI. ad ed.

Vgl. § 273.

|0207 : 189|

§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

Beweis führen, daß der Kläger gewiß nicht verkauft

haben würde, ſo wäre durch dieſen Beweis (der freilich

nur höchſt ſelten zu führen ſeyn wird und darum practiſch

ziemlich unerheblich iſt) die Möglichkeit des Verkaufs

ausgeſchloſſen, worauf doch die ganze Verpflichtung beruhen

ſoll. Dieſe Einſchränkung könnte dann ohne Gefahr auch

in die anderen Fälle hinein getragen werden, in welchen

die Möglichkeit nur als Motiv, nicht als Bedingung aus-

gedrückt iſt. Daß ſie bei dieſen Fällen nicht erwähnt wird,

erklärt ſich befriedigend aus der ſchon erwähnten ſeltenen

Anwendbarkeit. Aus demſelben Umſtand erklärt es ſich auch,

daß ſo viele Stellen über die Mora in Obligationen die

Verpflichtung des Schuldners zur Vergütung des zufälligen

Untergangs unbedingt ausſprechen, dadurch alſo gar keinen

Raum für irgend eine Art der Einſchränkung zu laſſen

ſcheinen. — Zugleich würde dieſe Erklärung auch auf die

ſchwierige Stelle des Ulpian über die actio quod metus

causa (Note d) Anwendung finden, und jeden Schein eines

Widerſpruchs derſelben mit den übrigen Stellen beſeitigen. —

Ein Beiſpiel des (immerhin höchſt ſeltenen) Beweiſes des

Beklagten wäre etwa Folgendes. Ein Lehn- oder Fidei-

commißgut oder auch ein fundus dotalis wird gegen einen

unredlichen Beſitzer vindicirt. Ein Blitzſtrahl (alſo der

Zufall) verzehrt die Gebäude durch Feuer. Hier läßt ſich

die Möglichkeit des Verkaufs durch die unveräußerliche Natur

des Grundſtücks widerlegen. Aber ſelbſt ohne die Vor-

ausſetzung eines aus Rechtsgründen unveräußerlichen Ge-

|0208 : 190|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

genſtandes läßt ſich der Beweis der unmöglichen Veräußerung

denken; wenn z. B. der Kläger in der ganzen Zeit, worin

die Mora oder der unredliche Beſitz des Beklagten beſtand,

in weiter Entfernung von der Heimath gelebt hat, ohne

einen Bevollmächtigten zurück zu laſſen, der in ſeinem

Namen den Verkauf hätte vornehmen können.

Nimmt man dieſe Erklärung an, ſo würde ſich für alle

Fälle der ſtrengen Verpflichtung die Sache ſo ſtellen. Die

Verpflichtung wäre in ſofern unbedingt, daß der Kläger,

um ſie geltend zu machen, niemals einen beſonderen Beweis

zu führen hätte. Grund der Verpflichtung wäre die dem

Berechtigten entzogene Möglichkeit die ſtreitige Sache vorher

zu verkaufen, und dadurch jeden Schaden von ſeinem Ver-

mögen abzuwenden. Dieſe Möglichkeit verſteht ſich im

Allgemeinen von ſelbſt, und nur in den ſeltenen Fällen,

worin der Beklagte beweiſt, daß die Möglichkeit nicht

vorhanden war, fällt auch die durch ſie begründete Ver-

pflichtung zur Entſchädigung hinweg.

 

II. Die zweite Einſchränkung hat den Sinn, daß

der zufällige Untergang nicht zum Erſatz verpflichten ſoll,

wenn er auch den Kläger als Beſitzer getroffen haben

würde, ſondern nur dann, wenn er eine Folge des unrecht-

mäßigen Beſitzes des Beklagten war (g).

 

(g) Wenn ein Grundſtück durch

einen Erdſturz untergeht (Note c),

ſo iſt Dieſes ein Ereigniß, welches

ohne Unterſchied des Beſitzers ein-

getreten wäre; eben ſo wenn ein

Gebäude durch einen Blitzſtrahl

eingeäſchert wird. Wenn dagegen

eine eingeklagte bewegliche Sache

mit dem ganzen Hauſe des Be-

klagten verbrennt, ſo iſt dieſer Unter-

|0209 : 191|

§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

Betrachten wir auch dieſe Einſchränkung zuerſt im All-

gemeinen, nach der Natur des vorliegenden Rechtsverhält-

niſſes. Eine ſcheinbare Rechtfertigung derſelben liegt in

dem Umſtand, daß in dem erſten der beiden angegebenen

Fälle der Kläger durch den vorenthaltenen Beſitz keinen

bleibenden Nachtheil erlitten zu haben ſcheint, indem ſein

Vermögen nach eingetretenem Untergang denſelben Umfang

haben würde, der Beſitz möchte ihm vorenthalten worden

ſeyn oder nicht.

 

Allein dieſer Schein verſchwindet, wenn man die er-

wähnte Einſchränkung mit der ſo eben verſuchten Erörterung

der erſten Einſchränkung zuſammenhält. Denn auch wenn

der Untergang ſo allgemeiner Natur iſt, daß er überall

Statt gefunden haben würde, ſo iſt doch nicht die Mög-

lichkeit abzuleugnen, daß der Kläger hätte rechtzeitig ver-

kaufen und dadurch von ſeinem Vermögen allen Verluſt

abwenden können. Gerade auf dieſer entzogenen Möglich-

keit aber beruht, wie oben gezeigt worden iſt, die ſtrenge

Verpflichtung des Beklagten überhaupt.

 

Fragen wir jetzt, was in den Quellen des R. R.

über dieſe zweite Einſchränkung vorkommt.

 

Alle klare und entſcheidende Stellen, welche oben für

die Feſtſtellung der ſtrengen Regel ſelbſt benutzt worden

ſind, ſchweigen darüber gänzlich. Wenn alſo in vielen

 

gang der ſtreitigen Sache eine Folge

davon, daß eben dieſer Beklagte ſie

beſaß. — Allerdings werden aber

auch in dieſer Hinſicht viele Fälle

unentſchieden in der Mitte liegen

bleiben.

|0210 : 192|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Stellen unbedingt ausgeſprochen wird, daß bei der Stipu-

lation der Schuldner durch die Mora verpflichtet werde,

den zufälligen Untergang der verſprochenen Sache zu ver-

güten, ohne irgend eine Erwähnung jener Einſchränkung,

ſo würden wir durch Annahme der Einſchränkung wenig-

ſtens mit dieſen Stellen in entſchiedenen Widerſpruch

treten, und es würde ſehr klarer, unzweideutiger Zeugniſſe

bedürfen, wenn wir auch nur zu einem Zweifel, und zu

dem Verſuch einer Vereinigung der ſcheinbar widerſprechen-

den Stellen veranlaßt werden ſollten. Ganz eben ſo ver-

hält es ſich mit der ſtrengen Verpflichtung des unredlichen

Beſitzers, ſo wie mit der eigenthümlichen Art der Mora

bei den Klagen in rem.

Was wir nun in der That über jene angebliche Ein-

ſchränkung im R. R. finden, läßt ſich auf folgende Äuße-

rungen zurück führen.

 

A. Bei der actio ad exhibendum iſt ſchon oben der

Satz vorgetragen worden, daß der zufällige Untergang der

Sache nach der L. C. den Beklagten zuweilen zur Ent-

ſchädigung verpflichte, welches ſo zu verſtehen iſt, daß die

ſtrenge Verpflichtung unter denſelben Bedingungen ein-

treten ſoll, wie bei der Eigenthumsklage (§ 273. z).

Dieſem Ausſpruch fügt Paulus folgende Worte hinzu (h):

„Tanto magis, si apparebit, eo casu mortuum esse,

qui non incidisset, si tum exhibitus fuisset.“

 

In dieſen Worten liegt Nichts als eine beſondere Be-

 

(h) L. 12 § 4 ad exhib. (10. 4).

|0211 : 193|

§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ)

kräftigung des Ausſpruchs für den hier bezeichneten Fall:

es liegt aber darin keinesweges die Erklärung, daß das

Gegentheil gelten ſolle, wenn der Untergang auf andere

Weiſe erfolgt ſey. Eine Einſchränkung der ſtrengen Ver-

pflichtung liegt in dieſen Worten durchaus nicht.

B. Bei der actio depositi war von Sabinus und

Caſſius jede Verpflichtung des Depoſitars zum Erſatz

des zufälligen Untergangs ſchlechthin verneint worden,

welche Meinung von Gajus blos hiſtoriſch, ohne Billi-

gung, erwähnt wird, und auch von den ſpäteren Juriſten,

ſo wie ſpäterhin in der Compilation, verworfen worden iſt

(§ 273. n). Dieſe verworfene ältere Meinung bekommt

am Schluß der Stelle noch folgenden Zuſatz (i):

„utique, cum interitura esset ea res, etsi restituta

esset actori.“

 

Dieſe Worte laſſen eine doppelte Auslegung zu. Sie

können heißen: die Verneinung ſey beſonders außer Zwei-

fel in dieſem Fall (obgleich ſie auch außerdem wahr und

richtig ſey). Sie können aber auch ſo verſtanden werden:

die Verneinung ſey nur in dieſem Fall ſchlechthin wahr

(anſtatt daß in anderen Fällen etwa noch Ausnahmen zu-

gelaſſen werden könnten). Für das in der Compilation

anerkannte, geltende Recht ſind dieſe Worte in jedem Fall

ganz gleichgültig, da ſie ſich blos auf eine verworfene

ältere Meinung beziehen: nach der einen Erklärung als

 

(i) L. 12 § 4 depos. (16. 3).

VI. 13

|0212 : 194|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Bekräftigung dieſer Meinung, nach der anderen als Ein-

ſchränkung derſelben.

C. Endlich bleibt noch die öfter erwähnte ſehr ver-

worrene Stelle des Ulpian über die actio quod metus

causa übrig (k). Darin wird geſagt, bei dem zufälligen

Untergang während des Rechtsſtreits ſey der Beklagte zum

Erſatz verpflichtet:

„si tamen peritura res non fuit, si metum non ad-

hibuisset, tenebitur reus“(l).

 

In dieſen Worten ſcheint allerdings, nach einem ſehr

nahe liegenden argumentum a contrario, für den entgegen-

geſetzten Fall (wenn die Sache in jedem Fall untergegangen

wäre, z. B. bei dem natürlichen Tode des Sclaven vor

Alter) jede ſtrenge Verpflichtung des Beklagten verneint zu

werden, und Dieſes iſt in der That die einzige ſcheinbare

Stütze der hier bekämpften Meinung. Es ſcheint mir je-

doch aus folgenden Gründen durchaus unzuläſſig, den ſo

 

(k) L. 14 § 11 quod metus

(4. 2). Vgl. oben § 273.

(l) Vollſtändig lautet der hier-

her gehörende Theil der Stelle ſo:

Nachdem zuerſt geſagt war, für

einen Sclaven, der ohne Schuld

des Beklagten entlaufen ſey, habe

der Beklagte blos Caution zu

ſtellen, fährt Ulpian fort: „Sed

et si non culpa ejus cum quo

agetur obierit, si tamen per-

itura res non fuit, si metum

non adhibuisset tenebitur reus.“

Die hier curſiv gedruckten Worte

ſind aus Haloander genommen, und

geben folgenden Sinn. Vorher

war die Rede geweſen von dem

entlaufenen Sclaven („Ergo

si in fuga sit servus sine dolo

malo et culpa ejus cum quo

agetur, cavendum esse“ rel). —

Dagegen bildet den Gegenſatz der

Fall des verſtorbenen Sclaven

(„Sed et si … obierit“). — Die

Leſeart der Florentina und der

Vulgata: „Sed et si non culpa

ab eo cum quo agetur aberit“

giebt durchaus keinen erträglichen

Sinn.

|0213 : 195|

§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

eben mitgetheilten Ausſpruch dieſer Stelle zum Grunde einer

allgemeinen Regel zu legen, und daraus für alle Klagen

überhaupt eine ſolche Einſchränkung der ſtrengen Verpflich-

tung des Beklagten zu conſtruiren. Die entſcheidendſten und

unzweifelhafteſten Stellen über dieſe ſtrenge Verpflichtung, ſo-

wohl bei den wichtigſten obligatoriſchen Verträgen, als

bei den Klagen auf Eigenthum und Erbrecht, ſtellen die

ſtrenge Verpflichtung unbedingt, ohne eine ſolche Ein-

ſchränkung, auf, ſtehen alſo mit derſelben in Widerſpruch.

Die Einſchränkung müßte in dieſelben aus der ange-

führten Stelle erſt hinein getragen werden, und dazu iſt

dieſe Stelle keinesweges geeignet. Der verworrene Inhalt

derſelben iſt ſchon oben bemerklich gemacht worden. Be-

ſonders von dem hier einſchlagenden Stück läßt ſich

zwar einigermaßen errathen und vermuthen, in welchen

beſonderen Fall, in welchen Theil des Prozeſſes es

eingreifen möge, eine ſichere Behauptung iſt darüber

nicht möglich. Dazu kommt noch, daß dieſe ganze Stelle

von der actio quod metus causa handelt, einer für den

Zuſammenhang des ganzen Rechtsſyſtems wenig erheb-

lichen Klage. Eine bei dieſer gelegentlich eingeſtreute Be-

merkung darf nicht maaßgebend gemacht werden für den

ganzen Umkreis aller Klagen überhaupt. Ein ſolches Ver-

fahren würde den richtigen Grundſätzen über den Aufbau

des Rechtsſyſtems aus den Quellenzeugniſſen, alſo dem

wahren Verhältniß zwiſchen Syſtem und Exegeſe, gänzlich

widerſprechen.

13*

|0214 : 196|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Erwägt man nun das oben erörterte Verhältniß beider

Einſchränkungen zu einander, ſo ergiebt ſich daraus das

folgende practiſche Reſultat.

 

1. Wenn die Urſache des Untergangs mit dem unrecht-

mäßigen Beſitz des Beklagten dergeſtalt zuſammenhängt,

daß ohne dieſen Beſitz der Untergang ſelbſt gar nicht

erfolgt wäre, ſo iſt unbedingt Entſchädigung zu leiſten,

und es kommt in dieſem Fall nicht darauf an, ob der

Kläger die Sache hätte verkaufen können (m).

2. Im entgegengeſetzten Fall iſt zwar auch in der Regel

Entſchädigung zu leiſten, jedoch nur weil es dem

Kläger möglich geweſen wäre, durch rechtzeitigen Ver-

kauf den Verluſt von ſich abzuwenden. Eben deshalb

fällt die Entſchädigung hinweg, wenn der Beklagte

beweiſt, daß ein Verkauf gewiß nicht Statt gefunden

hätte.

Nimmt man dieſes Verhältniß zwiſchen beiden Sätzen

an, ſo erſcheint dann das, welches als eine zweite Ein-

ſchränkung oben aufgefaßt und geprüft wurde, vielmehr als

eine Ausnahme der erſten, nunmehr einzigen, Ein-

ſchränkung der ſtrengen Verpflichtung des Beklagten.

Beide Sätze laſſen ſich alsdann in die gemeinſame Formel

zuſammen faſſen, deren Natürlichkeit und Billigkeit nicht zu

verkennen iſt:

die ſtrenge Verbindlichkeit des Beklagten zum Erſatz

 

 

(m) Die erläuternden Beiſpiele für dieſen und den folgenden Fall

ſind aus der Note g zu entnehmen.

|0215 : 197|

§. 274. Wirkung der L. C. — Verminderungen. (Fortſ.)

für den zufälligen Untergang leidet alsdann eine Aus-

nahme, wenn der Kläger, ſelbſt im Fall des ihm recht-

zeitig eingeräumten Beſitzes der ſtreitigen Sache, nicht

im Stande geweſen wäre, den Verluſt von ſich ab-

zuwenden.

Dieſe Auffaſſung der Sache ſtimmt mit der ſchwierigen

Stelle des Ulpian über die actio quod metus causa

inſofern überein, als auch in dieſer Stelle beide Sätze

neben einander genannt werden. Ich will keinesweges

behaupten, daß in derſelben gerade dasjenige logiſche

Verhältniß beider Sätze zu einander ausgeſprochen ſey,

welches ich hier angenommen habe. Aber ich muß auch

ſehr bezweifeln, daß es jemals gelingen werde, in jener

Stelle irgend eine andere practiſche Bedeutung der beiden

Sätze klar und ſicher nachzuweiſen.

 

Das Preußiſche A. L. R. behandelt dieſen Gegenſtand

in folgender Weiſe.

 

Die Möglichkeit des Verkaufs von Seiten des Klägers,

wodurch Dieſer jeden Schaden von ſeinem Vermögen hätte

abwenden können, wird hier ganz mit Stillſchweigen über-

gangen. Dagegen wird die andere Frage aufgefaßt, ob

der Zufall die Sache im Beſitze des Eigenthümers ebenfalls

würde getroffen haben; dieſer Umſtand ſoll die Vergütung

ausſchließen. In einem älteren Entwurf war Dieſes in

der Art beſtimmt worden, daß der Kläger beweiſen ſolle,

ihn würde der Zufall nicht betroffen haben. Späterhin iſt

 

|0216 : 198|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

es dahin abgeändert worden, daß der Beklagte die

Thatſache zu beweiſen hat, wovon ſeine Befreiung ab-

hängt (n).

Es gilt jedoch eine Ausnahme dieſer Ausnahme, alſo

die unbedingte Nothwendigkeit der Vergütung, wenn der

unredliche Beſitz des Beklagten durch eine ſtrafbare

Handlung erworben wurde (o), womit hauptſächlich der

Diebſtahl gemeint iſt.

 

§. 275.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —

b. Verminderungen. Zeitpunkt der Schätzung.

In den Fällen, worin der Beklagte eine Verminderung

in dem Gegenſtande des Rechtsſtreits zu vergüten hat

(§ 272 — 274), iſt ſtets eine Schätzung in Gelde erforder-

lich. Dieſelbe iſt nöthig bei jeder objectiven Verminderung,

ohne Unterſchied ob dieſe in einer totalen oder partiellen

Zerſtörung des Gegenſtandes, oder in dem (der Zerſtörung

gleich wirkenden) Verluſt des Beſitzes beſteht. Wie, auch

ohne objective Verminderung, die bloße Veränderung des

Preiſes zu behandeln iſt (§ 272), wird am Schluſſe unter-

ſucht werden. Ich beſchränke mich zunächſt noch auf den

Fall der objectiven Verminderung, und will jetzt verſuchen,

 

(n) A. L. R., Th. 1 Tit. 7 § 241.

Vgl. Simon Zeitſchrift B. 3

S. 328. 329.

(o) A. L. R., Th. 1 Tit. 7 § 242.

Vgl. Simon S. 332 Num. 12

(Bemerkung von Suarez).

|0217 : 199|

§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.

den Zeitpunkt feſtzuſtellen, für welchen die Schätzung des

zu vergütenden Werthes vorzunehmen iſt.

Die Frage nach dieſem Zeitpunkt hatte für das mittlere

R. R. eine viel ausgedehntere Anwendung und Wichtigkeit

als für das älteſte, ſo wie für das Juſtinianiſche und heu-

tige Recht. Da nämlich in der Zeit des Formularprozeſſes

alle Verurtheilung nur auf baares Geld gerichtet werden

durfte (a), ſo war damals eine Schätzung in Geld auch

da nöthig, wo der urſprüngliche Gegenſtand des Rechts-

ſtreits gar keine Verminderung erlitten hatte; im Juſtinia-

niſchen und heutigen Recht dagegen, ſo wie in der älteſten

Zeit, iſt die Schätzung nur im Fall einer ſolchen Vermin-

derung erforderlich, weil außerdem das Urtheil auf den ur-

ſprünglichen Gegenſtand ſelbſt unmittelbar gerichtet wird.

 

Ich will eine Ueberſicht der für den Zeitpunkt der

Schätzung geltenden Regeln voraus ſchicken; dadurch wird

es leichter werden, die nicht geringen Schwierigkeiten zu

überwinden, die mit der Begründung jener Regeln durch

die Ausſprüche unſrer Rechtsquellen verbunden ſind.

 

Der Regel nach iſt zu unterſcheiden zwiſchen den ſtren-

gen und freien Klagen. Bei den ſtrengen richtet ſich die

Schätzung nach der Zeit der L. C., bei den freien nach der

Zeit des rechtskräftigen Urtheils.

 

Zwei Ausnahmen ſind auf beide Regeln anzuwenden.

Wenn durch Vertrag eine beſtimmte Zeit der Erfüllung

für eine Obligation vorgeſchrieben war, ſo iſt dieſe Zeit

 

(a) Gajus IV. § 48.

|0218 : 200|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

auch für die Schätzung maaßgebend. — Wenn ſich der

Schuldner in Mora befindet, ſo hat der Gläubiger die

Wahl, ob die Schätzung nach den oben angegebenen regel-

mäßigen Zeitpunkten, oder vielmehr nach dem Anfangspunkt

der Mora, vorgenommen werden ſoll; natürlich wird er

den Zeitpunkt wählen, der auf die höhere Summe führt.

In einem einzelnen Fall (bei dem Diebſtahl) kommt ſogar eine

noch ſtrengere Behandlung des Schuldners zur Anwendung.

Alle dieſe Regeln gelten jedoch nur für die perſönlichen

Klagen aus Rechtsgeſchäften (Verträgen und Quaſicontrac-

ten), ſo wie für die Klagen in rem; für die perſönlichen

Klagen aus Delicten ſind andere Regeln anzuwenden, in-

dem ſich bei ihnen die Schätzung mehr an die Zeit des

begangenen Delicts anſchließt.

 

Die hier zuſammengeſtellten Vorſchriften ſollen nunmehr

im Einzelnen dargeſtellt, und zugleich durch quellenmäßige

Zeugniſſe begründet werden.

 

Für die als Regel an die Spitze geſtellte Unterſcheidung

der ſtrengen und freien Klagen findet ſich eine ſo klare und

principielle Entſcheidung in folgender Stelle des Ulpian (b),

wie ſie in vielen anderen Rechtslehren nicht anzutreffen iſt,

wo eine ſolche vielmehr erſt aus der Beurtheilung einzelner

Rechtsverhältniſſe abſtrahirt werden muß:

„In hac actione, sicut in ceteris bonae fidei judiciis,

 

 

(b) L. 3 § 2 commod. (13. 6)

aus Ulpianus lib. XXVIII. ad ed.

Die Stelle ſpricht zunächſt vom

Commodat, knüpft aber daran ei-

nen durchgreifenden allgemeinen

Grundſatz.

|0219 : 201|

§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.

similiter in litem jurabitur: et rei judicandae(c)

tempus quanti res sit, observatur: quamvis in stricti

juris judiciis(d)litis contestatae tempus spectetur.“

Ehe ich andere, beſtätigende Stellen hinzu füge, will

ich an dieſe Hauptſtelle noch einige allgemeine Bemerkungen

anknüpfen.

 

a) Die für die bonae fidei judicia aufgeſtellte Regel

wird hier offenbar als die billigere, der neueren Rechts-

entwicklung angemeſſene, betrachtet. Daher würde es

ganz unrichtig ſeyn, ſie als ein Privilegium der dieſen

beſonderen Namen (bonae fidei) führenden Klagen anzu-

ſehen. Sie iſt vielmehr unbedenklich auch anzuwenden auf

die Klagen in rem, ſo wie auf die prätoriſchen und die

extraordinären Klagen, alſo auf die freien Klagen überhaupt.

Dieſes iſt beſonders einleuchtend für diejenigen freien

Klagen, welche zugleich arbitrariae ſind, weil bei dieſen

durch eine beſondere Anſtalt auf die freiwillige Erfüllung

vor dem Urtheil hingewirkt wird; dieſe Einrichtung würde

mit einer Schätzung nach der Zeit der L. C. ganz im

Widerſpruch ſtehen.

 

b) Das ganze Rechtsinſtitut der L. C. dient im

Allgemeinen dazu, den Vortheil des Klägers zu befördern

(§ 260. No. II.): Sehen wir zu, inwiefern dieſe allgemeine

 

(c) Die Vulgata lieſt judica-

tae; beide Leſearten ſind gleich

annehmbar.

(d) Über dieſe Leſeart vgl. oben

B. 5 S. 462. Dieſelbe gehört

der Vulgata an; die Florentina

lieſt blos: in stricti mit allzu har-

ter Auslaſſung der Worte: juris

judiciis. Der Sinn iſt in beiden

Leſearten nicht verſchieden.

|0220 : 202|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Richtung bei der Anwendung unſrer Regel feſt gehalten

wird, oder welches der Grund einer Abweichung ſeyn mag.

Nehmen wir an, daß bei einer ſtrengen Klage die

Preiſe von der Zeit der L. C. an ſtets ſinkend geweſen

ſind, ſo wird jener Zweck unmittelbar erreicht; der Kläger

erhält nun wirklich den höheren Preis, den er zur Zeit der

L. C. erwarten konnte, und er wird gegen den Verluſt ge-

ſchützt, den er durch die Dauer des Rechtsſtreits erlitten

haben würde. Nehmen wir umgekehrt ſteigende Preiſe an,

ſo entgeht allerdings dem Kläger der Gewinn, den er aus

dem Steigen hätte ziehen können; allein der Zweck iſt auch

überhaupt nicht die Zuwendung eines Gewinnes, ſondern

nur die Abwendung des eben erwähnten Schadens.

 

Bei den freien Klagen wird im Fall ſinkender Preiſe

der Verluſt des Klägers, der aus der Dauer des Rechts-

ſtreits hervorgeht, nicht abgewendet. Man kann dieſe

Abweichung von dem Grundſatz der ſtrengen Klagen und

von deſſen Folgen aus der Rückſicht erklären, daß dem Be-

klagten nicht die aus redlichem Bewußtſeyn hervorgehende

Vertheidigung ſeiner Anſprüche durch eine Art von Straf-

drohung erſchwert werden ſollte (e). Dieſe Auffaſſung

wird unterſtützt durch den Grundſatz der Sabinianer:

omnia judicia esse absolutoria (f), d. h. das freiwillige

 

(e) L. 40 pr. de her. pet. (5. 3).

„Nec enim debet possessor …

indefensum jus suum relin-

quere“ (ſ. o. S. 180). Der ſin-

kende Preis iſt analog dem zufäl-

ligen Untergang der Sache.

(f) Gajus IV. § 114.

|0221 : 203|

§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.

Nachgeben ſollte ſtets, und während der ganzen Dauer des

Rechtsſtreits, die Freiſprechung bewirken. In dieſem

Grundſatz lag gewiſſermaßen die Beförderung der frei-

willigen Erfüllung durch eine Art von Prämium, welche

Beförderung bei den arbiträren Klagen ohnehin noch durch

deren beſondere Einrichtung unterſtützt wurde (g).

Wir finden alſo hier einen Conflict zwiſchen zwei ver-

ſchiedenen Zwecken und Principien, die auf entgegengeſetzte

Folgen hinführten. Dem in den freien Klagen befolgten

Princip aber wurde bei fortgehender Rechtsentwicklung der

überwiegende Werth zugeſchrieben. — Im heutigen Recht

kann ohnehin nur noch von dieſem Princip die Rede ſeyn.

 

c) So verſchieden auch die beiden, für zwei Arten der

Klagen aufgeſtellten, Regeln ſeyn mögen, ſo bilden ſie doch

einen gemeinſamen Gegenſatz gegen eine andere, gleichfalls

denkbare, Beſtimmung, die alſo durch ſie gleichmäßig ver-

neint werden ſoll. Dieſes iſt der Anfang der Obliga-

tion, nach deſſen Zeitpunkt auch wohl die Schätzung

verſucht werden könnte (h). Der Hauptgedanke iſt alſo dieſer:

es ſoll die Schätzung nicht nach dem Zeitpunkt der ent-

 

(g) Wenn die ſtreitige Sache

noch vorhanden war, ſo konnte

ohnehin auch bei den ſtrengen Kla-

gen der Beklagte durch Anwendung

dieſes Grundſatzes jeden Verluſt

von ſich abwenden. Der Verluſt

trat alſo nur dann ein, wenn ent-

weder der Beklagte Dieſes hart-

näckig unterließ, oder die Sache

nicht mehr vorhanden war.

(h) Dieſer Zeitpunkt iſt bei den

Delictsklagen wirklich berück-

ſichtigt worden, wie unten gezeigt

werden wird. Hier iſt nur von

den perſönlichen Klagen aus Rechts-

geſchäften, und von Klagen in rem

die Rede.

|0222 : 204|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſtandenen Obligation vorgenommen werden, ſondern viel-

mehr — nach der Zeit des Rechtsſtreits, wobei ſich

nun die untergeordnete Differenz zeigt, daß in den ſtrengen

Klagen nach der Zeit der L. C., in den freien nach der Zeit

des Urtheils, geſchätzt wird. Die Rechtfertigung jenes

Gedankens liegt aber darin, daß es dem Gläubiger ſelbſt

eine Zeit lang gleichgültig oder ſelbſt vortheilhaft ſcheinen

kann, die Erfüllung einſtweilen nicht zu verlangen, daß es

aber ſtets in ſeiner Macht ſteht, die Klage anzuſtellen, und

dadurch unter andern auch die Schätzungszeit zu fixiren.

d) Dieſe letzte Bemerkung iſt nicht unwichtig, indem ſie

einen natürlichen Anknüpfungspunkt darbietet zur Erklärung

und Begründung der oben angegebenen zwei Ausnahmen. —

Wenn nämlich in dem Vertrag die Zeit der Erfüllung be-

ſonders beſtimmt iſt, ſo liegt darin zugleich die vorbedachte

Anerkennung des Zeitpunktes, in welchem die Erfüllung

von dem Gläubiger erwartet wird und für ihn Werth hat,

wodurch alſo der oben angegebene Zuſtand des unbeſtimmten

Willens des Gläubigers ausgeſchloſſen iſt. Daſſelbe gilt

von dem Fall der Mora; denn wenn der Kläger, auch nur

außergerichtlich, zur Erfüllung auffordert, ſo fixirt er da-

durch gleichfalls den Zeitpunkt der Schätzung, indem außer-

dem der Schuldner von ſeiner rechtswidrigen Zögerung

Vortheil ziehen würde.

 

e) Die hier aufgeſtellten Anſichten und Rechtsregeln

haben auch in dem Römiſchen Formelweſen ihren gegen-

ſätzlichen Ausdruck gefunden, welches ſich theils beſtimmt

 

|0223 : 205|

§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.

nachweiſen, theils ſehr wahrſcheinlich machen läßt. Der

Ort der Formel, an welchem der Prätor über die Zeit der

Schätzung eine Anweiſung zu geben hatte, war unſtreitig

die Condemnatio, und hier mußte die Anweiſung anders

gefaßt werden, je nachdem man die Schätzung in die Ver-

gangenheit ſetzen wollte (die Zeit der entſtandenen

Obligation), oder in die Gegenwart (Zeit der L. C.),

oder in die Zukunft (Zeit des Urtheils). Für dieſe ver-

ſchiedene Möglichkeiten boten ſich folgende Ausdrücke dar:

quanti res fuit,

quanti res est,

quanti res erit

 condemna.

Der erſte dieſer Ausdrücke iſt auch wirklich gebraucht

worden bei einer Delictsklage, der actio legis Aquiliae, in

welcher der Werth zur Zeit des begangenen Delicts maaß-

gebend ſeyn ſollte, nur noch mit einer gewiſſen Ausdehnung

zum Nachtheil des Schuldners, und als Strafe für den-

ſelben (i).

 

(i) L. 2 pr. ad L. Aqu. (9. 2)

„quanti id in eo anno plurimi

fuit, tantum aes domino dare

damnas esto.“ — L. 27 § 5 eod.

„quanti ea res fuit in diebus

triginta proximis, tantum aes

domino dare damnas esto.“

In beiden Fällen ſollte von der

Zeit des (in der Vergangenheit

liegenden) Delicts zurück gerech-

net werden. — Allerdings lieſt in

der zweiten angeführten Stelle ſo-

wohl die Florentina, als die Vul-

gata: erit anſtatt fuit. Nur Ha-

loander hat fuit. Allein die Rich-

tigkeit dieſer letzteren Leſeart wird

ganz außer Zweifel geſetzt durch

die gleich nachfolgenden Worte

Ulpians aus dem Commentar

zu dieſer Geſetzesſtelle: „haec

verba: quanti in triginta die-

bus proximis fuit“ rel. (L. 29

§ 7 eod., eben ſo wie die vorige

Stelle aus Ulpianus lib. XVIII.

ad ed.)

|0224 : 206|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Der dritte Ausdruck wurde auch wirklich gebraucht bei

den freien Klagen, von welchen wir aus unſrer Regel

ohnehin wiſſen, daß bei ihnen die Schätzung auf die Zeit

des Urtheils gerichtet werden ſollte (k).

 

Erwägt man dieſe erweislich gebrauchten Ausdrücke, ſo

wird man kaum zweifelhaft darüber ſeyn können, daß der

in der Mitte liegende zweite Ausdruck (quanti res est)

bei den ſtrengen Klagen angewendet wurde; denn für dieſe

wurde nach unſrer ſicheren Regel die Schätzung auf die

Zeit der L. C. gerichtet, welche für den die Formel feſt-

ſtellenden Prätor die Gegenwart war. Für dieſe letzte Be-

hauptung kann ich allerdings ein beweiſendes Zeugniß nicht

vorbringen, welches jedoch blos aus der großen Armuth an

aufbewahrten wirklichen Formeln überhaupt herrührt. Jeder

andere Ausdruck würde an dieſer Stelle faſt unmöglich

ſeyn, da er einen entſchieden falſchen, unſrer ſicheren Regel

widerſprechenden, Gedanken enthalten müßte.

 

Ich will jetzt noch einige andere Stellen angeben, worin

die von Ulpian aufgeſtellte Regel über die Schätzungszeit

in einzelnen Anwendungen beſtätigt wird. — Mit dieſen

aber ſollen zugleich die Zeugniſſe für die erſte Ausnahme

jener Regeln (im Fall der vorbeſtimmten Zeit der Erfüllung)

 

(k) Gajus IV. § 47 bei der

actio depositi in factum con-

cepta: „quanti ea res erit,

tantam pecuniam … condem-

nato.“ — Gajus IV. § 51 bei

der Eigenthumsklage und der actio

ad exhibendum: „quanti ea

res erit, tantam pecuniam …

condemna.“

|0225 : 207|

§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.

zuſammengefaßt werden, weil in der That mehrere Stellen

die Regel und dieſe erſte Ausnahme neben einander aus-

ſprechen:

1. Bei der Stipulation einer beſtimmten Sache ſpricht

Africanus die Regel in folgenden Worten aus (l):

„Aliter in stipulatione servatur: nam tunc id

tempus spectatur, quo agitur.“

2. Bei der Stipulation auf Wein und andere Quantitäten

hat Gajus die Regel und die erſte Ausnahme, mit

dem Zuſatz, daß Daſſelbe auch bei allen anderen

Sachen gelte (m):

„Si merx aliqua, quae certo die dari debebat,

petita sit, veluti vinum, oleum, frumentum, tanti

litem aestimandam Cassius ait, quanti fuisset eo

die, quo dari debuit: si de die nihil convenit,

quanti tunc cum judicium acciperetur … Quod

et de ceteris rebus juris est.“

3. Bei einem Darlehen auf Wein drückt Julian die

Regel und die erwähnte Ausnahme aus, mit aus-

drücklicher Verneinung der Zeit des Contracts, ſo wie

des Urtheils (n):

„Vinum quod mutuum datum erat, per judicem

petitum est: quaesitum est, cujus temporis aesti-

matio fieret: utrum cum datum esset, an cum

 

(l) L. 37 mandati (17. 1).

(m) L. 4 de cond. tritic. (13. 3).

(n) L. 22 de reb. cred. (12. 1).

Die kleine Lücke in der Florenti-

niſchen Handſchrift kann keinen

Zweifel erregen.

|0226 : 208|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

litem contestatus fuisset, an cum res judicaretur?

Sabinus respondit, si dictum esset, quo tempore

redderetur, quanti tunc fuisset: si non, quanti

tunc cum petitum esset.“

4. Die Ausnahme allein, bei einer Stipulation in diem

oder sub conditione, wird anerkannt von Julian und

von Celſus (o).

Nachdem ſowohl die Regel, als die erſte Ausnahme

(die vertragsmäßig beſtimmte Erfüllungszeit betreffend)

dargeſtellt worden iſt, bleibt noch die Unterſuchung der

zweiten Ausnahme übrig, welche ſich auf den Fall

der Mora des Schuldners (p) bezieht. Daß überhaupt eine

ſolche Ausnahme gilt, und daß ſie auf eine nachtheiligere

Behandlung des Schuldners, in Vergleichung mit der

außerdem geltenden Regel, gerichtet iſt, darüber iſt kein

Streit. Der Nachtheil ſoll überhaupt unſtreitig darin be-

ſtehen, daß der Gläubiger zwiſchen verſchiedenen Zeitpunkten

für die Schätzung die Wahl haben, d. h. den vortheilhafteſten

Zeitpunkt zu wählen berechtigt ſeyn ſoll. Welches aber die

verſchiedenen, zur Auswahl ſtehenden, Zeitpunkte ſind,

darüber haben ſich zwei Meinungen gebildet. — Nach der

 

(o) L. 59 de verb. obl. (45. 1),

L. 11 de re jud. (42. 1).

(p) Ich ſpreche hier blos von

dieſer, welche allein von practiſcher

Erheblichkeit iſt. Für die Mora

des Gläubigers (im Abnehmen der

Sache) gilt aber dieſelbe Ausnahme

wie für die des Schuldners, näm-

lich daß ihm ſeine Mora keinen

Vortheil bringen ſoll, d. h. daß

der Gegner zwiſchen zwei Zeit-

punkten der Schätzung die Wahl

hat. Nur ſind hierüber die Stel-

len weniger klar und entſcheidend.

L. 37 mand. (17. 1), L. 3 § 4

de act. emt. (19. 1).

|0227 : 209|

§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.

einen Meinung ſoll der Gläubiger die Wahl haben zwiſchen

dem Zeitpunkt der Mora, und demjenigen Zeitpunkt welcher

ohne Mora nach der allgemeinen Regel gelten würde. Nur

in dem einzigen Fall, wenn mit der condictio furtiva gegen

den Dieb geklagt wird, ſoll dieſe Ausnahme noch dadurch

geſchärft werden, daß der höchſte Werth der ganzen

Zwiſchenzeit (nicht blos der unter jenen zwei einzelnen

Zeitpunkten) vergütet werden ſoll (q). — Die zweite Meinung

geht dahin, die ſo eben bei dem Diebe erwähnte ſtrengere

Behandlung bei jeder Mora allgemein eintreten zu laſſen,

ſo daß in jedem Fall der Mora der Schuldner den höchſten

Werth bezahlen müßte, welchen die Sache in der ganzen

Zwiſchenzeit jemals erreicht hat (r).

Ich nehme die erſte Meinung, welche zwiſchen dem

Diebe und den übrigen Schuldnern unterſcheidet, als richtig

an, und gründe dieſelbe zunächſt auf folgende einzelne

Zeugniſſe.

 

I. Von dem Fall der Mora im Allgemeinen han-

deln dieſe Stellen:

 

1. L. 3 § 3 de act. emti (19. 1):

„Si per venditorem vini mora fuerit, quo minus tra-

 

(q) Donelli Comm. in var. tit.

Dig. Antverp. 1582. f. Lib. 12 T. 1

L. 22 N. 26 p. 157. — Schulting

theses contr. Th. 37 N. 8 (Com-

ment. ac. T. 3 p. 118). — Madai

Mora § 48, der gleichfalls zwiſchen

dem Diebe und anderen Schuldnern

unterſcheidet, außerdem aber manches

Unrichtige beimiſcht.

(r) Huber praelect. Pand.

XIII. 3. § 7—11. — Glück B. 13

§ 844. — Thibaut § 99 ed. 8,

und Braun zu Thibaut § 103.—

Puchta Pandekten § 268 Note f.

— Buchka Einfluß des Prozeſſes

S. 187 — 198.

VI. 14

|0228 : 210|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

deret, condemnari eum oportet, utro tempore pluris

vinum fuit, vel quo venit(s), vel quo lis in con-

demnationem deducitur(t): item quo loco pluris fuit,

vel quo venit, vel ubi agatur.“

In dieſer Stelle iſt augenſcheinlich nur von der Wahl

zwiſchen zwei einzelnen Zeitpunkten die Rede, durchaus

nicht von den in die Zwiſchenzeit fallenden Veränderungen.

Dafür ſpricht auch die völlige Gleichſtellung der Zeit mit

dem Orte, indem bei dieſem letzten offenbar nur die Wahl

zwiſchen zwei einzelnen Orten in Frage kam, nicht auch

die zwiſchen allen in der Mitte liegenden Orten.

 

2. L. 21 § 3 de act. emti (19. 1):

„Cum per venditorem steterit quo minus rem tradat

… nec major fit obligatio, quod tardius agitur,

quamvis crescat si vinum hodie pluris sit: merito:

quia sive datum esset, haberem emptor, sive non:

quoniam saltem hodie dandum est, quod iam olim

dari oportuit.“

(s) Dabei wird ſtillſchweigend

vorausgeſetzt, daß die Ablieferung

auf der Stelle gefordert worden

ſey, die Zeit des Contracts alſo

mit der Mora zuſammenfalle.

Sonſt würde die Mora als gleich-

gültig gedacht werden müſſen,

welches gewiß nicht die Meinung

des Pomponius iſt, der ja

gleich in den Anfangsworten die

Mora als Bedingung der nach-

folgenden Ausſprüche angiebt.

(t) Lis in condemnationem

deducitur heißt: der bisher ge-

führte Rechtsſtreit wird zur

Condemnation gebracht; es iſt eine

Umſchreibung der Zeit des Urtheils.

— Res in judicium, oder auch

in intentionem condemnatio-

nemve deducitur (L. 2 pr. de

exc.) heißt: Das Rechtsver-

hältniß wird gerichtlich anhän-

gig gemacht, in einen Rechtsſtreit

verwandelt; es iſt eine Umſchrei-

bung der L. C.

|0229 : 211|

§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.

Auch in dieſer Stelle iſt keine Rede von den ſchwan-

kenden Preiſen der Zwiſchenzeit; es wird nur verglichen

der Preis zur Zeit der Mora, mit dem Preiſe welcher ho-

die ſtattfindet; d. h. zur Zeit des Urtheils, für deſſen

richtigen Inhalt ja eben hier eine Anweiſung gegeben wer-

den ſoll.

 

3. L. 37 mandati (17. 1):

„Aliter in stipulatione servatur: nam tunc id tempus

spectatur, quo agitur: nisi forte aut per promissorem

steterit, quo minus sua die solveret, aut per credi-

torem, quo minus acciperet: etenim neutri eorum

frustratio sua prodesse debet.“

Der Zweck der ganzen Ausnahme wird hier richtig

darin geſetzt, daß dem Schuldner ſeine rechtswidrige Ver-

zögerung keinen Vortheil bringen dürfe; dieſer Zweck aber

wird vollſtändig erreicht durch die Wahl des Klägers

zwiſchen den zwei angegebenen Zeitpunkten, auf welche

allein auch in der angegebenen Stelle hingedeutet wird.

 

4. L. 3 de cont. tritic. (13. 3) (u).

II. Die Mora bei dem Diebe wird in folgender

Stelle behandelt (v):

 

(u) Dieſe wichtige Stelle wird

erſt in dem folgenden §. erklärt,

und dann auch für den gegenwär-

tigen Zweck benutzt werden.

(v) L. 8 § 1 de cond. furt.

(13. 1) von Ulpian. — Eben ſo

bei der actio rerum amotarum

nach folgender Stelle, die zugleich

den im Text aufgeſtellten Satz

ſelbſt beſtätigt. L. 29 rer. amot.

(25. 2) von Tryphonin: „Rerum

amotarum aestimatio ad tem-

pus quo amotae sunt referri

debet: nam veritate furtum fit,

etsi lenius coercetur mulier …

sed si pluris factae (res) non

14*

|0230 : 212|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

„Si ex causa furtiva res condicatur, cujus temporis

aestimatio fiat, quaeritur. Placet tamen, id tempus

spectandum, quo res unquam plurimi fuit: maxime,

cum deteriorem rem factam fur dando non liberatur:

semper enim moram fur facere videtur.“

Ich füge dieſen einzelnen Stellen noch eine allgemeine

Betrachtung hinzu. Diejenigen, welche die für den Dieb

vorgeſchriebene ſtrengſte Behandlung auf alle Fälle der

Mora anwenden wollen, gehen dabei von der Anſicht aus,

daß der Kläger, wenn er die Sache zur rechten Zeit bekom-

men hätte, den Augenblick des höchſten Preiſes der Zwiſchen-

zeit zum Verkauf hätte benutzen können; wie verſchiedene

Wendungen auch für dieſe Anſicht in neuerer Zeit verſucht

worden ſind. Allein die Vorausſetzung, daß er dieſen

Vortheil wirklich benutzt haben würde, iſt ſehr willkührlich

und unwahrſcheinlich; gewiß ungleich unwahrſcheinlicher,

 

restituuntur, quae amotae sunt,

crescit aestimatio, ut in con-

dictione furtivae rei.“ — Be-

denklich iſt folgende, auch von Ul-

pian herrührende Stelle: L. 2

§ 3 de priv. del. (47. 1). Es

wird aus Pomponius angeführt,

durch die cond. furtiva werde die

a. L. Aquiliae wegen derſelben

Sache nicht ausgeſchloſſen: „nam-

que Aquilia eam aestimationem

complectitur, quanti eo anno

plurimi fuit: condictio autem

ex causa furtiva non egreditur

retrorsum judicii accipiendi

tempus.“ Daß hier die Zurück-

rechnung verneint wird, iſt unbe-

denklich; daß aber die Schätzung

auf die Zeit der L. C., (anſtatt des

Verbrechens) geſtellt wird, wider-

ſpricht geradezu den übrigen Stel-

len, ſowohl über die Condiction

als über die furti actio. Wahr-

ſcheinlich iſt dieſe Angabe blos ein

Stück der aus Pomponius an-

geführten Meinung, welches Ul-

pian mit aufnimmt, ohne es ge-

rade zu billigen. Es muß dann

hierüber eine Controverſe beſtanden

haben, wohin auch das Placet in

L. 8 § 1 de cond. furt. zu deuten

ſcheint.

|0231 : 213|

§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.

als die oben erwähnte Annahme, daß er überhaupt verkauft

haben könnte (S. 184. 190). Für den gerechten Anſpruch

des Klägers iſt genug gethan, wenn demſelben zwiſchen zwei

Zeitpunkten die Wahl gelaſſen wird, insbeſondere da es ja

immer von ſeinem freien Entſchluß abhängt, die Klage zu

der Zeit anzuſtellen, worin er es gerade am vortheilhafteſten

findet.

Dagegen hat die hier vertheidigte Unterſcheidung zwiſchen

dem Diebe und allen übrigen Schuldnern folgenden inneren

Grund. Der Dieb iſt ſo zu betrachten, als ob er in jedem

Augenblick ſeinen Diebſtahl wiederholte. Dies iſt nicht ſo

zu verſtehen, als ob die gegen ihn geltenden Klagen ins

Unendliche vervielfältigt, und dadurch zu einem völlig

ſchrankenloſen Ertrag gebracht werden dürften, welches

widerſinnig ſeyn würde. Es hat vielmehr den Sinn, daß

er in jedem Augenblick denſelben (nicht einen neuen) Dieb-

ſtahl wirklich begeht, ſo daß der Beſtohlene völlig in ſeinem

Rechte iſt, wenn er ſich den vortheilhafteſten Zeitpunkt

ausſucht, um zu behaupten, daß der Diebſtahl gerade damals

begangen worden ſey. Dies iſt der wahre Sinn der ſo

eben mitgetheilten Worte: semper enim moram fur facere

videtur. Dieſe Worte ſollen eine eigenthümliche Verpflich-

tung des Diebes bemerklich machen. Deswegen dürfen ſie

nicht verſtanden werden von der ſtetigen Fortdauer und

Wirkſamkeit der Mora überhaupt; denn dieſe Natur hat

die Mora auch bei allen übrigen Schuldnern. Sie bekommt

ihre wahre Bedeutung durch die eben gegebene Erklärung,

 

|0232 : 214|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

deren Richtigkeit ſogleich noch durch eine Stelle über die

Delictsklage aus dem Diebſtahl (die actio furti) außer

Zweifel geſetzt werden wird. — Ein rein practiſcher Grund

der härteren Behandlung des Diebes, gerade in der hier

vorliegenden Beziehung, liegt auch noch darin, daß meiſt

der Beſtohlene den Dieb lange Zeit nicht kennt, die An-

ſtellung der Klage alſo nicht ſo, wie bei anderen Klagen,

in ſeiner Macht ſteht. Derſelbe Grund hat auch veranlaßt,

daß in dieſem Fall die Mora ohne Interpellation ent-

ſtehen ſoll.

Die ganze bisherige Unterſuchung beſchränkte ſich auf

die perſönlichen Klagen aus Rechtsgeſchäften und die Klagen

in rem. Es bleibt nur noch übrig, mit wenigen Worten

von der Schätzungszeit bei den Delictsklagen zu ſprechen.

Hier iſt als feſter Zeitpunkt, von welchem ausgegangen

werden muß, nicht der Rechtsſtreit (wie bei den bisher

betrachteten Klagen), ſondern vielmehr die begangene

That zu betrachten, jedoch mit einigen Modificationen zum

Nachtheil des Schuldners. Wir finden hierüber folgende

Zeugniſſe:

 

A. Bei der actio L. Aquiliae richtet ſich die Schätzung

nach der Zeit der begangenen That, jedoch ſo, daß dabei

zugleich der höchſte Werth innerhalb eines gewiſſen rück-

wärts liegenden Zeitraums berückſichtigt wird (w).

 

(w) L. 21 § 1 ad L. Aquil. (9. 2).

|0233 : 215|

§. 275. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit.

B. Bei der actio furti wird gleichfalls der Zeitpunkt

der begangenen That zum Grunde der Schätzung gelegt (x).

Wenn jedoch in der nachfolgenden Zeit die Sache einen

höheren Werth bekommt, ſo muß dieſer höhere Werth zum

Grund gelegt werden, da auch in dieſer ſpäteren Zeit der

Diebſtahl wirklich begangen worden iſt (y):

„… Idemque etsi nunc deterior sit, aestimatione

relata in id tempus, quo furtum factum est. Quod

si pretiosior facta sit, ejus duplum, quanti tunc cum

pretiosior facta sit, fuerit, aestimabitur: quia et

tunc furtum ejus factum esse verius est.“

 

In dieſen letzten Worten iſt die vollſtändige Beſtäti-

gung der vorher für die Mora bei der condictio furtiva

aufgeſtellten Behauptung unverkennbar enthalten.

 

Wenn wir zum Schluß erwägen, in wiefern die hier

über die Schätzungszeit aufgeſtellten Regeln auch noch im

heutigen Recht anwendbar ſind, ſo können wir über fol-

gende Annahme kaum zweifelhaft ſeyn. Zwei Regeln ſind

es, welche ihre practiſche Bedeutung für uns verloren

haben: die eigenthümliche Behandlung der ſtrengen Klagen,

weil wir ſolche nicht mehr haben; imgleichen die für die

Delictsklagen aufgeſtellten Regeln, weil auch dieſe für uns

verſchwunden ſind. Alles Übrige, alſo der bei weitem

größte Theil der über die Schätzungszeit aufgeſtellten Re-

 

(x) L. 9 de in litem jur.

(12. 3).

(y) L. 50 pr. de furtis (47. 2).

|0234 : 216|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

geln, iſt für uns völlig eben ſo anwendbar, wie er es im

R. R. war.

§. 276.

Wirkung der L. C. — II. Umfang der Verurtheilung. —

b) Verminderungen. Zeitpunkt der Schätzung. L. 3

de cond. tritic.

In der eben angeſtellten Unterſuchung über den Zeit-

punkt der Schätzung (§ 275) waren zwar einzelne Fragen

vielfach beſtritten worden; die Hauptpunkte aber ſchienen

feſt und gewiß, welches namentlich von der allgemeinſten

Regel behauptet werden mußte, nach welcher für die

ſtrengen Klagen die L. C., für die freien Klagen das Ur-

theil, den Zeitpunkt der Schätzung beſtimmen ſollte. Über

dieſe Hauptregel war ein ſo klarer, unzweideutiger Aus-

ſpruch vorhanden (§ 275. b), daß daneben für keinen

möglichen Zweifel Raum übrig zu bleiben ſchien.

 

Dieſe beruhigende Sicherheit aber wird ſehr erſchüt-

tert durch eine Stelle des Ulpian, welche für den dem

alten, ſtrengen Recht angehörenden Theil jener Regel,

worin am wenigſten Zweifel zu erwarten waren, gerade

das Gegentheil zu ſagen ſcheint. Die Stelle fängt näm-

lich an mit folgenden Worten (a):

„In hac actione si quaeratur, res quae petita est

cujus temporis aestimationem recipiat, verius est,

quod Servius ait, condemnationis tempus spectandum.“

 

(a) L. 3 de cond. trit. (13. 3) aus Ulpianus lib. XXVII. ad ed.

|0235 : 217|

§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.

Es iſt hier von keiner anderen Klage die Rede, als

von der condictio triticaria, d. h. von einer ſtrengen Klage,

womit irgend etwas Anderes als eine beſtimmte Geldſumme

gefordert wird (b); ohne Zweifel wird dabei eine Stipu-

lation als Grund der Klage vorausgeſetzt. — Daß aber

in der That an keine andere als dieſe Klage gedacht

werden kann, folgt nicht etwa blos aus dem Digeſtentitel,

in welchen die Stelle aufgenommen iſt (denn Dieſes

könnte auf einem Verſehen der Compilatoren beruhen),

ſondern auch aus dem Umſtand, daß die Stelle demſelben

Theil eines Werks des Ulpian angehört, wie eine andere

Stelle, die unmittelbar vorher ausführlich von jener Klage

handelt (Note a. b).

 

Von dieſer Condiction nun ſagt hier Ulpian, es müſſe

die Schätzung auf die Zeit der Condemnation gerichtet

werden, alſo auf die Zeit des Urtheils, nicht wie man

erwarten mußte, auf die Zeit der L. C.

 

Dieſer ſchneidende und unerwartete Widerſpruch hat

von jeher die größten Bemühungen zur Beſeitigung des-

ſelben hervorgerufen; die meiſten derſelben ſind aber ſo

willkührlich und bodenlos, daß es kaum begreiflich iſt, wie

man ſich damit hat begnügen können.

 

So iſt behauptet worden, die condictio triticaria ſey

gar nicht stricti juris, ſondern bonae fidei, und ſie gehöre

 

(b) L. 1 pr. de cond. trit.

(13. 3), welche aus demſelben Buch

des Ulpian ad ed. genommen

iſt, wie die L. 3 cit. — Vgl. oben

B. 5 S. 622. 626.

|0236 : 218|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

dem jus gentium an (c): eine Behauptung, die ſelbſt vor

der Entdeckung des Gajus völlig unerlaubt war.

Andere haben geſagt, die verſchiedene Schätzungszeit

richte ſich gar nicht nach dem Unterſchied der ſtrengen und

freien Klagen, ſondern nach dem Gegenſtand der Obli-

gation; bei Quantitäten ſoll nach der Zeit der L. C. ge-

ſchätzt werden, bei individuellen Sachen nach der Zeit des

Urtheils (d). Dabei wird die Hauptſtelle des Ulpian,

welche die allgemeinſte Regel in klarem, unzweideutigem

Ausſpruch enthält (§ 275. b) durch willkührliche Behand-

lung in den Hintergrund gedrängt, beſonders aber wird

die Stelle des Gajus (§ 275. m) ohne die ihr gebührende

Beachtung gelaſſen, welche zuerſt von der Condiction auf

Quantitäten ſagt, daß nach der Zeit der L. C. geſchätzt

werden müſſe, und dann die entſcheidenden Worte hinzu-

fügt: quod et de ceteris rebus juris est (e).

 

(c) Cocceji jus controv. XIII.

3 qu. 2 mit der Anmerkung von

Emminghaus. Hier kamen die

wunderlichſten und bodenloſeſten

Anſichten über die Claſſification

der Klagen vor.

(d) Dieſe ſchwer zu begreifende

Meinung findet ſich bei Donellus,

der ſich an mehreren ſeiner Schrif-

ten ſehr weitläufig mit dieſer

Stelle beſchäftigt hat. Donelli

comm. in var. tit. Dig. Ant-

verp. 1582. f, und zwar Lib. 12

T. 1 L. 22 N. 5. 19. 21 — 26,

und Lib. 13 T. 3 L. 3 N. 12.

13. 25. Von der erſten dieſer zwei

Stellen wird ſogleich erwähnt

werden, welche Merkwürdigkeit ſie

außerdem darbietet.

(e) Es wird überhaupt bei den

Erklärungsverſuchen zu dieſer Stelle

recht anſchaulich, wie im R. R.

aller Erfolg der Quellenforſchung

davon abhängt, die vorzugsweiſe

entſcheidenden Stellen heraus zu

finden, an die Spitze zu ſtellen,

und feſtzuhalten, dabei aber mit

völliger Unbefangenheit zu ver-

fahren, anſtatt daß die Meiſten,

in ſchwierigen Fällen wie der vor-

liegende, vorgefaßte Theorieen fer-

tig mitbringen, und dieſen die

Quellenzeugniſſe gut oder ſchlecht

anzupaſſen ſuchen.

|0237 : 219|

§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.

Andere haben das Daſeyn einer Mora, welches augen-

ſcheinlich erſt in dem Fortgang der Stelle mit in die Be-

trachtung gezogen wird, und dann zu ganz anderen Re-

geln führt, mit in dieſen erſten Satz herein gezogen, und

dadurch den inneren Zuſammenhang der Stelle gänzlich

zerſtört (f).

 

Neuerlich iſt der Verſuch gemacht worden, der Stelle

durch Emendation des Textes zu helfen (g). Es ſoll ge-

leſen werden: contestationis, anſtatt condemnationis, wo-

durch die oben aufgeſtellte Hauptregel auch in unſrer

Stelle eine einfache Beſtätigung erhielte. Allein erſtens

fehlt es an jeder Erklärung, wie in alle Handſchriften ohne

Ausnahme die Veränderung jenes Wortes gekommen ſeyn

ſollte, ohne auch nur in kleinen Abweichungen der Hand-

ſchriften irgend eine Spur zu hinterlaſſen; ein Bedenken,

das durch die geringe Zahl der zu verändernden Buchſtaben

nicht gehoben wird. Zweitens kommt contestatio allein,

ohne den Zuſatz von litis oder judicii, in dieſer Bedeutung

anderwärts nicht vor (§ 257. f).

 

Man könnte auch noch den Verſuch machen, den

ſcheinbaren oder wirklichen Widerſpruch daraus zu erklä-

ren, daß eine Controverſe einzelner Juriſten, oder eine

Aenderung des älteren R. R. durch das neuere, ange-

nommen würde. Allein jeder Verſuch ſolcher Art muß

 

(f) Cujacius in L. 59 de verb.

oblig. — Glück B. 13 § 844

S. 271 — 300. — Liebe Stipu-

lation S. 54. 55.

(g) Huſchke in der Zeitſchrift

von Linde B. 20 S. 267.

|0238 : 220|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſogleich aufgegeben werden, wenn man erwägt, daß

gerade die zwei Hauptſtellen, auf deren Vereinigung es

ankommt, aus zwei ganz nahe an einander liegenden

Stücken eines und deſſelben Werks von Ulpian herge-

nommen ſind (h).

Das ganze Gewicht unſrer Stelle und die ganze

Schwierigkeit liegt in dem Ausdruck: condemnationis

tempus. Condemnatio aber hat im R. R. zwei verſchie-

dene, wiewohl verwandte, Bedeutungen, für welche die

Anwendung jenes Wortes völlig gleich berechtigt iſt, und

die alſo auch mit gleichem Rechte vorausgeſetzt werden

dürfen, wo es auf die Erklärung einer Stelle, die jenes

Wort enthält, ankommt.

 

Condemnatio heißt zuerſt einer der Vier Haupttheile

der formula, die practiſche Anweiſung des Prätors an

den Judex über Verurtheilung oder Freiſprechung. Es iſt

die condemnatio a praetore concepta.

 

Condemnatio heißt aber auch das vom Judex ausge-

ſprochene Urtheil, die res judicata, in ſofern das Urtheil

gerade zum Nachtheil des Beklagten ausfällt. Es iſt die

condemnatio a judice prolata, die Vollziehung des ihm

vom Prätor gegebenen Auftrags.

 

Es iſt einleuchtend, daß die Erwähnung der erſten

Art der condemnatio in die Juſtinianiſchen Rechtsbücher

(i)

 

(h) Unſre Stelle iſt aus dem

27., die L. 3 § 2 commod. aus

dem 28. Buch des Ulpian ad

edictum entnommen.

(i) Gajus IV. § 39. 43. 44.

|0239 : 221|

§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.

eigentlich nicht mehr gehörte, aber auch ſehr begreiflich,

wenn ſie daraus, wie ſo manches Andere, dennoch nicht

gänzlich verſchwunden iſt. Wir haben ſogar eine Stelle,

worin dieſe fortdauernde Erwähnung ganz unzweifel-

haſt iſt (k):

„Exceptio … opponi actioni cujusque rei solet, ad

excludendum(l)id, quod in intentionem condem-

nationemve deductum est.“

Setzen wir jene erſte Bedeutung in unſrer Stelle voraus,

ſo iſt Alles klar, und der ſcheinbare Widerſpruch ver-

wandelt ſich in vollſtändige Einſtimmung. Das condem-

nationis tempus iſt dann ſo viel als formulae conceptae

tempus (indem nur der Theil für das Ganze genannt iſt),

oder, mit anderen Worten, die Zeit der L. C., indem

die Aufſtellung der Formel mit der L. C. ganz gleich-

zeitig iſt (m).

 

(k) L. 2 pr. de except. (44. 1)

aus Ulpianus lib. LXXIV. ad

ed. — Man könnte verſuchen,

eben dahin zu beziehen die Worte

der L. 3 § 3 de act. emti: „quo

lis in condemnationem dedu-

citur“; allein dieſe gehen in der

That auf die Zeit des Urtheils,

ſ. o. § 275. t.

(l) Die Florentina lieſt: clu-

dendum, woraus man Emenda-

tionen hat bilden wollen; allein

die hier aufgenommene Vulgata

iſt unbedenklich.

(m) Es iſt ſehr merkwürdig,

daß Donellus dieſe Bedeutung

der condemnatio mit ſolcher Klar-

heit und Beſtimmtheit entwickelt

hat, als ob er den Gajus vor

ſich gehabt hätte. (S. o. Note d;

die Stelle findet ſich in N. 26. p.

156). Aber eben ſo auffallend iſt

es, daß er von dieſer ſeiner be-

wundernswürdigen Divination den

verkehrteſten Gebrauch macht. Es

fällt ihm nicht ein, die richtig

aufgefundene Bedeutung von con-

demnatio auf unſre L. 3 de cond.

trit. anzuwenden, um ſo deren

Widerſpruch mit anderen Stellen

zu beſeitigen; er wendet ſie viel-

mehr auf die L. 3 § 3 de act.

|0240 : 222|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Ich bin weit entfernt, die Einwürfe zu verkennen, die

ſich gegen dieſe Erklärung erheben laſſen, und die ich nun-

mehr einzeln prüfen will.

 

1. Man kann ſagen, Ulpian würde ſich durch die Wahl

dieſes Ausdrucks einer gefährlichen Zweideutigkeit ſchuldig

gemacht haben, indem er den Gegenſatz gegen das rei judicatae

tempus durch ein Wort bezeichnet hätte, welches eben ſo

leicht gerade von dieſer Zeit, die er ausſchließen wollte,

verſtanden werden konnte.

 

Dieſer Einwurf würde Gewicht haben, wenn noth-

wendig angenommen werden müßte, daß dem Schrift-

ſteller gerade dieſer Gegenſatz vorgeſchwebt habe. Allein

bei der Stipulation, wie ſie hier vorauszuſetzen iſt, lag

ein anderer Gegenſatz ſogar viel näher: dieſes iſt die Zeit

des geſchloſſenen Contracts, an welche man bei der

buchſtäblich bindenden Natur der Stipulation ſehr leicht

denken konnte. Die vorherrſchende Rückſicht auf dieſen

Gegenſatz erſcheint noch durch folgende Betrachtung beſon-

ders natürlich und wahrſcheinlich. Zwiſchen dem Contract

und der L. C. konnte eine lange Zeit in der Mitte liegen,

und in dieſer konnten viele Veränderungen mit dem Gegen-

ſtand vorgegangen ſeyn. Dagegen iſt dem Zeitraum

zwiſchen der L. C. und dem Urtheil, bei einer ſo ein-

fachen Sache wie die Stipulationsklage auf einen Sclaven,

im Römiſchen Prozeß nur eine geringe Dauer zuzuſchreiben,

 

emti an, wohin ſie gar nicht ge-

hört, und die durch dieſes irrige

Verfahren einen ganz falſchen

Sinn erhält.

|0241 : 223|

§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.

die alſo auch nicht ſo leicht erhebliche Veränderungen in

ſich ſchließen konnte. Wenn nun Ulpian gerade dieſen

Gegenſatz vor Augen hatte und ausſchließen wollte (n),

ſo war der Gebrauch des Ausdrucks condemnatio, um die

Zeit der L. C. zu bezeichnen, ohne alle Gefahr.

2. War der Gebrauch des Ausdrucks condemnatio in

dieſer Bedeutung auch nicht gefährlich, ſo könnte man ihn

doch wegen der Seltenheit dieſes Sprachgebrauchs für

unwahrſcheinlich halten.

 

Darauf iſt zu antworten, daß es eben ſo wenig ge-

wöhnlich iſt, den Ausdruck condemnatio anſtatt res judicata

zu gebrauchen, wo es auf die Bezeichnung des Zeitpunktes

ankommt, indem faſt immer von res judicata allein, ohne

Abwechſlung der Ausdrücke, geſprochen wird.

 

3. Noch mehr Schein endlich hat der Einwurf, daß es

an einem Motiv fehle, weshalb Ulpian anſtatt des ein-

fachen, ganz unbedenklichen, Ausdrucks: litis contestationis

den mindeſtens künſtlichen, indirecten Ausdruck: condem-

nationis tempus gebraucht haben ſollte.

 

Es wird ſchwer ſeyn, bei jeder etwas ungewöhnlichen

Redeweiſe, ſtets das Motiv anzugeben; hier aber fehlt

es auch ſelbſt an einem ſolchen nicht. Der Ausdruck,

der hier gewählt wurde, ſollte zugleich den Beweis der

 

(n) Ganz eben ſo findet es

Julian nöthig, in L. 22 de

reb. cred. (ſ. o. S. 207) die Zeit

des Contracts, eben ſo wie die

des Urtheils, ausdrücklich auszu-

ſchließen, um die Zeit der L. C.

als Regel aufzuſtellen. Durch

dieſes Beiſpiel erhält der von mir

vorausgeſetzte Gedanke des Ulpian

noch größere Wahrſcheinlichkeit.

|0242 : 224|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Wahrheit des ausgeſprochenen Satzes andeuten. Da es

nämlich, je nach den verſchiedenen Zeitpunkten der Schätzung,

dreierlei Condemnationsformen gab: quanti res fuit,

oder est, oder erit, und im vorliegenden Fall die Con-

diction die zweite Form (quanti res est) mit ſich führte,

alſo das Präſens gebrauchte (S. 205. 206), ſo folgte daraus

von ſelbſt, daß hier die Schätzung nach der Zeit der con-

demnatio, d. h. der L. C., geſchehen ſollte. Der ge-

brauchte Ausdruck mußte in dieſer Beziehung für jeden

Römiſchen Leſer ſogleich verſtändlich und überzeugend ſeyn,

da die Faſſung der verſchiedenen Formeln aus dem täg-

lichen Gebrauch Jedem geläufig war.

Nachdem nun der wichtigſte und ſchwierigſte Theil der

Stelle behandelt iſt, wird es möglich ſeyn, den ganzen

Inhalt derſelben im Zuſammenhang darzuſtellen, wozu

eine vorläufige Ueberſicht den Weg bahnen ſoll.

 

Die Stelle ſpricht von der condictio triticaria aus der

Stipulation einer Sache, die Anfangs unbeſtimmt gelaſſen,

dann aber ſogleich als ein Sclave bezeichnet wird. — Die

Schätzungszeit deſſelben ſoll beſtimmt werden. — Dieſes

geſchieht erſtens für den Fall, wenn keine Mora vorhanden

iſt, zweitens für den Fall der Mora. — Im erſten Fall

wird weiter unterſchieden, ob der Sclave lebt oder todt

iſt. — Daraus ergeben ſich drei Fälle überhaupt. Im

Fall des Lebens ohne Mora iſt nach der Zeit der L. C.

zu ſchätzen. Im Fall des Todes ohne Mora nach der Zeit

des Todes. Im Fall der Mora darf der Kläger, wenn

 

|0243 : 225|

§. 276. Wirkung der L. C. — Schätzungszeit. L. 3 de cond. trit.

die Zeit der Mora einen höheren Werth ergiebt, dieſe

Zeit für die Schätzung in Anſpruch nehmen, der Sclave

mag leben oder todt ſeyn. — Dieſe Sätze ſollen jetzt im

Einzelnen in der Stelle nachgewieſen und näher beſtimmt

werden.

Erſter Fall. Der Sclave lebt, und es iſt keine

Mora vorhanden. Nun wird nach der Zeit der L. C.

(condemnationis tempus) geſchätzt.

 

„In hac actione … spectandum.“ Dieſer Theil iſt

ſchon ausführlich erklärt worden.

 

Zweiter Fall. Der Sclave iſt geſtorben, und es iſt

keine Mora vorhanden.

 

„Si vero desierit esse in rebus humanis, mortis

tempus .. erit spectandum“ … (o).

 

Hier kommt es darauf an, die Zeit zu beſtimmen, in

welcher, nach der Vorausſetzung des Ulpian, der Sclave

geſtorben iſt. Dieſes iſt ſicher nicht die Zeit nach der

L. C., da durchaus kein Grund denkbar iſt, warum nicht

in dieſem Fall, ganz ſo wie im erſten, nach der Zeit der

L. C. geſchätzt werden ſollte. Der Tod iſt alſo in der

Zeit zwiſchen dem Vertrag und der L. C., d. h. vor dem

Prozeß, zu denken. Natürlich muß noch hinzugedacht

 

(o) Dazwiſchen ſteht noch ein

untergeordneter Satz, der mit un-

ſeren Fragen Nichts zu ſchaffen

hat, und den ich oben im Text

übergangen habe, um nicht den

Zuſammenhang der Hauptgedanken

zerſtreuend zu unterbrechen. Die

Todeszeit, heißt es, ſoll nicht zu

buchſtäblich von dem Augenblick

des Verſcheidens verſtanden wer-

den, da auch der Sclave, der in

den letzten Zügen liegt, obgleich

er noch lebt, doch ſchon faſt völlig

werthlos iſt.

VI. 15

|0244 : 226|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap IV. Verletzung.

werden, daß der Tod zugleich unter ſolchen Umſtänden

erfolgt iſt, die den Beklagten zum Erſatz verpflichten, da

ſonſt von einer Schätzung gar nicht die Rede ſeyn könnte.

Es muß alſo der Tod erfolgt ſeyn nicht durch Zufall,

ſondern durch den Dolus oder durch culpoſe Handlungen

des Schuldners (p). — In dieſem Fall nun ſoll der Werth

des Sclaven geſchätzt werden nach der Zeit des Todes,

nicht wie in dem erſten Fall nach der Zeit der L. C.;

ſehr natürlich, weil zu dieſer Zeit kein Sclave mehr da

iſt, der geſchätzt werden könnte.

Dritter Fall. Es iſt eine Mora vorhanden, und

dabei ſoll es keinen Unterſchied machen, ob der Sclave

noch lebt oder todt iſt.

 

„In utroque autem(q), si post moram deterior res

facta sit, Marcellus scribit lib. XX., habendam aesti

mationem quanti deterior res facta sit. Et ideo, si

quis post moram servum eluscatum dederit, nec

liberari eum. Quare ad tempus morae in his erit

reducenda aestimatio.“

 

Es wird nicht geſagt, daß im Fall der Mora die vor-

hergehenden Regeln nicht eintreten ſollen. Dieſe gelten

auch dann, aber es tritt nur eine mögliche Modification

 

(p) L. 91 pr. de verb. obl.

(45. 1). Vgl. oben § 272 am

Ende des §.

(q) D. h. sive vivat servus,

sive mortuus sit. Aus dieſem

Zuſammenhang der fortſchreitenden

Sätze ergiebt ſich die Grundloſig-

keit der Erklärung, welche auch

ſchon in den Anfang der Stelle

die Vorausſetzung der Mora hin-

ein tragen will (Note f).

|0245 : 227|

§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.

zum Vortheil des Klägers hinzu. Iſt der Werth des

Sclaven nach der Mora gleich geblieben oder geſtiegen, ſo

iſt von der Modification nicht die Rede: anders wenn der

Sclave an Werth abgenommen hat (si deterior res facta

sit), z. B. wenn ihm ein Auge ausgeſchlagen worden iſt.

Nun kann der Kläger verlangen, daß der nach den vorher-

gehenden Regeln abzuſchätzende Werth des Sclaven um ſo

viel erhöhet werde, als der Sclave nach der Mora an

Werth verloren hat (quanti deterior res facta sit); oder

mit anderen Worten: der Kläger hat nun das Recht, die

Schätzung nach der Zeit, worin die Mora anfing, vor-

nehmen zu laſſen (ad tempus morae in his erit reducenda

aestimatio). — Hieraus iſt es klar, daß der Kläger für

die Schätzung zwiſchen zwei Zeitpunkten die Wahl haben

ſoll; von einem höheren Werth der Zwiſchenzeit iſt nicht

die Rede (§ 275. u). Zugleich iſt es klar, warum im Fall

der Mora in utroque daſſelbe gelten ſoll. Durch die Mora

nämlich wird überhaupt Nichts geändert, als daß der Kläger

für die Schätzungszeit zwiſchen L. C. und Mora, oder

zwiſchen Tod und Mora, die Wahl haben ſoll.

§. 277.

Wirkung der Litis Conteſtation. II. Umfang der Ver-

urtheilung. — b) Verminderungen. Preisveränderung.

Bisher iſt nur von den objectiven Verminderungen die

Rede geweſen, deren Natur darin beſteht, daß der Gegen-

ſtand des Rechtsſtreits ſelbſt eine äußerlich wahrnehmbare

 

15*

|0246 : 228|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Veränderung erleidet. Es ſind nun noch diejenigen Ver-

minderungen zu betrachten, die eine unſichtbare Natur haben,

indem ſie in einer bloßen Preisverminderung gegründet

ſind (§ 272). Dieſe unterſcheiden ſich von den objectiven

Verminderungen durch die Möglichkeit einer viel ausge-

dehnteren Anwendung. Denn anſtatt daß die objectiven

nur bei individuell beſtimmten Gegenſtänden vorkommen,

da nur dieſe durch Verſchuldung oder Unglück zerſtört, ver-

dorben, verloren werden können, ſo tritt die Preisvermin-

derung eben ſowohl bei generiſch beſtimmten, als bei indi-

viduellen Gegenſtänden eines Rechtsſtreits ein; alſo ſowohl

bei der übernommenen Lieferung von Hundert Scheffel

Weizen, als wenn eine beſtimmte, im Beſitz eines Anderen

befindliche, Maſſe Weizen vindicirt wird.

Um aber von dieſem Theil der Unterſuchung eine er-

ſchöpfende Überſicht zu geben, iſt es nöthig, die Erwägung

nach zwei Seiten hin auszudehnen: erſtens, auf die Fälle,

worin die Veränderung nicht in vermindertem, ſondern in

erhöhtem Preiſe des Gegenſtandes beſteht; zweitens, auf

die zuſammengeſetzten Fälle, in welchen neben der Preis-

verminderung zugleich auch eine objective Verminderung des

Gegenſtandes ſelbſt Statt findet.

 

Im R. R. werden die Fälle der Preisverminderung

nicht beſonders hervorgehoben, noch von den Fällen der

objectiven Verminderung unterſchieden. Daß ſie aber nicht

unbeachtet geblieben ſind, läßt ſich beſtimmt behaupten,

indem mehrere Stellen ausdrücklich von ſolchen Gegen-

 

|0247 : 229|

§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.

ftänden handeln, die (wie Wein und Getreide) zum öffent-

lichen Marktverkehr gehören (a). Bei dieſen aber iſt

gerade der ſchwankende Preis ſo vorzugsweiſe wichtig, daß

er als Moment juriſtiſcher Entſcheidung unmöglich überſehen

werden konnte.

Allerdings können die hier angeregten Fragen auch bei

ſolchen Gegenſtänden vorkommen, die nicht als Waaren

zum Marktverkehr gehören. Selbſt bei Grundſtücken kommt

es nicht ſelten vor, daß die Preiſe im Allgemeinen ſteigen

oder fallen. Dennoch iſt bei ihnen die hier vorliegende

Frage deswegen von geringerer practiſcher Erheblichkeit,

weil dabei die Veränderung der Preiſe nicht leicht auf

feſte und ſichere Zahlenſätze zurückgeführt werden kann, ſo

daß die Anwendung der jetzt aufgeſtellten Regel nur ſelten

wird begründet werden können. Es kommt hinzu, daß bei

ſolchen Gegenſtänden die Schwankung der Preiſe im

Großen meiſt erſt nach längeren Zeiträumen deutlich her-

vortritt, und daher für die Dauer eines Rechtsſtreits nicht

leicht Einfluß erhält, anſtatt daß dieſelbe Schwankung im

Marktverkehr oft eben ſo ſicher als ſchnell wechſelnd wahr-

zunehmen iſt.

 

Es iſt nun zunächſt die juriſtiſche Natur der hier

angegebenen Veränderungen feſtzuſtellen. Die Erhöhung

des Preiſes hat ganz die Natur des aus einem anderen

Vermögensſtück entſpringenden zufälligen Erwerbs

 

(a) L. 3 § 3, L. 21 § 3 de act. emti (19. 1), L. 4 de cond.

trit. (13. 3), L. 22 de reb. cred. (12. 1.), ſ. o. § 275.

|0248 : 230|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

(§ 265). Es iſt ein innerer Zuwachs des Gegenſtandes,

ganz ähnlicher Natur, wie der durch Alluvion bewirkte

Zuwachs des Grundeigenthums. — Die Verminderung

des Preiſes hat dagegen ganz die Beſchaffenheit einer

zufälligen Verminderung überhaupt, d. h. einer

ſolchen, die ohne Dolus oder Culpa des Schuldners bewirkt

wird, ſo wie dieſer Rechtsbegriff oben (§ 273) aufgeſtellt

und auf die Fälle objectiver Verminderung angewendet

worden iſt. Ich nenne dieſe (auf den Preis bezügliche)

Verminderung eine zufällige, weil ſie ſtets auf allgemeinen

Conjuncturen beruht und außer dem Bereich individueller

Einwirkung liegt, es mögen nun jene Conjuncturen im

Welthandel oder in den vorübergehenden Zuſtänden einzelner

Länder oder Städte ihren Grund haben.

Die völlige Gleichartigkeit der Preisverminderung mit

der oben abgehandelten objectiven Verminderung wird durch

folgende Betrachtung einleuchtend werden. Wenn die

Eigenthumsklage auf eine Anzahl individuell bezeichneter

Actien einer Fabrik-Unternehmung gerichtet wird, ſo können

im Lauf des Rechtsſtreits folgende Veränderungen eintreten.

Es können dieſe Actien von ihrem urſprünglichen Pari-

werth (100) auf 50 herabſinken, oder auch (wenn das

Unternehmen völlig untergeht) auf 0. — Es können aber

ferner die eingeklagten Actien zur Hälfte oder auch ins-

geſammt durch Feuer zufällig zerſtört werden. Hier iſt es

augenſcheinlich, daß die eine und die andere Art der Ver-

 

|0249 : 231|

§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.

minderung gleich wichtig iſt, und auf das Vermögen des

Berechtigten ganz denſelben Einfluß ausübt.

Dieſe Betrachtungen ſollten nur als Vorbereitung dienen

zu den Rechtsregeln über die verſchiedenen Fälle der

Preisverminderung, zu deren Aufſtellung ich mich jetzt

wende. Ich ſchließe mich dabei ganz an diejenigen Regeln

an, die oben (§ 275) über die Behandlung der objectiven

Verminderung, ſowie über die dabei zu beobachtende Zeit

der Schätzung, aufgeſtellt worden ſind.

 

Erſter Fall. Strenge Klagen, bei welchen kein Grund

einer exceptionellen Behandlung vorliegt. Dabei ſollte die

Schätzung nach der Zeit der L. C. vorgenommen werden,

welches im heutigen Recht nicht mehr vorkommt.

 

Hier iſt die Erhöhung wie die Verminderung des

Preiſes vor der L. C. ohne Einfluß, da in jedem Augen-

blick der Schuldner durch Erfüllung die Obligation tilgen,

der Creditor aber durch Anſtellung der Klage die L. C.

herbeiführen kann.

 

Desgleichen iſt jede Veränderung des Preiſes nach der

L. C. ohne Einfluß, da der Sinn der auf die L. C. als

Schätzungszeit gerichteten Regel eben darin beſteht, daß

hierdurch die Schätzung unabänderlich fixirt werden ſoll.

 

Es gilt alſo unbedingt die Schätzung nach der Zeit

der L. C. ebenſowohl für die ſchwankenden Preiſe, wie für

die objective Verminderung des Gegenſtandes.

 

Zweiter Fall. Freie Klagen, bei welchen kein Grund

einer exceptionellen Behandlung vorliegt. Hier ſoll die

 

|0250 : 232|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Schätzung nach der Zeit des rechtskräftigen Urtheils vor-

genommen werden, welches im heutigen Recht auch für

diejenigen Klagen gilt, die das R. R. unter die Regel des

erſten Falles geſtellt hatte.

Bei dieſer Regel bleibt es unbedingt, wenn etwa eine

Erhöhung des Preiſes vor dem Urtheil (ſey es vor oder

nach der L. C.) eingetreten ſeyn ſollte. Wenn durch dieſe

Erhöhung der Beklagte einen Nachtheil erleidet, ſo hat er

ſich dieſen ſelbſt zuzuſchreiben, da es jeden Augenblick in

ſeiner Macht ſtand, durch Erfüllung die Schuld zu tilgen,

und ſo den Nachtheil aus den ſpäter ſteigenden Preiſen ab-

zuwenden.

 

Auch wenn eine Verminderung des Preiſes vor dem

Urtheil eintritt, iſt dieſelbe Regel anzuwenden, jedoch hier

mit folgender Ausnahme. Wenn nämlich die Eigenthums-

klage gegen einen unredlichen Beſitzer geführt wird, ſo muß

dieſer die Preisverminderung vergüten, die nach der L. C.

eingetreten iſt; gerade ſo wie er auch Entſchädigung leiſten

müßte, wenn in dieſem Zeitraum nicht durch Preisvermin-

derung, ſondern durch Untergang oder Beſchädigung der

Sache ein zufälliger Schade entſtanden wäre (S. 179).

 

Dritter Fall. Perſönliche Klage aus einer Obliga-

tion, deren Erfüllung durch Vertrag auf einen beſtimmten

Zeitpunkt geſetzt iſt.

 

Hier iſt der Preis dieſes Zeitpunktes zum Grunde zu

legen.

 

Der höhere oder niedere Preis der früheren Zeit iſt

 

|0251 : 233|

§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.

gleichgültig, weil die Parteien ſelbſt eine frühere Erfüllung

nicht wollten oder erwarteten.

Die Erhöhung und Verminderung der ſpäteren Zeit

iſt gleichgültig, da der Vertrag ſelbſt die Zeit der Erfüllung

mit ihren Folgen fixirt hat, beide Theile alſo in dieſe be-

ſonderen Folgen eingewilligt haben. Jedoch wird in dieſem

Fall meiſt zugleich eine Mora eintreten, da denn die fol-

gende Regel zur Anwendung kommen muß.

 

Dieſer dritte Fall iſt übrigens practiſch beſonders häufig

und wichtig; es gehören dahin die zahlreichen Verträge,

welche auf Lieferung von Handelsgegenſtänden in einer

beſtimmten Zeit geſchloſſen werden.

 

Vierter Fall. Perſönliche Klage, wenn dabei eine

Mora, ſey es vor oder mit dem Rechtsſtreit, eintritt.

 

Jede Erhöhung oder Verminderung des Preiſes vor

der Mora iſt gleichgültig.

 

Die Erhöhung oder Verminderung nach der Mora kann

dem Kläger niemals Nachtheil bringen, weil er ein unbe-

dingtes Wahlrecht hat, nach welchem Zeitpunkt die Schätzung

vorgenommen werden ſoll.

 

Dem Beklagten geſchieht dadurch kein Unrecht, da er

eben durch die Mora jeden möglichen Nachtheil wohl ver-

dient hat.

 

Es bleibt nur noch übrig, die verſchiedenartige An-

wendung dieſer Rechtsregeln näher zu beſtimmen.

Dabei ſind folgende Fälle zu unterſcheiden.

 

1. Im älteren R. R. war dieſe Anwendung weit ausge-

 

|0252 : 234|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

dehnter, als in der ſpäteren Zeit. Da nämlich alle Ver-

urtheilungen nur auf baares Geld lauten durften (b), ſo

mußten jene Regeln in jedem einzelnen Fall unmittelbar

und einfach dadurch zur Anwendung gebracht werden, daß

in der auszuſprechenden Geldſumme nicht nur der objective

Zuſtand der Sache, ſondern auch (nach den eben aufge-

ſtellten Regeln) der Preis berückſichtigt wurde.

2. Dieſes hat ſich völlig geändert im Juſtinianiſchen

Recht, welches zugleich die heutige Regel bildet. Hier wird,

wenn der Gegenſtand des Rechtsſtreites noch vorhanden iſt,

auf deſſen Naturalleiſtung, nicht mehr auf eine Geldſumme,

erkannt. Dieſes heißt für den letzten Erfolg eben ſo viel,

als ob (nach der oben aufgeſtellten zweiten Regel) auf den

Geldwerth zur Zeit des rechtskräftigen Urtheils erkannt

würde. In denjenigen Fällen nun, worin vor dem Urtheil

eine Preisverminderung eingetreten iſt, und zugleich der

Beklagte die exceptionelle Verpflichtung hat, für alle zufällige

Verminderungen einzuſtehen (alſo im Fall der Vindication

gegen den unredlichen Beſitzer, ſo wie im Fall der Mora)

iſt zwar auch auf die Naturalleiſtung zu erkennen, jedoch

mit einer zuſätzlichen Ausgleichung in Geld, damit die oben

aufgeſtellten Regeln rein und vollſtändig zur Anwendung

gebracht werden.

 

3. Eine beſondere Erwägung bedarf der Fall, wenn

der Beklagte das Urtheil nicht abwartet, ſondern dadurch

abwendet, daß er den Anſpruch des Klägers freiwillig

 

(b) Gajus IV. § 48.

|0253 : 235|

§. 277. Wirkung der L. C. — Preisveränderung.

erfüllt. Dazu war bei den arbiträren Klagen in dem

Reſtitutionsbefehl des Judex eine beſondere Aufforderung

gegeben; bei allen übrigen Klagen aber ſollte der Beklagte

wenigſtens das Recht dazu haben (c).

Nun ſcheint es, daß durch dieſe Einrichtung dem Be-

klagten in den Fällen, worin er nach den aufgeſtellten

Regeln einen höheren Werth als den der Gegenwart zu

leiſten hatte, ein Mittel dargeboten würde, das Recht des

Klägers zu vereiteln, indem er ſich durch die einfache

Natural-Reſtitution von jeder weiteren Verpflichtung frei-

machte.

 

Allein gegen dieſe Umgehung des Rechts ſchützt den

Kläger der juriſtiſche Begriff der Reſtitution. Eine ſolche

wird nämlich nicht unbedingt vollführt durch die materielle

Herausgabe des Gegenſtandes; vielmehr gehört dazu auch

die omnis causa, welche in dem hier vorliegenden Fall

gerade die Ausgleichung des höheren Werthes durch eine

zuſätzliche Geldſumme in ſich ſchließt (d).

 

4. Zuletzt iſt noch der zuſammengeſetzte Fall zu be-

trachten, wenn in einem und demſelben Rechtsſtreit die

 

(c) Gajus IV. § 114.

(d) L. 75 de V. S. (50. 16)

„Restituere is videtur qui id

restituit, quod habiturus esset

actor, si controversia ei facta

non esset.“ Eben ſo L. 35,

L. 246 § 1 eod., und L. 9 § 8 ad

exhib. (10. 4). In Anwendung

dieſes Grundſatzes wird ferner aus-

drücklich geſagt, daß der Schuldner,

der in Mora iſt, nicht dadurch

frei wird, daß er die verſprochene

Sache herausgiebt, wenn dieſe in

der Zwiſchenzeit (wiewohl durch

Zufall) ſchlechter geworden iſt.

L. 3 de cond. trit. (13. 3), ſ. o.

S. 226.

|0254 : 236|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

objective Verminderung der ſtreitigen Sache mit einer

Preisverminderung zuſammentrifft.

Die Beurtheilung dieſes Falles kann keinem Zweifel

unterliegen, indem die vollſtändige Anwendung der aufge-

ſtellten Regeln auf ein Urtheil führen kann, deſſen Inhalt

aus zwei Factoren hervorgeht. Folgendes Beiſpiel wird

dieſe Behauptung anſchaulich machen.

 

Wenn Actien durch eine Eigenthumsklage gefordert, und

während des Prozeſſes geſtohlen werden, ſo kommen bei

dem Urtheil folgende Umſtände in Betracht. Zunächſt muß

der Beklagte den Werth der geſtohlenen Actien vergüten,

weil bei jedem Diebſtahl eine Culpa des Beſitzers präſumirt

wird; der Werth dieſer Actien wird in der Regel nach der

Zeit des Urtheils beſtimmt. — Wenn aber der Beklagte

ein unredlicher Beſitzer iſt, und in der Zeit zwiſchen der

L. C. und dem Urtheil der Curs dieſer Actien ſinkt, ſo

muß der Beklagte noch ſo viel Geld zulegen, als die Curs-

differenz beträgt. Er hat alſo in dieſem Fall zwei von

einander unabhängige, auf verſchiedenen Rechtsgründen

beruhende, Entſchädigungen zu leiſten: erſtens für den durch

Diebſtahl entſtandenen Verluſt, wegen ſeiner Culpa; zweitens,

für den zufälligen Verluſt durch das Sinken des Curſes,

weil überhaupt der unredliche Beſitzer nach der L. C. für

jeden zufälligen Nachtheil einſtehen ſoll.

 

|0255 : 237|

§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.

§. 278.

Stellung der Litis Conteſtation und ihrer Folgen im

heutigen Recht.

Das Weſen der L. C. im Formularprozeß des älteren

R. R. iſt oben ausführlich dargeſtellt worden (§ 257).

Characteriſtiſch war dabei die große Nähe, in welcher ſich

(verglichen mit den möglichen Ereigniſſen in unſrem Pro-

zeßverfahren) die L. C. nebſt den daran geknüpften Folgen

neben dem erſten Anfang des Rechtsſtreits befand.

 

Dieſes Verhältniß, ſo wie das Weſen der L. C. über-

haupt, erſcheint zwar im Juſtinianiſchen Recht nicht von

Grund aus verändert; indeſſen waren doch ſchon bedeutende

Modificationen eingetreten, und namentlich hatte die geſetz-

liche Friſt von Zwei Monaten die L. C. weiter als früher

von dem Anfang des Rechtsſtreits entfernt.

 

Das Canoniſche Recht hat dieſe vorgefundene neueſte

Geſtalt der L. C. nicht abgeändert. Wichtiger und bedenk-

licher war die abgeänderte Stellung, welche der L. C. im

ganzen Zuſammenhang des Prozeſſes durch die Reichsgeſetze

gegeben wurde (§ 259).

 

Allein auch bei dieſer Geſtalt des gemeinen Deutſchen

Prozeſſes iſt es nicht geblieben, vielmehr hat ſich das Be-

dürfniß ſpäterer Zeiten neue Bahnen gebrochen.

 

Zwar in dem Protokollar-Prozeß der von einzeln ſtehenden

Richtern verwalteten Untergerichte läßt ſich die frühere Ge-

ſtalt der L. C. leicht wieder erkennen und ohne Nachtheil

 

|0256 : 238|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

durchführen, ſo daß es bei ihm nur auf eine ſtrenge und

verſtändige Ausführung ankommt, um dem practiſchen Be-

dürfniß wahrhaft zu genügen.

Anders aber ſteht es mit dem weit wichtigeren, auf

vier regelmäßigen Schriftſätzen beruhenden gemeinen Deut-

ſchen Prozeß, wie er in allen höheren collegialiſchen Ge-

richten und auch in vielen Untergerichten, herrſchend ge-

worden iſt. Es würde eine bloße Täuſchung ſeyn, wenn

man glauben wollte, daß hier die Prozeßvorſchriften des

R. R., oder auch der Reichsgeſetze, wirklich zur Ausführung

gebracht würden. — Wollte man den Buchſtaben des R. R.

feſthalten, und die der L. C. beigelegten Wirkungen an den

Zeitpunkt unſres ſchriftlichen gemeinen Prozeſſes anknüpfen,

in welchem gerade dasjenige vorgegangen iſt, welches im

R. R. als Inhalt der L. C. vorausgeſetzt wird, ſo müßte

man dieſen entſcheidenden Abſchnitt des Prozeſſes an das

Ende des erſten Verfahrens ſetzen, alſo entweder mit der

Einreichung der Duplik, oder mit der Abfaſſung des Be-

weis-Interlocuts verknüpfen; denn erſt in dieſem Zeitpunkt

kann man mit Sicherheit annehmen, daß die Exceptionen,

Replicationen und Duplicationen vorgebracht ſeyn werden,

ſo wie es das R. R. für den Zeitpunkt der L. C. unzwei-

felhaft vorausſetzt.

 

Dennoch iſt eine ſo ſtrenge und buchſtäbliche Gleichſtel-

lung mit der alten L. C. niemals verſucht worden, ſchon

deswegen nicht, weil man von dieſer Prozeßhandlung des

R. R. keine hinreichende Kenntniß hatte; auch war dazu

 

|0257 : 239|

§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.

ein practiſches Bedürfniß in der That nicht vorhanden. —

Vielmehr wurde nunmehr die L. C., im Anſchluß ſowohl

an die Reichsgeſetze als an die gänzlich umgebildete Bedeu-

tung dieſes aus dem R. R. zu uns herübergekommenen

Kunſtausdrucks (§ 259), als die Einlaſſung des Beklagten

auf die thatſächlichen Behauptungen der Klage aufgefaßt,

und ſomit in die erſte Prozeßſchrift des Beklagten (die Ex-

ceptionsſchrift) verſetzt. Dieſe Stellung der L. C. iſt jedoch

ohne weſentlichen Nutzen für den letzten Zweck des Pro-

zeſſes, und zugleich nicht ohne erhebliche Bedenken und

Gefahren, indem ſie dem Beklagten ein leichtes Mittel dar-

bietet, dieſe Handlung willkührlich hinauszuſchieben und

dadurch die Rechte des Klägers zu gefährden (§ 259).

Man kann dieſe Gefahren dadurch beſeitigen oder wenig-

ſtens vermindern, daß man die Wirkung der L. C. unbe-

dingt an die Einreichung der erſten Prozeßſchrift des Be-

klagten knüpft, ohne Rückſicht auf den Inhalt dieſer Schrift;

ſo daß eine L. C. fingirt würde, wenn etwa der Beklagte

unredlicher Weiſe die factiſche Erklärung auf die Klage

verweigerte oder verzögerte (a). Allein erſtens wäre dieſes

nicht ſowohl eine Anwendung des beſtehenden Prozeßrechts,

als eine in guter Abſicht vorgenommene Umbildung deſſel-

ben; zweitens, wäre damit in der That Nichts gewonnen.

Dieſe fingirte L. C. wäre eine leere Formalität, und es

erſcheint als ganz willkührlich und grundlos, gerade an die

 

(a) Pufendorf Obs. IV. 94, Göſchen Vorleſungen B. 1 S. 475,

Wächter H. 3 S. 87.

|0258 : 240|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Einreichung der erſten Schrift des Beklagten, ohne Rück-

ſicht auf deren Inhalt, wichtige materielle Wirkungen zu

knüpfen. — Das Bedürfniß, deſſen Anerkennung in dieſem

Verfahren liegt, führt offenbar dahin, noch einen Schritt

weiter rückwärts zu gehen, und jene wichtige Wirkungen

an den Zeitpunkt des Prozeſſes zu knüpfen, in welchem

zuerſt der Beklagte ſicher und auf amtliche Weiſe ein Be-

wußtſeyn des erhobenen Rechtsſtreits erhält. Dieſer Zeit-

punkt aber iſt kein anderer, als der der Inſinuation

der Klage. Daß dabei der Beklagte blos leidend, ohne

eigene Thätigkeit erſcheint, iſt kein Hinderniß, dieſe That-

ſache als den Entſtehungsgrund einer Obligation, d. h. als

Quaſicontract, anzuerkennen; denn wenn auch im R. R.

der Beklagte bei der L. C. als thätig erſcheint, ſo beruht

doch dieſe Thätigkeit eben ſo wenig auf ſeinem freien Ent-

ſchluß, als die Empfangnahme der Klagſchrift und das

dadurch erzeugte Bewußtſeyn. Wenn wir uns alſo ent-

ſchließen, das hier angegebene Verfahren einzuſchlagen, ſo

entfernen wir uns dadurch weniger von dem wahren Weſen

des R. R., als es auf den erſten Blick ſcheinen mag,

und wir vermeiden dennoch gänzlich die oben bemerkten

Gefahren.

Ehe nun die durch die vorſtehenden Bemerkungen vor-

bereitete Unterſuchung weiter geführt wird, iſt es nöthig,

den Erfolg und die practiſche Wichtigkeit derſelben näher

zu beſtimmen. — Vor Allem muß dieſe Unterſuchung

lediglich auf die materiellen Wirkungen beſchränkt bleiben,

 

|0259 : 241|

§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.

von welchen allein auch in der ganzen bisherigen Darſtellung

die Rede geweſen iſt. Der Einfluß der L. C. auf den

Gang des Prozeſſes liegt ganz außer dem Bereich unſrer

Betrachtung, und beruht auch auf ganz anderen Gründen

als die hier zu beſtimmende materielle Einwirkung. So

z. B. wird geſagt, durch die L. C. würden alle zu dieſer

Zeit nicht vorgebrachte Einreden ausgeſchloſſen; eben ſo

ſey von dieſer Zeit an eine Veränderung der Klage nicht

mehr zuläſſig. Dieſe Folgen entſpringen aber in der That

aus der erſten Erklärung des Beklagten als ſolcher, ohne

Rückſicht darauf, ob dieſe Erklärung gerade eine L. C. ent-

hält, und worin dieſe beſteht. — Eben ſo wird behauptet,

durch die L. C. werde die Incompetenz des Richters be-

ſeitigt. Allein auch dies iſt nicht eine Folge der L. C.

als ſolcher, und ihres etwa ſo oder anders zu beſtimmenden

Inhalts, ſondern die Einlaſſung ohne Widerſpruch gegen

die Incompetenz wirkt als Prorogation, d. h. als freiwillige

Unterwerfung unter dieſes Gericht.

Das ſo eben bemerkte dringende Bedürfniß führte dahin,

die Wirkungen der L. C. auf einen früheren Zeitpunkt des

Prozeſſes zu verlegen, und dadurch das R. R. der Form

nach abzuändern, dem Sinn und Weſen nach aber feſtzu-

halten. Dieſes Bedürfniß iſt auch ſchon längſt und häufig,

wenngleich oft bewußtlos, anerkannt worden. Es hat ſich

offenbart in der oben dargeſtellten Verwandlung des Begriffs

der L. C., indem man dem im R. R. aufgeſtellten vollſtändigen

Begriff die bloße Erklärung des Beklagten auf die That-

 

VI. 16

|0260 : 242|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſachen der Klagen untergeſchoben, und dadurch den ur-

ſprünglichen Begriff weſentlich eingeſchränkt hat. Dieſe

einſchränkende Verwandlung bezweckte recht eigentlich, das

Eintreten der L. C. zu erleichtern und früher herbeizuführen.

Daſſelbe Bedürfniß offenbarte ſich aber ferner in der

Annahme, daß ſchon das neue R. R. ſelbſt die L. C. rück-

wärts in einen früheren Zeitpunkt verſetzt habe. Es iſt oben

gezeigt worden, daß dieſe Annahme mit hiſtoriſchen Mis-

verſtändniſſen in der Lehre von der Erbſchaftsklage zuſam-

menhängt (§ 264). Möge man aber auch hierüber denken

wie man wolle, ſo beſchränken ſich doch ohne Zweifel die

Stellen des R. R., welche man jener Annahme zum Grunde

legt, allein auf die Erbſchaftsklage, während bei den zahl-

reichen übrigen Klagen im R. R. ſtets nur von der L. C.

als dem entſcheidenden Zeitpunkt die Rede iſt. Daß man

nun dieſes Verhältniß der Quellenzeugniſſe ſo allgemein

überſah oder ignorirte, und den Ausſprüchen über die Erb-

rechtsklage eine allgemeine Bedeutung, im Widerſpruch mit

ſo vielen anderen Ausſprüchen einräumte, erklärt ſich lediglich

aus dem richtigen Gefühl des oben erwähnten Bedürfniſſes,

dem man nur nicht auf dem richtigen Wege, ſondern auf

unkritiſche Weiſe, Befriedigung zu verſchaffen ſuchte.

 

Ich will es nunmehr verſuchen, eine Überſicht zu geben

über den Stand der ſehr auseinandergehenden Meinungen

über die hier behandelte Frage.

 

Einige nehmen als Regel an, daß das urſprüngliche

Princip des R. R. noch jetzt gelte, daß alſo die materiellen

Wirkungen ſtets auf den Zeitpunkt der L. C. zurückzuführen

 

|0261 : 243|

§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.

ſeyen, wenngleich ſie mitunter einzelne Ausnahmen geſtatten

wollen (b).

Andere behaupten eine gänzliche Umwandlung jenes

Princips, indem an die Stelle der L. C. im heutigen Recht

als Grund und Anfang wichtiger materieller Wirkungen,

die Inſinuation der Klage an den Beklagten getreten ſey (c).

Auch in dieſer Meinung kommen einzelne untergeordnete

Modificationen vor.

 

Noch Andere endlich, und zwar in neuerer Zeit die

Meiſten, wollen weder das erſte noch das zweite Princip

gelten laſſen, indem ſie annehmen, daß für jede einzelne

materielle Wirkung der Anfangspunkt beſonders unterſucht

und feſtgeſtellt werden müſſe (d).

 

Ich erkläre mich aus den ſchon entwickelten Gründen,

in offener Anerkennung des neu eingetretenen unabweislichen

Bedürfniſſes, für die zweite Meinung, und nehme daher

die Inſinuation der Klage als das heutige Surrogat der

Römiſchen L. C. an, ſo daß von der Inſinuation an alle

materielle Wirkungen eintreten müſſen, welche das R. R.

an die L. C. knüpft. Hierin liegt das einzige durchgreifende

Mittel, den Anſpruch des Klägers auf die ſchützenden Vor-

ſchriften, welche das R. R. an die L. C. knüpft, gegen die

 

(b) Glück B. 6 S. 205,

Hofacker § 1020. 4385, Thi-

baut § 709 ed. 8, Mühlenbruch

§ 144. 372 ed. 4.

(c) Hommel rhaps. Obs. 234,

Sintenis Erläuterungen des Ci-

vilprozeſſes § 12. 15. 16, Kierulff

S. 280—284.

(d) Winckler p. 355—365,

Martin Prozeß § 152. 156, Linde

§ 200. 206, Bayer S. 229—234,

S. 248—250, Heffter § 346.

350 ed. 2., Wächter H. 3

S. 86—119.

16*

|0262 : 244|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

verzögernde Willkühr des Beklagten zu ſichern, für welchen

Zweck außerdem der heutige gemeine Prozeß keine aus-

reichende Hülfe gewährt. Auch hat die Praxis der meiſten

Gerichte dieſe wichtige Veränderung, wenigſtens in den

wichtigſten und häufigſten Anwendungen, längſt anerkannt.

Für das aufgeſtellte Princip ſind aber noch folgende

nähere Beſtimmungen nöthig.

 

Bei manchen einzelnen Wirkungen iſt von einigen

Schriftſtellern noch ein Unterſchied gemacht worden zwiſchen

der Einreichung und der Inſinuation der Klage, um

durch das Zurückgehen auf jene einen noch früheren An-

fangspunkt der materiellen Wirkungen zum Vortheil des

Klägers zu gewinnen; dies iſt insbeſondere für die Unter-

brechung der Klagverjährung behauptet worden, da außer-

dem in der Zwiſchenzeit die Verjährung ablaufen könnte.

Dieſe Behauptung hat keinen Anhalt in unſren Rechts-

quellen, und iſt ſchon als kleinlich zu verwerfen. Beſonders

aber widerſpricht ſie gänzlich dem Princip, nach welchem

es weſentlich darauf ankommt, daß in dem Beklagten ein

Bewußtſeyn des erhobenen Rechtsſtreits entſtanden ſeyn

müſſe. Wo in der That ein ſolcher Verluſt eintritt, wird

es nicht leicht ohne Nachläſſigkeit des Klägers geſchehen,

und wo dieſe gar nicht vorhanden iſt, wird durch Reſtitu-

tion geholfen werden können (e). Man könnte ſogar in der

ängſtlichen Vorſorge noch weiter gehen, und zwiſchen der

Abſendung der Klagſchrift und deren Empfang von Seiten

 

(e) Etwa ſo, wie gegen die ſchuldlos verſäumte damni infecti sti-

pulatio Reſtitution gegeben wird. L. 9 pr. de damno inf. (39. 2).

|0263 : 245|

§. 278. Stellung der L. C. im heutigen Recht.

des Richters unterſcheiden, indem ja auch noch in dieſer

Zwiſchenzeit ein Ablauf der Verjährung denkbar iſt.

Es iſt ferner behauptet worden, wenn man auch die

Inſinuation als heutiges Surrogat der L. C. im Allge-

meinen anerkennen wollte, ſo müßte doch noch die beſchrän-

kende Bedingung hinzugefügt werden, daß es in Folge

derſelben auch wirklich zu einem Rechtsſtreit gekommen ſey,

indem außerdem weder eine lis noch eine contestatio

(Kriegsbefeſtigung) angenommen werden könne; ohne das

Daſeyn einer ſolchen aber ſey für die materiellen Wirkungen

kein rechtfertigender Grund vorhanden. — Obgleich dieſe

Behauptung vielen Schein hat, ſo muß ich doch das prac-

tiſche Bedürfniß für die erwähnte Einſchränkung verneinen.

Erwägt man nämlich die verſchiedenen Gründe, welche die

wirkliche Entſtehung des Rechtsſtreits verhindern können,

ſo liegt in denſelben kein Bedürfniß, durch jenes Mittel

einen ungerechten Nachtheil von dem Beklagten abzuwenden,

welches doch eigentlich der Sinn jener Behauptung iſt. —

Der Grund kann zuerſt darin liegen, daß der Beklagte gar

keinen Streit führen will, indem er den Anſpruch des Klägers

einräumt; dann iſt von Wirkungen der L. C. ohnehin nicht die

Rede. — Oder der Rechtsſtreit wird deswegen nicht erfolgen,

weil die Klage vor einem incompetenten Richter, oder gegen

einen unrichtigen Beklagten angeſtellt iſt. Auch dann kann

von Wirkungen der L. C. nicht die Rede ſeyn, indem dieſer

irrige Verſuch eines Rechtsſtreits mit dem vielleicht nachher

folgenden wahren Rechtsſtreit keinen Zuſammenhang hat (f).

 

(f) So bewirkt z. B. die Anſtellung der Klage eine Unterbrechung der

|0264 : 246|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

§. 279.

Stellung der Litis Conteſtation und ihre Folgen im

heutigen Recht. (Fortſetzung.)

Nachdem nunmehr das Princip für das heutige Recht

aufgeſtellt worden iſt, ſind die einzelnen Anwendungen

deſſelben, mit Rückſicht auf die Meinungen neuerer Schrift-

ſteller, durchzugehen. Ich werde dabei die Ordnung be-

folgen, nach welcher in der gegenwärtigen Abhandlung die

materiellen Wirkungen der L. C. zuſammen geſtellt worden

ſind. Dabei muß noch die Bemerkung vorausgeſchickt

werden, daß zwei dieſer Wirkungen durch ihr häufiges

Vorkommen, ſo wie durch ihre practiſche Wichtigkeit, vor

allen anderen ſich auszeichnen. Ich meine die Unterbrechung

der Klagverjährung, und die omnis causa, d. h. die Ver-

gütung der Vortheile, die dem Kläger durch die Dauer

des Rechtsſtreits entzogen worden ſind, insbeſondere Früchte

und Zinſen. Bei dieſen Punkten hat ſich denn auch vor-

zugsweiſe eine feſte Praxis der Gerichte ausgebildet.

 

1. Der Quaſicontract in der L. C., d. h. die

in der Römiſchen L. C. enthaltene contractähnliche Obliga-

tion (§ 258).

 

Darin liegt nicht ſowohl eine einzelne practiſche Folge,

als vielmehr die Grundlage und der zuſammenfaſſende

Ausdruck für die einzelnen Folgen, welche nun der Reihe

nach aufgeführt werden ſollen. Daher hat ſich auch dafür,

 

Klagverjährung nur zwiſchen dieſem beſtimmten Kläger und Beklagten.

S. o. B. 5 S. 320.

|0265 : 247|

§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)

wegen der abſtracten oder theoretiſchen Natur dieſer Wirkung,

eine Praxis der Gerichte nicht eigentlich ausbilden können.

Dagegen iſt ſie vorzugsweiſe dazu geeignet, den wahren

Sinn der hier behaupteten Neuerung, im Gegenſatz der ihr

widerſprechenden Behauptung, zur Anſchauung zu bringen.

 

Die Meinung geht nämlich dahin, daß im heutigen

gemeinen Prozeß der Quaſicontract mit allen ſeinen Folgen

zu Stande kommt im Augenblick der Inſinuation der Klage.

 

Die entgegen geſetzte Behauptung, welche das R. R.

aufrecht zu erhalten vorgiebt, dieſes aber nur ſcheinbar

und dem Buchſtaben nach thut, geht dahin: der Quaſi-

contract ſey geſchloſſen in dem Augenblick, worin ſich der

Beklagte zuerſt auf den thatſächlichen Inhalt der Klage

erklärt. Ein innerer Grund dieſer Verbindung des Quaſi-

contracts mit der thatſächlichen Erklärung des Beklagten

iſt nicht vorhanden, wird auch in der That von Keinem

behauptet. Jene Verbindung iſt vielmehr die blos zufällige

Folge des Umſtandes, daß das R. R. den Quaſtcontract

an die L C. knüpfte (die damals etwas Anderes bedeutete),

und daß man ſich vom Mittelalter her allmälig gewöhnt

hat, den Römiſchen Namen litis contestatio für die Er-

klärung des Beklagten über die Thatſachen zu gebrauchen.

 

2. Unterbrechung der Klagverjährung (§ 261.

No. I.).

 

Dieſes war eine der wichtigſten Wirkungen der L. C.,

ſie ſteht aber mit ihr nicht mehr in Verbindung, ſeitdem

das neuere R. R. dieſe Wirkung an den früheren Zeitpunkt

der Inſinuation ausdrücklich angeknüpft hat (§ 242. 243).

 

|0266 : 248|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

In dieſem einzelnen Fall alſo hat ſchon das R. R. die

wichtige Umwandlung wirklich vollzogen, die hier dem

heutigen Recht auch für alle übrigen Fälle zugeſchrieben wird.

 

Der richtigeren Meinung nach iſt mit dieſer Unter-

brechung der bisher laufenden Klagverjährung (die oft

eine ſehr kurze iſt) ſtets auch die Begründung einer neuen

Klagverjährung, und zwar nun von Vierzig Jahren, ver-

bunden. Manche wollen ohne Grund dieſe beide Wirkungen

von einander trennen, und an verſchiedene Zeitpunkte des

Prozeſſes knüpfen; ſie nennen dann die Begründung der

vierzigjährigen Verjährung die Perpetuation der Klage (a).

 

3. Entkräftung der Uſucapion (§ 261. No. II.).

 

Manche behaupten eine wirkliche Unterbrechung der

Uſucapion, und wenden dann die Unterbrechung der Klag-

verjährung, mit dem Zeitpunkt derſelben, unmittelbar auf

die Uſucapion an. Dieſe Meinung iſt oben widerlegt

worden.

 

Dagegen iſt es richtig, daß der Beklagte die Verpflich-

tung hat, wenn während des Rechtsſtreits die Uſucapion

abläuft, die Folgen derſelben dadurch auszutilgen, daß er

das ſo erworbene Eigenthum zurück auf den Kläger über-

trägt. Dieſe Verpflichtung iſt eine einzelne Folge des

Quaſicontracts, entſteht alſo mit dieſem im Augenblick der

Inſinuation.

 

4. Übergang der nicht vererblichen Klagen

auf die Erben des Beklagten (§ 262. IV.) (b).

 

(a) S. o. B. 5 S. 323.

(b) nicht auch auf die Erben des Klägers (§ 264. a).

|0267 : 249|

§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)

Hier behaupten die Meiſten, daß noch jetzt die L. C.

als Anfang des Übergangs feſtgehalten werden müſſe (c).

Gerade hier aber iſt die practiſche Unhaltbarkeit dieſer An-

ſicht recht augenſcheinlich. Wenn Jemand durch ein Delict

zur Entſchädigung verpflichtet iſt, ſo ſoll die hierauf gerich-

tete Pönalklage nur mit großen Beſchränkungen auf die

Erben des Beklagten übergehen (§ 211); dagegen läßt

das R. R., von der L. C. an, den Uebergang unbedingt

zu. Es iſt aber wohl einleuchtend, daß es einem ſolchen

Beklagten am wenigſten zukommen darf, durch abſichtliche

Verzögerung der L. C. den Übergang auf die Erben zu

vereiteln. — Auch liegt der Grund, der hier eine ſo viel-

ſtimmige Vertheidigung des alten Rechtsſatzes veranlaßt,

nicht etwa in einem inneren Bedürfniß dieſes beſonderen

Falles, welches von keinem behauptet wird; er liegt viel-

mehr nur darin, daß viele Stellen des R. R. die L. C.

als Zeitpunkt des Übergangs anerkennen. Dieſes nun

ſoll gewiß nicht bezweifelt werden, aber es iſt in dieſem

Fall nicht mehr wahr, als in manchen anderen Anwen-

dungen, worin doch jene Vertheidiger ſelbſt (ohne gehörige

Conſequenz) die L. C. Preis geben.

 

Einige Schriftſteller dagegen behaupten gerade für

dieſen Fall den Übergang von der Zeit der Inſinuation

an, jedoch aus einem irrigen Grunde (d). Ein Reichs-

 

(c) Carpzov jurispr. for.

P. 4 Const. 46 Def. 6. — Winck-

ler p. 357. — Pufendorf obs. IV.

94. — Glück B. 6 S. 205. —

Martin Prozeß § 156. — Linde

Prozeß § 206. — Bayer Civil-

prozeß S. 248. — Wächter H. 3

S. 112—114.

(d) Francke Beiträge S. 43. —

Sintenis Erläuterungen S. 148;

dieſer will ſogar auf die Zeit der

Einreichung der Klage zurückgehen.

|0268 : 250|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung

geſetz verordnet nämlich für den Fall des Landfriedensbruchs

ausdrücklich, daß die Strafe auch gegen die Erben des

Thäters gehen ſoll, ſelbſt wenn er vor der L. C. ſtirbt (e).

Dieſes iſt aber ſo wenig Ausdruck einer allgemeinen Regel

für alle Klagen überhaupt, wofür es doch von jenen

Schriftſtellern ausgegeben wird, daß es vielmehr als ein

Zeugniß in entgegengeſetzter Richtung angeſehen werden

könnte, da es offenbar die Abſicht des Geſetzes iſt, jenes

Verbrechen mit beſonderer Strenge zu behandeln.

Nach der Praxis des Oberappellationsgerichts zu Lübeck

tritt der Übergang auf die Erben mit der Inſinuation ein.

 

5. Entſtehung des Rechts des Klägers erſt

während des Rechtsſtreits (§ 262. N. V.).

 

Wenn der Kläger eine Eigenthumsklage anſtellt, ohne

Eigenthum zu haben, dieſes aber nach der L. C. erwirbt,

ſo ſoll er in dieſem Prozeß nicht gewinnen können, ſondern

genöthigt ſeyn eine neue Klage anzuſtellen.

 

Daß auch hier die Inſinuation an die Stelle der L. C.

geſetzt werde, iſt zwar nicht ſehr wichtig, folgt aber aus

dem Princip. Auch iſt es in dieſem früheren Stadium des

Prozeſſes für den Kläger noch weniger als ſpäter läſtig,

die erſte Klage fallen zu laſſen, und eine neue anzuſtellen.

Dagegen kann es, wie oben bemerkt worden iſt, den Be-

klagten ohne Grund gefährden, wenn dieſer in Voraus-

ſetzung des früheren Rechtszuſtandes ſeine Vertheidigung

einrichtet, ohne die eingetretene neue Thatſache zu kennen

und zu berückſichtigen.

 

(e) K. G. O. 1555 Th. 2 Tit. 9 § 6.

|0269 : 251|

§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)

6. Entſtehung der Mora und der mala fides

(§ 264).

 

Die von vielen aufgeſtellte Behauptung, welche jene

Momente an die L. C. anknüpft, iſt im Princip ohnehin

zu verwerfen, wie ſchon oben gezeigt worden iſt. Was

aber dabei an relativer Wahrheit etwa zugegeben werden

kann, daß nämlich oft, nach den Umſtänden des einzelnen

Falles, einzelne Momente des Prozeſſes den Richter zur

Annahme einer Mora beſtimmen können (§ 264. g), — dieſes

iſt von der Inſinuation eben ſo wahr als von der L. C.

 

7. Omnis causa, insbeſondere Früchte und

Zinſen, mit Einſchluß der verſäumten Früchte

(§ 265 — 271).

 

Dieſe Wirkung iſt geradezu die wichtigſte unter allen.

Wir müſſen ſie an die Inſinuation knüpfen, in Anwendung

des allgemeinen Princips, deſſen practiſche Wahrheit

gerade bei dieſer Anwendung recht anſchaulich wird. Der

Beklagte wird hier zu gewiſſen Leiſtungen verpflichtet,

und ſelbſt mit einer beſonderen Strenge verpflichtet, weil

er ſich eventuell als den Verwalter fremder Vermögens-

ſtücke anzuſehen hat. Dieſes Bewußtſeyn können wir ihm

mit gutem Grunde zuſchreiben, ſobald er durch die Inſi-

nuation von dem Rechtsſtreit Kenntniß erhält. Es iſt abe

durchaus kein innerer Grund vorhanden, den Anfang

dieſes Bewußtſeyns gerade in den Zeitpunkt zu ſetzen, in

welchem er ſich über die thatſächlichen Behauptungen der

Klage erklärt.

 

Hierin ſind die Meinungen getheilt. Einige halten feſt

 

|0270 : 252|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

an der L. C. (f). Die Meiſten dagegen nehmen bei dieſem

wichtigſten Punkte ganz richtig die Inſinuation als Anfang

jener Verpflichtung an (g), aber freilich indem ſie großen-

theils dieſer ihrer Behauptung einen nicht haltbaren Grund

unterlegen. Sie berufen ſich dabei auf mehrere Ausſprüche

des R. R. über die Erbrechtsklage, indem ſie den beſonderen

hiſtoriſchen Zuſammenhang dieſer Ausſprüche unbeachtet laſſen,

und zugleich den Inhalt derſelben generaliſiren, dabei aber

die zahlreichen Stellen des R. R. unbeachtet laſſen, die für ſo

viele andere Klagen entgegengeſetzte Beſtimmungen enthal-

ten. Der Grund dieſes unkritiſchen Verfahrens liegt in

einer allgemeinen Anſicht, die für die ganze Auffaſſung

unſres Gegenſtandes ſo wichtig iſt, daß ich dabei noch

etwas verweilen muß.

Man geht davon aus, das ältere R. R. habe die L. C.

an die Spitze des ganzen Rechtsſtreits geſtellt, und als

Anfangspunkt wichtiger materieller Wirkungen behandelt;

es gehöre aber zu einem an ſich vollkommneren Zuſtand

des Prozeßrechts, daß dieſe wichtige Stelle vielmehr der

Vorladung des Beklagten eingeräumt werde. Dieſes habe

Hadrian wohl erkannt, und daher ſey in dem Sc. Juven-

 

(f) Linde Prozeß § 206. Bei

ihm ſcheint mir dieſe Behauptung

beſonders inconſequent, da er doch

im § 200 die Mora und die mala

fides mit der Inſinuation an-

fangen läßt.

(g) Winckler p. 365 (nach

der Praxis der meiſten Gerichte). —

Kind quaest. for. T. 3 C. 88,

T. 4 C. 46. — Martin § 152. —

Bayer S. 233. — Kierulff

S. 278 in Verbindung mit S. 281.

— Wächter H. 3 S. 105 — 110.

Mit dieſer richtigen Meinung ſtimmt

überein die Praxis des O. A. G. zu

Lübeck, welches von der Inſi-

nuation an Zinſen zuerkennt. Eben

ſo die Praxis des Reviſionshofs

zu Berlin, ſo wie die der Juriſten-

facultät zu Berlin (§ 271. u. v. w).

|0271 : 253|

§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)

tianum bei der Erbrechtsklage der große Fortſchritt gemacht

worden, nicht mehr bei der L. C. ſtehen zu bleiben, ſondern

jene Wirkungen in einem früheren Zeitpunkt eintreten zu

laſſen. Es liege nur an der einſichtsloſen Juſtinianiſchen

Compilation, wenn dieſer Gedanke nicht rein und allge-

mein durchgeführt erſcheine, ſondern Altes und Neues un-

verbunden neben einander liege. Wir aber handelten ganz

im Sinn der Entwicklung des R. R., wenn wir jene

Durchführung noch jetzt vornähmen, den Gedanken Ha-

drians generaliſirten, und Alles von der Vorladung ab-

hängig machten (h).

Dieſe Auffaſſung muß ich für durchaus verwerflich

erklären. Ob es überhaupt beſſer iſt, die Vorladung oder

die L. C. an die Spitze zu ſtellen und als entſcheidenden

Punkt zu behandeln, läßt ſich im Allgemeinen nicht ſagen;

es hängt von der Einrichtung des ganzen Prozeßverfahrens

ab. So lange der alte ordo judiciorum in ſeiner Reinheit

und Vollſtändigkeit beſtand (wie ganz gewiß in Hadrians

Zeit), war die alte Stellung der L. C. dem Zweck des

Prozeſſes völlig entſprechend, alſo durchaus gut und keiner

Veränderung bedürftig. Hadrians Neuerungen hierin ſind

auch gar nicht aus der Abſicht einer Vervollkommnung des

Prozeßrechts im Allgemeinen entſprungen, ſondern lediglich

aus den ganz eigenthümlichen Bedürfniſſen der Erbrechtsklage.

Hätte er die ihm untergeſchobene Abſicht eines Fortſchritts

 

(h) Mehr oder weniger liegt

der im Text entwickelte und be-

kämpfte Gedanke bei den Meiſten

ſtillſchweigend zum Grunde. Am

vollſtändigſten ausgebildet findet

er ſich bei Kierulff S. 280

bis 284.

|0272 : 254|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

im Prozeßrecht gehabt, ſo wäre es doch wunderbar, daß

die großen Juriſten einer weit ſpäteren Zeit, daß Papi-

nian und Ulpian nicht hinter das Geheimniß jenes Ge-

dankens gekommen ſeyn ſollten; daß ſie ſtets von der L. C.

als dem entſcheidenden Zeitpunkt ſprechen, anſtatt die Vor-

ladung allgemein an deren Stelle zu ſetzen.

8. Vergütung des Untergangs und der Be-

ſchädigung der Sache, wenn dieſe während des

Rechtsſtreits durch Dolus oder Culpa des Be-

klagten erfolgt (§ 272).

 

9. Vergütung des zufälligen Untergangs in

demſelben Zeitraum, wenn der Beklagte ein un-

redlicher Beſitzer iſt (§ 273).

 

Dieſe beide Folgen ſtehen, eben ſo wie die Verpflichtung

für die Früchte, in unmittelbarem Zuſammenhang mit dem

Quaſicontract, und müſſen alſo, genau ſo wie dieſer, von

der L. C. auf die Zeit der Inſinuation übertragen werden.

 

Ich faſſe dieſe Unterſuchung über den Zuſtand des

heutigen Rechts kurz zuſammen. Das R. R. knüpft die

wichtigſten materiellen Wirkungen an den Eintritt der

L. C. Durch die ſehr veränderte Lage des Prozeſſes ſind

wir genöthigt, dieſen Grundſatz dem Buchſtaben nach zu

verlaſſen, und nur dem Sinn und Zweck nach feſt zu halten,

indem wir den Anfang jener Wirkungen von der L. C.

auf die Inſinuation übertragen.

 

Wenn ich neben dieſer Überzeugung den Namen der

L. C. überall beibehalten, und ſelbſt an die Spitze der

 

|0273 : 255|

§. 279. Stellung der L. C. im heutigen Recht. (Fortſ.)

gegenwärtigen Abhandlung geſtellt habe, ſo iſt Dieſes mit

Abſicht geſchehen. Es iſt geſchehen, weil es dazu dient,

den Schatz juriſtiſcher Einſicht, der uns in den Quellen

des R. R. auch für dieſe Lehre aufbewahrt iſt, zugänglicher

zu erhalten, und weil uns zugleich der Zuſammenhang mit

der geſammten juriſtiſchen Literatur, vom Mittelalter bis

auf unſre Zeit, geſtört wird, wenn wir jene Bezeichnung

aufgeben.

Gemeint aber iſt in dieſer ganzen Unterſuchung der

materielle Einfluß der Dauer des Rechtsſtreits

auf das ſtreitige Rechtsverhältniß. Wenn dabei

die L. C. von den Römern als entſcheidendes Moment

bezeichnet wurde, ſo geſchah es nicht, als ob man ihr eine

beſondere, geheimnißvolle Kraft hätte beilegen wollen. Es

geſchah, weil ſie dazu geeignet war, den genauen Anfangspunkt

des Rechtsſtreits zu bezeichnen, und ſo in ihr den Rechts-

ſtreit gleichſam zu perſonificiren. Wir aber haben wichtige

Gründe, hierin die Inſinuation an ihre Stelle treten zu laſſen.

 

Eine Beſtätigung der hier entwickelten, großentheils

auch von neueren Schriftſtellern anerkannten, Meinung

über das wahre Bedürfniß des heutigen Rechts, finde ich

in dem Wege, den die Preußiſche Geſetzgebung eingeſchlagen

hat. Bei der Feſtſtellung derſelben kam es zur Sprache,

mit welchem Zeitpunkt die eigenthümlichen Prozeßverpflich-

tungen anfangen ſollten, die daſelbſt mit dem Namen des

unredlichen Beſitzes bezeichnet werden (§ 264). An die

L. C., wie ſie die neueren Romaniſten annahmen, d. h. an

 

|0274 : 256|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

die Zeit der eingereichten Exceptionsſchrift, konnte man nicht

denken, weil man den ſchriftlichen Prozeß des neueren

gemeinen Rechts verlaſſen hatte (i). Daher wurde zuerſt

vorgeſchlagen, die Verkündigung des Urtheils als Zeitpunkt

anzunehmen; es wurde aber dieſer Vorſchlag verworfen,

und die Inſinuation der Klage als Zeitpunkt angenommen

(§ 264. z). Und ſo findet ſich hier, neben einer ſehr ver-

ſchiedenen Auffaſſung und Ausdrucksweiſe, dennoch ein

hoher Grad innerer Übereinſtimmung, hervorgegangen aus

dem richtigen Gefühl des wahren practiſchen Bedürfniſſes.

 

(i) Hätte man ſich ganz an

den wahren Sinn des R. R. an-

ſchließen wollen, ſo fand man in

dem status causae et contro-

versiae des Preußiſchen Prozeſſes

einen richtigen Vergleichungspunkt

(§ 259. o). Allein jener wahre

Sinn war damals auch unter den

Romaniſten faſt ganz vergeſſen,

und ſo kam der hier erwähnte Zeit-

punkt nicht einmal in Frage. Auch

iſt gar nicht meine Meinung es

zu tadeln, daß dieſer Zeitpunkt

nicht gewählt wurde; denn aller-

dings wäre derſelbe nicht auf alle

Arten des Prozeſſes anwendbar

geweſen, wie es die Inſinuation in

der That iſt. — Faſt möchte man

aber glauben, Suarez habe an-

genommen, die L. C. ſey im R.

R. mit der Inſinuation identiſch.

Denn er ſagt in Kamptz Jahrb.

B. 41 S. 8. 9: „daß das R. R. ..

mit dem Tage, da der Possessor

b. F. per litis contestationem

in malam fidem verſetzt worden;“

und gleich nachher: „Nach der

Römiſchen Theorie hängt es blos

vom Zufall ab, zu welcher Zeit

der Beſitzer durch Inſinuirung

der Citation in malam Fidem

verſetzt wird.“ Die Stellen ſind

richtig abgedruckt, ſie ſtehen Vol. 88

f. 47 der Materialien, und ſind in

der Zeit des letzten Abſchluſſes der

Geſetzgebung niedergeſchrieben.

Gedruckt in der Deckerſchen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei.

|0275 : 257|

§. 280.

Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.

Hauptquelle: Tit. Dig. de exceptione rei judicatae

(Lib. 44 Tit. 2) (a).

Schriftſteller:

Donellus Lib. 20 C. 5.

Keller über Litisconteſtation und Urtheil. Zürich

1827. 8.

Buchka Einfluß des Prozeſſes auf das materielle

Rechtsverhältniß. Th. 1. 2. Roſtock und Schwerin

1846. 1847.

Wächter Handbuch des in Württemberg geltenden

Privatrechts B. 2 (1846) § 73 S. 557 fg., und:

Erörterungen Heft 3 (1846) S. 43—61.

Das Weſen jedes Rechtsſtreits beſteht in einem Gegen-

ſatz von Behauptungen und Anſprüchen der Parteien

(§ 256), und die Aufgabe geht dahin, dieſen Gegenſatz

 

(a) Nach der Überſchrift könnte

man als die wichtigſte Quelle den

Titel de re judicata (XLII. 1)

betrachten; allein dieſer handelt

von der Execution des Urtheils,

den Mitteln und Einſchränkungen

derſelben, alſo von der formellen

oder prozeſſualiſchen Seite des Ge-

genſtandes, welche nicht zu unſrer

Aufgabe gehört.

VI. 17

|0276 : 258|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

von einem höheren Standpunkt aus in Einheit aufzu-

löſen.

Dieſe Auflöſung hat, eben ſo wie die bisher abgehan-

delten Stücke des Rechtsſtreits, ihre formelle und ihre

materielle Seite. Jene beſteht bei dem ganzen Rechtsſtreit

in der Thätigkeit der Parteien und des Richters, alſo in

der Form und Einrichtung der Prozeßhandlungen, ihrer

Folge und ihrem Zuſammenhang; insbeſondere bei dem

Theil des Rechtsſtreits, wovon gegenwärtig die Rede iſt,

in der Art, wie der Richter zum Ausſpruch eines Urtheils

gelangt, ſo wie in der Form und dem Inhalt des Ur-

theils. — Die materielle Seite des Urtheils beſteht in der

Rückwirkung deſſelben auf den Inhalt und Umfang der

Rechte ſelbſt; ſie allein gehört zur Aufgabe unſres Rechts-

ſyſtems, und bildet in demſelben einen Theil des Actio-

nenrechts (§ 204).

 

Dieſe Lehre gehört unter die wichtigſten des ganzen

Rechtsſyſtems. Sie iſt von ſehr häufiger Anwendung, und

die Wirkungen derſelben ſind noch bedeutender, als die der

Litisconteſtation. Daher muß es auffallen, daß gerade

dieſe Lehre ſowohl in Vorleſungen als in Rechtsſyſtemen

meiſt vernachläſſigt worden iſt, und auch durch beſondere

Schriften keine hinreichende Bearbeitung erfahren hat (b).

Selbſt in umfaſſenden neueren Geſetzgebungen iſt derſelben

nur geringe Beachtung zu Theil geworden.

 

(b) Dieſe auffallende Vernachläſſigung wird gerügt von Puchta

im rhein. Muſeum B. 2 S. 251.

|0277 : 259|

§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.

Daß aber das richterliche Urtheil eine ſolche Rückwir-

kung auf den Inhalt der Rechte ausübt, wie es oben als

die Aufgabe des gegenwärtigen Abſchnitts bezeichnet worden

iſt, das verſteht ſich keinesweges von ſelbſt, und iſt nicht

etwa eine aus dem Begriff des Richteramtes abzuleitende

natürliche oder nothwendige Folge. Aus dieſem Begriff

folgt nur, daß jeder Rechtsſtreit entſchieden, und daß dieſe

Entſcheidung durch äußere Macht, ſelbſt gegen den Willen

der unterliegenden Partei, zur Ausführung gebracht werde.

Wenn aber in irgend einem ſpäteren Rechtsſtreit die Rich-

tigkeit des früheren Urtheils in Zweifel gezogen wird, ſo

ſcheint es natürlich, eine neue Prüfung vorzunehmen.

Wird dabei das Urtheil als ein irriges erkannt (ſey es von

demſelben oder von einem anderen Richter), ſo ſcheint es

eine einfache Forderung der Gerechtigkeit, den früheren

Irrthum zu berichtigen, und das begangene Unrecht gut

zu machen, indem das zuletzt erkannte wahre Recht geltend

gemacht wird.

 

Betrachten wir jedoch näher die Folgen, die mit einem

ſolchen, ſcheinbar natürlichen und gerechten Verfahren un-

vermeidlich verbunden ſeyn würden. Hier müſſen wir vor

Allem anerkennen, daß ſehr häufig die Entſcheidung eines

Rechtsſtreits ungemein zweifelhaft ſeyn kann, bald wegen

einer ſtreitigen Rechtsregel, bald wegen ungewiſſer That-

ſachen, bald weil die Thatſachen in ganz verſchiedener

Weiſe unter die Rechtsregeln bezogen werden können. Da-

her würde es oft geſchehen können, daß ein richterliches

 

17*

|0278 : 260|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Urtheil ſpäter durch ein entgegengeſetztes Urtheil entkräftet

würde. Mit dieſer Abänderung aber wäre die Sache noch

keinesweges zu Ende. Denn ein noch ſpäterer Richter

könnte wieder das zweite Urtheil als irrig anſehen, und

nun das erſte wieder herſtellen, oder auch eine von beiden

verſchiedene Meinung durchführen. Die nothwendige Folge

jenes Verfahrens alſo würde eine wahrhaft endloſe Un-

ſicherheit des Rechtszuſtandes ſeyn, ſobald einmal irgend ein

Rechtsverhältniß Gegenſtand eines Streites geworden wäre.

Aus dieſer Betrachtung geht hervor, daß wir zwei ſehr

ernſte Gefahren von entgegengeſetzter Art vor uns haben.

Auf der einen Seite ſteht die Gefahr, daß wir ein aus

dem Irrthum oder böſen Willen eines Richters entſprunge-

nes Urtheil aufrecht halten müſſen, auch wenn wir deſſen

Ungerechtigkeit mit voller Ueberzeugung einſehen. Auf der

anderen Seite die Gefahr einer völlig gränzenloſen Unge-

wißheit der Rechts- und Vermögensverhältniſſe, die ſich

durch viele Geſchlechter hindurch ziehen kann. Zwiſchen

dieſen beiden Gefahren haben wir zu wählen. Es iſt eine

Frage der Rechtspolitik, welches unter den Uebeln, die aus

dieſen entgegengeſetzten Gefahren hervorgehen können, das

größere iſt, und auf dieſe Frage kann nur die erfahrungs-

mäßige Erwägung der wirklichen Zuſtände und Bedürfniſſe

eine ſichere Anwort geben.

 

Dieſe Erwägung hat von ſehr alter Zeit her, und in

der Geſetzgebung verſchiedener Völker, dahin geführt, die

zuletzt erwähnte Gefahr der Rechtsunſicherheit als die weit

 

|0279 : 261|

§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.

größere, ja völlig unerträgliche, anzuerkennen, und für ihre

Abwendung durch ein poſitives Rechtsinſtitut die nöthige

Anſtalt zu treffen. Damit wird zugleich mit deutlichem

Bewußtſeyn die entgegengeſetzte Gefahr übernommen, daß

zuweilen ungerechte Urtheile ohne Abhülfe aufrecht erhalten

werden müſſen; dieſe Gefahr aber iſt nicht nur an ſich

ſelbſt die geringere, ſondern es iſt auch noch das Mittel

gefunden worden, ſie durch eine beſondere künſtliche Anſtalt

(die Inſtanzen) zu vermindern, von welcher weiter unten

die Rede ſeyn wird (§ 284).

Das höchſt wichtige Rechtsinſtitut, wodurch der ange-

gebene Zweck erreicht werden ſoll, läßt ſich im Allgemeinen

als die Rechtskraft der richterlichen Urtheile bezeichnen,

welche nichts Anderes iſt, als die Fiction der Wahr-

heit, wodurch das rechtskräftige Urtheil gegen jeden künf-

tigen Verſuch der Anfechtung oder Entkräftung geſichert

wird. Ein geiſtreicher Schriftſteller hat dafür den Aus-

druck des förmlichen Rechts, im Gegenſatz des wirk-

lichen Rechts, gebraucht (c). Der allgemeinſte Ausſpruch

über den Inhalt und die Gründe dieſes Rechtsinſtituts

findet ſich in folgender Stelle aus dem Commentar des

Paulus zum Edict:

 

L. 6 de exc. rei jud. (44. 2.)

Singulis controversiis singulas actiones (d), unum-

(c) Möſer patriotiſche Phan-

taſieen B. 4 N. 30.

(d) Den Worten nach könnte

das ſo verſtanden werden, jedem

Rechtsverhältniß dürfe ſtets nur

Eine Klage entſprechen, welches

|0280 : 262|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

que judicati finem sufficere, probabili ratione placuit;

ne aliter modus litium multiplicatus summam atque

inexplicabilem faciat difficultatem, maxime si diversa

pronuntiarentur. Parere ergo exceptionem (e) rei

judicatae frequens est.

falſch wäre, da man oft zwiſchen

vielen Klagen die Wahl hat.

Singulas actiones sufficere heißt

vielmehr: man ſoll nicht mehrmals

aus demſelben Rechtsgrund klagen.

Es iſt der Ausdruck für die Kla-

genconſumtion, alſo derſelbe Ge-

danke, wie in dem alten Rechts-

ſpruch, welchen Quinctilian. inst.

or. VII. 6 anführt, indem er deſſen

zweideutige Faſſung bemerklich

macht: „quod scriptum est:

bis de eadem re ne sit actio.“

(e) Dieſes iſt die Florentiniſche

Leſeart; die Vulgata hat excep-

tioni. Man ſollte kaum glauben,

wie mancherlei Erklärungen dieſe

wenigen Schlußworte der Stelle

zulaſſen. Nach der Vulgata kön-

nen ſie nur ſo verſtanden werden:

es geſchieht häufig, daß man der

exc. rei judicatae gehorchen

(Folge leiſten) muß. So verſteht

die Stelle Cujacius recit. in

Paulum ad ed. lib. 70; dabei

fehlt es aber an der Andeutung

eines gehorchenden Subjects. —

Nach der Florentina kann man

auf zweierlei Weiſe erklären. Zu-

erſt wenn man lieſt: parĕre, und

nun ſo deutet: es geſchieht häufig,

daß eine exc. r. j. erzeugt wird.

So verſteht die Stelle Brissonius

v. parĕre N. 3; dabei aber fehlt

wieder die Andeutung des erzeu-

genden Subjects, ſo daß dieſer

Gedanke nur durch: nasci excep-

tionem, oder durch: sententiam

parere exceptionem fehlerfrei

und ohne Härte ausgedrückt werden

könnte. — Zweitens indem man

lieſt parēre, in dem Sinn von

apparere, alſo mit dieſem Ge-

danken: es geſchieht oft, daß die

exc. r. j. erſcheint, gebraucht

wird. Dieſe letzte Erklärung iſt

wenigſtens frei von den Einwen-

dungen, welchen die beiden erſten

unterliegen. — Eine ſehr beſchei-

dene, alle Schwierigkeiten löſende,

Emendation wäre dieſe: parĕre

ergo exceptionem rem judica-

tam frequens est. (Vergl. als

Parallelſtelle L. 7 § 4 de pactis

„Nuda pactio obligationem non

parit, sed parit exceptionem,“

und L. 7 pr. eod.). Die Ent-

ſtehung des gegenwärtigen Textes

würde ſich dann theils aus der

Überſchrift des Titels, theils aus

der etwas verſteckten Conſtruction

des Satzes, leicht und befriedigend

erklären.

|0281 : 263|

§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.

Es iſt einleuchtend, daß mit dieſer, dem rechtskräftigen

Urtheil beigelegten Fiction der Wahrheit eine ſehr ſtarke

Rückwirkung der bloßen Prozeßhandlung auf die Rechte

ſelbſt verbunden iſt. Denn durch dieſe Fiction kann es

geſchehen, daß ein vorher nicht vorhandenes Recht neu

erzeugt, oder daß ein vorhandenes Recht zerſtört, vermindert,

oder in ſeinem Inhalt verändert wird.

 

Der praktiſche Werth dieſes Rechtsinſtituts bedarf noch

einer kleinen Erläuterung. Auf den erſten Blick könnte

man glauben, die Rechtskraft ſey wichtig bei ungerechten

Urtheilen, durch welche das vorhandene Rechtsverhältniß in

ſein Gegentheil verkehrt wird, unwichtig bei gerechten,

durch welche nur dasjenige beſtätigt wird, welches ohnehin

und ohne Rechtskraft wahr iſt. Wäre dem alſo, ſo müßte

man die Abſchaffung des ganzen Inſtituts wünſchen; es

verhält ſich aber in der That ganz anders. Zwar iſt

allerdings die Einwirkung der Rechtskraft beſonders ſtark

und auffallend in dem unglücklichen Fall eines ungerechten

Urtheils, für welchen Fall es gewiß nicht eingeführt iſt,

und deſſen Möglichkeit wir nur mit hinnehmen müſſen als ein

unvermeidliches Übel; aber wichtig und heilſam iſt die Rechts-

kraft auch im Fall des gerechten Urtheils, deſſen Befeſti-

gung eben ihren ganzen Zweck ausmacht. Wenn man

erwägt, wie viele Rechtsverhältniſſe an ſich ſchwankend

und zweifelhaft ſind, wie oft es geſchieht, daß ein jetzt

vorhandenes Beweismittel ſpäterhin fehlt, daß ein ſpäterer

Richter irren kann, wo der gegenwärtige richtig urtheilte

 

|0282 : 264|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

und daß die Entſchiedenheit an ſich (abgeſehen von dem

Inhalt des Urtheils), im Gegenſatz der fortdauernden Un-

gewißheit, für alle Theile wünſchenswerth iſt — wenn man

dieſes Alles erwägt, ſo wird man geneigt ſeyn, die hohe

Wichtigkeit des Einfluſſes der Rechtskraft auch für den

Fall gerechter Urtheile anzuerkennen.

Die nun folgende Lehre von der Rechtskraft ruht, ſo

wie das ganze vorliegende Werk, auf dem Boden des Rö-

miſchen Rechts; aber die Fragen, die hier zur Erörterung

kommen müſſen, ſind ſo allgemeiner Natur, daß ſie überall

ihre Beantwortung fordern, auch da, wo von dem Römi-

ſchen Recht keine Anwendung gemacht wird. — Ferner

würde es irrig ſeyn anzunehmen, daß der Werth und

Erfolg dieſer Unterſuchung an irgend eine beſondere Form

des Prozeßverfahrens gebunden wäre. Sie wird ſchon

hier angeſtellt für den altrömiſchen Formularprozeß, den

Prozeß der Juſtinianiſchen Zeit, und den gemeinen

deutſchen Prozeß. Das Bedürfniß derſelben tritt aber auch

gleichmäßig hervor im Prozeß des Preußiſchen, ſo wie in

dem des Franzöſiſchen Rechts.

 

Das Rechtsinſtitut, welches nunmehr abgehandelt werden

ſoll, und zu deſſen Einleitung die vorſtehende Betrachtung

beſtimmt iſt, ſetzt den regelmäßigen Gang eines Rechts-

ſtreits voraus. Der vollſtändigen Überſicht wegen muß

aber ſchon hier auf die anomalen Entwicklungen ſtreitiger

 

|0283 : 265|

§. 280. Rechtskraft des Urtheils. Einleitung.

Rechtsverhältniſſe hingedeutet werden, die neben dem rechts-

kräftigen Urtheil vorkommen können.

Dahin gehören einige Rechtsinſtitute, welche die Stelle

eines Urtheils vertreten können, und eben deshalb das

Urtheil unnöthig machen. Unter dieſe Surrogate des

Urtheils gehört der Eid, die in jure confessio und re-

sponsio.

 

Es gehört dahin aber auch ein Rechtsinſtitut, welches,

ſo wie das Urtheil, auf der Thätigkeit einer richterlichen

Obrigkeit beruht, aber eine andere und weiter gehende Be-

ſtimmung hat. Anſtatt daß das Urtheil keine andere Auf-

gabe hat, als das vorhandene Recht zu erkennen und zur

Geltung zur bringen, beruht die in integrum restitutio

vielmehr auf der beſondern Macht der Obrigkeit, unter ge-

wiſſen Bedingungen in das vorhandene Recht mit Abſicht

und Bewußtſeyn einzugreifen und daſſelbe abzuändern.

 

Dieſe Inſtitute werden nach Beendigung der Lehre vom

Urtheil abgehandelt werden.

 

§. 281.

Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte.

Die mit der Rechtskraft verbundene Fiction der Wahr-

heit iſt bisher nur erſt als ein Zweck, der erreicht werden

ſoll, aufgeſtellt worden. Es fragt ſich nunmehr, durch

welche Mittel dieſer Zweck herbeizuführen iſt, durch welche

Rechtsform jenes Inſtitut in das Leben eingeführt werden

ſoll. Dieſe Frage läßt ſich nur durch die geſchichtliche

 

|0284 : 266|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Entwicklung der Rechtskraft beantworten. Dabei iſt es vor

Allem nöthig, die verſchiedenen Fälle zn betrachten, in

welchen jene Aufgabe hervortreten kann. Es iſt nämlich

möglich, daß der Richter zum Vortheil des Klägers ent-

ſcheidet durch Verurtheilung des Beklagten: oder zum Vor-

theil des Beklagten durch Abweiſung des Klägers. In

beiden Fällen ſollen dem Sieger für alle Zukunft die Vor-

theile geſichert werden, die ihm das Urtheil zuſpricht. Wie

kann Dieſes geſchehen?

Für den erſten Fall ſcheint eine künſtliche Anſtalt kaum

nöthig. Durch Execution wird der Beklagte zur Erfüllung

des Urtheils gezwungen, und dadurch ſcheint der Kläger

für immer befriedigt und geſichert. Daher hatte das ältere

Römiſche Recht für dieſen Fall keine beſondere Vorſorge ge-

troffen, und in den meiſten Fällen iſt auch keine nöthig.

Es wird aber weiterhin gezeigt werden, daß es Verwick-

lungen der Rechtsverhältniſſe giebt, für welche dieſe ein-

fache Behandlung nicht ausreicht.

 

Anders verhält es ſich in dem zweiten Fall. Der Be-

klagte, der völlig freigeſprochen, oder nicht in dem Umfang,

wie es der Kläger verlangte, verurtheilt iſt, kann immer

wieder durch neue Klagen beunruhigt werden, und gegen

dieſe Gefahr iſt er durch eine künſtliche Anſtalt zn ſchützen.

 

Das ältere Römiſche Recht gieng dabei ſo zu Werk,

daß es den Schutz des Beklagten ſchon in einen früheren

Zeitpunkt des Rechtsſtreits legte. Jede Klage, welche bis

zur Litis-Conteſtation gebracht war, galt als erſchöpft oder

 

|0285 : 267|

§. 281. Rechtskraft. Geſchichte.

conſumirt, nnd konnte nie wieder von Neuem vorgebracht

werden, ohne Unterſchied, ob es zu einem Urtheil gekom-

men war oder nicht, und welchen Inhalt das etwa ge-

ſprochene Urtheil haben mochte. Bei manchen perſönlichen

Klagen trat dieſe Vernichtung des früher vorhandenen

Klagerechts ipso jure ein, bei allen anderen Klagen ver-

mittelſt einer exceptio rei in judicium deductae, welche

jede neue Klage ausſchloß (§ 258).

Kam es nun, wie in den meiſten Fällen, in der That

zu einem Urtheil, und zwar zu einem freiſprechenden, ſo

war deſſen Wirkſamkeit für immer geſichert durch die einge-

tretene Conſumtion, die jede Wiederholung der vorigen

Klage unmöglich machte. Nunmehr aber hieß die Exception

gegen die verſuchte neue Klage nicht rei in judicium de-

ductae, ſondern rei judicatae, und dieſe mußte ungleich

häufiger ſeyn, als jene, weil zu allen Zeiten der Aus-

gang eines Rechtsſtreits ohne Urtheil zu den Seltenheiten

gehört (a).

 

Demnach war in dieſer älteren Zeit für die Sicherheit

eines freigeſprochenen Beklagten geſorgt durch die Con-

ſumtion jeder einmal angeſtellten Klage, welche Conſumtion

zuweilen ipso jure eintrat, häufiger aber durch eine exceptio

rei judicatae geltend gemacht wurde. Dieſe Einrede war

 

(a) Die exc. rei in judicium

deductae konnte alſo überhaupt

nur vorkommen, wenn der frühere

Prozeß entweder noch im Gang

war, und daneben ein neuer ver-

ſucht wurde, oder wenn derſelbe

liegen geblieben, und vielleicht ſchon

durch die Prozeßverjährung für

immer verloren gegangen war.

|0286 : 268|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

alſo ſchon in der älteren Zeit die häufigſte und praktiſch

wichtigſte Rechtsform zum Schutz geſprochener Urtheile gegen

willkührliche neue Anfechtung.

Der Rechtsſatz, welcher dieſer Einrede in der älteren

Zeit zum Grunde lag, läßt ſich in folgender Formel aus-

drücken:

Eine einmal abgeurtheilte Klage kann nie von Neuem

vorgebracht werden.

 

Um den eigenthümlichen Charakter dieſer Einrede des

älteren Rechts ſcharf aufzufaſſen, iſt es nöthig, zwei Stücke

feſtzuhalten; erſtlich, daß ſie ſich nur auf das Daſeyn

eines Urtheils gründet, nicht auf deſſen Inhalt; zweitens,

daß ſie nur einen verneinenden Zweck und Erfolg hat,

nämlich, eine Klage zu verhindern, nicht, irgend ein

Recht durchzuſetzen. Die Bedingung der Anwendung dieſes

Rechtsſatzes iſt die Identität einer verſuchten neuen Klage

mit der ſchon früher angeſtellten und abgeurtheilten.

 

Das hier beſchriebene Rechtsinſtitut, gedacht als ein

Mittel, die Rechtskraft der Urtheile zu begründen, erfüllte

ſeinen Zweck nur nothdürftig, indem es blos den Beklagten

gegen eine Wiederholung der abgeurtheilten Klage ſchützte.

Hatte aber etwa der Kläger durch eine Eigenthumsklage

die Verurtheilung des Beklagten bewirkt, und ſo den Beſitz

ſeiner Sache wieder erlangt, ſo konnte gegen ihn der frühere

Beklagte als Kläger daſſelbe Eigenthum wieder in Frage

ſtellen; denn da Dieſer früher noch gar nicht geklagt, alſo

 

|0287 : 269|

§. 281. Rechtskraft. Geſchichte.

keine Klage conſumirt hatte, ſo konnte ihm die oben be-

ſchriebene Einrede nicht entgegen geſetzt werden, und es

war nun ein neues Urtheil möglich, wodurch das frühere

in ſeiner Wirkung zerſtört wurde. — Aber auch dem Be-

klagten gab jenes Rechtsmittel für ſolche Fälle keinen Schutz,

in welchen der Kläger den Erfolg des früheren Urtheils

nicht gerade durch Wiederholung der früheren Klage, ſon-

dern bei Gelegenheit eines anderen Rechtsſtreits, alſo auf

mehr indirecte Weiſe zu vereiteln ſuchte. — Ja es konnte

ſogar geſchehen, daß jene Einrede bei etwas verwickelten

Rechtsverhältniſſen dazu misbraucht wurde, den durch das

frühere Urtheil beabſichtigten Vortheil einer Partei zu zer-

ſtören, alſo ſeiner eigentlichen Beſtimmung gerade entgegen

zu wirken.

Auf der anderen Seite aber war dieſes Rechtsinſtitut

in ſeinen Folgen mit manchen Härten verknüpft, die ganz

außer dem Zweck deſſelben lagen, und durch die bloße Con-

ſequenz herbeigeführt, alſo praktiſch in keiner Weiſe gerecht-

fertigt waren. Die Einrede war nämlich auch dann be-

gründet, wenn der Beklagte freigeſprochen war, nicht weil

das Recht des Klägers verneint werden mußte, ſondern

wegen einer blos dilatoriſchen Einrede, die vielleicht auf

einem ganz untergeordneten und vorübergehenden Grunde

beruhte (b); dann ging alſo das wirklich vorhandene Recht

des Klägers aus einem ganz zufälligen Grunde unter. —

 

(b) Gajus. IV. § 123. — S. o. § 227.

|0288 : 270|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Nicht beſſer war es, wenn der Rechtsſtreit durch die Pro-

zeßverjährung des alten Rechts ohne Ausgang, alſo auch

ohne Urtheil blieb (§ 256. b), welches ohne alle Nachläſſig-

keit des Klägers geſchehen konnte; denn nun war durch die

exceptio rei in judicium deductae jede fernere Verfolgung

des wirklich vorhandenen Rechts für immer unmöglich

gemacht.

Die Wahrnehmung dieſer Mängel führte zum Nach-

denken über das wahre Bedürfniß, und zu dem klaren Be-

wußtſeyn, daß es eigentlich darauf, und nur darauf

ankomme, jeder richterlichen Entſcheidung ihre unzweifelhafte

Wirkſamkeit für alle Zukunft zu ſichern. Man ſuchte nun

das alte bekannte Rechtsinſtitut der exceptio rei judicatae

dahin auszubilden, daß dieſer Zweck erreicht würde,

und zwar vollſtändig erreicht. Dieſes geſchah, indem man

ſie nicht mehr wie bisher auf das bloße Daſeyn des Urtheils

gründete, ſondern auf den Inhalt deſſelben. Deſſen Gel-

tung ſollte für jeden künftigen Rechtsſtreit geſichert werden,

und indem man neben der Exception nach Bedürfniß auch

eine replicatio rei judicatae gab, wurde das Rechtsinſtitut

in dieſer neuen Ausbildung geeignet, dem früheren Kläger

eben ſowohl, als dem Beklagten, alle Vortheile zu ſichern,

die aus dem Inhalt des Urtheils in einem künftigen Streit

hergeleitet werden konnten.

 

Der Rechtsſatz, welcher nach dieſer Ausbildung dem

Inſtitut zum Grunde gelegt wurde, läßt ſich in folgender

Formel ausdrücken:

 

|0289 : 271|

§. 281. Rechtskraft. Geſchichte.

Dem Inhalt eines geſprochenen Urtheils ſoll kein ſpä-

teres Urtheil widerſprechen.

Auf den erſten Blick ſcheint dieſe Formel eben ſo, wie

die oben aufgeſtellte ältere Formel, blos verneinend, verhin-

dernd. Da indeſſen kein Richter die Entſcheidung eines

ihm vorgelegten Rechtsſtreits verweigern darf, ſo löſt ſich

jene Formel ſogleich in dieſe andere auf:

Wenn in einem gegenwärtigen Rechtsſtreit eine Frage

vorkommt, worüber ſchon in einem früheren Rechts-

ſtreit ein Urtheil geſprochen worden iſt, ſo muß der

neue Richter den Inhalt jenes Urtheils als wahr an-

nehmen und ſeinem eigenen Urtheil zum Grunde legen.

 

In dieſer Formel aber nimmt der Rechtsſatz eine völlig

poſitive Geſtalt an, und iſt der unmittelbare Ausdruck der

Fiction der Wahrheit, die ſchon oben (§ 280) als

der eigentliche Sinn der Rechtskraft, und als das wahre

praktiſche Bedürfniß angegeben worden iſt.

 

Zur Bezeichnung dieſes logiſchen Verhältniſſes beider

Geſtalten der Einrede, der älteren und der neueren, hat

man den paſſenden Ausdruck angewendet: exceptio rei

judicatae in ihrer negativen und ihrer poſitiven

Function (c).

 

Dieſe wichtige Ausbildung des Rechtsinſtituts iſt nicht

durch eine allgemeine Vorſchrift (Geſetz oder Edict) bewirkt

worden, wodurch etwa das ältere Inſtitut aufgehoben oder

umgebildet, das neuere eingeführt worden wäre; dazu war

 

(c) Keller S. 223 Note 4.

|0290 : 272|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

in der That kein Bedürfniß vorhanden. Es war und blieb

eine und dieſelbe Einrede der Rechtskraft, welche für das

Urtheil in dem neuen Rechtsſtreit maaßgebend wurde, und

der Unterſchied beider Functionen wird nur ſichtbar bei der

Frage, in welchen Fällen, unter welchen Vorausſetzungen

die Einrede gegeben werden ſollte. Dieſes aber lag bei

jedem einzelnen Rechtsſtreit ganz in der Macht des Prä-

tors, der dabei jederzeit nach der fortſchreitenden Einſicht

in das wahre praktiſche Bedürfniß verfuhr, und einer lei-

tenden allgemeinen Vorſchrift nicht bedurfte.

§. 282.

Rechtskraft des Urtheils. — Geſchichte. (Fortſetzung.)

Das geſchichtliche Verhältniß beider Functionen der Ein-

rede der Rechtskraft ſoll nunmehr näher feſtgeſtellt werden.

 

Daß die negative Function die ältere und urſprünglich

einzige Geſtalt der Einrede war, läßt ſich ſchon aus ihrer

unvollkommneren Natur und aus ihrer Verwandtſchaft mit

dem augenſcheinlich alterthümlichen Inſtitut der ipso jure

eintretenden Conſumtion (§ 281) vermuthen. Es folgt

aber auch unmittelbar daraus, daß Gajus in ſeinen In-

ſtitutionen die Lehre von der Conſumtion der Klage, d. h.

die negative Function der Einrede, ausführlich und mit

Sorgfalt darſtellt (a), während er den Grundſatz, worauf

die poſitive Function beruht, in jenem Werke gar nicht

 

(a) Gajus. III. § 180. 181, IV. § 106 — 108, vergl. mit

§ 104. 105.

|0291 : 273|

§. 282. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)

erwähnt. Man könnte Dieſes ſo deuten, als ob dieſer letzte

Grundſatz überhaupt erſt nach der Zeit des Gajus ent-

ſtanden, ihm ſelbſt alſo unbekannt geweſen wäre. Dieſe

Annahme jedoch wird durch die Wahrnehmung völlig wider-

legt, daß die Einrede in ihrer poſitiven Function (als Auf-

rechthaltung des Inhalts eines jeden Urtheils) ganz be-

ſtimmt in einer Digeſtenſtelle aus Gajus vorkommt (b),

ja ſogar ſchon von Julian anerkannt wird, in einem

Zeugniß, das aus ſeinen Schriften Ulpian anführt (c).

Dieſer ſcheinbare Widerſpruch löſt ſich auf befriedigende

Weiſe, wenn man annimmt, daß neben der alten, längſt

ausgebildeten Conſumtion auch ſchon die Fiction der Wahr-

heit des Urtheils (d. h. die Einrede in ihrer poſitiven

Function) lange vor Gajus in einzelnen Entſcheidungen

angewendet wurde, daß ſie aber zu ſeiner Zeit noch nicht

in der Rechtstheorie ſo ausgebildet und grundſätzlich aner-

kannt war, daß er nöthig gefunden hätte, dieſelbe in ſeinen

Inſtitutionen als ein beſonderes Rechtsinſtitut neben der

Conſumtion zu erwähnen.

Für die Einrede in ihrer poſitiven Funktion bedarf es

beſonderer Beweiſe inſofern nicht, als die ganze folgende

Darſtellung nichts Anderes iſt, als die vollſtändige Ent-

wickelung gerade des Grundſatzes, der in ihr zur Geltung

gebracht wird. Ich will aber hier diejenigen Zeugniſſe der

alten Juriſten zuſammen ſtellen, worin jener Grundſatz,

 

(b) L. 15 de exc. r. j. (44. 2.)

(c) L. 40 § de proc. (3. 3). — Vgl. Keller S. 230. 231.

VI. 18

|0292 : 274|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

d. h. die Fiction der Wahrheit, auch ſelbſt des ungerechten

Urtheils, in ſeiner allgemeinen durchgreifenden Natur be-

ſonders deutlich ausgeſprochen wird.

L. 25 de statu hom. (1. 5) (Ulpian.)

Ingenuum accipere debemus etiam eum, de quo sen-

tentia lata est quamvis fuerit libertinus: quia res ju-

dicata pro veritate accipitur

(d).

L. 3 pr. de agnosc. (25. 3) (Ulpian.) verbunden mit

L. 1 § 16 eod.

Plane si denuntiante muliere negaverit ex se esse

praegnantem .. non evitabit quo minus quaeratur,

an ex eo mulier praegnans sit. Quae causa si fuerit

acta apud judicem, et pronuntiaverit … in ea causa

est, ut agnosci debeat, sive filius non fuit, sive fuit,

esse suum … Sive contra pronuntiaverit, non fore

(d) Der letzte Satz dieſer Stelle,

welcher die Fiction der Wahrheit

unmittelbar ausdrückt (res judi-

cata pro veritate accipitur),

iſt als Doppelſtelle noch an einem

anderen Ort in die Digeſten auf-

genommen. L. 207 de R. J. (50.

17). — Es muß jedoch bemerkt

werden, daß Ulpian in dieſer

ganzen Stelle urſprünglich gar

nicht von der Rechtskraft in unſe-

rem Sinne (von der exceptio rei

judicatae), d. h. von einem wie-

derholten Rechtsſtreit über die jetzt

abgeurtheilte Frage, ſprechen wollte.

Die Lex Julia hatte die Ehe der

freigebornen Männer mit ehrloſen

Frauen verboten. Hierauf bezieht

ſich der Ausſpruch des Ulpian,

daß eine ſolche Ehe auch dem frei-

gelaſſenen Manne unmöglich ſey,

wenn derſelbe durch ein irriges,

aber rechtskräftiges Urtheil für

einen Freigebornen erklärt worden

war. Im Zuſammenhang des

Juſtinianiſchen Rechts indeſſen muß

die Stelle von der eigentlichen

Rechtskraft verſtanden werden,

worauf auch ihr energiſcher Aus-

druck ſehr gut paßt. Beſonders

die in einen anderen Theil der

Digeſten eingerückte Doppelſtelle

macht dieſe Deutung unzweifel-

haft. — Vgl. über dieſe Stelle

§ 301 n.

|0293 : 275|

§. 282. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)

suum, quamvis suus fuerit. Placet enim ejus rei

judicem jus facere(e).

L. 65 § 2 ad Sc. Trebell. (36. 1) (Maecianus.)

Cum praetor cognita causa per errorem vel etiam

ambitiose juberet hereditatem ut ex fideicommisso re-

stitui, etiam publice interest restitui, propter rerum

judicatarum auctoritatem

(f).

L. 12 § 3 de bonis libert. (38. 2) (Ulpian.)

Si quis, cum esset exheredatus, pronuntiatus vel

perperam sit exheredatus non esse, non repelli-

tur: rebus enim judicatis standum est.

In einer ſchon oben mitgetheilten Stelle des Pau-

lus (g) wird auf beide Geſtalten der Functionen der Ein-

rede neben einander hingedeutet; aber freilich in ſo allge-

meinen Ausdrücken, daß wir dieſe Hindeutung nicht ver-

ſtehen würden, wenn uns nicht in den Inſtitutionen des

Gajus die Lehre von der Conſumtion der Klage in ihrer

 

(e) In dieſen Worten iſt die

Fiction der Wahrheit, als Erzeu-

gung eines neuen, ſelbſtſtändigen

Rechts, beſonders bezeichnend aus-

gedrückt. — Dieſe Stelle übrigens

geht auf ein ſolches anomales

Verhältniß, worin das Urtheil

eine beſonders ausgedehnte Wir-

kung, auch für und wider fremde

Perſonen, hat. Eben ſo verhält

es ſich mit der in der vorherge-

henden Note erwähnten Stelle.

Vgl. § 301 m.

(f) Es muß beſonders bemerkt

werden, daß in dieſer Stelle von

einem Urtheil die Rede iſt, welches

nicht ein Juder, ſondern der Prä-

tor ſelbſt ſprach, weil die Fidei-

commiſſe Gegenſtand einer extra-

ordinaria cognitio waren. Die

Fiction der Wahrheit, und ſelbſt

die Bezeichnung als res judicata,

wird aber hier eben ſo, wie bei

den ordinariis judiciis, ange-

wendet.

(g) L. 6 de exc. r. j. (44. 2),

ſ. o. S. 261.

18*

|0294 : 276|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ganzen Eigenthümlichkeit klar geworden wäre. Nachdem

nämlich in jener Stelle geſagt worden war, daß aus jedem

ſtreitigen Rechtsverhältniß nur einmal geklagt werden

dürfe, weil die zugelaſſene Wiederholung derſelben Klage

mit großen Nachtheilen für den Rechtszuſtand verknüpft

ſey, wird dann noch hinzugefügt, daß dieſe Nachtheile be-

ſonders ſtark in den Fällen hervortreten würden, wenn

durch wiederholte Klagen ſogar Urtheile von widerſprechen-

dem Inhalt herbeigeführt werden ſollten: maxime si diversa

pronuntiarentur. In dieſen beiden Sätzen ſind die zwei

verſchiedenen, aber verwandten Geſtalten der Einrede un-

verkennbar angedeutet.

So hat die Einrede der Rechtskraft in ihren zwei Ge-

ſtalten während des ganzen Zeitalters der Juriſten fortge-

dauert, aus deren Schriften die Digeſten hervorgegangen

ſind (h), und es zeigt ſich hierin daſſelbe Verfahren,

welches wir auch in anderen Theilen des Römiſchen Rechts

bei der Entwicklung von Rechtsinſtituten angewendet

finden. Man entſchloß ſich nicht leicht, ein Rechtsinſtitut,

deſſen Grundlage ſich bewährt hatte, völlig aufzuheben und

durch ein anderes zu erſetzen, wenn es ſich auch in der

Anwendung von manchen Seiten mangelhaft zeigen mochte,

wie Dieſes von der Klagenconſumtion ſchon oben (§ 281)

anerkannt worden iſt. Man ſuchte vielmehr ſolchen Män-

geln durch mildere Mittel, alſo in feinerer Weiſe, abzu-

helfen. Inſofern die Klagenconſumtion für das praktiſche

 

(h) Keller S. 231.

|0295 : 277|

§. 281. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)

Bedürfniß unzureichend gefunden wurde, lag die Abhülfe

in der ſtets fortſchreitenden Entwicklung der Einrede in

ihrer neueren Geſtalt (der poſitiven Function), die für jedes

Bedürfniß vollkommen ausreichte. Inſofern die Conſumtion

harte und unbillige Folgen nach ſich zog, ſuchte man durch

ſehr verſchiedenartige Mittel zu helfen (i). Insbeſondere

in den ſchon oben (S. 270) angedeuteten, allerdings ſelt-

neren Fällen, worin beide Geſtalten der Einrede in Wider-

ſtreit kamen, indem die Klagenconſumtion in ihren Folgen

dahin führte, den Inhalt eines früher geſprochenen Urtheils

zu vereiteln, half man in der Form, daß die exceptio rei

judicatae durch eine replicatio deſſelben Namens völlig ent-

kräftet wurde (k). Dieſer letzte Fall iſt beſonders merk-

würdig als ein unmittelbarer Beweis, daß die alten Ju-

riſten ein deutliches Bewußtſeyn von der Verſchiedenheit

beider Geſtalten der Einrede hatten, und daß ſie keinen

Anſtand nahmen, in jedem Fall eines Widerſtreits dem

neueren Grundſatz (der Fiction der Wahrheit) den Vorzug

vor dem älteren (der Klagenconſumtion) einzuräumen, wo-

durch alſo das neuere als das beſſere und befriedigendere

von ihnen anerkannt wurde.

Späterhin iſt die Klagenconſumtion, alſo das ältere

Rechtsinſtitut, gänzlich verſchwunden. Wir haben keine

Rachricht, daß es jemals von einem Geſetzgeber ausdrück-

lich aufgehoben worden wäre; es ſcheint vielmehr allmälig

 

(i) Keller im ganzen ſechsten Abſchnitt ſeines Werks.

(k) Keller § 70. 71. 72.

|0296 : 278|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

abgeſtorben zu ſein, ſo wie dürres Laub abfällt, wenn das

neue hervorwächſt und zu vollſtändiger Entwicklung kommt.

Der Uebergang des alten ordo judiciorum in die extraor-

dinaria judicia hat die Beſeitigung der Klagenconſumtion

zwar nicht unmittelbar und mit Nothwendigkeit herbeige-

führt, aber ohne Zweifel befördert und beſchleunigt. Denn

die Ausſchließung einer Klage aus dem Grund ihrer frühe-

ren Conſumtion ſetzt voraus, daß beide Klagen identiſch

ſeyen; die Identität zweier Klagen aber wurde in den

meiſten Fällen, und zugleich am leichteſten und ſicherſten,

erkannt mit Hülfe der Klagformeln, die zugleich mit dem

ordo judiciorum völlig verſchwanden. Ganz anders ver-

hält es ſich mit der Fiction der Wahrheit des Urtheils,

worauf die Einrede in ihrer neueren Geſtalt beruht; denn

deren Anwendung ſetzt nur die Bekanntſchaft mit dem In-

halt des Urtheils voraus, iſt alſo mit jeder Form des Pro-

zeßverfahrens gleich vereinbar.

Insbeſondere aber läßt ſich beſtimmt behaupten, daß

diejenige Conſumtion, die im alten Recht bei manchen

Klagen nicht durch eine Einrede, ſondern ipso jure eintrat

(§ 281), nach dem Untergang des ordo judiciorum gar

nicht mehr möglich war, alſo ſogleich völlig verſchwinden

mußte. Denn dieſe Art der Conſumtion ſollte nur ein-

treten bei Prozeſſen, die vor einem einzelnen, von der

Obrigkeit ernannten Judex geführt wurden, und in welchen

eine Formel mit juris civilis intentio vorkam (l); dieſe

 

(l) Gajus IV. § 107 vgl mit § 104.

|0297 : 279|

§. 282. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)

beiden Umſtände aber konnten in einem extraordinarium

judicium nie eintreten.

Im Juſtinianiſchen Recht wird weder die Klagencon-

ſumtion, noch die mit ihr unzertrennlich verbundene ex-

ceptio rei in judicium deductae erwähnt, woraus unzwei-

felhaft erhellt, daß dieſe Inſtitute damals keine Geltung

mehr hatten. Von einzelnen wichtigen Folgen der Con-

ſumtion iſt auch die Aufhebung noch ausdrücklich ausge-

ſprochen (m).

 

Dagegen iſt hier die Einrede der Rechtskraft in ihrer

poſitiven Function, als Schutz des Inhalts eines Urtheils,

aus den Schriften der alten Juriſten ſo vollſtändig auf-

genommen, daß dieſe Darſtellung für die Anwendung völlig

genügt, wie ſich aus der folgenden Abhandlung ergeben

wird. Auch iſt dieſe Geſtalt des Rechtsinſtituts ganz in

unſere neuere Praxis übergegangen, und wenn ſich in

dieſer nicht ſelten Abweichungen von dem R. R. einge-

funden haben, ſo ſind dieſelben nicht aus Abſicht und Be-

wußtſeyn entſtanden, indem man das R. R. für unzu-

reichend oder unzweckmäßig gehalten hätte; ſie ſind viel-

mehr lediglich aus mangelhafter Einſicht in die Rechts-

quellen zu erklären.

 

(m) Dahin gehört L. 28 C. de

fidejuss. (8. 42). — Zum Theil

iſt dahin auch zu rechnen die Auf-

hebung der alten Regel, daß der

Kläger plus petendo ſein Klage-

recht verlieren ſolle, denn dieſe

Regel beruhte allerdings auf der

Conſumtion der Klage, aber frei-

lich nicht auf ihr allein, ſondern

nur in Verbindung mit der certa

intentio, wovon nach dem Unter-

gang des ordo judiciorum ohne-

hin nicht mehr die Rede ſeyn

konnte. Keller § 56.

|0298 : 280|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Allerdings finden ſich in den Ausſprüchen der alten

Juriſten über dieſe neuere Einrede der Rechtskraft einzelne

Äußerungen eingemiſcht, die nur aus dem alten Inſtitut

der Klagenconſumtion zu erklären ſind; dieſe zufällig erhal-

tenen Spuren aber ſind ſo einzeln und unzuſammenhängend,

daß wir ſie erſt verſtehen gelernt haben, ſeitdem uns jenes

Inſtitut durch die Inſtitutionen des Gajus bekannt ge-

worden iſt. Es gehört dahin hauptſächlich die Erwähnung

einer replicatio rei judicatae, wodurch in manchen Fällen

die exceptio gleiches Namens entkräftet werden ſoll (Note k).

Hier iſt allerdings die exceptio nur von dem alten Inſti-

tut der negativen Function zu verſtehen, und die Auf-

nahme ſolcher Stellen in die Digeſten wäre beſſer unter-

blieben, da die Schwierigkeit, zu deren Löſung ſie beſtimmt

ſind, ohnehin verſchwunden war. Indeſſen war dieſe Auf-

nahme praktiſch ungefährlich, indem daraus kein Zweifel

über die letzte Entſcheidung irgend eines ſtreitigen Rechts-

verhältniſſes abgeleitet werden kann.

 

§. 283.

Rechtskraft des Urtheils. Geſchichte. (Fortſetzung.)

Die Entdeckung der Einrede der Rechtskraft in ihren

zwei verwandten, aber verſchiedenen, Geſtalten oder Functio-

nen iſt das glänzende Verdienſt des Werks von Keller (a).

Auch ſoll man nicht verſuchen, dieſes Verdienſt durch die

Bemerkung zu verkleinern, ſeit der Bekanntmachung der

 

(a) Keller § 28. 29. 30.

|0299 : 281|

§. 283. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)

Inſtitutionen des Gajus habe es blos vom Zufall abge-

hangen, wer zuerſt den in ihnen enthaltenen Aufſchluß be-

nutzen wolle. Es iſt vielmehr ſchon oben nachgewieſen

worden, daß weder bei Gajus, noch in einem anderen

Stück unſrer Rechtsquellen, beide Inſtitute neben einander

in ihrem eigenthümlichen Gegenſatz erwähnt werden, ſo

daß die Entdeckung dieſes Gegenſatzes nur durch die ſcharf-

ſinnige Zuſammenſtellung und Vergleichung aller Theile

der Rechtsquellen gefunden werden konnte.

Daß nun ſämmtliche Schriftſteller vor der Bekannt-

machung der Inſtitutionen des Gajus von dieſer beſon-

deren Rechtsentwicklung keine Ahnung hatten, und dadurch

in manche hiſtoriſche Irrthümer verfielen, kann ihnen gewiß

nicht zum Vorwurf gereichen. Dagegen iſt es nicht un-

nütz, die Art, wie ſpätere Schriftſteller die neue Entdeckung

benutzt und verarbeitet haben, einer genauen Prüfung zu

unterwerfen. Hierin nämlich ſind Misverſtändniſſe ganz

verſchiedener Art wahrzunehmen.

 

Von einer Seite wird die Sache ſo aufgefaßt, als ob

die Einrede in ihren beiden Functionen auch noch im heu-

tigen Rechte fortdauere (b). Daß aber ſchon im Juſtinia-

niſchen Recht der Grundſatz der Klagenconſumtion, der mit

der negativen Function untrennbar zuſammenhängt, völlig

verſchwindet, iſt ſchon oben bemerkt worden (§ 282). Die

eben erwähnte abweichende Meinung iſt jedoch in der That

nicht ſo bedenklich, als ſie auf den erſten Blick ſcheint.

 

(b) Vangerow Pandekten § 173.

|0300 : 282|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Sie gründet ſich theils auf die ſchon erwähnten einzelnen

Spuren des alten Rechtsinſtituts, welche ſich zufällig im

Juſtinianiſchen Recht erhalten haben, theils darauf, daß

manche wirkliche Beſtandtheile des allein noch übrigen

Rechtsinſtituts mit dem alten Inſtitut der Klagenconſum-

tion irrigerweiſe in Verbindung geſetzt werden; dieſes Letzte

deutlich zu machen, wird erſt weiter unten möglich ſeyn

(§ 286). — Die hier bemerklich gemachte irrige Auffaſſung

hat übrigens eine blos theoretiſche Natur; es wird aus der

angeblichen Fortdauer der negativen Function im heutigen

Recht durchaus keine praktiſche Behauptung abgeleitet, die

nicht auch aus der richtigen Auffaſſung vertheidigt werden

könnte: insbeſondere wird nicht, wie man etwa befürchten

könnte, der Einrede eine ungebührliche Ausdehnung zu

geben verſucht (c).

Eine ganz verſchiedene Geſtalt hat das Misverſtändniß

der neuen Entdeckung bei einigen andern Schriftſtellern an-

genommen (d). Es iſt nämlich oben erwähnt worden, daß

zur Zeit der alten Juriſten beide Rechtsinſtitute neben ein-

ander beſtanden, und daß die aus dieſer Verbindung ent-

ſprungenen Schwierigkeiten von den alten Juriſten wohl

erkannt und mit gutem Erfolg beſeitigt wurden (§ 282).

Jene neueren Schriftſteller aber faſſen die Sache ſo auf.

Nach ihrer Meinung haben ſich die Römer niemals von

 

(c) Vgl. den Schluß des § 282.

(d) Kierulff Theorie des ge-

meinen Civilrechts Th. 1. S. 250

bis 256. — Buchka B. 2 S. 76.

184. 192. 200.

|0301 : 283|

§. 283. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)

den engen Feſſeln des Formularprozeſſes und der darauf

beruhenden Conſumtion der Klagen befreien können, und

auch noch im Juſtinianiſchen Recht ſoll dieſer unfreie Geiſt

herrſchen. Erſt die Erleuchtung der neueren Praxis, be-

haupten ſie, habe jene Feſſeln abgeworfen, jetzt herrſche die

reine aequitas, und Alles ſey nun in ſolcher Ordnung,

wie man es nur wünſchen könne.

Bei dieſer Auffaſſung ſind zwei Dinge ſchwer zu be-

greifen. Erſtens, daß die ſpäteren Kaiſer, unter deren

Rathgebern mitunter ſehr verſtändige Leute waren, gar

nicht gemerkt haben ſollten, daß mit der Aufhebung des

ordo judiciorum, d. h. des Formularprozeſſes, jeder Grund

zu jener beklagenswerthen Knechtſchaft völlig aufgehört

hatte. Zweitens, daß die Juriſten neuerer Zeit, deren Lehre

und Praxis zuerſt die Feſſeln des R. R. nach jener An-

ſicht bewältigt hat, dieſes gleichfalls nicht gemerkt haben

ſollten; denn es iſt augenſcheinlich, daß dieſe neueren Ju-

riſten ihre Lehre nicht etwa im Widerſtreit mit dem R. R.

durchzuführen ſuchten, ſondern ohne alle Ausnahme gerade

aus den Quellen des R. R. ableiteten. Man müßte alſo

annehmen, daß ſie einſichtiger waren, als ſie ſelbſt ahneten,

und daß es erſt der neueſten Zeit vorbehalten war, ſie

hierüber zu belehren. — Übrigens iſt auch dieſe irrige

Auffaſſung mehr geſchichtlicher, als praktiſcher Natur, indem

für das heutige Recht die Lehre, die in der That ſchon im

R. R. enthalten iſt, anerkannt wird. Sie iſt aber gefähr-

licher, als die vorher erwähnte, indem ſie die richtige Be-

 

|0302 : 284|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

nutzung der Römiſchen Rechtsquellen durch irrige Voraus-

ſetzungen verhindert, und zugleich in der angeblichen aequi-

tas des heutigen Rechts einer gränzenloſen Willkühr Raum

giebt, wovon vielleicht ſpätere Schriftſteller größeren Mis-

brauch machen dürften, als bisher in der That geſchehen iſt.

Über die Richtigkeit dieſer Auffaſſung muß der Erfolg

die letzte Entſcheidung geben. Die ganze folgende Abhand-

lung der Rechtskraft geht darauf aus, ein in ſich geſchloſ-

ſenes Syſtem dieſer Lehre aus den Quellen des R. R.

abzuleiten, und ich glaube, daß dazu die Digeſten ein völ-

lig befriedigendes Material darbieten. Gelingt dieſer Ver-

ſuch, ſo iſt damit die eben erwähnte Auffaſſung des Ver-

hältniſſes zwiſchen dem Römiſchen Recht und dem heutigen

Recht als grundlos erwieſen.

 

Aus der nunmehr beendigten geſchichtlichen Grundle-

gung zur Lehre von der Rechtskraft ergiebt ſich folgender

Gang, welchen die jetzt folgende Darſtellung dieſer Lehre

zu nehmen haben wird.

 

Die Formel des neueſten Rechts für die Rechtskraft

(§ 281) geht dahin, daß jedem rechtskräftigen Urtheil ſeine

Wirkſamkeit für alle Zukunft geſichert bleiben ſoll. Zur

vollſtändigen Entwicklung dieſes Grundſatzes iſt eine zwei-

fache Unterſuchung und Feſtſtellung nöthig:

 

I. Bedingungen der Rechtskraft:

A. Formelle Bedingungen.

|0303 : 285|

§. 283. Rechtskraft. Geſchichte. (Fortſetzung.)

B. Inhalt des Urtheils, welcher als wahre Grund-

lage der Rechtskraft anzuſehen iſt.

II. Wirkung der Rechtskraft in die Zukunft, d. h. noth-

wendiges Verhältniß zwiſchen dem rechtskräftig ent-

ſchiedenen Rechtsſtreit und dem künftigen Rechtsſtreit,

auf welchen jene Entſcheidung Einfluß haben ſoll.

Dieſes nothwendige Verhältniß läßt ſich im Allgemei-

nen als Identität ausdrücken, welche in zwei ver-

ſchiedenen Beziehungen vorhanden ſeyn muß, wenn

die Rechtskraft Einfluß haben ſoll:

A. Identität der Rechtsverhältniſſe (objective).

B. Identität der Perſonen (ſubjective).

In einfacheren Worten läßt ſich dieſes nothwendige

Verhältniß ſo ausdrücken. Damit die rechtskräftige Ent-

ſcheidung einer früheren Klage auf die Entſcheidung einer

ſpäteren Klage Einfluß haben könne, müſſen beide Klagen

zwei Stücke mit einander gemein haben:

 

dieſelbe Rechtsfrage,

dieſelben Perſonen.

§. 284.

Rechtskraft. I. Bedingungen. A. Formelle.

Es iſt zunächſt zu beſtimmen, von welcher formellen

Beſchaffenheit ein richterlicher Ausſpruch ſeyn müſſe, um

den wichtigen Einfluß auf jeden ſpäteren Rechtsſtreit aus-

üben zu können, welcher mit dem Ausdruck der Rechts-

kraft bezeichnet worden iſt (§ 280).

 

|0304 : 286|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Wenn wir, um dieſe Frage nach dem R. R. zu beant-

worten, den Standpunkt des Zeitalterts wählen, in welchem

der Formularprozeß beſtand, ſo hat es keinen Zweifel, daß

die Rechtskraft jedem Urtheil zugeſchrieben werden mußte,

das unter der Autorität einer richterlichen Obrigkeit von

einem Judex ausgeſprochen war. Unter Juder aber iſt

hier zu verſtehen die zur Entſcheidung eines Rechtsſtreits

von der Obrigkeit ernannte Privatperſon, mochte dieſe Er-

nennung an eine einzelne Perſon gerichtet ſeyn, oder an ein

Richtercollegium. Ferner iſt unter dem Urtheil dieſes Judex,

als Grundlage der Rechtskraft, nicht blos die eigentliche

Sententia zu verſtehen (Condemnatio oder Absolutio), ſon-

dern auch die derſelben bei manchen Klagen oft vorher-

gehende Pronuntiatio (§ 287).

 

Allein dieſer Fall war, wenn auch der regelmäßige und

häufigſte, dennoch keinesweges der einzige, worin die Rechts-

kraft entſtehen konnte. Auch der Prätor konnte, ohne einen

Judex zu ernennen, ſelbſt das Urtheil ausſprechen, und dieſes

ging dann nicht minder in Rechtskraft über. Wenn dieſe Be-

fugniß neuerlich in Zweifel gezogen worden iſt (a), ſo ſcheint

dabei der allzu moderne Gedanke zum Grunde zu liegen, das

Urtheilſprechen durch Privatperſonen ſey eingeführt worden

als eine Theilung der richterlichen Gewalt, zum Schutz

gegen ungerechte Willkühr von Seiten des Prätors. Allein

gegen dieſe Gefahr ſchützten manche andere Schranken der

obrigkeitlichen Gewalt, und die Prozeßführung vor dem

 

(a) Puchta Curſus der Inſtitutionen B. 2 § 175 Note n.

|0305 : 287|

§. 284. Rechtskraft. Formelle Bedingungen.

Judex war vielmehr eingeführt, und in der Regel unent-

behrlich, weil ohne dieſelbe die Rechtspflege durch zwei

Civilprätoren in Rom gar nicht hätte beſorgt werden kön-

nen. Sie war aber faſt nur nöthig, wenn zweifelhafte

Thatſachen feſtgeſtellt werden mußten, da bei unbeſtrittenen

Thatſachen der Prätor eben ſo ſchnell und ſicher ſelbſt ein

Urtheil ſprechen, als dem Judex eine Formel vorſchreiben

konnte. So war es denn die allgemeine Anſicht der Römer,

daß in Civilſachen, wie im Criminalprozeß, ein Judicium

nur zur Entſcheidung beſtrittener Thatſachen angeordnet

zu werden pflege (b). — Auch fehlt es nicht an aus-

drücklichen Zeugniſſen, daß der Prätor eben ſowohl ſelbſt

ein Urtheil ſprechen konnte, als ein von ihm ernannter

Juder (c).

(b) Tacitus annal. XI. 6

„non judicium (quippe ut in

manifestos), sed poenam statui

videbant.“

(c) L. 81 de jud. (5. 1)

(Ulpian.) „Qui neque jurisdi-

ctioni praeest, … neque ab eo,

qui jus dandorum judicum habet,

datus est, … judex esse non

potuit“ (dieſe Beide alſo ſind

gleich fähig, in einer einzelnen

Sache das Urtheil zu ſprechen). —

Paulus V. 5 A. § 1 „Res ju-

dicatae videntur ab his, qui

imperium potestatemque habent,

vel qui ex auctoritate eorum

inter partes dantur ....“.

Dieſe letzte Stelle emendirt Puchta

a. a. O. ſo: „Res judicatae vi-

dentur a judicibus, qui ab his,

qui imperium etc. Dieſe Emen-

dation aber gründet ſich weder auf

eine Andeutung der Handſchrift,

noch auf innere Nothwendigkeit,

ſondern lediglich auf das Bedürf-

niß, eine Widerlegung der oben

aufgeſtellten Meinung zu beſeitigen.

Der handſchriftliche Text ſtimmt

mit der voranſtehenden Stelle des

Ulpian völlig überein. — Wenn

der Prätor ohne Juder verurtheilte,

ſo hat es kein Bedenken, daß dar-

aus künftig eine eigentliche ex-

ceptio rei judicatae abgeleitet

werden konnte. Wenn dagegen der

Prätor die Klage ſogleich abſchlug,

welches durch ein bloßes Decret

geſchah, ſo konnte wenigſtens jener

|0306 : 288|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Die hier aufgeſtellten Regeln gehen auf die ordinaria

judicia; daneben aber hat es keinen Zweifel, daß in jedem

extraordinarium judicium, z. B. bei Fideicommiſſen, der

obrigkeitliche Beamte, der darüber zu urtheilen hatte, durch

ſein Urtheil gleichfalls Rechtskraft erzeugte, und zwar mit

dem Namen einer res judicata (§ 282. f). Dennoch iſt

auch dieſer Fall der Rechtskraft in neuerer Zeit ohne

Grund in Zweifel gezogen worden (d).

 

Dieſe letzte Regel, welche zur Zeit des Formularpro-

zeſſes nur als ſehr beſchränkte Ausnahme zur Anwendung

kommen konnte, wurde zur allgemeinen und einzigen Regel

durch die Aufhebung des alten ordo judiciorum. Der nun-

mehr eintretende Zuſtand war ganz derſelbe, welchen allein

wir in der heutigen Gerichtsverfaſſung aller Länder kennen.

 

Die bisher abgehandelte Seite der formellen Beſchaf-

fenheit des zur Rechtskraft fähigen Urtheils hat eine blos

geſchichtliche Bedeutung. Weit wichtiger, und gerade für

 

Name nicht wohl angewendet wer-

den. Indeſſen mag man doch ir-

gend eine Form gefunden haben,

um auch dieſem abweiſenden De-

cret die Rechtskraft zu ſichern.

Vgl. den Schluß der folgenden

Note.

(d) Puchta Curſus der In-

ſtitutionen B. 2 § 177 Note o.

Er nimmt an, das gewöhnliche

Urtheil eines Judex habe wirklich

neues Recht erzeugt, und ſey da-

her von jedem ſpäteren Richter

anerkannt worden; das Urtheil

eines Magiſtratus habe nur für

die demſelben untergeordneten Per-

ſonen bindende Kraft gehabt. —

Dieſe Meinung wird unmittelbar

widerlegt nicht nur durch die Rechts-

kraft des Erkenntniſſes über ein

Fideicommiß (§ 282. f.), ſondern

auch durch die Rechtskraft, die dem

Decret der Obrigkeit über Gewäh-

rung oder Verſagung einer Reſti-

tution zugeſchrieben wird. L. 1 C.

si saepius (2. 44). Denn auch

dieſes war eine Entſcheidung extra

ordinem.

|0307 : 289|

§. 284. Rechtskraft. Formelle Bedingungen.

das neuere und heutige Recht beſonders wichtig, iſt die

folgende Seite deſſelben Gegenſtandes.

Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß das Übel eines

unheilbar ungerechten Urtheils, verglichen mit dem Übel

einer endloſen Rechtsungewißheit, das geringere Übel ſey,

und daß daher die Gefahr deſſelben mit deutlichem Be-

wußtſeyn übernommen werden müſſe, um das ſonſt unver-

meidliche größere Übel abzuwenden (§ 280). Bei dieſem

nothwendigen Entſchluß wird jedoch die Natur des Übels,

deſſen Gefahr wir nothgedrungen übernehmen, und ſelbſt

die Wichtigkeit deſſelben nicht verkannt, und es ergiebt ſich

daraus die Aufgabe, dieſe Gefahr ſo viel möglich zu ver-

mindern, ſie in immer engere Gränzen einzuſchließen.

 

Zu dieſem Zweck dienen alle Anſtalten für die Ausbil-

dung und Auswahl der Richter; eben ſo dient dazu die

Anordnung collegialiſcher Gerichte; endlich aber und ganz

vorzüglich die Einrichtung, nach welcher die Prüfung und

Entſcheidung eines Rechtsſtreits nicht mit einemmal abge-

than wird, ſondern in mehreren Abſtufungen wiederholt

werden kann.

 

Auf den erſten Blick ſcheint eine ſolche Einrichtung im

Widerſpruch zu ſtehen mit dem großen Werth, der gleich

im Eingang dieſer Abhandlung auf die unabänderliche

Feſtſtellung jedes Rechtsſtreits durch richterliches Urtheil

gelegt worden iſt. Dieſes geſchah aber im Gegenſatz einer

endloſen, unbeſtimmbaren Unſicherheit der Rechtsverhältniſſe

für alle Zukunft. Damit iſt nicht zu vergleichen die hier

 

VI. 19

|0308 : 290|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

angedeutete Einrichtung, bei welcher nur das Finden des

unabänderlichen Urtheils unter mehrere Stufen richterlicher

Thätigkeit vertheilt wird. Ein ſolches Verfahren läßt ſich

bei guter Rechtspflege in mäßige Zeitgränzen einſchließen,

und es wird dann ſtets in nicht entfernter Zeit ein Zu-

ſtand eintreten, in welchem die wünſchenswerthe unzweifel-

hafte Rechtsſicherheit wirklich erreicht iſt.

Die großen Vortheile einer ſolchen Einrichtung für die

Abwendung ungerechter Urtheile werden durch folgende Be-

trachtung einleuchten. Zunächſt iſt ſchon die blos wieder-

holte Prüfung eines Rechtsſtreits an ſich ſelbſt ein wirk-

ſames Mittel ſowohl für die Parteien, als für den Richter,

zu einer vielſeitigen Einſicht in das Weſen eines ſtreitigen

Rechtsverhältniſſes zu gelangen. Dazu kommt aber zwei-

tens der noch größere Vortheil, daß es bei dieſer Einrich-

tung möglich wird, die letzte Entſcheidung in einem zahl-

reichen, mit größter Sorgfalt beſetzten Gericht zu concen-

triren, welches dann eine höhere Sicherheit für die gründ-

liche Urtheilsfindung gewährt.

 

Der üblichſte Kunſtausdruck, der in unſrer neueren

Rechtsſprache zur Bezeichnung dieſer Einrichtung gebraucht

wird, iſt folgender. Wir nennen Inſtanzen die ein-

zelnen Stufen richterlicher Prüfung und Entſcheidung. In

der Regel ſind dieſe verbunden mit der Unterordnung eines

Gerichts unter das andere (niedere und höhere Inſtanz).

Es kann aber auch bei demſelben Gericht unter gewiſſen

Bedingungen eine ſolche wiederholte Prüfung vor ſich gehen.

 

|0309 : 291|

§. 284. Rechtskraft. Formelle Bedingungen.

Wie dieſe Einrichtung im Römiſchen Staat Eingang

gefunden hat, ſoll nunmehr nachgewieſen werden.

 

Für das Daſeyn derſelben zur Zeit der freien Republik

iſt durchaus kein Zeugniß vorhanden, und es beruht auf

unrichtiger Deutung, wenn man Spuren ſolcher Art in

dieſer Zeit wahrzunehmen geglaubt hat (e). Auch fehlte

dazu eine Hauptbedingung, verſchiedene Obrigkeiten der-

ſelben amtlichen Wirkſamkeit, deren eine der anderen unter-

geordnet geweſen wäre. Die Prätoren waren von gerin-

gerem Rang, als die Conſuln, jedoch in ihrem Amtskreiſe

von dieſen durchaus unabhängig. Wohl hätte es ſich

denken laſſen, daß von dem Urtheil eines Juder die Beru-

fung an das höhere Urtheil des Prätors, der ihn beſtellt

hatte, zugelaſſen worden wäre; aber gerade hierüber fehlt

es aus der Zeit der Republik an Zeugniſſen.

 

Daran freilich iſt nicht zu zweifeln, daß auch in dieſer

Zeit die Frage ſtreitig werden konnte, ob überhaupt ein

Urtheil, und zwar ein der Form nach gültiges Urtheil,

vorhanden ſey oder nicht (f), und dann mußte über dieſe

 

(e) Hollweg Prozeß B. 1

S. 347 Note 1 widerlegt dieſe

irrige Meinung, die u. a. von

Zimmern B. 3 S. 500 Note 7

aus wenig haltbaren Gründen ver-

theidigt wird. Beſonders Cicero

in Verrem II. 13 ſpricht gewiß

mehr dagegen als dafür, indem er

dem Verres einen ſchweren Vor-

wurf daraus macht, daß er ſich

durch ein Edict vorbehalten habe,

über die Richtigkeit der Urtheile

der Judices hinterher ſelbſt zu er-

kennen.

(f) Auf dieſen Fall bezog ſich

ein beſonderes Rechtsinſtitut des

älteren Rechts, die sententiae in

duplum revocatio. Cicero pro

Flacco C. 21. Paulus V. 5 A.

§ 5. 7. Auch in den Digeſten wird

dieſer Fall erwähnt. L. 1 pr.

quae sent. (49. 8). „Si quae-

19*

|0310 : 292|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Frage, ſo wie über jedes ſtreitige Rechtsverhältniß, der

Prätor einen Judex entſcheiden laſſen. Allein ein ſolcher

Streit über das Daſeyn, und vielleicht über die Nichtigkeit

eines Urtheils, der zu allen Zeiten nur ausnahmsweiſe

und ſelten vorkommt, iſt völlig verſchieden von den regel-

mäßig eintretenden Inſtanzen, in welchen der gerechte In-

halt jedes geſprochenen Urtheils geprüft werden kann, damit

daſſelbe nach Befinden beſtätigt oder abgeändert werde.

Dagegen findet ſich die Einrichtung von Inſtanzen gleich

im Anfang der Kaiſerregierung, und zwar merkwürdiger-

weiſe nicht allmälig und unmerklich entſtehend und fort-

ſchreitend, ſondern ſogleich in völliger Ausbildung und

Anerkennung. Dieſes erklärt ſich zum Theil daraus, daß

jetzt die oben, in der Zeit der Republik vermißte Bedingung

regelmäßiger Inſtanzen, nämlich die Unterordnung einer

Obrigkeit unter eine andere, eingetreten war. Denn daß

dem Kaiſer alle hohe Obrigkeiten, die alten, wie die neu

erfundenen, untergeben ſeyen, bezweifelte Niemand.

 

So erſcheint ſchon Auguſt als die regelmäßige höchſte

Inſtanz für alle Civilprozeſſe des ganzen Reichs. Da er

aber die meiſten Geſchäfte dieſer Art unmöglich ſelbſt be-

ſorgen konnte, ſo übertrug er dieſes höchſte Richteramt an

ſtellvertretende Obrigkeiten: die Prozeſſe aus der Stadt an

den Präfecten der Stadt, die aus jeder Provinz an ein-

 

ratur, judicatum sit, nec ne.“

Die Stelle iſt freilich aus einer

ſpäteren Zeit, aber Gedanke und

Ausdruck paßt eben ſo auch in

die frühere.

|0311 : 293|

§. 284. Rechtskraft. Formelle Bedingungen.

zelne Conſularen, deren jeder für Eine Provinz beſonders

ernannt wurde (g). Neben dem Kaiſer aber übte ein

gleiches höchſtes Richteramt jetzt auch der Senat aus (h).

Eine Berufung vom Senat an den Kaiſer war unmöglich (i),

und eine Berufung vom Kaiſer aufwärts mußte vollends

als eine Thorheit angeſehen werden (k).

Ob dieſe merkwürdige Einrichtung als eine bloße Ver-

waltungsmaaßregel aufgefaßt wurde, die ſich als eine natür-

liche Entwicklung der höchſten Gewalt eines Einzelnen von

ſelbſt verſtand, wiſſen wir nicht. Es iſt aber auch ſehr

möglich, daß ein Volksſchluß ſie eingeführt hat, etwa die

Lex Julia judiciaria. Ihre leichte und ſchnelle Einführung

mag wohl durch ein längſt empfundenes Bedürfniß begün-

ſtigt worden ſein, welches erſt in Folge der großen poli-

tiſchen Umwälzung ſeine Befriedigung finden konnte.

 

Als die Inſtanzeneinrichtung zu voller Ausbildung ge-

langt war, wurde ſie in folgender Stufenfolge zur Aus-

führung gebracht.

 

(g) Sueton. August. C. 33.

„Appellationes quotannis urba-

norum quidem litigatorum prae-

fecto delegabat urbis, at pro-

vincialium consularibus viris,

quos singulos cujusque pro-

vinciae negotiis praeposuisset.“

Es war eine übertragene Gerichts-

barkeit, die auch in unſren Rechts-

quellen bald mandata bald dele-

gata jurisdictio heißt. Dig. I.

21 und L. 1 de damno inf. (39. 2).

Daß aber in vielen Sachen auch

die Kaiſer ſelbſt perſönlich ent-

ſchieden, iſt aus den Digeſten be-

kannt. — Vgl. über die Ge-

ſchichte der Inſtanzen im Allgemei-

nen: Zimmern Rechtsgeſchichte

B. 3 § 170. Hollweg Prozeß

B. 1 § 32.

(h) Tacitus annal. XIV. 28.

(i) L. 1 § 2 a quibus app.

(49. 2).

(k) L. 1 § 1 a quibus app.

(49. 2). „Et quidem stultum

est, illud admonere, a principe

appellare fas non esse, cum

ipse sit, qui provocatur.“

|0312 : 294|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Von dem Juder ging die Berufung an die Obrigkeit,

die ihn beſtellt hatte, nie an eine andere oder höhere Obrig-

keit (l); vom Prätor an den Präfecten der Stadt, von

dieſem aufwärts an den Kaiſer (m).

 

So beſtand dieſe Einrichtung Jahrhunderte lang neben

dem alten ordo judiciorum, und als ein demſelben einge-

fügter völlig neuer Beſtandtheil. Denn es muß wohl be-

merkt werden, daß jede höhere Inſtanz extra ordinem

vollzogen wurde (n), indem über eine Berufung die Obrig-

keit der höheren Inſtanz ſtets in eigener Perſon, ohne

Judex, entſchied. So fand ſich alſo in dieſem langen Zeit-

raum die merkwürdige Erſcheinung, daß gerade der höhere

und mächtigere Theil der Rechtspflege außer derjenigen

Form lag, die noch ſtets als die regelmäßige Grundlage

der ganzen Gerichtsverfaſſung anerkannt wurde. Indeſſen

würde es unrichtig ſeyn, dieſe Erſcheinung als eine In-

conſequenz anzuſehen, oder auch als ein Zeichen, daß man

die erwähnte Grundlage gering geachtet und vielleicht

aufzugeben ſchon damals beſchloſſen habe. Der Grund der-

ſelben liegt vielmehr in dem Weſen des Gerichtsverfahrens

ſelbſt. Die ganze richterliche Thätigkeit läßt ſich auf zwei

 

(l) L. 1 § 3 L. 21 § 1 de

appell. (49. 1), L. 1 pr. L. 3

quis a quo (49. 3). — Alle dieſe

Stellen ſind aus ſehr ſpäter Zeit,

es iſt aber weder unmöglich, noch

unwahrſcheinlich, daß die Beru-

fung vom Judex an den Prätor

von Anfang an eintrat, ſobald

nur überhaupt die Berufung an

den Kaiſer das ganze Inſtitut der

Inſtanzen hervorgerufen hatte.

(m) L. 38 pr. de minor.

(4. 4).

(n) Hollweg Prozeß B. 1

S. 348.

|0313 : 295|

§. 285. Rechtskraft. Formelle Bedingungen. (Fortſ.)

Hauptſtücke zurückführen: Sammlung des Stoffes, und

Bildung des Urtheils. In erſter Inſtanz nimmt jenes erſte

Stück vorzugsweiſe Zeit und Arbeit in Anſpruch, und dazu

gebrauchte der Prätor eine große Zahl von Privatrich-

tern als Gehülfen, denen er das Urtheil hypothetiſch vor-

ſchrieb. Die höheren Inſtanzen dagegen benutzen den in

erſter Inſtanz geſammelten Stoff, und was in ihnen zu

deſſen Ergänzung vielleicht geſchehen muß, iſt verhältniß-

mäßig von geringer Bedeutung. Darum war hier der

Judex entbehrlich.

§. 285.

Rechtskraft. I. Bedingungen. A. Formelle.

(Fortſetzung.)

Es iſt hier als bloße Thatſache angenommen worden,

daß ein höchſtes Richteramt des Kaiſers, vom Anfang der

neuen Verfaſſung an, ausgeübt wurde, und daß ſich

hieran die vollſtändige Einrichtung eines Inſtanzenzuges

anknüpfte. Bekanntlich gehört es aber zu der eigenthüm-

lichen Natur der ganzen Staatsveränderung, daß man den

äußeren Schein einer ganz neuen Gewalt überall zu ver-

meiden, und die wirkliche neue Macht auf alte, bekannte

obrigkeitliche Würden zu gründen ſuchte, die nur, im

Widerſpruch mit dem Weſen der alten Verfaſſung, in

Einer Perſon vereinigt wurden. Zur Zeit der Republik

nun hatten die höchſte richterliche Gewalt in Civilſachen

zwei Prätoren, und unter den obrigkeitlichen Gewalten,

 

|0314 : 296|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

deren Titel und Macht dem Kaiſer übertragen wurden,

war keine, in deren Amtskreis eine richterliche Gewalt,

wenigſtens für die Stadt Rom, unmittelbar enthalten ge-

weſen wäre (a). Es bedarf daher einer beſonderen Er-

klärung, durch welche künſtliche Verbindung jenes neue

höchſte Richteramt an alte obrigkeitliche Gewalten ange-

knüpft wurde, indem es nur auf dieſem Wege möglich

war, das eben angegebene Verfahren bei der Gründung

der kaiſerlichen Gewalt auch in dieſer einzelnen Anwen-

dung durchzuführen. Dieſe Unterſuchung iſt in der Bei-

lage XV. angeſtellt worden, wo insbeſondere nachgewieſen

wird, wie man dazu kam, zwei urſprünglich verſchiedene

Kunſtausdrücke der alten Verfaſſung, appellatio und pro-

vocatio, bald als gleichbedeutende Bezeichnungen einer jeden

Berufung auf eine höhere Inſtanz zu gebrauchen.

Unter Vorausſetzung von Inſtanzen wird es nöthig,

zweierlei Urtheile zu unterſcheiden: die, bei welchen es un-

abänderlich bleibt, und die, welche durch eine weitere In-

ſtanz abgeändert werden können. Es verſteht ſich von

ſelbſt, daß die Rückwirkung auf den Inhalt der Rechte

ſelbſt, die allein zu unſrer gegenwärtigen Aufgabe gehört,

 

(a) Dieſe Gewalten waren:

Tribunitia potestas, procon-

sularis potestas, imperium,

praefectura morum, die Würde

des pontifex maximus. Nur in

der proconsularis potestas lag

unmittelbar eine Gerichtsbarkeit,

aber mit geographiſcher Beſchrän-

kung, und zunächſt nicht als höhe-

res Richteramt mit Unterordnung

anderer Obrigkeiten.

|0315 : 297|

§. 285. Rechtskraft. Formelle Bedingungen. (Fortſ.)

(§ 280), nur den unabänderlichen Urtheilen zugeſchrieben

werden kann, und daß in dieſer Beziehung jedes Urtheil,

das einer ferneren Prüfung unterliegt, vorläufig nur als

der Verſuch eines Urtheils zu betrachten iſt, oder als einer

der vielen Schritte im Laufe eines Prozeſſes, die zu einem

letzten, bleibenden Urtheil zu führen beſtimmt ſind.

Das unabänderliche Urtheil nun, mit welchem allein

wir hiernach uns zu beſchäftigen haben, nennen wir ein

rechtskräftiges, und dieſer Kunſtausdruck der Rechts-

kraft, welcher erſt hierdurch nach der einen Seite hin

ſeine volle Beſtimmtheit erhält, iſt auch ſchon bisher in

dieſer Unterſuchung angewendet worden, um die Einwir-

kung auf den Inhalt der Rechte (welche die andere Seite

der Betrachtung bildet) dadurch zu bezeichnen.

 

Fragen wir nun, welche Bedingungen vorhanden ſeyn

müſſen, damit einem Urtheil überhaupt die beſondere Be-

ſchaffenheit eines rechtskräftigen Urtheils zugeſchrieben

werden könne, ſo läßt ſich dieſe Frage im Allgemeinen ſo

beantworten. Das Urtheil iſt rechtskräftig:

 

1. wenn alle Inſtanzen erſchöpft ſind, wenn es alſo in

letzter Inſtanz (in Rom von dem Kaiſer) geſprochen iſt;

2. wenn das Recht der Berufung auf eine fernere In-

ſtanz verloren iſt, oder wenn daſſelbe ausnahmsweiſe

bei manchen Arten von Prozeſſen gar nicht zugelaſſen

wird. Der Verluſt jenes Rechts tritt insbeſondere ein

durch freiwillige Unterwerfung unter das Urtheil, ſo

|0316 : 298|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

wie durch den unbenutzten Ablauf der für eine

Berufung vorgeſchriebenen Friſt.

Dieſe Zuſammenſtellung ſoll übrigens hier nur zu einer

ungefähren Überſicht dienen; die genauere Unterſuchung und

Feſtſtellung gehört lediglich in die Prozeßlehre.

 

Eine genauere Erwägung bedarf aber noch der Rö-

miſche Sprachgebrauch. Wir ſind gewohnt, das rechts-

kräftige Urtheil res judicata zu nennen, alſo zwiſchen sen-

tentia und res judicata gerade ſo zu unterſcheiden, wie

zwiſchen Urtheil überhaupt und rechtskräftigem Urtheil.

Res judicata aber heißt eigentlich nur ein abgeurtheilter

Rechtsſtreit, alſo ein Urtheil überhaupt. Zur Zeit der

freien Republik nun, in welcher noch keine Inſtanzen be-

ſtanden, war jedes Urtheil ſogleich rechtskräftig, und es

war unbedenklich, ſich damals mit dem Ausdruck: exceptio

rei judicatae zu begnügen, und darunter die Einrede aus

einem rechtskräftigen Urtheil zu verſtehen.

 

Als aber Inſtanzen eingeführt wurden, unterließ man

es, den Sprachgebrauch näher zu beſtimmen. Res judicata

hieß nach wie vor jedes Urtheil (b), ſelbſt dann, wenn

gegen daſſelbe eine Berufung möglich, oder ſogar wirklich

eingewendet iſt (c). Nunmehr war der Ausdruck exceptio

rei judicatae nicht ganz vorſichtig, indem derſelbe dem

 

(b) L. 1 de rejud. (42. 1). (Mo-

destinus): „Res judicata dici-

tur, quae finem controversiarum

pronuntiatione judicis accipit.“

(c) L. 7 pr. de transact.

(2. 15). „Et post rem judi-

catam transactio valet, si vel

appellatio intercesserit, vel

appellare potueris.“ Eben ſo

L. 11 eod.

|0317 : 299|

§. 285. Rechtskraft. Formelle Bedingungen. (Fortſ.)

Irrthum Raum laſſen konnte, als ob dieſe Exception auch

durch ein nicht rechtskräftiges, vielleicht gar von einem

höheren Richter abgeändertes Urtheil begründet werden

könnte. Dennoch fiel es gewiß Keinem ein, ſo etwas zu

glauben, und die Gefahr war auch ſchon dadurch praktiſch

ganz unerheblich, daß in allen Fällen ſolcher Art ohnehin

ſchon eine exceptio rei in judicium deductae damals wirk-

lich begründet war, die ungefähr dieſelben Wirkungen her-

vor brachte, wie die exceptio rei judicatae (§. 281).

Das canoniſche Recht änderte den Sprachgebrauch, und

führte ganz denjenigen ein, deſſen wir ſeitdem uns allge-

mein bedienen (d). Nun heißt res judicata nicht mehr ein

Urtheil überhaupt, ſondern ein rechtskräftiges Urtheil, d. h.

ein ſolches, dem nicht mehr eine mögliche Abänderung in

einer ferneren Inſtanz bevorſteht.

 

Wird nun überhaupt ein Inſtanzenzug und eine den-

ſelben völlig ausſchließende Rechtskraft vorausgeſetzt, ſo iſt

eine Anwendung dieſer Verhältniſſe auch auf das Innere

des Prozeßverfahrens denkbar. Man kann auch bei

manchen Ausſprüchen des Richters, welche nicht zur Ent-

ſcheidung des Rechtsſtreits ſelbſt, ſondern nur zur Vorbe-

reitung dieſer Entſcheidung beſtimmt ſind, z. B. bei pro-

zeßleitenden Decreten, oder bei Beweiserkenntniſſen, die

Unabänderlichkeit, d. h. die Rechtskraft, und zu deren Ab-

wendung eine Berufung auf höhere Inſtanzen annehmen.

 

(d) C. 13. 15 X. de sentent. (2. 27).

|0318 : 300|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Ob dieſes räthlich iſt, und unter welchen Bedingungen es

zugelaſſen werden ſoll, das ſind Fragen, die lediglich in

das Gebiet der Prozeßlehre gehören, und ganz außer

unſrer Aufgabe liegen. Dieſer Gegenſtand iſt hier nur

berührt worden, um den Vorwurf zu verhüten, als ſey

hier von der Rechtskraft gehandelt worden, ohne den

großen Umfang, deſſen dieſes wichtige Rechtsinſtitut empfäng-

lich iſt, vollſtändig in’s Auge zu faſſen.

§. 286.

Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils,

als Grundlage der Rechtskraft. — Arten des Urtheils.

Das Inſtitut der Rechtskraft iſt dazu beſtimmt, dem

Inhalt jedes Urtheils ſeine Wirkſamkeit für alle Zukunft

zu ſichern (§ 281). Dabei wird eine genaue Kenntniß

dieſes Inhalts vorausgeſetzt, welcher die Grundlage der

Rechtskraft ſeyn ſoll.

 

Zu dieſer Kenntniß des Inhalts gehört aber erſtlich

die Angabe der verſchiedenen Möglichkeiten, die bei einem

Urtheil vorkommen können, alſo der möglichen Arten

des Urtheils. Damit werden zugleich die Gränzen mög-

licher Urtheile zu ziehen ſeyn, d. h. es iſt anzugeben, was

nicht Inhalt eines Urtheils ſeyn, alſo nicht der Rechts-

kraft theilhaftig werden kann.

 

Zweitens gehört zu der Kenntniß des Inhalts die An-

gabe der Erkenntnißgründe, aus welchen wir jenen Inhalt

zu ſchöpfen haben.

 

|0319 : 301|

§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.

Es giebt zwei, und nur zwei Arten möglicher Urtheile

in Beziehung auf ihren Inhalt (a):

 

A. Verurtheilung des Beklagten, alſo Erkenntniß

nach dem Antrag des Klägers.

B. Freiſprechung des Beklagten, alſo Erkenntniß nach

dem Antrag des Beklagten.

Bevor dieſe beiden Arten des Urtheils in ihrem eigen-

thümlichen Inhalt genauer dargeſtellt werden, iſt es nöthig,

auf einige angebliche andere Arten einzugehen, aus deren

Annahme die Unvollſtändigkeit der angegebenen Aufzählung

hervorgehen würde. Es gehören dahin: 1. Gemiſchte

Urtheile, 2. Unbeſtimmte Urtheile, 3. Verurtheilung des

Klägers.

 

1. Gemiſchte Urtheile, d. h. die theils Verur-

theilung, theils Freiſprechung enthalten.

Daß dieſe überhaupt vorkommen können, ja daß ſie ſehr

häufig vorkommen, ſoll gewiß nicht in Abrede geſtellt

werden. In der That aber bilden dieſelben keine dritte

Art, ſondern es wird in ſolchen Fällen der Gegenſtand des

Urtheils in mehrere Theile zerlegt, deren jeder durch ein

beſonderes Urtheil (wenngleich in derſelben Formel ver-

einigt) entſchieden wird, ſo daß jedes dieſer einzelnen Ur-

 

(a) L. 1 de re jud. (42. 1).

„Res judicata dicitur, quae

finem controversiarum pronun-

tiatione judicis accipit: quod

vel condemnatione vel absolu-

tione contingit.“ — L. 3 C. de

sentent. (7. 45). „Praeses pro-

vinciae non ignorat, definitivam

sententiam, quae condemna-

tionem vel absolutionem non

continet, pro justa non haberi.“

|0320 : 302|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

theile eine reine Verurtheilung oder eine reine Freiſprechung

enthält.

Beiſpiele: Aus einem Vertrag werden Hundert gefor-

dert, der Richter verurtheilt auf Sechszig und ſpricht den

Beklagten von Vierzig frei. Oder es wird das Eigenthum

eines Grundſtücks eingeklagt, der Richter verurtheilt auf

Zwei Drittheile des Grundſtücks, oder auf abgegränzte

Stücke deſſelben, und ſpricht frei von Einem Drittheil oder

von den übrigen abgegränzten Stücken.

 

Dabei iſt zuvörderſt die Eigenthümlichkeit des Römi-

ſchen Formularprozeſſes wohl zu bemerken. Hatte die

Klage eine certa intentio (b), ſo hatte der Juder nur die

Wahl, entweder auf das Ganze zu verurtheilen, oder

völlig freizuſprechen, ſelbſt wenn er die Klage für einen

Theil des eingeklagten Gegenſtandes als begründet anſah.

Hatte alſo der Kläger mehr gefordert, als ihm gebührte,

ſo verlor er auch das, welches er zu fordern hatte, und

zwar nicht zur Strafe für unbillige Übertreibung, ſondern

lediglich in Folge der ſo gefaßten Formel, die dem Juder

nur eine Alternative ſtellte, kein drittes zuließ (c). Bei

der incerta intentio fiel dieſe Gefahr weg, weil der Umfang

der Verurtheilung ganz in das Ermeſſen des Richters

 

(b) Z. B. Si paret, fundum

Cornelianum Auli Agerii esse,

oder: Si paret, Centum dari

oportere .... condemna, si

non paret, absolve.

(c) In dem: si non paret,

absolve (Note b) war ſowohl

der Fall, wenn der Beklagte Sechs-

zig, als wenn er gar Nichts ſchul-

dig war, enthalten; auf beide Fälle

ging die Anweiſung, zu abſol-

viren. Vgl. oben B. 5 § 215

und Keller § 56.

|0321 : 303|

§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.

geſtellt war. Durch die Aufhebung des Formularprozeſſes

hörte indeſſen dieſe Beſchränkung des Richteramtes mit

allen ihren Folgen auf (d), und es trat für alle Klagen

der natürliche Zuſtand ein, welchen allein wir in unſrem

Prozeßverfahren kennen.

Wenn nun der Kläger einen beſtimmten Gegenſtand

einklagt, z. B. Hundert Thaler, ſo iſt ſtets hinzuzudenken:

Hundert oder weniger, ſo viel, als zu erlangen iſt. Der

Richter iſt dann nur darin gebunden, daß er den einge-

klagten Umfang nicht überſchreiten darf; innerhalb deſſelben

hat er völlig freie Hand. Findet er nun den Anſpruch

auf Sechszig begründet, ſo verurtheilt er auf Sechszig und

ſpricht auf Vierzig frei. Eben ſo, wenn er die auf ein

Grundſtück gerichtete Eigenthumsklage für Zwei Drittheile

oder für beſtimmte Äcker in dieſem Grundſtück gegründet

findet, da auch hier die Klage ſtets ſo gedacht werden muß:

Ich fordere das ganze Grundſtück, oder ſo viel davon irgend

zu erlangen iſt.

 

Für den Erfolg aber iſt es ganz gleichgültig, ob das

Urtheil dieſen letzten Satz ausdrückt, oder nicht, da er ſich

von ſelbſt verſteht, auch wenn er nicht ausgeſprochen wird.

Man kann Dieſes ſo ausdrücken: Jedes Urtheil, worin der

Beklagte auf weniger verurtheilt wird, als der Kläger for-

derte, iſt ſtets ein gemiſchtes Urtheil, indem darin die Frei-

ſprechung von dem übrigen Theil der Forderung ſtillſchwei-

 

(d) § 33 J. de act. (4. 6).

|0322 : 304|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

gend mit enthalten iſt. In keinem Fall alſo kann auf

dieſen übrigen Theil jemals wieder geklagt werden, auch

wenn derſelbe in dem früheren Urtheil nicht namentlich

erwähnt iſt. — Ja man kann ſogar noch weiter gehen,

und jede Verurtheilung überhaupt (auch ohne ſichtbare

Abweichung von dem Antrag des Klägers) als ein gemiſch-

tes Urtheil anſehen, indem dabei ſtets der ſtillſchweigende

Zuſatz hinzu zu denken iſt: Ein Mehreres hat der Kläger

nicht zu fordern.

Dieſe Sätze laſſen ſich in folgende Formel zuſammen-

faſſen: Alles, was das rechtskräftige Urtheil nicht zuge-

ſprochen hat, obgleich es Gegenſtand des Rechtsſtreits

geworden war und daher zugeſprochen werden konnte (d. 1),

iſt als abgeſprochen anzuſehen. Oder mit anderen Worten:

Durch das rechtskräftige Urtheil wird ſtets das ſtreitige

Rechtsverhältniß für immer feſtgeſtellt (e). Aus dieſer

 

(d. 1) Dieſe Beſchränkung des

hier aufgeſtellten Satzes iſt genau

zu beachten, weil nur durch ſie der

Widerſpruch mit den Grundſätzen

von der Concurrenz der Klagen

verhütet werden kann. Wenn da-

her durch die condictio furtiva

auf Entſchädigung wegen des Dieb-

ſtahls geklagt und erkannt worden

iſt, ſo kann noch immer durch die

actio vi bonorum raptorum,

oder durch die actio furti auf

eine Strafe geklagt werden. Denn

in der erſten Klage hatte der Rich-

ter gar nicht die Möglichkeit, auf

Strafe zu erkennen, ſo daß die

Unterlaſſung des Straferkenntniſſes

nicht als ſtillſchweigende Abweiſung

der Strafe angeſehen werden kann.

Vgl. B. 5 § 233. b. § 234. a.

(e) Keller S. 202 S. 584

Note 3. Buchka B. 2 S. 211.

212. — Dieſer ungemein wichtige

und in ſeinen Folgen reichhaltige

Satz ſteht in geſchichtlicher Ver-

bindung mit der vertragsmäßigen

(contractlichen oder quaficontract-

lichen) Unterwerfung beider Parteien

unter das künftige Urtheil. Denkt

man ſich, welches nicht unwahr-

|0323 : 305|

§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.

Regel iſt denn auch für unſer heutiges Recht der praktiſch

wichtige Satz abzuleiten, daß das ſtillſchweigende Übergehen

der omnis causa, ſo wie der Prozeßkoſten, eben ſo zu

betrachten iſt, wie wenn ſie ausdrücklich ausgeſprochen

worden wären (f).

Hält man feſt an dieſen Regeln, ſo vermindert ſich die

Wichtigkeit der oft aufgeworfenen Frage, ob der Kläger,

der nach einer rechtskräftigen Verurtheilung ſeine Befriedi-

gung noch nicht erlangt hat, blos mit der actio judicati

klagen könne, oder auch mit der früheren, bereits abgeur-

theilten Klage. Der Gebrauch der actio judicati macht die

Sache klarer und einfacher, aber auch die frühere Klage iſt

ganz ungefährlich, wenn man ſie nur unter die eben auf-

geſtellten Beſchränkungen ſtellt, ſo daß jeder Anſpruch, der

über die rechtskräftige Verurtheilung hinaus geht, durch

die Einrede der Rechtskraft ſchlechthin ausgeſchloſſen iſt.

Wir müſſen aber hierin noch weiter gehen. Da unſer

heutiger Prozeß weder Klagformeln, noch feſt beſtimmte

Arten und Namen der Klagen kennt, ſondern Alles von

den Behauptungen und Anträgen der Parteien abhängen

läßt, ſo haben wir oft gar kein durchgreifendes Mittel, zu

unterſcheiden, ob die actio judicati, oder vielmehr (unter

 

ſcheinlich iſt, daß in den Stipu-

lationen bei der L. C. ſtets die

Worte vorgekommen ſeyn möchten:

sententiae stari, amplius non

peti (Brisson. de form. VI. 184),

ſo wird die Sache noch anſchau-

licher. Vgl. oben § 258.

(f) Verzugszinſen. L. 13 C. de

usur. (4. 32), L. 4 C. depos.

(4. 34). — Prozeßkoſten. L. 3

C. de fruct. 7. 51.

VI. 20

|0324 : 306|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

den oben aufgeſtellten Beſchränkungen) die frühere Klage

angeſtellt iſt. Dieſe Unterſcheidung wird nur dann, alſo

nur zufällig, mit Sicherheit vorgenommen werden können,

wenn etwa der Kläger ausdrücklich nur aus dem Urtheil

geklagt hat, ohne das urſprüngliche Rechtsverhältniß genau

zu erwähnen, oder wenn umgekehrt die Klage nur auf

dieſes frühere Verhältniß gegründet iſt, nur etwa mit bei-

läufiger Erwähnung des ſchon geſprochenen Urtheils.

Ganz auf ähnliche Weiſe verhält es ſich auch im Fall

einer völligen Freiſprechung. Dieſe geht nämlich nicht

blos auf das Ganze, ſondern auch auf jeden denkbaren

Theil des Ganzen, weil auch auf dieſen der Richter hätte

ſprechen können. Denn da die Klage auf Hundert ſtets

ſo auszulegen iſt: Auf Hundert oder irgend eine geringere

Summe, ſo hat auch das völlig freiſprechende Urtheil den

Sinn, daß der Beklagte weder Hundert, noch irgend eine

geringere Summe zu zahlen ſchuldig iſt.

 

Die hier aufgeſtellten Sätze ſind in der Praxis von

jeher angewendet worden, wie verſchieden man ſie auch

ausgedrückt und zu begründen verſucht haben mag. Seit

der Entdeckung des Gajus hat man verſucht, dieſelben

auf verſchiedene Weiſe an die Inſtitute des altrömiſchen

Prozeſſes anzuknüpfen, dieſen alſo theilweiſe eine künſtliche

Wiederbelebung zuzuwenden. Indem ich mich entſchieden

gegen jedes Verfahren dieſer Art erkläre, muß ich voraus

bemerken, daß dieſer Streit eine rein theoretiſche Natur

hat, indem er blos die geſchichtliche Verknüpfung und die

 

|0325 : 307|

§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.

Bezeichnung von Rechtsſätzen betrifft, deren Inhalt und

Wahrheit außer Streit iſt.

So iſt neuerlich behauptet worden, die Klagenconſum-

tion und die damit verbundene negative Function der Ein-

rede der Rechtskraft gelte noch im heutigen Prozeß (§ 283. b).

Allerdings führten dieſe Rechtsinſtitute auf dieſelben Sätze,

die ſo eben aufgeſtellt worden ſind, und bei einigen der

angeführten Stellen des Römiſchen Rechts (Note f) iſt

auch ohne Zweifel an ſie gedacht worden. Dennoch ſind

jene Inſtitute ſchon im Juſtinianiſchen Recht völlig ver-

ſchwunden, und wir gelangen jetzt zwar zu denſelben prak-

tiſchen Regeln, aber auf einem anderen Wege.

 

Ganz Daſſelbe muß ich von der Behauptung anderer

Schriftſteller ſagen, daß die Novation des altrömiſchen Pro-

zeſſes noch jetzt fortdauere. Das rechtskräftige Urtheil nämlich

(ſagt man) zerſtöre die frühere Klage gänzlich durch Novation

und ſetze die neue judicati actio an die Stelle (g). Was

man damit praktiſch ausrichten will, iſt wahr, aber die

Herleitung und Bezeichnung iſt nicht wahr. Die Novation

im Prozeß, die ſelbſt in den neu entdeckten Schriften der

alten Juriſten ſo ſehr wenig erwähnt wird, war ohne

Zweifel auf diejenigen Fälle beſchränkt, worin die Klagen-

conſumtion ipso jure eintrat; Fälle, die ſchon Jahrhun-

derte vor Juſtinian völlig unmöglich geworden waren, und

zu keiner Zeit poſitiv ausgedehnt worden ſind. Auf welchem

 

(g) Dieſe Frage iſt ſchon oben weiter ausgeführt § 258, beſonders

Note f.

20*

|0326 : 308|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Wege derſelbe praktiſche Zweck im heutigen Prozeß erreicht

wird, iſt ſo eben bereits gezeigt worden.

Faſſen wir die eben erörterte Streitfrage kurz zuſam-

men. Die Römer hatten in ihrem Prozeß einige alte

Rechtsinſtitute, die zu Juſtinian’s Zeit längſt verſchwunden

waren, uns aber in der neueſten Zeit bekannt geworden

ſind. In dieſen Inſtituten war Vieles ganz formell und

hiſtoriſch: Anderes beruhte auf einem allgemeinen und

bleibenden praktiſchen Bedürfniß, das eben durch jene

geſchichtlichen Formen damals ſeine Befriedigung erhalten

ſollte. In den anderthalb tauſend Jahren, ſeit welchen

jene Formen verſchwanden, hat das praktiſche Bedürfniß

ſtets fortgedauert, und man hat ſich auf andere Weiſe zu

helfen geſucht, beſſer oder ſchlechter, mit mehr oder weniger

deutlichem Bewußtſeyn, wie es eben gelingen wollte. Jetzt

werden jene alten Formen entdeckt, und wir finden, daß

die Römer dieſelben gebraucht haben, um praktiſche Bedürf-

niſſe zu befriedigen, die auch wir bisher anerkannt haben.

Zu verwundern iſt daran nicht viel, da ja die Römer bei

der Aufſtellung jener Formen nicht aus einer wunderlichen

Laune zu Werke gingen, ſondern mit ächt praktiſchem Sinn,

wovon ſie bekanntlich ein nicht geringes Maaß hatten.

 

Die neue Entdeckung zeigt uns alſo, daß wir uns das

bleibende Weſen jener alten Rechtsinſtitute unter anderen

Formen und Namen wirklich angeeignet haben, und dieſe

Beſtätigung der Richtigkeit unſres Verfahrens iſt ſehr an-

ziehend und belehrend. Sollen wir aber deshalb die alten

 

|0327 : 309|

§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.

Namen und Formen hervorſuchen, und in dem heutigen

Prozeß von Klagenconſumtion, negativer Function, Nova-

tion ſprechen? Ich muß ein ſolches Verfahren durchaus

für eine falſche, verwirrende Gelehrſamkeit erklären, für

einen Weg, der von der Wahrheit abzuführen geeignet iſt.

Insbeſondere muß dabei noch auf folgende Analogie

des heutigen Rechts mit dem alten Recht aufmerkſam

gemacht werden. Nach der von mir oben aufgeſtellten

Formel kommt Alles darauf an, was und wie viel zum

Gegenſtand des Rechtsſtreits erhoben, und dadurch dem

Urtheil des Richters unterworfen worden iſt (S. 304).

Wir können Das mit einem altrömiſchen Kunſtausdruck ſo

bezeichnen: Es kommt darauf an, was in judicium deducirt

iſt. Dabei iſt nur der Unterſchied zu beachten, daß die

Römer den Umfang des in judicium deductum aus der

formula, und zwar vorzugsweiſe aus der in derſelben ent-

haltenen intentio beurtheilten; wir haben eine ſo feſte, gleich-

förmige Prozeßform nicht, müſſen uns aber an den Inhalt

der Klagſchrift (insbeſondere des Antrags) halten, ſo daß

unſre Beurtheilung dieſes Gegenſtandes auf der einen

Seite freier, auf der anderen Seite aber ſchwankender und

unſicherer iſt, als es die der Römer war. Auch hierin

alſo haben wir die Analogie eines altrömiſchen Rechts-

inſtituts vor uns, deſſen genaues Studium uns ſehr för-

dern und vergleichend belehren, deſſen verſuchte unmittel-

bare Anwendung aber nur irre führen kann.

 

|0328 : 310|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

2. Unbeſtimmte Urtheile.

Im Römiſchen Criminalprozeß wurden jedem Richter

drei Täfelchen eingehändigt, bezeichnet mit C (condemno),

A (absolvo), NL (non liquet). War die Stimmenmehrheit

für non liquet, ſo wurde, nach einer unter unſren Schrift-

ſtellern ſeit langer Zeit verbreiteten Meinung, der Ange-

klagte nicht für ſchuldlos erklärt, aber er blieb ohne Strafe;

es war nach dieſer Meinung ähnlich unſrer Freiſprechung

von der Inſtanz. Man könnte glauben, ein ähnliches nicht

entſcheidendes Urtheil wäre auch im Civilprozeß möglich

geweſen.

 

In der That aber verhielt es ſich auch ſchon im Criminal-

prozeß ganz anders. Wenn die meiſten Stimmen auf non

liquet gingen, ſo lautetete der Ausſpruch des vorſitzenden

Prätors nicht: Non liquet, wodurch die Sache auf unbe-

ſtimmte Zeit, vielleicht für immer, unentſchieden geblieben

wäre, ſondern vielmehr: Amplius, welches die Folge hatte,

daß die Verhandlung an irgend einem anderen nahen Tage

fortgeſetzt wurde, bis die Richter glaubten, ein ſicheres

Urtheil ausſprechen zu können. Der Ausgang jedes einge-

leiteten Criminalprozeſſes war alſo ſtets Verurtheilung oder

Freiſprechung, nie Unentſchiedenheit (h).

 

Eben ſo war aber auch im Civilprozeß zu allen Zeiten

kein anderer Ausgang möglich, als durch Verurtheilung

 

(h) Dieſer Gegenſtand iſt aus-

führlich und gründlich behandelt

von Geib Geſchichte des römiſchen

Criminalprozeſſes. Leipzig 1842.

S. 568—583.

|0329 : 311|

§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.

oder Freiſprechung, worunter auch die gemiſchten Urtheile

mit begriffen ſind; ein Urtheil mit non liquet war nie

möglich.

Die regelmäßige Anweiſung in der Formel: Si paret,

condemna, si non paret, absolve, ließ für eine dritte Art

von Urtheilen keinen Raum (Note b), und das zweite Glied

der Alternative: si non paret, umfaßte nicht nur die Fälle,

worin der Juder die beſtimmte Überzeugung hatte, der Be-

klagte ſey nicht verpflichtet, ſondern auch die, worin es ihm

an aller Überzeugung nach beiden Seiten hin gänzlich

fehlte. Derſelbe Satz, deſſen Anerkennung ſo eben aus den

Römiſchen Formeln nachgewieſen worden iſt, wird von dem

Standpunkt unſres wiſſenſchaftlich ausgebildeten Prozeß-

rechts ſo ausgedrückt: Nach der Regel über die Beweislaft

darf und muß der Richter annehmen, die nicht erwieſene

Klage ſey nicht begründet. Es liegt hierin nur eine andere

Auffaſſung und Bezeichnung deſſelben Satzes.

 

Es ſind nur noch einige Stellen zu erklären, die auf

die Möglichkeit eines ſolchen unentſcheidenden Urtheils gedeu-

tet werden könnten.

 

Gellius erzählt, er ſelbſt ſey einmal Juder geweſen,

als ein ſehr rechtſchaffener Mann gegen einen Menſchen

von verdächtigem Charakter ein Darlehn einklagte, ohne

Beweiſe führen zu können. Durch einen Eid: mihi non

liquere, machte er ſich frei von der Verlegenheit, gegen ſeine

perſönliche Meinung urtheilen zu müſſen (i). Wollte man

 

(i) Gellius XIV. 2: „et propterea juravi, mihi non liquere,

atque ita judicatu illo solutus sum.“

|0330 : 312|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Das ſo verſtehen, als ſey nun das Urtheil non liquet ge-

ſprochen worden, ſo würde die oben aufgeſtellte Behaup-

tung widerlegt ſeyn. Der Erfolg war aber nur der, daß

dem Gellius geſtattet wurde, perſönlich aus dem aufer-

legten Judicium auszuſcheiden, und daß nun ein anderer

Juder an ſeine Stelle trat (k).

Eben ſo kommt es vor, daß bei einem Richtercollegium

Einer ſchwört, sibi non liquere, während die Übrigen ein-

verſtanden ſind. Das Urtheil derſelben iſt rechtsgültig, da

ſie ja ſogar, wenn Jener ſeine entgegengeſetzte Stimme

wirklich abgegeben hätte, durch Stimmenmehrheit entſchieden

haben würden (l).

 

Wenn ein Schiedsrichter mit Beſchränkung auf beſtimmte

Zeit gegeben iſt, und ſchwört, sibi nondum liquere, ſo muß

ihm die Friſt verlängert werden (m). Auch in dieſem Fall

alſo kommt ein Urtheil non liquet nicht vor.

 

3. Verurtheilung des Klägers.

Dieſer, in der oben gegebenen Aufzählung möglicher

Urtheile nicht vorkommende Fall, kann hier einſtweilen nur

der Vollſtändigkeit wegen mit aufgeführt werden. Die

 

(k) Auf gleiche Weiſe wurde

ein anderer Judex ernannt, wenn

der zuerſt ernannte vor dem Urtheil

ſtarb oder wahnſinnig wurde: das-

ſelbe Judicium dauerte fort, und

nur die Perſon wurde verändert.

L. 32. 46. 60 de jud. (5. 1).

(l) L. 36 de re jud. (42. 1).

Auch hier ſcheidet nur die einzelne

Perſon aus, das Urtheil nimmt die

Formel: Non liquet, nicht in

ſich auf.

(m) L. 13 § 4 de receptis (4. 8).

|0331 : 313|

§. 287. Inhalt. Verurtheilung.

Beurtheilung deſſelben iſt erſt in Verbindung mit den frei-

ſprechenden Urtheilen möglich (§ 288. 289).

§. 287.

Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils

als Grundlage der Rechtskraft. — Fall der Verurthei-

lung des Beklagten.

Nach dieſer vorläufigen Beſeitigung anderer denkbarer

Arten des Inhalts eines Urtheils kehre ich jetzt zur genaue-

ren Betrachtung der beiden aufgeſtellten Fälle (§ 286) zu-

rück, welche als:

Verurtheilung des Beklagten, und

Freiſprechung des Beklagten

 

bezeichnet worden ſind, um für jeden derſelben beſonders

feſtzuſtellen, was als wahrer Inhalt deſſelben anzuſehen iſt.

 

Bei der Verurtheilung des Beklagten iſt es zu-

vörderſt nöthig, auf die beiden Hauptarten der Klagen

zurück zu gehen: perſönliche Klagen und Klagen in rem

(§ 206. 207).

 

Die Verurtheilung bei einer perſönlichen Klage iſt ſehr

einfacher Art: ſie geht ſtets auf eine beſtimmte Handlung

oder Unterlaſſung, die dem Beklagten als nothwendig auf-

erlegt wird, übereinſtimmend mit dem Inhalt der Obli-

gation, die den Grund der angeſtellten Klage enthält.

 

Die Klagen in rem ſind ſtets gegründet auf ein Ver-

hältniß des Sachenrechts, Erbrechts, Familienrechts, welches

der Kläger ſich zuſchreibt. Die Verurtheilung enthält

 

|0332 : 314|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

zunächſt die Anerkennung dieſes beſtrittenen Rechtsverhält-

niſſes in der Perſon des Klägers; daneben aber, und nur

als abgeleitete Folge davon, die dem Beklagten auferlegte

Nothwendigkeit einer Handlung oder Unterlaſſung.

Das Rechtsverhältniß, welches auf dieſe Weiſe in Folge

einer Klage in rem anerkannt wird, iſt gewöhnlich ein

ausſchließendes, welches nur der einen oder nur der anderen

Partei allein zukommen kann, vielleicht auch keiner von beiden.

Die Verurtheilung alſo, die in der Perſon des Klägers

das Recht anerkennt, ſchließt eben daher auch den Satz in

ſich, daß dieſes Recht dem Beklagten nicht zuſtehe.

Das Urtheil braucht dieſen zweiten Satz nicht auszuſprechen,

ſpricht ihn auch gewöhnlich nicht aus; es iſt aber ſtets ſo

anzuſehen, als ob es ihn ausſpräche (a).

 

Endlich iſt für beide Klaſſen der Klagen die gemein-

ſame, ſchon oben aufgeſtellte Bemerkung in Erinnerung zu

bringen, daß in gewiſſem Sinn jede Verurtheilung zugleich

ein gemiſchtes Erkenntniß iſt, indem ſtets der Ausſpruch

ſtillſchweigend hinzugedacht werden muß: mehr, als hier

ausgeſprochen worden, liege in dem Recht des Klägers, in

der Verpflichtung des Beklagten, nicht (§ 286).

 

(a) L. 15 de exc. r. j. (44. 2)

„quia eo ipso, quo meam esse

pronuntiatum est, ex diverso

pronuntiatum videtur, tuam non

esse.“ — L. 30 § 1 eod. „Re-

spondi, si de proprietate fundi

litigatur, et secundum actorem

pronuntiatum fuisse diceremus,

petenti ei, qui in priore judicio

victus est, obstaturam rei ju-

dicatae exceptionem: quoniam

de ejus quoque jure quaesitum

videtur, cum actor petitionem

implet.“ — L. 40 § 2 de proc.

(3. 3) „nam cum judicatur, rem

meam esse, simul judicatur,

illius non esse.“

|0333 : 315|

§. 287. Inhalt. Verurtheilung.

Die hier aufgeſtellten Sätze über den wahren Inhalt

eines verurtheilenden Erkenntniſſes ſind aus der allgemei-

nen Betrachtung des Weſens eines ſolchen Urtheils abge-

leitet, und haben daher keine geſchichtliche Natur. Aus

dem eigenthümlichen Entwicklungsgang des Römiſchen

Rechts aber können Zweifel hergenommen werden, ob es

ſich ſo in der That zu allen Zeiten und bei allen Arten

der Klagen verhalten habe.

 

Zu einem ſolchen Zweifel veranlaßt uns die ſehr eigen-

thümliche, während der ganzen Zeit des Formularprozeſſes

geltende Regel, nach welcher alle Condemnationen nur auf

Zahlung einer Geldſumme gerichtet werden konnten (b).

Hiernach ſcheint es, daß die Verurtheilung auch bei den

Klagen in rem, gerade ſo, wie bei den perſönlichen Klagen,

nur eine Leiſtung des Beklagten ausgeſprochen, nicht ein

Recht des Klägers anerkannt hätte.

 

Bevor die Löſung dieſes Zweifels verſucht wird, ſind

zuerſt die Gränzen anzugeben, innerhalb welcher allein der-

ſelbe geltend gemacht werden kann.

 

Im älteſten Recht, d. h. vor der Einführung der for-

mulae, galt jene Eigenthümlichkeil nicht, und eben ſo hat

ſie völlig aufgehört und iſt Alles in das natürliche Verhält-

niß zurückgekehrt ſeit der Abſchaffung des Formularprozeſſes,

indem nunmehr wieder, ſo wie in der älteſten Zeit, auf die

Herausgabe des ſtreitigen Gegenſtandes ſelbſt, nicht auf

 

(b) Gajus IV. § 48.

|0334 : 316|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Zahlung einer Geldſumme, geſprochen, alſo das ſtreitige

Recht unmittelbar dem Kläger zuerkannt wird (c).

Ferner iſt jenem Zweifel durchaus nicht die Bedeutung

zu geben, als ob zur Zeit des Formularprozeſſes jemals

der ſcharfe Gegenſatz der Klagen in rem und in personam

verkannt oder verwiſcht worden wäre; vielmehr wurde die-

ſer Gegenſatz auf das Beſtimmteſte in der intentio ausge-

drückt durch die Faſſung: rem actoris esse, oder aber:

reum dare oportere (d). — Ja ſogar iſt es durch viele

unzweifelhafte Stellen aus der Zeit des Formularprozeſſes

unmittelbar gewiß, daß wirklich dem Kläger das Daſeyn

eines Rechts in ſeiner Perſon zuerkannt wurde (e). Und

 

(c) § 2 J. de off. jud. (4. 17)

„Et si in rem actum sit …

sive contra possessorem (judi-

caverit), jubere ei debet, ut rem

ipsam restituat cum fructibus.“

— § 32 J. de act. (4. 6), L. 17.

C. de fideic. (7. 4), L. 14 C. de

sentent. (7. 45).

(d) Gajus IV. § 41. 86. 87.

(e) L. 8 § 4 si serv. (8. 5)

„per sententiam non debet ser-

vitus constitui, sed quae est de-

clarari.“ — L. 35 § 1 de rei

vind. (6. 1) „Ubi autem alienum

fundum petii, et judex sententia

declaravit meum esse.“ — L. 58

eod. „Sed si … de ipso homine

secundum petitorem judicium

factum esset, non debere ob

eam rem judicem, quod homi-

nem non traderet, litem aesti-

mare.“ — L. 9 pr. § 1 de exc.

r. j. (44. 2) „sive fuit judica-

tum, hereditatem meam esse,“

und nachher: „re secundum pe-

titorem judicata … replicare

eum oportere, de re secundum

se judicata.“ — L. 3 § 3 de re-

bus eorum (27. 9) „si fundus pe-

titus sit, qui pupilli fuit, et con-

tra pupillum pronuntiatum, tu-

toresque restituerunt.“ — L. 11

§ 3 de jurej. (12. 2) „Si … ju-

ravero … id consequi debeo,

quod haberem, si secundum me

de hereditate pronuntiatum es-

set.“ — L. 6 § 2 de confessis

(42. 2) „Sed et si … confessus,

perinde habearis, atque si do-

minii mei fundum esse pronun-

tiatum esset.“ — Endlich auch

L. 15, L. 30 § 1 eod. — L. 40

§ 2 de proc. (ſ. o. Note a).

|0335 : 317|

§. 287. Inhalt. Verurtheilung.

ſelbſt abgeſehen von dieſen einzelnen Zeugniſſen, geht die-

ſelbe Wahrheit aus dem ganzen Zuſammenhang der Ein-

rede der Rechtskraft, ſo wie derſelbe unten dargeſtellt

werden wird, mit voller Gewißheit hervor.

Endlich iſt noch zu erwägen, daß es für die Klagen

aus Eigenthum und Erbrecht drei verſchiedene Formen

gab, die nach Umſtänden eintreten konnten: Eine legis actio

vor den Centumvirn, eine Sponſionsklage, und die arbi-

traria actio, die allein im neueſten Recht übrig geblieben

iſt (f). Auf die beiden erſten Formen bezieht ſich der

Zweifel gar nicht. Denn die erſte Form ſtand ganz unter

den Regeln des älteſten Rechts, nicht des Formularprozeſſes.

Die zweite Form war gerade darauf berechnet, daß über

das Daſeyn des Rechts, und über dieſes allein, zunächſt

geurtheilt werden ſollte (g). Der ganze Zweifel beſchränkt

ſich alſo auf den Fall der arbitraria actio; d. h. der peti-

toria formula, und er nimmt hier nunmehr folgende Geſtalt

an, in welcher ſich allerdings das Intereſſe der ganzen

Frage ſehr vermindert.

 

Wir wiſſen ganz gewiß, daß das Endurtheil nur auf

eine Geldzahlung gerichtet war, nicht auf die ſtreitige

 

(f) Gajus IV. § 91—95.

(g) Gajus IV. §. 93. 94. Es

wurde folgende Sponſion geſchloſ-

ſen: Si homo, quo de agitur,

ex jure quiritium meus est,

sestertios XXV nummos dare

spondes? Verurtheilte nun der

Judex auf dieſe Summe, ſo hatte

Das nicht die Folge, daß die Summe

gezahlt werden mußte, ſondern daß

die Bedingung der Sponſion (das

Daſeyn des Eigenthums)

rechtskräftig feſtgeſtellt war. Man

drückte Dieſes ſo aus: Nec enim

poenalis est (sponsio), sed

praejudicialis.

|0336 : 318|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Sache ſelbſt. Wir wiſſen eben ſo gewiß, daß über das

Daſeyn des Eigenthums rechtskräftig entſchieden wurde,

mit ſicherer Wirkung für alle Zukunft. Wie iſt nun dieſer

ſcheinbare Widerſpruch zu löſen? In welcher Form konnte

neben jenem auf Geld beſchränkten Inhalt des Urtheils

dennoch für die rechtskräftige Anerkennung des Eigenthums

geſorgt werden?

Der vollſtändige Verlauf einer ſolchen arbitraria actio

war folgender (h). Wenn ſich der Judex von dem Eigen-

thum des Klägers überzeugt hatte, ſo ſprach er zunächſt die

gewonnene Überzeugung von dem Recht des Klägers aus,

und forderte den Beklagten auf, dem Anſpruch des Klägers

freiwillig Genüge zu leiſten, d. h. die ſtreitige Sache her-

auszugeben. Gehorchte der Beklagte dieſem jussus oder

arbitratus, ſo erfolgte eine Freiſprechung; gehorchte er nicht,

ſo wurde er verurtheilt, aber nicht auf die Sache ſelbſt,

ſondern auf eine Geldſumme, mit deren Beſtimmung beſon-

dere Gefahren für den Beklagten verbunden waren.

 

Es ging alſo dem Befehl zur Reſtitution vorher ein

Ausſpruch des Judex, welcher das Daſeyn des vom Kläger

behaupteten Rechts ausdrücklich anerkannte. Dieſer Aus-

ſpruch führte den techniſchen Namen Pronuntiatio, und auf

ihn gründete ſich für alle Zukunft die Wirkung der Rechts-

kraft, alſo insbeſondere auch der Anſpruch des Klägers,

in jedem künftigen Rechtsſtreit eine exceptio rei judicatae

 

(h) Dieſer Gegenſtand iſt oben ausführlich behandelt worden B. 5

§ 221—223.

|0337 : 319|

§. 287. Inhalt. Verurtheilung.

geltend zu machen (i). Daß dieſes ſich ſo verhielt, iſt jetzt

unmittelbar gewiß geworden durch die neuerlich bekannt

gemachten, von dem Anteceſſor Stephanus herrührenden

griechiſchen Scholien zu den Digeſten, worin an fünf ver-

ſchiedenen Stellen der lateiniſche Kunſtausdruck Pronuntia-

tio hervorgehoben, und in der hier angegebenen Weiſe aus-

führlich erklärt wird (k). Damit ſtimmt zugleich eine be-

deutende Zahl von Digeſtenſtellen überein, die ganz in dem-

ſelben Sinn die Pronuntiatio und das pronuntiare erwäh-

nen (l). Auf den Grund dieſer Stellen war auch ſchon

vor der erwähnten neuen Entdeckung von mehreren Schrift-

ſtellern das wahre Verhältniß der Sache im Ganzen rich-

tig erkannt und dargeſtellt worden (m). Ja ſelbſt wenn

eine ſolche förmliche Handlung, wie ſie hier unter dem

Namen der Pronuntiatio anerkannt worden iſt, nicht vor-

gekommen wäre, ſo hätte dennoch aus dem Urtheil eine

Einrede der Rechtskraft abgeleitet werden können, wenn nur

aus dem Inhalt des Urtheils unzweifelhaft hervorging, daß

(i) Ob dieſe Pronuntiatio ge-

wöhnlich, oder auch nur zuweilen,

den Namen einer sententia führte,

kann dabei gleichgültig ſeyn. Auf

den Zweifel über dieſen Punkt habe

ich früher mehr Gewicht gelegt,

als ihm gebührt.

(k) Zachariä v. Lingenthal

von der Pronuntiatio, Zeitſchrift

f. geſchichtl. Rechtswiſſenſchaft B. 14

S. 95—126.

(l) Vgl. oben Note a. und e.

Mehrere andere Stellen dieſer Art

ſind angeführt bei Zachariä

S. 101. 102.

(m) Keller § 27—31. Wet-

zell Vindicationsprozeß S. 107

bis 110. Dieſer letzte Schriftſteller

bezeichnet zu ſcharf den vorläufigen

Ausſpruch des Judex als ein eigent-

liches Präjudicium, und identificirt

dadurch zu ſehr den Sponſions-

prozeß mit der petitoria formula.

Die Verſchiedenheit liegt aber hier

mehr in der Form und dem Aus-

druck, als in dem Weſen der Sache.

|0338 : 320|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

dabei die Anerkennung des Eigenthums als Grund und

Bedingung der Entſcheidung wirklich vorausgeſetzt war.

Dieſe Behauptung kann jedoch hier noch nicht gerechtfer-

tigt werden, da ſie mit Demjenigen zuſammenhängt, welches

unten über die Rechtskraft der Gründe geſagt werden wird.

Durch dieſe Bemerkung ſoll darauf aufmerkſam gemacht

werden, daß in der angegebenen Wirkſamkeit der Pronun-

tiatio nicht etwa eine zufällige und willkürliche Einrichtung

lag, ſondern daß ſie in einem inneren Zuſammenhang ſtand

mit der allgemeinen Auffaſſung der Rechtskraft überhaupt.

Die Pronuntiatio diente dazu, daß das Daſeyn jenes

Entſcheidungsgrundes nicht überſehen oder in Zweifel ge-

zogen werden konnte.

§. 288.

Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils

als Gundlage der Rechtskraft. — Fall der Freiſprechung

des Beklagten.

Von den beiden Fällen, die in dem Inhalt eines rechts-

kräftigen Urtheils vorkommen können (§ 287), iſt jetzt noch

der zweite, der Fall der Freiſprechung des Beklagten,

in ſeiner eigenthümlichen Bedeutung und Wirkung feſtzu-

ſtellen.

 

Die Freiſprechung des Beklagten, völlig gleichbedeutend

mit der Abweiſung des Klägers, hat einen blos vernei-

nenden Inhalt; die Anerkennung eines dem Beklagten zu-

ſtehenden Rechts kann darin nicht enthalten ſeyn. Dieſer

 

|0339 : 321|

§. 288. Inhalt. Freiſprechung.

wichtige und durchgreifende Unterſchied der Freiſprechung

von der Verurtheilung läßt ſich ſo ausdrücken: Aus der

Verurtheilung kann der Kläger für die Zukunft, wie er es

bedarf, ſowohl eine Klage, als eine Exception ableiten, aus

der Freiſprechung an ſich entſpringt für den Beklagten nur

eine Exception, keine Klage.

Der wahre Grund dieſer beſchränkteren Wirkung der

Freiſprechung liegt in der allgemeinen Natur des Rechts-

ſtreits überhaupt. Jeder Kläger fordert die Hülfe des

Richteramtes zur Abänderung des factiſch beſtehenden Zu-

ſtandes, weil dieſer mit dem wahren Recht nicht überein-

ſtimme. Der Richter kann dieſe Hülfe nach Befinden ge-

währen oder verweigern, für eine andere Thätigkeit, ins-

beſondere für eine ſolche, die zum Nachtheil des Klägers

gereichen könnte, liegt in einer angeſtellten Klage kein

Beweggrund.

 

Eine Beſtätigung der Wahrheit des aufgeſtellten Unter-

ſchieds enthält auch die Faſſung der Römiſchen formula:

Si paret, condemna, si non paret, absolve. In dem con-

demna liegt die Nothwendigkeit eines poſitiven Handelns

von Seiten des Beklagten, in dem absolve liegt die bloße

Verneinung oder Verweigerung jeder Hülfe; ein Drittes

aber iſt dem Judex auszuſprechen weder geboten, noch ver-

ſtattet.

 

Die Anwendung der aufgeſtellten Regel auf perſönliche

Klagen erregt keine Art von Bedenken; der Kläger behaup-

tet die Nothwendigkeit einer beſtimmten Handlung von

 

VI. 21

|0340 : 322|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Seiten des Beklagten, der Richter ſpricht aus, dieſe Noth-

wendigkeit ſey nicht vorhanden.

Etwas anders ſteht die Sache bei den Klagen in rem.

In den häufigſten und wichtigſten Fällen derſelben, bei

Eigenthum und Erbrecht, wird über das Daſeyn eines

Rechts von ausſchließender Natur geſtritten, ſo daß das

Daſeyn deſſelben in der einen Partei das Nichtdaſeyn in

der andern nothwendig in ſich ſchließt (§ 287).

 

Indem nun der Kläger behauptet, daß ein ſolches Recht

in ſeiner Perſon vorhanden ſey, kann der Beklagte dieſe

Behauptung auf verſchiedene Weiſe zu beſtreiten ſuchen.

Er kann ſich darauf beſchränken, die Beweiſe des Klägers

zu entkräften; er kann aber auch das Daſeyn des beſtrit-

tenen Rechts in ſeiner eigenen Perſon behaupten und be-

weiſen, wodurch dann das Recht des Klägers nach der

aufgeſtellten Regel von ſelbſt widerlegt iſt.

 

Wenn nun der Beklagte dieſen letzten Weg einſchlägt

und von ſeinem Recht den Richter überzeugt, ſo könnte

man glauben, das Urtheil müſſe auf Anerkennung des

Rechts des Beklagten gehen, inſofern alſo auf Verurthei-

lung des Klägers, ſo daß der Beklagte aus dieſem Urtheil

an ſich für die Folge ſowohl eine Klage, als eine Exception

unmittelbar ableiten könnte. In der That aber verhält es

ſich nicht alſo; vielmehr beſchränkt ſich auch hier der

Ausſpruch auf die bloße Abweiſung des Klägers, ſo daß

durchaus kein Unterſchied in dem Ausſpruch des Richters

eintritt, der Beklagte mag gewinnen, weil er ſelbſt ſein

 

|0341 : 323|

§. 288. Inhalt. Freiſprechung.

Eigenthum bewieſen, oder weil blos der Kläger das ſeinige

nicht bewieſen hat.

Die Wahrheit dieſer Behauptung folgt aus den ſo eben

für alle Klagen aufgeſtellten allgemeinen Gründen, insbe-

ſondere aus der ausſchließenden Alternative in der Römi-

ſchen formula: Si paret, condemna, si non paret, absolve,

die völlig gleichlautend war bei Klagen in rem, wie bei

perſönlichen Klagen.

 

Eine unmittelbare Beſtätigung dieſes Satzes liegt aber

auch in einer wichtigen Stelle des Gajus (a), deren In-

halt und Gedankengang ich hier darlegen will, um den

entſcheidenden Theil derſelben für den angegebenen Zweck

benutzen zu können.

 

Zwiſchen mir und dir (ſagt Gajus) iſt Streit über

eine Erbſchaft; jeder von uns behauptet, allein Erbe zu

ſeyn, und jeder beſitzt einige Sachen aus der Erbſchaft.

Daraus folgt, daß ich gegen dich die Erbſchaftsklage an-

ſtellen kann, eben ſo aber auch du gegen mich. Wenn

nun zuerſt ich gegen dich geklagt habe, und ein rechtskräf-

tiges Urtheil geſprochen iſt, dann aber du gegen mich

klagen willſt: ſo fragt es ſich, ob Dieſes zuläſſig iſt, oder

vielmehr durch die Einrede der Rechtskraft verhindert wird.

Alles kommt auf den Inhalt des geſprochenen Urtheils an;

biſt darin du verurtheilt, ſo wirſt du jetzt durch die Ein-

rede ausgeſchloſſen, weil aus dem mir zuerkannten Erbrecht

 

(a) L. 15 de exc. r. j. (44. 2). (Gajus Lib. 30 ad ed. prov.). —

Vgl. über dieſe Stelle Keller S. 224.

21*

|0342 : 324|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

nothwendig folgt, daß du nicht Erbe biſt (§ 287. a).

Wenn dagegen das geſprochene Urtheil mich abgewieſen

hat, ſo hindert dich dieſes Urtheil an ſich nicht, die Klage

anzuſtellen, in deren Entſcheidung der Richter völlig freie

Hand hat; er kann mich verurtheilen, oder dich abweiſen,

da es möglich iſt, daß die Erbſchaft weder mir, noch dir

gehört. — Der letzte Theil der Stelle, auf den hier Alles

ankommt, lautet wörtlich alſo:

Interest, utrum meam esse hereditatem pronuntiatum

sit, an contra. Si meam esse, nocebit tibi rei judi-

catae exceptio: quia eo ipso, quod meam esse pro-

nuntiatum est, ex diverso pronuntiatum videtur

tuam non esse. Si vero meam non esse, nihil de

tuo jure judicatum intelligitur, quic potest nec mea

hereditas esse, nec tua.

Hier werden augenſcheinlich nur zwei Fälle möglicher

Urtheilsfaſſung angenommen: eine Verurtheilung, und eine

Freiſprechung, die an ſich das Recht des Beklagten ganz

unentſchieden läßt, ſo daß dieſer zweite Ausſpruch als

ſolcher bei einem künftigen Streit über dieſes Recht des

Beklagten keinen Einfluß hat. Der Verfaſſer der Stelle

ſetzt alſo unzweifelhaft voraus, daß der Ausſpruch einer

Anerkennung des Erbrechts in der Perſon des Beklagten

unmöglich ſey, indem er offenbar die Abſicht hat, die Fälle

vollſtändig aufzuzählen, die bei dem Ausſpruch über den zuerſt

geführten Rechtsſtreit möglicherweiſe vorkommen konnten.

 

|0343 : 325|

§. 288. Inhalt. Freiſprechung.

Eine indirecte Beſtätigung der hier aufgeſtellten Regel

liegt noch in der Entſcheidung eines verwandten Falles,

die man auf den erſten Blick geneigt ſeyn könnte, als

Widerlegung derſelben anzuſehen. Die Entſcheidung eines

Rechtsſtreits durch einen zugeſchobenen Eid hat großen-

theils ähnliche Wirkungen, wie die Entſcheidung durch

Urtheil, weshalb auch nicht ſelten beide Fälle der Entſchei-

dung als gleichartig zuſammengeſtellt werden (b). Schwört

nun der Kläger den ihm zugeſchobenen Eid dahin ab, daß

er Erbe (oder Eigenthümer) ſey, ſo erwirbt er für die Zu-

kunft Klage und Einrede: ſchwört der Beklagte, der Kläger

ſei nicht Erbe oder nicht Eigenthümer, ſo entſteht aus

dieſem Eid eine bloße Einrede (c). Soweit ſteht der Fall

des Eides dem des Urtheils völlig gleich.

 

Bei dem Eid aber kann auch noch ein anderer Fall

eintreten. Die Faſſung deſſelben ſteht in der Willkühr

deſſen, der den Eid zuſchiebt. Daher kann der Kläger den

Eid auch ſo zuſchieben, daß der Beklagte ſchwöre, er (der

Beklagte) ſey Eigenthümer. Wird dieſer Eid abge-

ſchworen, ſo erwirbt daraus der Beklagte für die Zukunft

nicht nur eine Einrede, ſondern auch eine Klage, welches

ausdrücklich von Ulpian bezeugt wird. Er ſpricht zuerſt

von dem ſo eben ſchon erwähnten Fall, wenn der Beklagte

 

(b) L. 11 § 3 de jurej. (12. 2).

„Si jucavero . . hereditatem

meam esse, id consequi debeo

quod haberem, si secundum

me de hereditate pronuntiatum

esset.“

(c) L. 11 § 3 cit., L. 7 § 7 de

public. (6. 2)

|0344 : 326|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſchwört, der Kläger ſey nicht Eigenthümer, und ſagt, aus

dieſem Eid entſtehe nur eine Einrede, keine Klage (d):

Sed si possessori fuerit jusjurandum delatum, jura-

veritque rem petitoris non esse .... exceptione juris-

jurandi utetur … actionem non habebit … non enim

rem suam esse juravit, sed ejus non esse.

Dann geht er unmittelbar zur Betrachtung des von

mir zuletzt erwähnten Falles über, wenn der Beklagte

ſchwört, er ſelbſt ſey Eigenthümer, und ſpricht für

dieſen Fall dem Schwörenden auch ſelbſt eine Klage zu.

 

Proinde si, cum possideret, deferente petitore rem

suam esse (e) juravit, consequenter dicemus …

actionem in factum ei dandam.

 

Dieſes iſt nun gerade der Fall, welcher nach der oben

aufgeſtellten Behauptung in dem Ausſpruch des richter-

lichen Urtheils gar nicht vorkommen darf, ſo daß in

Folge eines ſolchen Ausſpruchs der Beklagte niemals eine

Klage erwerben kann. Meine Behauptung geht alſo dahin,

daß hierin beide Arten der Beendigung eines Rechts-

ſtreits (Eid und Urtheil) völlig verſchieden ſind.

 

Es iſt aber auch in der That nicht ſchwer, den

weſentlichen und nothwendigen Grund des Unterſchieds zu

entdecken. Der Eid hat die Natur eines Vergleichs (f),

 

(d) L. 11 pr. § 1 de jurej.

(12. 2).

(e) Die Florentina lieſt: rem

suam juravit, ohne esse, wo-

durch der Satz zwar keinen an-

deren Sinn bekommt, aber hart

wird. Das esse hat nicht blos

Haloander, ſondern auch die Vul-

gata, welches Gebauer nicht be-

merkt.

(f) L. 2 de jurej. (12. 2).

|0345 : 327|

§. 288. Inhalt. Freiſprechung.

indem es ganz in der Willkühr des Zuſchiebenden ſteht,

ob und in welcher Formel er die Entſcheidung des Streits

dem Gewiſſen ſeines Gegners überlaſſen will. Läßt er alſo

dieſen ſchwören, der Beklagte ſey Eigenthümer, ſo

muß er ſich die ausgedehnteren Folgen des ſo gefaßten

Eides gefallen laſſen, weil er durch ſeinen freien Willen

dieſen Ausgang herbeigeführt hat.

Gerade Dieſes aber verhält ſich bei dem richterlichen

Urtheil ganz anders. Hier beruht Nichts auf der Willkühr

der Parteien, Alles auf feſt beſtimmten Rechtsregeln. Es

iſt alſo ganz folgerecht, daß es dem Richter nicht verſtattet

iſt, dem freiſprechenden Urtheile die oben erwähnte größere

Ausdehnung zu geben, während der Kläger ſich dieſer

Ausdehnung durch ſeinen freien Willen wohl unterwerfen

kann (g).

 

Aus der hier angeſtellten Unterſuchung geht hervor, daß

der Inhalt des Urtheils nur zwei Gegenſtände haben kann:

die Verurtheilung des Beklagten, oder die Freiſprechung

des Beklagten; daß alſo die Verurtheilung des

Klägers darin nicht vorkommen kann. Dieſer Satz iſt

als Regel hier dargeſtellt und gegen mögliche Zweifel in

Schutz genommen worden. Es werden jedoch Ausnahmen

 

(g) Es wird indeſſen weiter

unten (§ 290. 291) gezeigt wer-

den, daß die hier nachgewieſene

Unmöglichkeit einer Verurtheilung

des Klägers weniger ſtrenge prak-

tiſche Folgen hat, als man auf

den erſten Blick anzunehmen ge-

neigt ſeyn möchte.

|0346 : 328|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

von dieſer Regel behauptet, und es ſoll nunmehr darge-

than werden, daß dieſe angeblichen Ausnahmen auf bloßem

Schein beruhen (h).

§. 289.

Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils

als Grundlage der Rechtskraft. — Nicht: Verurtheilung

des Klägers.

Es werden zweierlei Fälle angegeben, in welchen aus-

nahmsweiſe auch der Kläger ſoll verurtheilt werden können:

die duplex actio und die Widerklage. Beide Fälle ſind

ſowohl verwandt, als verſchieden: beide aber kommen darin

überein, daß jede Partei wirklich Kläger und zugleich auch

Beklagter iſt, nur in verſchiedenen Beziehungen. Wird

alſo der urſprüngliche Kläger verurtheilt, ſo widerfährt

ihm Dieſes nicht in ſeiner Eigenſchaft als Kläger, ſondern

in der eines Beklagten. In der That alſo müſſen wir in

dieſen Fällen nur Anwendungen und Beſtätigungen der

aufgeſtellten Regel erkennen, nicht Ausnahmen derſelben.

 

I. Duplex actio.

Von dieſer Art der Klagen iſt ſchon oben gehandelt

worden (§ 225). Die Eigenthümlichkeit derſelben liegt

 

(h) Die Verurtheilung des

Klägers in die Prozeßkoſten hat

keinen Zweifel, kann aber unter

dieſe Ausnahmen nicht gerechnet

werden. Dieſe beruht auf den be-

ſonderen, aus dem Prozeß ent-

ſpringenden Verpflichtungen; wir

haben hier blos mit der Einwir-

kung des Urtheils auf die mate-

riellen Rechtsverhältniſſe der Par-

teien zu thun, wie dieſelben unab-

hängig von dem Prozeß beſtanden.

|0347 : 329|

§. 289. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?

darin, daß die erwähnte doppelte Eigenſchaft der Parteien

nicht erſt durch die Willkühr des Beklagten, ſondern durch

die allgemeine Natur der Klage begründet wird, alſo durch

den Richter überall zur Anwendung gebracht werden muß,

wo nur die Umſtände dazu geeignet ſind.

Es gehören dahin die drei Theilungsklagen und die

zwei Interdicte zur Erhaltung des Beſitzes.

 

Die Formel der Theilungsklagen beſtand aus zwei

Stücken, einem perſönlichen und einem auf Adjudication

gerichteten. — Wie das perſönliche Stück lauten mußte,

um jede Partei zum Kläger und Beklagten zugleich zu

machen, wird bei der Widerklage gezeigt werden. — Die

Adjudication aber war unperſönlich gefaßt, und in ſofern

ähnlich der intentio einer Klage in rem (a).

 

Die Formel der zwei erwähnten Interdicte war an

beide Parteien gleichmäßig gerichtet (b), und drückte da-

durch unmittelbar aus, daß beide in völlig gleicher Lage

einander gegenüber ſtehen ſollten, nicht in der bei anderen

 

(a) Gajus IV. § 42. „Quan-

tum adjudicari oportet, judex

Titio adjudicato.“ Der Name

Titio ſcheint allerdings nicht zu

der behaupteten Unperſönlichkeit der

Formel zu paſſen, und könnte wohl

auf einer unrichtigen Leſeart be-

ruhen; die gewöhnlichen Partei-

namen: Aulus Agerius und Nu-

merius Negidius ſcheinen abſicht-

lich vermieden. Der unzweifelhafte

Sinn würde am ſicherſten bezeich-

net ſeyn durch utrique oder alteru-

tri, da nach Umſtänden bald dem

Einen das Ganze, bald Jedem

ein Theil zuzuſprechen iſt.

(b) L. 1 pr. uti poss. (43. 16).

„Uti … possidetis, quo minusita

possideatis, vim fieri veto.“ —

L. 1 pr. de utrubi (43. 31).

„Utrubi hic homo … fuit, quo

minus is eum ducat, vim fieri

veto.“

|0348 : 330|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Klagen gewöhnlichen Verſchiedenheit eines Klägers und

eines Beklagten.

II. Widerklage. (c).

Wenn auf eine angeſtellte Klage der Beklagte vor dem-

ſelben Richter und gegen denſelben Kläger eine Klage vor-

bringt, ſo führt dieſe zweite Klage den Namen Wider-

klage, vorausgeſetzt, daß ſie in irgend eine Verbindung

mit der erſten Klage geſetzt wird (d).

 

Dieſe Verbindung kann eine zweifache ſeyn:

 

1. Sie kann zuweilen lediglich darauf ausgehen, daß

dadurch der erſte Kläger genöthigt wird, ſich vor dem-

ſelben Richter verklagen zu laſſen, welchem er außer-

dem nicht unterworfen geweſen wäre (uneigentliche

Widerklage). Dieſer Fall ſteht mit unſrer Aufgabe

(c) Vgl. überhaupt Linde

Lehrbuch § 95. 211.

(d) Völlig verſchieden alſo von

dem hier allein in Betracht kom-

menden Fall ſind alle die Fälle,

in welchen zwiſchen denſelben Par-

teien vor demſelben Richter gleich-

zeitig mehrere Prozeſſe ohne Ver-

bindung mit einander ver-

handelt werden, welches eben ſo-

wohl vor demſelben Römiſchen

Judex vorkommen konnte, als es

jetzt vor demſelben Gerichtshof

vorkommt. In dieſen mehreren

Prozeſſen kann dieſelbe Perſon

Kläger ſeyn (L. 18 de except.

44. 1), die Parteien können aber

auch in entgegengeſetzten Partei-

rollen auftreten (L. 18 pr. mand.

17. 1, L. 18 pr. de compens.

16. 2, L. 1 § 4 quae sent. 49. 8),

ohne daß deshalb der Fall einer

Widerklage entſteht. Daher iſt der

Ausdruck mutua petitio, der in

den Fällen dieſer zweiten Art ge-

braucht wird, ja ſelbſt bei der

bloßen Einrede der Compenſation

(L. 6 C. de comp. 4. 31, L. 1

C. rer. amot. 5. 21) vorkommt,

keine ſichere Bezeichnung der Wider-

klage, wofür überhaupt die Römer

keinen Kunſtausdruck haben. Re-

conventio kommt in keiner ächten

Stelle vor (L. 5 C. de fruct. 7. 51

iſt reſtituirt), und iſt erſt durch

das canoniſche Recht eingeführt.

|0349 : 331|

§. 389. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?

in gar keiner Berührung; er kommt übrigens auch

ſchon im Römiſchen Recht vor (e).

2. Sie kann aber auch tiefer eingreifen, indem zugleich

beide Klagen neben einander verhandelt und durch ein

gemeinſames Urtheil entſchieden werden (simultaneus

processus von den Neueren genannt). Dieſer Fall

gehört inſofern zu unſrer Unterſuchung, als dadurch

der Inhalt des Urtheils beſtimmt wird, und zwar auf

ſolche Weiſe, daß ſcheinbar der Kläger verurtheilt

werden kann, welches nach der oben aufgeſtellten

Regel nicht ſollte geſchehen können.

Auch dieſer Fall kam im Römiſchen Recht vor, und

ſelbſt zur Zeit des alten Formularprozeſſes. Es fragt ſich

nur, wie es möglich war, zwei verſchiedene Prozeſſe in

eine und dieſelbe Formel zu faſſen.

 

Dieſes war allerdings möglich, aber nur unter fol-

gender Vorausſetzung: Die Widerklage mußte auf einer

Gegenforderung aus demſelben Rechtsgeſchäft be-

ruhen, welches nur bei den bonae fidei actiones vorkam.

Wenn alſo gegen eine actio emti der Beklagte die actio

venditi aus demſelben Vertrag vorbringen wollte, oder bei

einer actio pro socio die gleichnamige Klage, oder bei

 

(e) L. 22 de jud. (5. 1.) —

War die erſte Klage eine extra-

ordinaria, ſo wurde dadurch auch

die Widerklage vor den Präſes ohne

Judex gezogen. L. 1 § 15 de

extr. cogn. (50. 13.) — Wenn

dagegen die erſte Klage vor eine

Municipalobrigkeit, die nur über

eine beſchränkte Summe richten

durfte, gebracht war, ſo wurde

dadurch dieſe Obrigkeit für die

Widerklage von höherer Summe

nicht kompetent. L. 11 § 1 de

jurisd. (2. 1).

|0350 : 332|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

einer actio commodati directa die contraria, dann war

eine Widerklage mit derſelben Formel, und durch daſſelbe

Urtheil, wie die Hauptklage, zu beendigen möglich: in

allen anderen Fällen, alſo bei allen Klagen aus nicht ver-

wandten Entſtehungsgründen, war Dieſes unmöglich. Um

aber doch auch in ſolchen Fällen dem praktiſchen Bedürf-

niß zu genügen, welches wir durch unſere Widerklage

befriedigen, wurde die Sache ſo behandelt, daß beide ver-

ſchiedene Klagen gleichzeitig an denſelben Judex gewieſen

wurden. Zugleich aber hatten kaiſerliche Conſtitutionen

für dieſen Fall beſonders verordnet, daß aus dem zuerſt

geſprochenen Urtheil Nichts gefordert werden könne, bevor

auch über die gegenſeitige Klage entſchieden ſeyn würde (f).

Die Formel für die wahre Verbindung zweier ver-

wandter Klagen wurde nun ohne Zweifel ſo gefaßt. Eine

demonstratio bezeichnete das vorliegende Rechtsgeſchäft im

Allgemeinen. Darauf folgte die intentio, etwa in dieſen

Worten:

Quidquid ob eam rem alterum alteri dare facere

oportet ex fide bona, judex condemna(g).

 

(f) L. 1 § 4 quae sent.

(49. 8). Dieſe etwas künſtliche

Behandlung der Fälle ſolcher Art

iſt der ſicherſte Beweis, daß eine

eigentliche Widerklage in unſrem

Sinn, bei nicht verwandten ge-

genſeitigen Forderungen, im Rö-

miſchen Formularprozeß für un-

möglich gehalten wurde.

(g) Unverkennbare Anſpielungen

auf dieſe Formel und Voraus-

ſetzungen ihres wirklichen Gebrauchs

finden ſich in folgenden Stellen:

Gajus III. § 137 (von den obli-

gationes, quae consensu contra-

huntur): „Item in his contra-

ctibus alter alteri obligatur

de eo, quod alterum alteri ex

|0351 : 333|

§. 289. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?

Genau in derſelben Weiſe wird nun auch bei der

oben erwähnten duplex actio die Formel gelautet haben,

denn auch die Theilungsklagen waren bonae fidei (h). Der

Unterſchied mag alſo wohl der geweſen ſeyn, daß bei der

duplex actio jene Formel allgemein ſo gefaßt wurde, bei

den Widerklagen aber nur, wenn der Beklagte beſonders

um eine ſo gefaßte Formel bat, da es von ſeinem freien

Willen abhing, ob er eine Widerklage vorbringen wollte (i).

 

bono et aequo praestare opor-

tet.“ — Cicero top. C. 17.

Er rühmt hier den Einfluß der

Juriſten, die beſonders bei den

Klagen ex fide bona, ut inter

bonos, quid aequius melius

Rath geben müſſen. „Illi enim

dolum malum, illi fidem bonam,

.. illi quid .. alterum alteri prae-

stare oporteret .. tradiderunt.“—

Cicero de off. III. 17. Er ſagt

von den bonae fidei judiciis:

„in his magni esse judicis

statuere (praesertim cum in

plerisque essent judicia con-

traria) quid quemque cuique

praestare oporteret.“ Alle dieſe

Rathſchläge und Ausſprüche konn-

ten ja nie zur Anwendung kom-

men, wenn nicht Formeln aufge-

ſtellt waren, die den Judex be-

rechtigten und verpflichteten, über

ſolche gegenſeitige Anſprüche

wirklich zu entſcheiden.

(h) § 28 J. de act. (4. 6).

(i) Gajus ſagt in L. 18 § 4

comm. (13. 6), die contraria

commodati actio ſey gewöhnlich

nicht nöthig, weil man den Ge-

genſtand derſelben als Compen-

ſation gegen die directa actio

des Gegners geltend machen könne.

Er fügt aber hinzu, es gebe den-

noch Fälle, worin man jene Klage

nicht entbehren könne; namentlich,

wenn die directa actio wegen

des zufälligen Untergangs der Sache

oder wegen der freiwilligen Rück-

gabe gar nicht angeſtellt werde.

An die Spitze dieſer Fälle der un-

entbehrlichen contraria actio ſtellt

er folgenden: „Sed fieri potest,

ut amplius esset, quod invicem

aliquem consequi oporteat …

dicemus, necessariam esse con-

trariam actionem.“ Das könnte

man ſo verſtehen, als ob zur Zeit

des Gajus eine Widerklage noch

gar nicht möglich geweſen wäre,

alſo deswegen eine die Hauptfor-

derung überſteigende Gegenforde-

rung niemals in dem Hauptpro-

zeß hätte verfolgt werden können.

Allein jene Worte erklären ſich eben

ſo gut von einem Fall, worin nur

Anfangs der erſte Beklagte die Höhe

|0352 : 334|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Der Erfolg war am Ende des Rechtsſtreits ganz der-

ſelbe: die Möglichkeit einer Verurtheilung nach beiden

Seiten hin.

Nach dem Untergang des Formularprozeſſes machte ſich

inſofern die Sache einfacher und leichter, als die Faſſung

der Formel nicht mehr ein beſchränkendes Hinderniß ab-

gab. Das ganze Verhältniß war nunmehr demjenigen

ähnlich, welches wir in unſrem heutigen Prozeß kennen.

Die Widerklage war nun in größerer Ausdehnung möglich,

als früher, ſo daß ſie angebracht werden konnte, ohne Rück-

ſicht darauf, ob ſie mit der Hauptklage einen gemeinſamen

Entſtehungsgrund hatte, oder nicht. Das aber wurde gewiß

immer gefordert, daß der Beklagte, der die Widerklage in

denſelben Prozeß bringen wollte, darauf gleich Anfangs

antragen mußte.

 

Juſtinian gab der Widerklage eine ſehr eigenthüm-

liche Wendung, die in die neuere Praxis niemals Eingang

gefunden hat. Er behandelte die Widerklage vor dem-

ſelben Gericht nicht blos als ein Recht, ſondern auch als

eine Verpflichtung des Beklagten. Gefalle ihm dieſer

Richter nicht, ſo könne er bewirken, daß beide Klagen ge-

meinſchaftlich vor einem anderen Richter (dem competenten

Richter des Gegners) verhandelt würden. Unterlaſſe er

 

der Gegenforderung nicht über-

ſah, und es deswegen unterließ,

eine Formel zu begehren, wie

die oben im Text angegebene. —

Welche Änderung gerade hierin

zur Zeit von Papinian einge-

treten zu ſeyn ſcheint, davon wird

ſogleich weiter die Rede ſeyn. (§ 290).

|0353 : 335|

§. 289. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?

Beides, ſo müſſe er ſeine gegenſeitige Klage ſo lange

gänzlich ruhen laſſen, bis die gegen ihn angeſtellte zu

Ende gebracht ſey (k).

Es iſt nöthig, vor jeder weiteren Erörterung den Zu-

ſammenhang der Widerklage mit der Compenſation in’s

Auge zu faſſen, indem dieſe einen ähnlichen, wenngleich

nicht völlig gleichmäßigen, Entwicklungsgang gehabt hat,

wie er ſo eben bei der Widerklage bemerkt worden iſt.

Dieſelben Thatſachen können, bei einem Vertrag der oben

bemerkten Art, ſowohl zu einer Compenſation, als zu einer

Widerklage Veranlaſſung geben. Die Compenſation reicht

aus, wenn die Gegenforderung nicht weiter geht, als den

Gegenſtand der Hauptklage ganz oder theilweiſe durch Auf-

rechnung zu beſeitigen. Geht ſie auf eine höhere Summe

als die der Hauptklage, ſo iſt eine Widerklage nöthig, und

wird auch dieſe verſäumt, ſo kann die Gegenforderung nur

durch eine abgeſonderte neue Klage geltend gemacht werden

(Note h). Zur Zeit des Gajus ſtand nun die Sache ſo, daß

die Widerklage, wie die Compenſation, auf Gegenforderungen

aus demſelben Rechtsgeſchäft beſchränkt war (l).

Marc Aurel erweiterte den Gebrauch der Compenſation

dahin, daß ſie vermittelſt einer doli exceptio auch gegen

jede Condiction vorgebracht werden konnte, alſo nun ohne

 

(k) Nov. 96 C. 2.

(l) Gajus IV. § 61: „ex

eadem causa,“ und zwar als ein

eigenthümliches Rechtsinſtitut bei

den bonae fidei actiones. —

Die beſonderen Fälle des Argen-

tarius und des bonorum emtor

im älteren Recht können hier na-

türlich nicht in Betracht kommen.

Vgl. Gajus IV. § 64 sq.

|0354 : 336|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Rückſicht auf die gemeinſchaftliche Entſtehung beider

Forderungen (m). Dieſe Erweiterung der Compenſation

trat alſo weit früher ein, als die ſo eben erwähnte gleich-

artige Erweiterung der Widerklage, welche erſt ſeit der

Abſchaffung des Formularprozeſſes angenommen werden

kann. Der Grund dieſes chronologiſchen Unterſchiedes

aber iſt leicht einzuſehen. Die Erweiterung der Compen-

ſation vermittelſt einer ohnehin längſt bekannten Einrede

konnte vorgehen, ohne irgend eine in der Form des Ver-

fahrens begründete Schwierigkeit; die gleichartige Erwei-

terung der Widerklage war kaum möglich, ſo lange zwei

völlig verſchiedene gegenſeitige Klagen in eine und dieſelbe

formula hätten zuſammen gefaßt werden müſſen. Trat

daher ein Fall ſolcher Art ein, ſo blieb Nichts übrig, als

zwiſchen denſelben Perſonen zwei mutuae actiones gleich-

zeitig und vor demſelben Judex zu geben (Note d. f.),

wobei freilich die Wirkung nicht ſo verſchieden von der

einer eigentlichen Widerklage war, als man glauben

möchte.

Dieſe ganze, die Widerklage betreffende Unterſuchung

iſt hier lediglich als Grundlage zur Beantwortung der

Frage angeſtellt worden, ob durch die Folgen der Wider-

klage eine wahre Verurtheilung des Klägers, abweichend

 

(m) Der geſchichtliche Zuſam-

menhang dieſes Rechtsinſtituts iſt

oben bei einer anderen Gelegenheit

nachgewieſen worden B. 1 § 45

Note d.

|0355 : 337|

§. 289. Inhalt. Verurtheilung des Klägers?

von der im § 288 aufgeſtellten Regel, herbeigeführt werde.

Die Antwort auf dieſe Frage kann nur eben ſo ausfallen,

wie ſie auf die gleichlautende Frage bei der duplex actio

gegeben worden iſt: dahin nämlich, daß auch bei der

Widerklage die Verurtheilung des Klägers ſich in bloßen

Schein auflöſt. Allerdings kann hier der urſprüngliche

Kläger verurtheilt werden, aber wenn Dieſes geſchieht, ſo

iſt es nicht der Kläger, ſondern der Beklagte, der in ihm

verurtheilt wird, indem er in der That beide Eigenſchaften

in ſeiner Perſon vereinigt.

Das ganze Verhältniß der neben einer Klage vorkom-

menden Widerklage muß daher ſo aufgefaßt werden, als

ob zwei Prozeſſe geführt, und zwei Urtheile geſprochen

worden wären, bei welchen dieſelben Perſonen, nur mit

umgekehrten Parteirollen, auftreten. Der täuſchende Schein,

als ob ein Kläger verurtheilt werde, rührt blos von dem

an ſich zufälligen Umſtande her, daß in dieſem Fall beide

Urtheile in eine einzige Urtheilsformel zuſammengefaßt

werden.

 

Dieſes Verhältniß kann übrigens in den mannichfaltig-

ſten Anwendungen vorkommen:

 

1. Gegen eine perſönliche Klage kann ſowohl eine per-

ſönliche Widerklage, als eine Widerklage in rem vor-

kommen.

2. Eben ſo gegen eine Klage in rem ſowohl eine perſön-

liche Widerklage, als eine Widerklage in rem (n).

(n) Inwiefern die ausſchließende Natur eines forum rei sitae,

VI. 22

|0356 : 338|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Es ergiebt ſich aus dieſer Unterſuchung, daß weder die

duplex actio, noch die Widerklage einen Grund darbietet,

die aufgeſtellte Regel von der unmöglichen Verurtheilung

des Klägers (§ 288) in Zweifel zu ziehen.

 

Es kommen jedoch einige beſondere Anwendungen vor,

in welchen es bezweifelt werden kann, ob die hier aufge-

ſtellten Grundſätze in unſren Rechtsquellen ſtreng feſtge-

halten worden ſind, und ob wir damit völlig ausreichen,

ohne ihnen einige mildernde Modificationen beizufügen.

Dieſe ſollen nunmehr einzeln geprüft werden.

 

§. 290.

Rechtskraft. I. Bedingungen. B. Inhalt des Urtheils

als Grundlage der Rechtskraft. — Nicht: Verurtheilung

des Klägers. (Fortſetzung.)

I. Große Zweifel hat von jeher eine Verordnung Ju-

ſtinian’s vom J. 530. erregt, die auf den erſten Blick ſo

aufgefaßt werden kann, als ſollte dem Richter in allen

Fällen geſtattet ſeyn, auch den Kläger, wenn er ihn ſchul-

dig finde, zu verurtheilen. Bevor der Text dieſer Stelle

mitgetheilt und im Einzelnen erklärt wird, ſcheint mir fol-

gende Einleitung nöthig.

 

Juſtinian geht aus von einem Ausſpruch des Papi-

 

wenigſtens bei Grundſtücken, hierin

eine Ausnahme begründet, die nach

R. R. nicht anzunehmen, nach der

gemeinrechtlichen Praxis ſehr be-

ſtritten iſt, gehört als reine Prozeß-

frage nicht in den Kreis unſrer

Unterſuchung. Vgl. hierüber Glück

B. 6 § 515. Linde Lehrbuch

§ 88. 90. Heffter Archiv für

civil. Praxis B. 10. S. 215.

|0357 : 339|

§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)

nian, der einen neuen Rechtsſatz aufgeſtellt zu haben

ſcheint. Dieſer Rechtsſatz wird von dem Kaiſer nicht nur

beſtätigt, ſondern auch für die Anwendung erweitert; worin

dieſe Erweiterung beſteht, iſt klar genug angegeben. In

der Hauptſache haben wir daher mit einem Ausſpruch von

Papinian zu thun, der uns nicht wörtlich mitgetheilt iſt,

und den wir alſo aus dem ſonſt bekannten Recht ſeiner

Zeit zu erläutern und zu ergänzen haben werden, allerdings

mit Rückſicht darauf, daß er wahrſcheinlich das beſtehende

Recht frei behandeln und fortbilden wollte.

Augenſcheinlich iſt das allgemeine Verhältniß voraus-

geſetzt, welches bei jeder Widerklage zum Grunde liegt;

ſonſt könnte ja nicht von Verpflichtungen des Klägers und

von einer Verurtheilung deſſelben die Rede ſeyn. Es wird

aber nicht geſagt, daß der Beklagte eine Widerklage aus-

drücklich angeſtellt habe; vielmehr ſcheint die Stelle voraus

zu ſetzen, daß erſt im Laufe des Rechtsſtreits eine über-

ſchießende Verpflichtung des Klägers klar geworden ſey.

 

Faſſen wir dieſe Umſtände zuſammen, ſo ergiebt ſich

der folgende wahrſcheinliche Zuſammenhang. Papinian

ſetzt nothwendig voraus den Fall von gegenſeitigen An-

ſprüchen aus Obligationen, und zwar aus ſolchen

Obligationen, die ihren gemeinſamen Urſprung in einem

bonae fidei Contracte haben; denn ohne dieſe Vorausſetzung

war zu ſeiner Zeit, und ſo lange der Formularprozeß be-

ſtand, ſelbſt eine ausdrückliche Widerklage ganz unmöglich

(§ 289). Er denkt alſo nothwendig an gegenſeitige An-

 

22*

|0358 : 340|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſprüche ex eadem causa, ex eodem negotio, und dieſe

Vorausſetzung erhält eine nicht geringe Beſtätigung durch

die Schlußworte: eum habere et contra se judicem in eo-

dem negotio, non dedignetur (a).

War nun in einem ſolchen Fall die Widerklage gleich

bei der Litisconteſtation angebracht, und in Folge derſelben

die Formel gegeben: quidquid alterum alteri dare facere

oportet (§ 289), ſo verſtand ſich ſchon lange vor Papi-

nian die Befugniß des Richters zur Verurtheilung des

urſprünglichen Klägers (der zugleich Widerbeklagter war)

ſo ſehr von ſelbſt, daß unmöglich die Anerkennung dieſer

Befugniß als ein beſonderer und neuer Gedanke Papi-

nian’s angeſehen werden konnte.

 

Wenn dagegen Anfangs der Beklagte annahm, ſeine

Gegenforderung werde der Hauptforderung nicht gleichkom-

men, in welchem Fall die Einrede der Compenſation aus-

reichte, wenn er deswegen jene Formel zu begehren ver-

ſäumte, und erſt während des Prozeſſes einſah, daß er

mehr, als ſein Gegner, zu fordern habe, dann konnte noch

zur Zeit des Gajus eine Verurtheilung des urſprüng-

lichen Klägers nicht erfolgen, vielmehr mußte deshalb eine

neue Klage angeſtellt werden. Papinian’s neue Mei-

nung ſcheint nun dahin gegangen zu ſeyn, auch in dieſem

 

(a) Ich betrachte alſo dieſe Worte

als bedeutend nur in Verbindung

mit den angeführten übrigen Grün-

den, und beſtreite nicht, daß ſie für

ſich allein auch ſo verſtanden werden

könnten: in demſelben Prozeſſe.

Dieſe letzte Erklärung vertheidigt

ausführlich Sartorius Wider-

klage S. 319. 323—329.

|0359 : 341|

§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)

Fall die Verurtheilung des erſten Klägers zu geſtatten,

alſo eine ſtillſchweigende Widerklage anzunehmen (b),

vorausgeſetzt, daß ohnehin der Magiſtratus, der den Judex

gegeben hatte, für beide Parteien competent war.

Juſtinian beſtätigte dieſen Ausſpruch, und erweiterte

ihn noch dahin, daß Daſſelbe gelten ſollte, auch wenn der

Richter für den erſten Kläger urſprünglich nicht competent

war, ſondern erſt durch die (ſtillſchweigende) Widerklage

competent wurde.

 

Die Stelle ſelbſt, deren Erklärung einſtweilen voraus-

geſchickt worden iſt, lautet nun ſo:

L. 14 C. de sent. et interl. (7. 45).

Imp. Justinianus A. Demostheni P. P.

Cum Papinianus, summi ingenii vir, in quaestionibus

suis rite disposuerit, non solum judicem de absolu-

tione rei judicare(c), sed et ipsum actorem, si e

contrario obnoxius fuerit inventus(d), condemnare:

 

 

(b) Vgl. § 289 Note h, wo

die entgegengeſetzte Anſicht des

Gajus ausführlich erörtert iſt.

(c) judicare iſt durch Hand-

ſchriften und alte Ausgaben be-

glaubigt und nach dem Zuſam-

menhang allein möglich. Der Text

der Göttinger Ausgabe hat noch

die ſinnloſe Leſeart judicatae.

(d) d. h. „Wenn ſich nun im

Lauf der Verhandlungen ergiebt,

daß der Beklagte aus dieſem Ge-

ſchäft Gegenforderungen hat, und

zwar ſolche, die den Betrag der

Hauptforderung überſteigen.“ Dieſe

zufällige Wahrnehmung war bei

Gegenforderungen aus demſelben

Geſchäft, die bei der L. C. und in

der Formel gar noch nicht erwähnt

zu ſeyn brauchten, ſehr wohl mög-

lich, bei fremdartigen Gegenforde-

rungen nicht. Waren aber dieſe

ſchon Anfangs vorgebracht, ſo hat-

ten ſie die Natur einer ausdrück-

lichen Widerklage, an deren Zu-

läſſigkeit für alle Fälle, wenigſtens

in Juſtinian’s Zeit, ohnehin

nicht zu zweifeln war.

|0360 : 342|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

hujusmodi sententiam non solum roborandam(e), sed

etiam augendam esse sancimus(f), ut liceat judici,

vel contra actorem ferre sententiam, et aliquid eum

daturum vel facturum pronuntiare(g), nulla ei oppo-

nenda exceptione, quod non competens judex agentis

esse cognoscatur(h). Cujus enim in agendo obser-

vat arbitrium, eum habere et contra se judicem in

eodem negotio(i), non dedignetur. 530.

Die hier verſuchte Erklärung der ſtreitigen Verordnung

ſtimmt in ihrem Reſultat mit den Anſichten der meiſten

älteren, und auch mehrerer neuerer Schriftſteller (k) überein;

 

(e) Wenn Juſtinian hier ſagt,

daß er vor Allem den Ausſpruch

des Papinian beſtätige, ſo folgt

daraus, daß er gerade von dem Fall

ſprechen will, der allein dem Papi-

nian vor Augen ſtehen konnte.

(f) Dieſe Erweiterung könnte an

ſich auf zweierlei Weiſe gedacht

werden: als Anwendung auf andere

Fälle, oder als Anwendung unab-

hängig von der richterlichen Com-

petenz. Die Fälle erwähnt der

folgende Theil der Stelle gar nicht,

die Unabhängigkeit von der Com-

petenz wird dagegen ausgeſprochen;

daher kann in dieſer allein die neue

Erweiterung enthalten ſeyn, wor-

aus zugleich folgt, daß Papinian

gerade hierin ſo weit nicht gehen

wollte.

(g) An ſich geht jede Verurthei-

lung auf ein dare oder facere

nach der allgemeinen Bedeutung

dieſer Worte. Erwägt man aber,

daß im Formularprozeß dare fa-

cere oportere der charakteriſtiſche

Inhalt der intentio bei den per-

ſönlichen Klagen war, und zugleich,

daß der Geſetzgeber eine Stelle des

Papinian vor Augen hatte,

worin gewiß dieſe Worte in ihrem

ächten, techniſchen Sinn gebraucht

waren, ſo liegt in dieſen Worten

eine Beſtätigung meiner Voraus-

ſetzung, daß in der ganzen Stelle

vor Allem nur von gegenſeitigen

Obligationen die Rede iſt.

(h) In dieſen Worten liegt nun

die neue Vorſchrift von Juſtinian,

ſie erklären alſo die vorhergehenden

Worte: sed etiam augendam

esse.

(i) Vgl. über dieſe Worte die

Note a.

(k) Zimmern Rechtsgeſchichte

B. 3 S. 312. 313. Heffter Ar-

chiv für civil. Praxis B. 10

S. 212. 213.

|0361 : 343|

§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)

Andere dagegen behaupten in größter Ausdehnung, daß

nach dieſer Stelle ſtets der Kläger verurtheilt werden könne,

auch wenn die beiderſeitigen Anſprüche nicht durch einen ge-

meinſamen Entſtehungsgrund in Verbindung ſtehen ſollten (l).

Ich faſſe das Reſultat dieſer Erklärung kurz zuſammen.

Die unbeſchränkte Ausdehnung, in welcher überhaupt Wider-

klagen ausdrücklich vorgebracht werden können, iſt ſchon

oben anerkannt worden (§ 289), und wird in der vorlie-

genden Verordnung nicht berührt. Dieſelbe nimmt aber

auch eine ſtillſchweigende Widerklage, mit möglicher

Verurtheilung des Klägers, an, wenn ſich deſſen höhere

Gegenanſprüche erſt im Laufe des Rechtsſtreits ergeben;

Dieſes jedoch nur in den Fällen, worin die Gegenanſprüche

auf demſelben Rechtsgeſchäft, wie die Hauptklage, beruhen.

 

Es fragt ſich nun, ob dieſe eigenthümliche Beſtimmung

auch für das heutige Prozeßrecht anzuerkennen iſt. Ich

glaube, Dieſes beſtimmt verneinen zu müſſen, und zwar

nach der Analogie der von dem jüngſten Reichsabſchied

gegebenen ſtrengen Vorſchrift über die Einreden. Denn

wenn ſchon die Einreden, die nicht bei der erſten Einlaſſung

 

(l) Sartorius Widerklage

S. 43—59. 319. 323—329. Ob-

gleich derſelbe in der Erklärung

der hier beſprochenen Geſetzſtelle

völlig von mir abweicht, ſo kann

ich ihn doch im letzten Reſultat

nicht eigentlich als Gegner aner-

kennen. Er behauptet nämlich,

wenn ich ihn recht verſtehe, die

unbeſchränkte Anwendung einer

ausdrücklich vorgebrachten Wider-

klage, und damit bin ich für die

Zeit von Juſtinian, wie für den

heutigen Prozeß, völlig einver-

ſtanden. Ich halte ſeine Anſicht

nur darin für irrig, daß er hierauf die

Stelle L. 14 C. de sent. bezieht, die

ich von einer ſtillſchweigenden, jedoch

nur in ſehr beſchränkter Weiſe zu-

zulaſſenden, Widerklage verſtehe.

|0362 : 344|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

vorgebracht werden, für dieſe Inſtanz verloren ſeyn ſollen,

ſo muß Dieſes um ſo mehr für eine Widerklage gelten, die

der Beklagte als Widerklage bei der erſten Einlaſſung

vorzubringen unterläßt. Wenngleich vielleicht der Grund,

woraus ſpäterhin die Widerklage abgeleitet werden ſoll,

zum Zweck einer Exception wirklich vorgebracht worden iſt,

ſo iſt es doch für die Ordnung des Prozeſſes und für das

Vertheidigungsſyſtem des Klägers von großer Wichtigkeit,

daß der Beklagte die Abſicht einer Widerklage, wenn er

dieſe gebrauchen will, gleich Anfangs beſtimmt ausſpreche.

Die Richtigkeit dieſer Behauptung wird auch durch

einen weit älteren Ausſpruch des canoniſchen Rechts beſtä-

tigt. Wenn nämlich gegen irgend eine Klage die Einwen-

dung einer Spoliation vorgebracht wird, ſo kann Dieſes in

einem zweifachen Sinn geſchehen: als bloße Einrede und

als Widerklage. Nun verordnet P. Innocenz III., daß

im erſten Fall höchſtens die Klage ausgeſchloſſen ſeyn, im

zweiten auch der Kläger verurtheilt werden könne (m).

Darin liegt die deutlich ausgeſprochene Vorſchrift, daß eine

von dem Beklagten vorgebrachte Thatſache nicht hinterher

zum Zweck einer Widerklage verwendet werden könne, daß

ſie vielmehr, um als Widerklage zu wirken, gleich Anfangs

zu dieſem Zweck aufgeſtellt werden müſſe.

 

Nach dem hier aufgeſtellten Reſultat verſchwindet auch

jeder Schein eines Zweifels, der aus der hier erörterten

 

(m) C. 2 X. de ord. cogn. (2. 10).

|0363 : 345|

§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)

Verordnung Juſtinian’s gegen die Allgemeinheit der Regel

hergeleitet werden könnte, nach welcher der Kläger als

ſolcher niemals ſoll verurtheilt werden können (n).

II. Von der Eigenthumsklage iſt oben (§ 288) nach-

gewieſen worden, daß ſie nur zu einem zweifachen Ausgang

führen kann: zur Verurtheilung des Beklagten, d. h. zur

Anerkennung des Eigenthums in der Perſon des Klägers;

zur Freiſprechung des Beklagten, welche zwar nicht immer,

aber doch in den meiſten Fällen, den Ausſpruch, daß der

Kläger nicht Eigenthümer ſey, in ſich ſchließen wird. Ein

dritter Fall, nämlich die unmittelbar ausgeſprochene Aner-

kennung des Eigenthums in der Perſon des Beklagten,

alſo die Verurtheilung des Klägers, iſt ſelbſt dann nicht

zuläſſig, wenn der Beklagte den Richter von ſeinem Eigen-

thum wirklich überzeugt, und eben dadurch die Abweiſung

des Klägers bewirkt hat.

 

Dieſer letzte Satz, in ſo nothwendigem Zuſammenhang

er mit der ganzen Reihe der hier aufgeſtellten Rechtsregeln

ſteht, kann jedoch nach Umſtänden ſehr unbillige Folgen

und eine Gefährdung des wirklichen Rechts hervorrufen.

Wenn es dem Beklagten gelingt, jetzt den vollſtändigſten

Beweis ſeines Eigenthums zu führen, ſo können doch dieſe

Beweiſe ſpäterhin verloren gehen, die Zeugen insbeſondere

können ſterben. Kommt nun in irgend einer ſpäteren Zeit

 

(n) Vgl. den Schluß des § 288.

|0364 : 346|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

der Beſitz der Sache durch Zufall an den gegenwärtig

abgewieſenen Kläger, ſo würde es für den Beklagten von

großem Werth ſeyn, wenn er, oder ſein Erbe, ſich alsdann

auf ein rechtskräftig ausgeſprochenes Anerkenntniß des Ei-

genthums ſtützen könnte, da ein ſolches nach verlornen

Beweiſen vielleicht nicht mehr zu erlangen ſeyn würde.

Es fragt ſich, wie dieſer an ſich gerechte und billige Zweck

etwa erreicht werden könnte.

Man möchte vielleicht glauben, der Beklagte könnte mit

ſeiner Vertheidigung gegen die Eigenthumsklage des Klä-

gers eine umgekehrte Eigenthumsklage (als Widerklage)

anſtellen, die dann eine Verurtheilung ſeines Gegners zur

Folge haben würde. Dieſes iſt jedoch deswegen unmöglich,

weil er Beſitzer iſt, die Eigenthumsklage aber nur von dem

Nichtbeſitzer gegen den Beſitzer angeſtellt werden kann (o).

 

Dagegen liegt die wahre und conſequente Befriedigung

jenes praktiſchen Bedürfniſſes in der Rechtskraft der Gründe

des Urtheils, die weiter unten (§ 291) nachgewieſen werden

wird. Wenn nämlich in dem oben vorausgeſetzten Fall

der Beklagte die Abweiſung der Eigenthumsklage dadurch

zu bewirken ſucht, daß er ſein Eigenthum behauptet, wenn

über dieſe Behauptung verhandelt, der Richter aber von

der Richtigkeit derſelben überzeugt, und durch dieſen Grund

zur Freiſprechung beſtimmt wird, ſo bleibt es zwar auch

dann der Form nach bei einer bloßen Freiſprechung, die

 

(o) § 2 J. de act. (4. 6), L. 9 de rei vind. (6. 1).

|0365 : 347|

§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)

nicht die Geſtalt einer Verurtheilung des Klägers anneh-

men kann. Da aber die Gründe des Urtheils rechtskräftig

werden, ſo wird durch die Rechtskraft dieſes Grundes der

Freiſprechung dem gegenwärtigen Beklagten für jeden künf-

tigen Rechtsſtreit, auch wenn er darin als Kläger auftreten

ſollte, derſelbe praktiſche Vortheil verſchafft, wie wenn er

jetzt eine Verurtheilung ſeines Gegners bewirkt hätte.

III. Auf die Erbrechtsklage iſt alles Dasjenige anwend-

bar, welches ſo eben für die Eigenthumsklage bemerkt

worden iſt. Wenn alſo der Inteſtaterbe die Erbrechtsklage

gegen den Beſitzer der Erbſchaft anſtellt der aus einem

Teſtament Erbe zu ſeyn behauptet, wenn der Richter die

Gültigkeit des Teſtaments anerkennt, und aus dieſem

Grunde den Beklagten freiſpricht, ſo wird dieſer Grund

rechtskräftig, und der Freigeſprochene kann davon in jedem

künftigen Rechtsſtreite auch als Kläger Gebrauch machen.

 

Außerdem aber kann bei der Erbrechtsklage auch noch

ein Fall eintreten, welcher bei der Eigenthumsklage nicht

möglich iſt. Es kann hier die Lage des Rechtsſtreits dahin

führen, daß für die poſitive Anerkennung des dem Beklag-

ten zuſtehenden Rechts nicht blos indirect (durch die Rechts-

kraft der Urtheilsgründe), ſondern unmittelbar durch den

richterlichen Ausſpruch ſelbſt vollſtändig geſorgt wird.

Wenn nämlich zwei Perſonen auf die ganze Erbſchaft

Anſpruch machen, und jede derſelben einzelne Erbſchafts-

ſachen beſitzt, ſo kann Jeder gegen den Andern die Erb-

 

|0366 : 348|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſchaftsklage auf das Ganze anſtellen, und in Folge dieſer

Klage als Erbe des ganzen Vermögens in dem Urtheil

anerkannt werden, wodurch ihm dieſes Erbrecht für alle

Zukunft rechtskräftig feſtgeſtellt iſt (p).

Dieſes kann unter andern auf die Weiſe geſchehen, daß

zuerſt der Eine die Klage anſtellt, und dann der Andere

die gleichnamige Klage als Widerklage vorbringt. In die-

ſem Fall kann das Urtheil entweder dem Kläger, oder dem

Widerkläger das ganze Erbrecht zuſprechen, es kann aber

auch Beide mit ihren Klagen abweiſen. So iſt alſo hier,

vermittelſt der Widerklage, ein Urtheil möglich, das in dem

urſprünglichen Beklagten das Erbrecht geradezu poſitiv an-

erkennt, welche Möglichkeit oben bei der Eigenthumsklage

verneint werden mußte (q).

 

Der Grund dieſes Unterſchieds zwiſchen beiden Klagen

liegt darin, daß das Erbrecht nur an dem ganzen Vermö-

gen oder an einem aliquoten Theil des Vermögens vor-

 

(p) L. 15 de exc. r. j. (44. 2).

Vgl. oben § 288. a.

(q) Man könnte glauben, der-

ſelbe Fall könnte eintreten, wenn

Gajus ein abgegränztes Stück

eines Landguts beſäße, Sejus den

abgegränzten übrigen Theil des

Landguts, Jeder aber Eigenthum des

Ganzen behauptete. Hier kann jedoch

Jeder gegen den Andern die Eigen-

thumsklage nur auf das von ihm

ſelbſt nicht beſeſſene Stück anſtellen,

und das Urtheil entſcheidet blos

über das Eigenthum an dieſem

Stück, ſo daß alſo zwei von ein-

ander unabhängige Urtheile ge-

ſprochen werden, jedes über einen

anderen Gegenſtand. — Ganz eben

ſo verhält es ſich, wenn Jeder die

ideale Hälfte des Landguts beſitzt.

Nun hat Jeder eine partis vin-

dicatio, und es werden wieder

zwei unabhängige Urtheile über

juriſtiſch verſchiedene Gegenſtände

geſprochen. — In beiden Fällen

macht es auch keinen Unterſchied,

wenn etwa beide Klagen als Klage

und Widerklage verbunden ſeyn

ſollten.

|0367 : 349|

§. 290. Inhalt. Verurtheilung des Klägers? (Fortſ.)

kommen kann, die Erbrechtsklage aber, und zwar auf das

ganze Vermögen, auch ſchon durch den Beſitz eines einzel-

nen Vermögensſtücks in der Perſon des Beklagten begründet

wird, vorausgeſetzt, daß der Beklagte pro herede oder pro

possessore beſitzt.

IV. Die Negatorienklage verdient hier noch eine

beſondere Erwägung. Bekanntlich hat dieſe Klage die

eigenthümliche Natur, daß der Beklagte nur, indem er den

Beweis der Servitut führt, die Abweiſung des Klägers

bewirken kann. Wollten wir nun den Grundſatz einer blos

negativen Wirkung der Freiſprechung auch hier ſtreng an-

wenden, ſo müßte der Beklagte aus dem abweiſenden Ur-

theil keine poſitive Anerkennung ſeiner Servitut ableiten

können. Wenn er alſo ſpäter aus dem Beſitz der Servitut

käme, und deshalb confeſſoriſch klagte, ſo müßte er von

Neuem den Beweis führen, ohne ſich auf das frühere

rechtskräftige Urtheil berufen zu können. Das wäre in

dieſem Fall beſonders hart, da er in dem früheren Prozeß

den Beweis der Servitut nicht willkührlich übernommen

hat (wie es auch bei der Eigenthumsklage geſchehen kann),

ſondern weil er ihn nach allgemeinen Rechtsregeln über-

nehmen mußte.

 

Hier iſt nun dem Beklagten auf dieſelbe indirecte Weiſe,

wie bei den beiden vorher erwähnten Klagen, zu helfen,

durch die Rechtskraft der Gründe. Außerdem aber kann er

ſich auch eine unmittelbare Anerkennung ſeines Rechts durch

 

|0368 : 350|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

den richterlichen Ausſpruch ſelbſt verſchaffen, und zwar

nicht blos, wie es ſo eben bei der Erbrechtsklage nachge-

wieſen worden iſt, in Folge einer zufälligen Lage des

Rechtsſtreits, ſondern in allen Fällen überhaupt. Er kann

nämlich gleich im Anfang des Rechtsſtreits die confeſſo-

riſche Klage als Widerklage vorbringen. Dann muß der

Richter, der ſich von dem Daſeyn der Servitut überzeugt,

den Kläger (als Widerbeklagten) zur Anerkennung der

Servitut verurtheilen.

Sogar kann dieſe günſtige Stellung des Beklagten in

der Negatorienklage ſchon aus der Römiſchen Formel der

Negatorienklage gerechtfertigt werden. Dieſe lautet ſo:

Si paret, Negidio jus non esse etc. Weiſet nun der Rich-

ter dieſe Klage ab, ſo ſpricht er aus: Non videtur Negi-

dio jus non esse etc. Dieſes iſt aber völlig gleichbedeu-

tend mit dem Ausſpruch: Negidio jus esse etc.

 

§. 291.

Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft der

Gründe.

Die bisher durchgeführte Unterſuchung über den Inhalt

des Urtheils (die Verurtheilung und Freiſprechung) bildet

zwar die ſichere und unentbehrliche Grundlage für die

Lehre von der Rechtskraft, iſt aber dafür keinesweges aus-

reichend; vielmehr iſt es nöthig, nun noch auf genauere

Beſtimmungen des Inhalts einzugehen, weil nur auf

 

|0369 : 351|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

dieſem Wege eine erſchöpfende Einſicht in das Weſen der

Rechtskraft gewonnen werden kann.

Seit alter Zeit kehrt bei vielen Schriftſtellern der Satz

wieder: die Rechtskraft beziehe ſich nur auf das Urtheil

ſelbſt, nicht auf die Urtheilsgründe, und man ſucht

dieſen Satz noch ſchärfer durch den Ausdruck zu bezeichnen,

daß nur der Tenor oder das Dispoſitive im Urtheil

rechtskräftig werde.

 

Bevor die unklaren Begriffe und die Mißverſtändniſſe

dargelegt werden, in welchen die Vertheidiger dieſes Satzes

befangen zu ſeyn pflegen, iſt es nöthig, auf eine zweifache

Beziehung aufmerkſam zu machen, die in dieſem Satz (wie

viel oder wenig Wahrheit er in ſich ſchließen möge) aner-

kannt werden muß. Die erſte, durch den Ausdruck der

Rechtskraft ſelbſt unmittelbar angedeutete Beziehung iſt die

auf die Zukunft, indem jener Satz zunächſt den Sinn hat,

daß aus den Gründen keine Fiction der Wahrheit abge-

leitet werden dürfe. Die zweite, damit zuſammenhangende,

obgleich an ſich verſchiedene Beziehung iſt die auf den

gegenwärtigen Rechtsſtreit ſelbſt, indem jener Satz dahin

führt, daß gegen die Urtheilsgründe (eben weil ſie ohnehin

nicht rechtskräftig werden) ein Rechtsmittel nicht nöthig,

ja nicht einmal zuläſſig, alſo auch der Richter höherer In-

ſtanz darüber nicht competent ſey. In dieſer zweiten Be-

ziehung alſo kann man ſagen: So weit, als der Inhalt

des Urtheils rechtskräftig wird, iſt es möglich und nöthig,

dieſe Rechtskraft durch Berufung an den höheren Richter

 

|0370 : 352|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

zu hindern. Was daher in Folge der gegenwärtigen Unter-

ſuchung über die Rechtskraft der Gründe als wahr erkannt

werden wird, muß eben ſo auch auf die Möglichkeit und

Nothwendigkeit einer Berufung gegen die Gründe bezogen

werden.

In dem Satz ſelbſt aber, deſſen Wahrheit nunmehr zu

prüfen iſt, werden zwei an ſich ganz verſchiedene Behaup-

tungen häufig zuſammengeworfen, deren wahre Bedeutung

ſich auf folgende zwei Fragen zurückführen läßt.

 

I. Was iſt in dem Gedanken des urtheilenden Richters

wahrhaft enthalten, was wird alſo durch den Ausſpruch

dieſes Gedankens zur Rechtskraft, d. h. zur Fiction der

Wahrheit erhoben?

 

Der Zuſammenhang der ſo gefaßten Frage mit dem

oben aufgeſtellten Satze wird durch folgende Erläuterung

anſchaulich werden. Wenn in dem vollſtändigen Gedanken

des Richters das logiſche Verhältniß von Grund und Folge

enthalten iſt (und Dieſes wird ſich meiſtens darin finden),

müſſen wir dann auch einem ſolchen Grunde die Rechts-

kraft zuſchreiben, oder vielmehr nur dem aus dieſem Grunde

abgeleiteten Ausſpruch ſelbſt?

 

II. Aus welchen Quellen haben wir den wahrhaften

Inhalt des richterlichen Gedankens zu erkennen? wo haben

wir denſelben aufzuſuchen?

 

Um den Zuſammenhang dieſer zweiten Frage mit dem

oben aufgeſtellten Satze anſchaulich zu machen, muß daran

erinnert werden, daß es ſeit Jahrhunderten in vielen

 

|0371 : 353|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

Gerichtshöfen üblich iſt, neben jedem ausgeſprochenen Ur-

theil eine ausführliche Rechtfertigung deſſelben aufzuſtellen,

die den Namen führt: Urtheilsgründe, oder auch:

Zweifels- und Entſcheidungsgründe. Der Sinn

der eben aufgeworfenen zweiten Frage geht alſo dahin, ob

wir Dasjenige, welches rechtskräftig werden ſoll, blos in

dem einen jener zwei Schriftſtücke (dem Tenor) aufzuſuchen

haben, oder in beiden; mit anderen Worten: ob auch die

Urtheilsgründe rechtskräftig werden.

Es iſt einleuchtend, daß beide aufgeſtellte Fragen an

ſich ganz verſchieden ſind, und daß in beiden der Ausdruck:

Gründe, nach deren Rechtskraft man fragt, eine verſchie-

dene Bedeutung hat. Die erſte Frage geht in das Weſen

der Sache ein, und muß unter allen Umſtänden beantwor-

tet werden. Die zweite Frage hat eine mehr formelle

Natur, und kann nur vorkommen unter Vorausſetzung

einer beſondern Einrichtung der geſchriebenen Urtheile, die

ganz zufällig, und nichts weniger als allgemein iſt. Der

Verſchiedenheit dieſer beiden Fragen aber pflegen ſich die

Schriftſteller oft gar nicht bewußt zu werden, welche die

Rechtskraft der Gründe in Frage ſtellen, verneinen oder

bejahen; ſie verfahren dabei ſo, als wäre in dieſer ganzen

Sache nur eine einzige Frage zu beantworten. Allerdings

beſchäftigen ſie ſich meiſt ſcheinbar nur mit der zweiten

Frage, aber dieſe hat ſelbſt nur Werth und Wichtigkeit,

inſofern die erſte Frage unvermerkt in dieſelbe hinein ſpielt.

 

 

VI. 23

|0372 : 354|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Ich will nunmehr die Beantwortung der erſten Frage

verſuchen, die ich nochmals ſo ausdrücke:

Was iſt es, das durch den Ausſpruch des richter-

lichen Gedankens zur Rechtskraft erhoben wird?

 

Ich will damit anfangen, mich verſuchsweiſe auf die

Seite Derer zu ſtellen, die alle Rechtskraft der Gründe

völlig verneinen, und alſo durch die äußerſte Abſtraction

aus dem Urtheil jeden Schein eines ausgeſprochenen

Grundes zu entfernen ſuchen.

 

Hiernach würde etwa die Verurtheilung ſo lauten

können:

daß der Beklagte dem Kläger eine beſtimmte Sache

heraus zu geben, eine beſtimmte Geldſumme zu zahlen

ſchuldig ſey (a);

 

Die Freiſprechung aber ſo:

daß Kläger mit der erhobenen Klage abzuweiſen ſey.

 

In dieſen beiden Formeln dürfte wohl jede Spur eines

Grundes vertilgt ſeyn.

 

Wenn aber überhaupt die Rechtskraft anerkannt werden

ſoll, ſo wie oben ihre Unentbehrlichkeit dargethan worden

iſt, muß ich die in jener Abſtraction liegende Einſchränkung

für völlig unausführbar und verwerflich halten.

 

Dieſes ſoll nunmehr nach zwei Seiten hin dargethan

werden:

 

(a) Schon wenn die Verur-

theilung ſo lautet: „daß Beklagter

die geliehene Summe von Hun-

dert zurück zu zahlen ſchuldig,“ iſt

ein Grund der Entſcheidung (die

Darlehns-Obligation) in dem Ur-

theil ausgedrückt.

|0373 : 355|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

Erſtlich mit Hinſicht auf die künftige Wirkung der

Rechtskraft;

Zweitens mit Hinſicht auf die Natur des Rechtsſtreits

und die Aufgabe des Richteramtes.

Was zuerſt die künftige Wirkung der Rechtskraft betrifft,

ſo beſteht dieſe darin, daß der Inhalt des rechtskräftigen

Urtheils als wahr behandelt werden ſoll in jedem künf-

tigen Rechtsſtreit, in welchem dieſelbe Rechtsfrage, wie in

dem gegenwärtigen Urtheil, vorkommt, der alſo mit dem

jetzt entſchiedenen Rechtsſtreit hierin identiſch iſt (b).

Daß aber dieſe Identität, worauf alle Anwendung der

Rechtskraft beruht, durch jene abſtracte Einſchränkung

völlig unerkennbar wird, geht aus folgender Betrachtung

hervor.

 

Die Bedingungen jeder Verurtheilung, ſo wie jeder

Freiſprechung, können eine ſehr zuſammengeſetzte Natur

haben.

 

Bei der Eigenthumsklage ſind ſtets die poſitiven Be-

dingungen des Klagrechts: 1. Eigenthum des Klägers,

2. Beſitz des Beklagten. Es können ferner mancherlei

Einreden entgegengeſetzt ſeyn, z. B. a. aus einem Vergleich

über dieſen Rechtsſtreit, b. aus einem Vertrag über dieſe

 

(b) Der hier aufgeſtellte Satz

mußte einſtweilen aus der ſpäter

folgenden Darſtellung erborgt wer-

den, worin er erſt volles Licht und

Begründung erhalten kann.

23*

|0374 : 356|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Sache (etwa Miethcontract), c. die exceptio hypo-

thecaria.

Bei der Erbrechtsklage hat das Klagrecht folgende

Bedingungen: 1. Erbrecht des Klägers, 2. Beſitz des Be-

klagten an beſtimmten Sachen, und zwar mit der beſon-

deren Beſchaffenheit einer pro herede oder pro possessore

possessio, 3. Eigenſchaft der beſeſſenen Sachen als

Beſtandtheile der Erbſchaft. Es können ihr mancherlei

Einreden entgegen ſtehen, z. B. a. Klagverjährung,

b. Vergleich.

 

Eine perſönliche Klage ſetzt ſtets als Bedingung des

Klagrechts voraus die Begründung der Obligation. Es

kann ihr unter andern entgegen geſetzt werden die Einrede

der Compenſation; desgleichen die Einrede der Zahlung.

 

Bei allen dieſen Klagen nun gehört zur Verurtheilung

die Überzeugung des Richters von der Richtigkeit aller

Bedingungen des Klagrechts, und zugleich von der Unrich-

tigkeit aller etwa vorgebrachten Einreden.

 

Zur Freiſprechung dagegen genügt die Überzeugung

von der Unrichtigkeit einer einzigen Bedingung des Klag-

rechts; eben ſo aber auch die Überzeugung von der Rich-

tigkeit auch nur einer einzigen Einrede. Es bleibt alſo bei

der oben angegebenen abſtracten Formel der Freiſprechung, die

ſich auf die Abweiſung des Klägers beſchränkt, völlig unge-

wiß, was der Richter dabei gedacht hat. Er kann (in

dem beiſpielsweiſe angeführten Fall der Eigenthumsklage)

angenommen haben, das Eigenthum, oder der Beſitz ſey nicht

 

|0375 : 357|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

vorhanden; oder aber, der Vergleich, oder der Mieth-

vertrag, oder das Pfandrecht ſey vorhanden. Er kann

ferner ein einziges unter dieſen fünf denkbaren Hinder-

niſſen des Klägers als wahr angenommen haben, oder

einige derſelben, oder alle. Jede dieſer Möglichkeiten recht-

fertigt das freiſprechende Urtheil vollkommen. Daher iſt

es unmöglich, bei einem künftigen verwandten Rechtsſtreit

von der Rechtskraft jenes Urtheils Gebrauch zu machen,

ſo lange wir Nichts wiſſen, als daß damals der Kläger

abgewieſen worden iſt. Jede vom Richter ausgeſprochene

Verneinung nämlich wird rechtskräftig; um aber dieſen

Satz anwenden zu können, müſſen wir vor Allem wiſſen,

was er verneint hat. — Wir müſſen alſo durchaus tiefer

in den Sinn jenes Urtheils eindringen, ſonſt iſt künftig

jede ſichere Anwendung der Rechtskraft ganz unmöglich.

Bei dem verurtheilenden Erkenntniß findet ſich, wenn

auch in geringerem Grade, dennoch dieſelbe Schwie-

rigkeit. Die Ungewißheit iſt dabei geringer, weil

wir beſtimmt wiſſen, daß der Richter alle Bedingungen

der Klage als vorhanden, alle Einreden als unbegründet

angeſehen haben muß (c). Aber auch hier kommen Unge-

wißheiten vor, die durch den bloßen Ausſpruch der Verur-

theilung nicht gehoben werden können. Wenn z. B. bei

einer perſönlichen Klage verurtheilt wird mit Verwerfung

 

(c) Überhaupt iſt die Benutzung

einer rechtskräftigen Verurtheilung

bei künftigen Prozeſſen ungleich

ſeltner, als die der Freiſprechung,

wie denn auch die actio judicati

praktiſch unwichtiger nnd von ſelt-

nerer Anwendung iſt, als die ex-

ceptio rei judicatae.

|0376 : 358|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

der Einrede der Compenſation, ſo kann Dieſes geſchehen

ſeyn entweder, weil der Richter überzeugt war, die auf-

geſtellte Gegenforderung ſey nicht vorhanden, oder, weil

er ſie nur für illiquid und deshalb für untauglich zur

Compenſation hielt. Welcher unter dieſen beiden Gedanken

dem Richter vorſchwebte, läßt ſich der bloßen Verurthei-

lung nicht anſehen, ſondern nur durch tieferes Eindringen in

den Sinn des Urtheils erkennen; dennoch hängt gerade

von dieſem Umſtand der Gebrauch dieſes rechtskräftigen

Urtheils bei einem künftigen Rechtsſtreit lediglich ab (d).

Aus dieſen Erwägungen folgt, daß in der That die

Rechtskraft auch die Gründe des Urtheils mit um-

faßt, d. h. daß das Urtheil als rechtskräftig anzuſehen iſt

nur in unzertrennlicher Verbindung mit den vom Richter

bejahten oder verneinten Rechtsverhältniſſen, wovon der

rein praktiſche Theil des Urtheils (die dem Beklagten auf-

erlegte Handlung, oder die Abweiſung des Klägers) ab-

hängig iſt. In dieſem Sinn des Ausdrucks: Gründe,

behaupte ich die Rechtskraft derſelben. Um aber der Ge-

fahr von Mißverſtändniſſen zu entgehen, die aus der Viel-

deutigkeit jenes Ausdrucks entſteht, will ich die in dieſem

Sinn aufgefaßten Gründe: Elemente der ſtreitigen

Rechtsverhältniſſe und des (den Streit entſcheidenden)

Urtheils, nennen, und nunmehr den aufgeſtellten Satz ſo

ausdrücken:

 

Die Elemente des Urtheils werden rechtskräftig.

 

(d) L. 7 § 1 de compens. (16. 2), L. 8 § 2 de neg. gestis (3. 5).

|0377 : 359|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

In dem oben angeführten Beiſpiel von der Eigenthums-

klage wird alſo rechtskräftig: die Bejahung, oder Vernei-

nung des Eigenthums, des Beſitzes; ferner des Vergleichs,

des Miethvertrags, des Pfandrechts.

 

Zu dieſer Überzeugung ſind wir hier gelangt durch die

Hinſicht auf die künftige Wirkung der Rechtskraft (S. 355);

zu demſelben Ziel aber führt uns auch die Hinſicht

auf die Natur des Rechtsſtreits und die Aufgabe des

Richteramts.

 

Dieſe Aufgabe geht dahin, das ſtreitige Rechtsver-

hältniß, ſobald es durch die Verhandlung ſpruchreif ge-

worden iſt, feſtzuſtellen, und dieſer Feſtſtellung Wirkſam-

keit zu ſichern Zu dieſer Wirkſamkeit aber gehört nicht

blos die augenblickliche Abwehr äußerer Rechtsverletzung,

ſondern auch die Sicherung durch die in alle Zukunft fort-

wirkende Rechtskraft. Daß Dieſes geſchehe, dabei hat die

obſiegende Partei ein augenſcheinliches Intereſſe; was aber

mehr iſt, ſie hat darauf ein unzweifelhaftes Recht.

 

Der Richter alſo würde ſeiner Pflicht nicht genügen,

wenn er blos für das Bedürfniß des nächſten Augen-

blicks nothdürftig ſorgen, die Sicherung aber für alle Zu-

kunft verſäumen wollte. Dieſe Sicherung begründet er

nur dadurch, daß er die Elemente der Entſcheidung feſt-

ſtellt, deren Rechtskraft hinfort bei jedem neuen Rechtsſtreit

benutzt werden kann.

 

Rechtskräftig wird demnach Alles, was der Richter in

Folge der ſpruchreif gewordenen Verhandlung entſcheiden

 

|0378 : 360|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

will. Damit iſt aber nicht geſagt, daß der Richter alle,

in dem Rechtsſtreit zur Sprache gekommenen Elemente wirk-

lich entſcheiden muß, vielmehr iſt hierin ein freier Spiel-

raum des Ermeſſens zuzulaſſen.

Wenn z. B. bei der Eigenthumsklage der Richter die

Überzeugung gewonnen hat, daß dem Kläger das Eigen-

thum nicht zuſteht, ſo muß er Dieſes verneinen. Be-

hauptet zugleich der Beklagte, daß er nicht beſitze, und

wird der Richter davon überzeugt, während der Beweis

des Eigenthums weder geführt, noch mißlungen, vielmehr

in ſeiner Fortſetzung weit ausſehend iſt, ſo kann der

Richter den Kläger abweiſen, indem er den Beſitz des Be-

klagten verneint, und das Eigenthum des Klägers unent-

ſchieden läßt; eben ſo, wenn irgend eine Einrede bewieſen

iſt, ehe über das Eigenthum entſchieden werden kann.

Hierin das rechte Maaß zu halten, iſt die Aufgabe, die

ſich ein verſtändiger Richter ſtellen ſoll, welcher auch

die Wünſche der Parteien zu berückſichtigen nicht ver-

ſäumen wird.

 

Suchen wir aber noch vollſtändiger in die Erwägungen

des Richters einzudringen, wodurch er zu der rein prakti-

ſchen Entſcheidung (Verurtheilung, oder Freiſprechung)

gelangt, ſo müſſen wir uns überzeugen, daß dieſe Erwä-

gungen von zweierlei Art ſind.

 

Zunächſt gehören dahin die bereits erwähnten Elemente

der Rechtsverhältniſſe, die, wenn ſie der Richter erkannt

hat, ſelbſt integrirende Theile des Urtheils werden, und

 

|0379 : 361|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

daher an der Rechtskraft Theil nehmen. — Die Über-

zeugung von dieſen Elementen aber gewinnt der Richter

durch Erwägungen ganz anderer Art: durch die ihm bei-

wohnende Kenntniß der Rechtsregeln; durch die Beweis-

mittel, welche ihn beſtimmen, die in dieſem Rechtsſtreit

wichtigen Thatſachen für wahr, oder unwahr anzunehmen.

Demnach können wir in der ganzen Reihe von Ge-

danken und Erwägungen, wodurch der Richter zum Ziel

des Urtheils gelangt, zweierlei beſtimmende Gründe unter-

ſcheiden: objective, die eigentlich Beſtandtheile des

Rechtsverhältniſſes ſelbſt ſind, alſo Daſſelbe, wofür oben

die Bezeichnung von Elementen gebraucht worden iſt;

ſubjective, wodurch der Richter perſönlich bewogen wird,

eine beſtimmte Überzeugung von jenen Elementen zu faſſen,

ſie zu bejahen, oder zu verneinen. Nun aber müſſen wir

ſogleich den Grundſatz hinzufügen:

Die vom Richter angenommenen objectiven Gründe

(die Elemente) werden rechtskräftig, die ſubjectiven

Gründe werden nicht rechtskräftig (e).

 

(e) Es kommt nicht ſelten vor,

daß in den beſonders abgefaßten

Urtheilsgründen verwandte, aber

in dieſem Rechtsſtreit nicht mit be-

griffene Rechtsverhältniſſe herbei-

gezogen werden, um des Richters

Anſicht von den Rechtsregeln oder

den Thatſachen anſchaulicher zu

machen, und ſo die Überzeugung

des Richters von den Elementen

des vorliegenden Rechtsſtreits ſiche-

rer zu rechtfertigen. Solche Er-

wägungen gehören unter die ſub-

jectiven Gründe und können nie

rechtskräftig werden. In dieſem

Sinn wird die Rechtskraft der

Gründe mit Recht verneint von

Böhmer, wie unten gezeigt wer-

den wird (§ 293 f). So z. B.,

wenn in den Gründen eines Ur-

theils über das Poſſeſſorium zu-

gleich petitoriſche Erwägungen be-

nutzt werden, um die Entſcheidung

über den Beſitz plauſibler zu machen.

|0380 : 362|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Hier ſind wir aber auch auf dem Punkt angelangt,

von welchem aus alle in dieſer Lehre vorkommende Mei-

nungsverſchiedenheit und Verwirrung der Begriffe zu er-

klären iſt. Wer die Rechtskraft der Gründe behauptet,

hat Recht, wenn er dabei an die objectiven Gründe denkt;

wer ſie verneint, hat Recht, wenn er dieſe Verneinung auf

die ſubjectiven Gründe bezieht. Eine genaue Unterſcheidung

dieſer beiden Arten von Gründen iſt bis jetzt ſtets vernach-

läſſigt worden.

 

Damit jedoch die hier behauptete Rechtskraft der ob-

jectiven Gründe in ihrem wahren Werth und Einfluß

anerkannt werde, iſt es nöthig, auf den Begriff der

objectiven Gründe noch etwas genauer einzugehen. Ich

habe bisher als Beiſpiele derſelben hauptſächlich angeführt

die Beſtandtheile des Klagegrundes, und die der Klage

entgegen geſetzten Exceptionen, mit welchen die Repli-

cationen und Duplicationen unzweifelhaft ganz gleiche Natur

haben.

 

Daß nun die Bejahung, oder Verneinung gerade dieſer

Stücke des Prozeſſes rechtskräftig für alle Zukunft ein-

wirkt, ja daß eben hierin die häufigſte und darum wich-

tigſte Wirkſamkeit der Rechtskraft der Gründe beſteht, ſoll

nicht beſtritten werden. Allein es würde unrichtig ſeyn,

und es würde die heilſame Wirkung der Rechtskraft will-

kührlich verkümmern, wenn man die Rechtskraft der Gründe

auf die hier genannten Fälle ſtreng beſchränken wollte.

 

|0381 : 363|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

Vielmehr müſſen dahin auch ſolche Fälle gerechnet werden,

die oben als unächte Exceptionen bezeichnet worden ſind,

alſo namentlich die Fälle der relativen Verneinung, d. h.

der abſoluten Vernichtung eines früher vorhandenen Rechts

des Klägers (§ 225).

Wird daher einer perſönlichen Klage die Einrede der

Compenſation entgegengeſetzt, welches eine wahre Ex-

ception iſt, ſo wird allerdings die Zulaſſung, oder Verwer-

fung dieſer Exception (alſo dieſer Grund der Freiſprechung,

oder der Verurtheilung) rechtskräftig. Aber nicht minder

wird rechtskräftig die Zulaſſung, oder Verwerfung der vom

Beklagten vorgeſchützten Einrede der Zahlung, obgleich

dieſe keine wahre Exception im Römiſchen Sinn des

Wortes iſt. Genau ſo verhält es ſich auch mit der Eigen-

thumsklage, wenn derſelben die fälſchlich ſogenannte

exceptio recentioris dominii entgegengeſetzt wird, d. h. die

Behauptung des Beklagten, daß das früher wirklich vor-

handene Eigenthum des Klägers durch ein ſpäteres Ereig-

niß verloren worden ſey. Auch in dieſen Fällen alſo muß

die Rechtskraft der objectiven Gründe in der That behauptet

werden.

 

Ja ſelbſt auf dieſe, der wahren Exception näher ſtehenden,

Fälle der relativen Verneinung dürfen wir uns nicht be-

ſchränken, wir müſſen vielmehr noch einen Schritt weiter

gehen. Wenn nämlich in einer Klage aus Eigenthum, oder

Erbrecht der Beklagte gar nicht behauptet, das früher vor-

handene Recht des Gegners ſey ſpäter zerſtört worden,

 

|0382 : 364|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſondern wenn er das Daſeyn deſſelben abſolut, für alle

Zeiten, beſtreitet, ſo kann er dieſe ſeine Beſtreitung unter

andern dadurch zu begründen ſuchen, daß er ſelbſt dieſes

Eigenthum, oder dieſes Erbrecht zu haben behauptet, woraus

dann von ſelbſt folgt, daß der Kläger es nicht haben kann

(§ 287 a). Wenn er nun dieſen Weg einſchlägt, wenn

darüber verhandelt, und der Richter von dieſer Behauptung

des Beklagten überzeugt wird, ſo daß er ihn aus dieſem

Grunde freiſpricht, ſo wird dieſer objective Grund der

Entſcheidung rechtskräftig, und es ſteht für alle Zukunft,

dieſem Kläger gegenüber, rechtskräftig feſt, daß dieſer Be-

klagte Eigenthümer, oder Erbe iſt. Durch dieſen nachge-

wieſenen Zuſammenhang glaube ich Dasjenige begründet

zu haben, welches am Schluß des vorhergehenden §. nur

vorläufig behauptet worden iſt, um zur billigen Befriedi-

gung eines wahren praktiſchen Bedürfniſſes zu gelangen.

Da jedoch die Behauptung einer ſo ausgedehnten

Rechtskraft der objectiven Gründe von großer Wichtigkeit

iſt, und vielleicht manchen Widerſpruch erfahren möchte,

ſo will ich ſie noch durch folgende Vergleichung in Bezie-

hung auf die Eigenthumsklage zu beſtätigen ſuchen. Wenn

nicht die Eigenthumsklage, ſondern die publiciana actio

angeſtellt wird, wenn der Beklagte die exceptio dominii

(eine ächte Exception) aufſtellt und beweiſt, und wenn er

deshalb freigeſprochen wird, ſo wird man leicht geneigt

ſeyn, ihm den Vortheil der Rechtskraft aus dieſer ihm zuer-

kannten Exception einzuräumen. Nun kann aber auch

 

|0383 : 365|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

derſelbe Gang des Rechtsſtreits eintreten, wenn nicht die

publiciana, ſondern die Eigenthumsklage angeſtellt wird,

und der Beklagte gleichfalls durch den Beweis ſeines

Eigenthums die Freiſprechung bewirkt. Sollte er nun etwa

den Vortheil der Rechtskraft dieſes Grundes der Entſchei-

dung nicht genießen, den er im Fall der publiciana ge-

noſſen haben würde? Blos deswegen nicht, weil der

juriſtiſche Begriff einer exceptio in dem einen Fall vor-

handen, in dem anderen Fall nicht vorhanden wäre? Dieſes

würde gewiß dem praktiſchen Rechtsſinn in hohem Grade

widerſprechen.

Oben iſt ausführlich dargethan worden, daß die Frei-

ſprechung des Beklagten niemals in eine Verurtheilung des

Klägers umgebildet werden dürfe (§ 288.), und man

könnte auf den erſten Blick geneigt ſeyn, zwiſchen dieſer

Behauptung und den ſo eben aufgeſtellten Sätzen einen

Widerſpruch anzunehmen. Folgende zwei Erwägungen

werden dazu dienen, den Schein dieſes Widerſpruchs zu

beſeitigen. Mit der Verurtheilung ſind überhaupt zwei

mögliche Folgen verknüpft, die zwar zuſammenhangen, je-

doch von einander unterſchieden werden können. Die erſte

Folge iſt das Gebot, Etwas zu thun, zu geben, zu unter-

laſſen; dieſe kann in keinem Fall den Kläger als ſolchen

treffen, und in dieſer Hinſicht iſt die oben aufgeſtellte

Behauptung unbedingt wahr und wichtig. Die zweite Folge

iſt die Einwirkung der Rechtskraft auf zukünftige Streit-

verhältniſſe, und hierauf allein bezieht ſich der ſo eben angege-

 

|0384 : 366|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

bene Schein eines Widerſpruchs. Aber auch in dieſer

Hinſicht iſt wohl zu bemerken, daß die oben aufgeſtellte

Behauptung nur dahin ging, daß die Freiſprechung an ſich,

als ſolche, nicht die Natur und Wirkung einer rechts-

kräftigen Verurtheilung des Klägers haben dürfe.

Damit iſt aber nicht ausgeſchloſſen, daß der Beklagte in-

direct, vermittelſt der Rechtskraft der Gründe, ähnliche

Vortheile erlangen könne, wie ſie ihm die Verurtheilung

des Klägers, wenn ſie zuläſſig wäre, ohnehin verſchafft

haben würde. Ein ſolcher indirecter Vortheil des Beklagten

ſetzt indeſſen ſtets beſondere thatſächliche Verhältniſſe in dem

geführten Rechtsſtreit voraus, und beſonders muß der Be-

klagte künftig den Beweis führen, daß in der That ſolche

objective Gründe bei dem Urtheil vorhanden geweſen ſind.

Es iſt daher noch immer auch in dieſer Hinſicht eine nicht

unerhebliche praktiſche Folge mit jener oben aufgeſtellten

Behauptung verbunden.

Die bisher angeſtellte Unterſuchung über die Rechts-

kraft der Gründe beruhte auf allgemeinen Betrachtungen

über die Natur des Rechtsſtreits, die Stellung des Richter-

amtes, die Bedingungen möglicher Anwendung der Rechts-

kraft. Wie ſtellt ſich aber dazu das Römiſche Recht?

Man könnte jene Behauptungen nach ihrer allgemeinen

Herleitung als wahr zugeben, daneben aber behaupten,

das Römiſche Recht lehre etwas ganz Anderes, oder es

 

|0385 : 367|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

ſey auf dieſe Fragen gar nicht eingegangen, oder es habe

ſie nur theilweiſe und unbefriedigend berührt.

Ich muß dagegen behaupten, daß die hier dargeſtellte

Lehre von der Rechtskraft der Elemente des Urtheils im

Römiſchen Recht ihre vollſtändige und ſichere Anerkennung

gefunden hat. Zwar iſt ſie nirgend in der Geſtalt eines

allgemeinen Grundſatzes aufgeſtellt, aber das beſtimmte

Bewußtſeyn derſelben giebt ſich in folgenden Äußerungen

unſrer Rechtsquellen auf unzweifelhafte Weiſe kund.

 

Erſtlich in der ſicheren und erſchöpfenden Anwendung

der Rechtskraft bei den Römiſchen Juriſten, wovon die

folgende Darſtellung den Beweis liefern wird. Dieſe wäre

aber, wie oben gezeigt worden iſt, völlig unmöglich, wenn

nicht ſtets die Rechtskraft der Elemente (d. h. der objectiven

Gründe) von ihnen vorausgeſetzt würde.

 

Zweitens zeigt ihre Behandlung einiger einzelnen Fälle

unwiderſprechlich, daß ſie die Rechtskraft der Elemente mit

deutlichem Bewußtſeyn vorausgeſetzt haben.

 

Wenn die Eigenthumsklage nur deshalb abgewieſen

wird, weil der Beklagte nicht beſitzt, ſpäter aber der Beſitz

an den Beklagten kommt, ſo kann die Eigenthumsklage

von Neuem mit Erfolg angeſtellt werden, und die frühere

Rechtskraft des Urtheils ſteht nicht im Wege (f). Hier

iſt nun zunächſt einer der Fälle vorhanden, worin nach

geſprochenem Urtheil neue Thatſachen eingetreten ſind (g),

 

(f) L. 9 pr. L. 17 L. 18 de

exc. rei jud. (44. 2). Vgl. oben

§ 263.

(g) Eine nova oder superve-

niens causa, wovon unten § 300.

die Rede ſeyn wird.

|0386 : 368|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

auf deren Folgen das frühere Urtheil natürlich keinen hin-

dernden Einfluß haben kann; dieſer Satz hat allerdings

mit unſrer Frage keine Berührung. Daß aber das frühere

Urtheil die Klage abgewieſen hat wegen des fehlenden

Beſitzes und nur aus dieſem Grunde, daß es insbeſon-

dere nicht auch das Eigenthum dem Kläger abgeſprochen

hat (in welchem eine ſpäter eingetretene Veränderung gar

nicht behauptet wird), — dieſes Alles erfahren wir nur,

indem wir uns nicht mit der Kenntniß des rein prakti-

ſchen Ausſpruchs im Urtheil (der Abweiſung) begnügen,

ſondern auf den objectiven Grund dieſes Ausſpruchs zurück

gehen, und dadurch erkennen, ob der Richter blos das

Eigenthum des Klägers, oder vielmehr blos des Beklagten

Beſitz, oder endlich Beides zugleich verneinen wollte.

Ein ganz ähnlicher Fall tritt ein, wenn einer perſön-

lichen Klage die Compenſation entgegen geſtellt wird, der

Richter aber dieſe Einrede verwirft, und den Beklagten auf

die volle eingeklagte Summe verurtheilt. Hier kommt Alles

darauf an, ob die Einrede verworfen worden iſt, weil der

Richter die Gegenforderung für nicht vorhanden, oder nur

für illiquid gehalten hat. Im erſten Fall wird der künfti-

gen Klage auf die Gegenforderung die exceptio rei judi-

catae entgegen ſtehen, im zweiten Fall aber nicht (Note d).

Auch hier alſo iſt die Anwendbarkeit der Rechtskraft ganz

abhängig von der Einſicht in den Grund, aus welchem

der Richter die Einrede verworfen hat; die bloße Verwer-

fung an ſich läßt uns darüber völlig ungewiß.

 

|0387 : 369|

§. 291. Rechtskraft der Gründe.

Der entſcheidendſte Fall aber, welcher beweiſt, daß die

Römiſchen Juriſten die Gründe der Entſcheidung mit in

das Gebiet der Rechtskraft gezogen haben, iſt diejenige

Art der Eigenthumsklage, welche per sponsionem geführt

wurde (h).

 

Drittens endlich finden ſich mehrere Stellen des Römi-

ſchen Rechts, worin die Anwendung der Rechtskraft auf

einen künftigen Rechtsſtreit geradezu und wörtlich von dem

Umſtande abhängig gemacht wird, aus welchem Grunde

ein früherer Ausſpruch erlaſſen worden iſt, worin wir

alſo auf die Erforſchung und Berückſichtigung dieſes Grundes

unmittelbar angewieſen werden (i).

 

Die bisher angeſtellte Unterſuchung hat zu dem Ergeb-

niß geführt, daß die Rechtskraft nicht blos der Entſchei-

dung ſelbſt (Verurtheilung oder Freiſprechung), ſondern

auch den objectiven Gründen derſelben, zugeſchrieben

werden muß, d. h. daß dieſe Gründe als integrirende

Theile des Urtheils anzuſehen ſind, der Umfang der Rechts-

kraft alſo ſtets durch den Inhalt des Urtheils in Ver-

bindung mit jenen Gründen beſtimmt werden muß.

 

(h) Vgl. unten § 292 f.

(i) Dahin gehören folgende

Stellen: L. 17 de exc. r. j.

(44. 2) „Si rem meam a te

petiero, tu autem ideo fueris

absolutus, quod probaveris sine

dolo malo te desisse possidere

… non nocebit mihi exceptio

rei judicatae.“ — L. 18 pr.

eod. „Si … absolutus fuerit ad-

versarius, quia non possidebat

… rei judicatae exceptio lo-

cum non habebit.“ — Eben ſo

L. 9 pr. eod.

VI. 24

|0388 : 370|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Dieſer wichtige Grundſatz aber iſt nicht nur für wahr

zu halten nach der Aufgabe des Richteramtes und nach

der Natur der Rechtskraft, ſondern er iſt auch ſchon im

Römiſchen Recht beſtimmt anerkannt und zur vollen An-

wendung gebracht worden.

 

§. 292.

Genauere Beſtimmungen des Inhalts. Rechtskraft der

Gründe. (Fortſetzung.)

Bisher iſt die Frage beantwortet worden, was durch

den Ausſpruch des richterlichen Gedankens rechtskräftig

werde, und es bleibt nun noch die zweite Frage zu beant-

worten übrig:

Aus welchen Quellen der wahrhafte Inhalt des rich-

terlichen Gedankens (alſo der Umfang der rechtskräf-

tigen Gegenſtände) zu erkennen iſt. (S. 352.)

 

Wenn wir die, ſeit langer Zeit ſehr weit verbreitete

Art, die Urtheile ſchriftlich abzufaſſen, vorausſetzen, nach

welcher dem Urtheil ſelbſt eine ausführliche Rechtfertigung

hinzugefügt wird, ſo liegt der Gedanke ſehr nahe, nur der

Inhalt des Urtheils werde rechtskräftig, der Inhalt der

Urtheilsgründe ſey blos zur Ueberzeugung der Parteien

oder anderer Leſer beſtimmt, und werde nicht rechtskräftig.

So iſt es auch in der That zu verſtehen, wenn ſeit langer

Zeit viele Schriftſteller über die Frage geſtritten haben, ob

Gründe rechtskräftig werden?

 

|0389 : 371|

§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)

Die angegebene Behauptung würde nur unter der Vor-

ausſetzung wahr und zugleich ausreichend ſeyn, wenn ſtets

in dem Urtheil alle objectiven Gründe, in den Urtheils-

gründen alle ſubjectiven Gründe, und nur dieſe, enthalten

wären. Dann würde dieſe Behauptung mit der oben auf-

geſtellten Lehre (§ 291) völlig übereinſtimmen.

 

Jene Vorausſetzung aber trifft in der Wirklichkeit ganz

und gar nicht zu, ja ſie kann ſchon deshalb nicht zutreffen,

weil in der Abfaſſung der Urtheilsgründe die größten Ver-

ſchiedenheiten wahrzunehmen ſind. Unmöglich kann aber

der Umfang der Rechtskraft von einem ſo zufälligen und

willkührlichen Verfahren der verſchiedenen Gerichte abhängig

gemacht werden.

 

Ich will dabei nicht die großen Verſchiedenheiten der

äußeren Form erwähnen, die hier weniger in Betracht

kommen (a). Aber auch darin herrſcht große Verſchieden-

heit, daß bald mehr, bald weniger in das Urtheil ſelbſt

aufgenommen wird, ſo daß die Gränze zwiſchen beiden

 

(a) In den älteren Fakultäts-

urtheilen findet ſich die pedantiſche

Form, erſt die Zweifelsgründe,

dann die Entſcheidungsgründe dem

Urtheil voranzuſchicken, beide aber

mit dem Urtheil zu einem einzigen

Satz zu verbinden, ſelbſt wenn

dieſer durch eine große Zahl von

Bogen hindurch ging, z. B. ſo an-

fangend: „Wenn es gleich ſcheinen

wollte, daß …; dennoch aber und

dieweilen“ u. ſ. w. — In der An-

ordnung ähnlich ſind die, nach

Franzöſiſcher Form abgefaßten Ur-

theile, welchen ein Considérant

(In Erwägung), oft in ſehr vie-

len einzelnen Sätzen, vorhergeht. —

Die neuere, in Deutſchen Gerichten

vorherrſchende Form iſt die, daß

dem Urtheil die Gründe in Geſtalt

einer beſonderen Abhandlung, eines

Gutachtens, beigegeben werden.

Vgl. Danz Prozeß, Anhang S. 67.

Brinkmann richterliche Urtheils-

gründe S. 91.

24*

|0390 : 372|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Schriftſtücken als eine ſchwankende und zufällige erſcheint.

Dieſe innere Verſchiedenheit hat auch ihren Grund nicht

blos in den Gewohnheiten verſchiedener Gerichte, ſondern

die eigenthümliche Beſchaffenheit jeder einzelnen Rechtsſtrei-

tigkeit führt dahin, daß daſſelbe Gericht nicht überall die-

ſelbe Gränze beobachtet, indem bei einfachen Sachen die

vollſtändige Aufnahme der objectiven Gründe in das Urtheil

ſelbſt ſehr leicht ſeyn kann (b), die bei verwickelten Sachen

vielleicht große Schwierigkeit mit ſich führen wird.

Die größte Verſchiedenheit aber findet ſich darin, daß

manche Gerichte überhaupt gar keine Gründe aufſtellen, ſo

daß die oben aufgeſtellte Behauptung, ſelbſt wenn ſie außer-

dem wahr und unbedenklich wäre, wenigſtens zu einem all-

gemein durchgreifenden Princip nicht geeignet ſeyn würde (c).

 

Nach dieſen Erwägungen müſſen wir die oben aufge-

ſtellte Behauptung gänzlich verwerfen, und dagegen den

Grundſatz aufſtellen:

Rechtskräftig werden die objectiven Gründe, und dieſe

 

 

(b) So z. B., wenn in einer

Eigenthumsklage lediglich über das

Daſeyn des Eigenthums geſtritten,

und dann der Beklagte verurtheilt

wird, ſo kann das Urtheil ſelbſt

ſehr leicht das Eigenthum aus-

ſprechen, und daran die Verpflich-

tung des Beklagten zur Heraus-

gabe der Sache (vielleicht auch der

Früchte u. ſ. w.) unmittelbar an-

knüpfen. Eben ſo, wenn dieſelbe

Klage blos wegen des dem Be-

klagten fehlenden Beſitzes abge-

wieſen wird, iſt es leicht, der Ab-

weiſung dieſen einzigen Grund un-

mittelbar beizufügen.

(c) In Preußen haben ſchon

längſt die meiſten Gerichte Urtheils-

gründe abgefaßt und den Parteien

mitgetheilt, bei dem Geheimen

Ober-Tribunal aber erfolgt dieſe

Mittheilung erſt ſeit der Kabinets-

ordre vom 19. Juli 1832 (S. 192

der Geſetzſammlung von 1832).

|0391 : 373|

§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)

müſſen wir aufſuchen, wo ſie auch zu finden ſeyn

mögen.

Wir haben ſie alſo erſtens aufzuſuchen in dem Urtheil

ſelbſt, ſo weit ſie in demſelben ausgeſprochen ſind. —

Zweitens in den beſonders abgefaßten Urtheilsgründen;

hier aber kommt es darauf an, nach inneren Merkmalen

die objectiven Gründe, welche allein der Rechtskraft empfäng-

lich ſind, von dem übrigen Inhalt genau auszuſcheiden. —

Drittens müſſen wir, wenn jene Erkenntnißquellen nicht

ausreichen (d), die geſammten Verhandlungen des Rechts-

ſtreites zu Hülfe nehmen, wobei die Klageſchrift die erſte

Stelle einnimmt. — Endlich ſind viertens außer dieſen

geſchriebenen Quellen, aber in gleichem Werthe mit dieſen,

manche allgemeinere Erwägungen zu benutzen, von welchen

am Schluß des gegenwärtigen §. noch beſonders die Rede

ſeyn wird.

 

In Folge dieſer Überſicht über die wahren Quellen

für die Erkenntniß des Umfangs der Rechtskraft läßt ſich

fragen, welche Einrichtungen bei Abfaſſung der Urtheile

räthlich ſeyn möchten, um den unzweifelhaften Zweck der

Rechtskraft möglichſt ſicher zu ſtellen.

 

Am beſten würde dieſer Zweck erreicht werden, wenn

es möglich wäre, ſchon in das Urtheil ſelbſt die Geſammt-

heit der objectiven Gründe aufzunehmen, ſo daß ſchon das

Urtheil allein hinreichen würde, den Umfang der Rechts-

 

(d) Dahin gehören alle Urtheile derjenigen Gerichte, die überhaupt

keine Urtheilsgründe aufzuſtellen pflegen.

|0392 : 374|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

kraft vollſtändig zu überſehen; die abgeſonderten Urtheils-

gründe würden dann nur dazu dienen, das Urtheil zu

erläutern, und die Ueberzeugung des Richters auch in

Anderen zu erwecken. Da aber dieſe Einrichtung bei ver-

wickelten Sachen in aller Strenge kaum durchzuführen

ſeyn möchte, ſo läßt ſie ſich nur annäherungsweiſe als

wünſchenswerthes Ziel aufſtellen.

Dagegen iſt es unter allen Umſtänden ſowohl möglich,

als räthlich, in den beſonders abgefaßten Urtheilsgründen

alle diejenigen Stücke, welche die Natur von objectiven

Gründen haben, und daher nach der Abſicht des Richters

rechtskräftig werden ſollen, als ſolche beſtimmt anzugeben,

damit über dieſen Punkt kein Zweifel entſtehen könne.

 

Zur Beſtätigung der hier aufgeſtellten Behauptungen

wird es dienen, wenn wir uns klar zu machen ſuchen,

aus welchen Quellen die Römer in jedem Rechtsſtreit den

Umfang der Rechtskraft feſtzuſtellen ſuchten, da bei ihnen

die äußeren Formen des Verfahrens mit den unſrigen

durchaus keine Aehnlichkeit hatten, und doch derſelbe Zweck,

wie von uns, erreicht werden mußte.

 

Über die ſpätere Zeit des Römiſchen Rechts fehlt es

uns hierin gänzlich an Nachrichten; für die Zeit des For-

mularprozeſſes aber glaube ich darüber ziemlich ſichere

Auskunft geben zu können.

 

Im Formularprozeß wurde der Umfang der Rechtskraft,

d. h. der objectiven Gründe, die als Beſtandtheile des

 

|0393 : 375|

§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)

Urtheils anzuſehen ſeyn ſollten, zunächſt erkannt aus der

Intentio und der dieſelbe ergänzenden Demonstratio. Wo

aber dieſe Erkenntnißmittel nicht ausreichten, wurden auch

wohl in das Urtheil ſelbſt ausgeſprochene objective Gründe

mit aufgenommen. Einige Beiſpiele werden dieſe Behaup-

tungen ſowohl erläutern, als beſtätigen.

Manche Klagen, wie z. B. die depositi actio, hatten

eine zwiefache Formel: in jus und in factum. Bei jener

wurde der Inhalt des Rechtsſtreits aus der Demonstratio

erkannt, bei dieſer aus der Intentio (e), und ſo konnten

dieſe verſchiedenen Theile der Formel unmittelbar dazu dienen,

den Inhalt und Umfang des in die Rechtskraft überge-

gangenen Urtheils zu erkennen.

 

Beiſpiele anderer Art aber, worin die formula nicht

ausreichte, ſondern andere Umſtände hinzugenommen werden

mußten, um die Rechtskraft zu beſtimmen, ſind folgende.

Wenn die Eigenthumsklage per sponsionem angeſtellt

wurde, ſo lautete die formula ganz einfach ſo: Si paret,

N. Negidium A. Agerio sestertios XXV. nummos dare

oportere. Dieſe 25 Seſterze aber ſollten gar nicht bezahlt

werden, ſondern die Abſicht ging dahin, ein rechtskräftiges

Anerkenntniß des Eigenthums zu erlangen. Dieſe Abſicht

wurde nur dadurch erreicht, daß man auf den Grund der

Entſcheidung zurückging, nämlich auf die, in der Formel

nicht ausgedrückte, vorhergegangene Stipulation, worin der

 

(e) Gajus IV. § 47.

|0394 : 376|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Beklagte dem Kläger 25 Seſterze unter der Bedingung,

daß der Kläger Eigenthümer wäre, verſprochen hatte (f).

Der Beſitz des Beklagten als Bedingung der petitoria

formula wurde in der Intentio gar nicht erwähnt, ſondern

lediglich officio judicis geprüft und im Urtheil beachtet (g).

Wenn daher wegen des Mangels dieſes Beſitzes die Klage

abgewieſen wurde, ſo konnte dieſer Grund der Entſchei-

dung nicht aus der Vergleichung des Urtheils mit der

formula erkannt werden. Daher pflegte dieſer Grund der

Entſcheidung, wie es mehrere Stellen der Römiſchen Ju-

riſten geradezu erwähnen, in dem Urtheil ſelbſt ausgedrückt

zu werden (h).

 

Auch noch in mehreren anderen Stellen werden Urtheile

erwähnt, in welchen Entſcheidungsgründe unmittelbar aus-

gedrückt ſind (i). Schwerlich iſt hierüber ein ganz gleich-

förmiges Verfahren in allen Urtheilen beobachtet worden.

 

(f) Gajus IV. § 93. 94. —

In der Behandlung dieſes Falles

liegt zugleich einer der vollſtändig-

ſten Beweiſe der oben aufgeſtellten

Behauptung, daß überhaupt im

Römiſchen Recht die Rechtskraft

auch auf die Gründe der Entſchei-

dung bezogen worden iſt. Vgl.

oben § 291. h. — Eben weil in

dem Fall der certi condictio aus

einer Geldſtipulation die bloße In-

tentio keinen Aufſchluß über die

Natur und den Grund des An-

ſpruchs gab, ſo mußte bei dieſer

Klage neben der actio auch die

vollſtändige stipulatio edirtwerden.

L. 1 § 4 de edendo (2. 13).

(g) L. 9 de rei vind. (6. 1).

(h) Vgl. oben § 291. f. i.

(i) L. 1 § 1 quae sent. sine

app. (49. 8). (Macer) „Item si

calculi error in sententia esse

dicatur, appellare necesse non

est: veluti si judex ita pro-

nuntiaverit: Cum constet, Titium

Sejo ex illa specie quinquaginta,

item ex illa specie viginti quin-

que debere; idcirco Lucium Ti-

tium Sejo centum condemno.

Nam quoniam error computa-

|0395 : 377|

§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)

Es iſt oben geſagt worden, daß es außer den, hier an-

gegebenen, geſchriebenen Quellen auch noch manche allge-

meinere Erwägungen gebe (gleichſam unſichtbare Erkennt-

nißquellen), welche bei Beſtimmung des Umfangs der

Rechtskraft benutzt werden müßten.

 

Dieſe Erkenntnißquellen können in zwei entgegengeſetzten

Richtungen beſtimmend einwirken: Einige, indem ſie als

ſtillſchweigende Zuſätze zu dem Urtheil hinzugedacht werden

müſſen; Andere, indem ſie diejenigen Ausſprüche, die ihrer

Form nach, und nach der Abſicht des Richters, zu dem

Urtheil gehören, und alſo der Rechtskraft theilhaftig zu

ſeyn ſcheinen, ganz, oder theilweiſe entkräften. — Es ge-

hören dahin folgende Fälle:

 

I. Jede Verurtheilung ſchließt in ſich die Freiſprechung

von allen weiter gehenden Anſprüchen aus dem ſtreitig

gewordenen und abgeurtheilten Rechtsverhältniß; jede Frei-

ſprechung geht nicht blos auf das von dem Kläger gefor-

derte Ganze, ſondern auch auf jeden denkbaren Theil dieſes

Ganzen (§ 286).

 

Dieſe, in ihren praktiſchen Folgen ungemein wichtigen

Sätze, die niemals in dem Urtheil ausgedrückt zu werden

pflegen, ſind ſtets als ſtillſchweigende Beſtandtheile des

 

tionis est, nec appellare ne-

cesse est, et citra provocatio-

nem corrigitur.“ — Eben ſo in

dem anderen Fall, welcher in dem

§ 2 derſelben Stelle als Beiſpiel

einer Entſcheidung mit Gründen

aufgeſtellt wird. Desgleichen auch

in L. 2 C. quando provocare

(7. 64).

|0396 : 378|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Urtheils anzuſehen, die eben ſo rechtskräftig werden, wie

der ausgeſprochene Theil deſſelben.

II. In jedem Urtheil iſt ſtillſchweigend hinzuzudenken

eine gewiſſe Zeitbeſtimmung. Die Anerkennung, oder Ver-

neinung eines Rechts in der Perſon des Klägers ſoll als

Wahrheit gelten, und wird rechtskräftig nur für den

Zeitpunkt, in welchem das Urtheil geſprochen

wird.

 

Der Richter ſpricht alſo Etwas aus nur in Beziehung

auf den gegenwärtigen Zeitpunkt; er läßt nothwendig un-

berührt alle in die Zukunft fallenden Veränderungen, und

die Rechtskraft des Urtheils bleibt ohne Einwirkung auf

jeden Rechtsſtreit, welcher auf der Behauptung von That-

ſachen beruht, die erſt nach dem Urtheil eingetreten ſeyn

ſollen.

 

Dieſer Satz, der in ſeinen einzelnen Anwendungen nie-

mals bezweifelt worden iſt (k), findet gerade hier ſeine

wahre Begründung. Er beruht nämlich darauf, daß die

eben erwähnte Zeitbeſtimmung als ſtillſchweigender Zuſatz

in das Urtheil hinein zu denken iſt. Daraus folgt, daß

eine künftige, auf ſpätere Thatſachen gegründete Klage mit

dem früheren Urtheil gar nicht im Widerſpruch ſteht (l).

 

(k) Er kommt vor bei der causa

superveniens, ſ. u. § 300.

(l) Die angegebene Regel iſt

hier abgeleitet worden aus dem

richtig verſtandenen Inhalt des

Urtheils, alſo aus der Natur der

Einrede der Rechtskraft in ihrer

poſitiven Function. Dieſelbe Regel

wurde auch anerkannt, nur aus

anderen Gründen, bei der Einrede

in ihrer älteren Geſtalt (der nega-

tiven Function). Hier beruhte ſie

|0397 : 379|

§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)

III. Die bisher abgehandelten Fälle führten dahin, daß

dem wörtlich ausgeſprochenen Urtheil aus allgemeinen Er-

wägungen ſtillſchweigende Zuſätze beigegeben wurden, die

an der Rechtskraft Theil nehmen ſollten. Es giebt aber

auch Fälle, in welchen umgekehrt Dasjenige, welches durch

ſeine Form und durch die Abſicht des Richters rechtskräftig

werden ſollte, von der Rechtskraft ausgeſchloſſen blei-

ben muß.

 

Dahin gehört, richtig aufgefaßt und begränzt, der Fall

des Rechnungsfehlers. Wenn nämlich das Urtheil

ſelbſt eine Rechnung aufſtellt und aus dieſer die Summe

der Verurtheilung ableitet, die Rechnung aber falſch iſt, ſo

ſteht die ausgeſprochene Summe mit den mathematiſchen

Denkgeſetzen im Widerſpruch. Die Folge iſt die, daß die

Beſtandtheile der Rechnung als wahr und rechtskräftig

angenommen werden, die Summe ſelbſt aber berichtigt

werden kann und muß, und zwar ohne Appellation oder

irgend ein anderes Rechtsmittel, ohne neues Urtheil, ſowohl

von demſelben Richter, der das Urtheil geſprochen hat, als

auch von jedem anderen Richter, der mit dieſer Sache zu

thun bekommt (m). Der Fall, welcher von dem alten Juriſten

 

darauf, daß die ſpäter angeſtellte

Klage auf alia res ging, alſo mit

der früher in judicium deducirten

und dadurch conſumirten Klage

nicht identiſch war. Keller

S. 292.

(m) L. 1 § 1 quae sent. (49. 8),

oben in der Note i. abgedruckt. —

Vgl. Gönner B. 3 S. 203.

Linde Handbuch § 13. — Alle

anderen Irrthümer des Urtheils

darf der urtheilende Richter ſelbſt

durchaus nicht verbeſſern, nachdem

das Urtheil einmal ausgeſprochen

iſt. L. 42, L. 45 § 1, L. 55 de

re jud. (42. 1). Nur eine Er-

|0398 : 380|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

angeführt wird, bezieht ſich auf ein Urtheil von folgendem

Inhalt: „Da der Beklagte aus Einem Rechtsgrund 50 ſchuldig

„iſt, aus einem andern Rechtsgrund 25, ſo verurtheile ich

„ihn zu 100.“ Hier ſoll nicht etwa (wie man glauben

könnte) das ganze Urtheil nichtig ſeyn, ſondern es ſoll nur

die Rechnung berichtigt werden (citra provocationem cor-

rigitur), d. h. es ſoll ſo angeſehen werden, als wenn zu

75 verurtheilt wäre. Nach den oben aufgeſtellten Grund-

ſätzen aber kann es kein Bedenken haben, daſſelbe Verfahren

anzuwenden, ohne Unterſchied, ob jene Rechnung in dem

Urtheil ſelbſt (wie in jener Digeſtenſtelle), oder in den ab-

geſondert beigefügten Urtheilsgründen aufgeſtellt iſt.

Mit dieſem Fall des Rechnungsfehlers läßt ſich noch

der andere (ſchwerlich je vorkommende) Fall vergleichen,

wenn irgend ein Stück des Urtheils nach Naturgeſetzen

unmöglich iſt (n), da dieſe denſelben Anſpruch auf unbedingte

Anerkennung haben, wie die Geſetze der Mathematik, ſo

daß in beiden Fällen eine eigentlich juriſtiſche Prüfung

und Berichtigung des Urtheils als gleich überflüſſig er-

ſcheint.

 

Dagegen haben eine ganz verſchiedene Natur einige

 

gänzung des Urtheils ſoll ihm ge-

ſtattet ſeyn, wenn ſie noch an

demſelben Tage hinzugefügt wird.

L. 42 cit.

(n) L. 3 pr. § 1 quae sent. (49. 8)

„Paulus respondit, impossibile

praeceptum judicis nullius esse

momenti. — Idem respondit,

ab ea sententia, cui pareri re-

rum natura non potuit, sine

causa appellari.“ — Über den,

auch in manchen anderen Rechts-

inſtituten wahrzunehmenden Ein-

fluß der auf Naturgeſetzen beru-

henden Nothwendigkeit oder Un-

möglichkeit vgl. oben B. 3 § 121 fg.

|0399 : 381|

§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)

andere Fälle, die mit dem eben dargeſtellten Fall des im

Urtheil enthaltenen Rechnungsfehlers mehr oder weniger

verwandt ſind, und daher irrigerweiſe von manchen Schrift-

ſtellern auf gleiche Linie geſtellt werden.

Ein Rechnungsfehler nämlich kann auch außer einem

Rechtsſtreit, in Rechtsgeſchäften verſchiedener Art vorkom-

men, und dann zu einer Anfechtung des Geſchäfts Anlaß

geben. Wenn z. B. eine aus mehreren Poſten beſtehende

Kaufmannsrechnung falſch ſummirt wird, und deshalb der

Käufer mehr bezahlt, als er ſchuldig iſt, ſo kann er die

Überzahlung mit einer condictio indebiti zurückfordern.

Bei dieſem Rechtsſtreit kann ein Vergleich, ſo wie ein

rechtskräftiges Urtheil vorkommen (o); aber alle dieſe Fol-

gen, die ſich an einen urſprünglich außergerichtlichen Rech-

nungsfehler anknüpfen, haben mit der oben aufgeſtellten

Regel von dem im Urtheil enthaltenen Rechnungsfehler

Nichts gemein. — Ferner kann der Rechnungsfehler zwar

einem Urtheil zum Grunde liegen, jedoch ſo, daß er nicht

 

(o) Von einem Fall ſolcher Art

handelt L. un. C. de err. cal-

culi (2. 5). Zweifelhaft iſt die Be-

deutung von Paulus V. 5 A. § 11.

„Ratio calculi saepius se pa-

titur supputari, atque ideo

potest quocunque tempore re-

tractari, si non longo tempore

evanescat.“ Die Anfangsworte

ſind ganz ähnlich gefaßt, wie die

angeführte Stelle des Codex („unde

rationes etiam saepe computa-

tas denuo tractari posse“), und

können daher gleichfalls auf außer-

gerichtliche Rechtsgeſchäfte bezogen

werden. Aber die Worte quocun-

que tempore retractari ſcheinen

die Nothwendigkeit der zu beob-

achtenden Appellationsfriſt vernei-

nen zu wollen, und dann müßte

Paulus den Fall des im Ur-

theil enthaltenen Rechnungsfehlers

(Note i.) vor Augen gehabt haben.

|0400 : 382|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

aus dem Urtheil ſelbſt erhellt, ſondern erſt von uns hinter-

her als Anfechtungsgrund geltend gemacht wird, indem wir

eine andere Rechnung aufſtellen, als die, welche den Rich-

ter, nach unſrer Vorausſetzung, zu ſeiner Entſcheidung be-

ſtimmt hat. Dieſes iſt der Gegenſtand einer gewöhnlichen

Anfechtung des Urtheils durch Appellation (p), und hat

wiederum mit jener Regel Nichts gemein. Es müſſen da-

her die verſchiedenen Beziehungen, in welchen ein Rech-

nungsfehler vorkommen und Einfluß haben kann, genau

unterſchieden werden.

In unmittelbarer Verbindung mit der Regel, nach

welcher der Rechnungsfehler niemals in Rechtskraft über-

gehen kann (Note i.), wird von Macer die andere Regel

aufgeſtellt, daß es auch dann gegen ein Urtheil keiner Appel-

lation bedürfe, wenn darin der Inhalt einer Kaiſerconſti-

tution verletzt werde (q). Man möchte dadurch verleitet

werden, dieſen Fall mit dem Fall des Rechnungsfehlers

auf gleiche Linie zu ſtellen, woraus wieder folgen würde,

 

(p) Darauf iſt zu beziehen

L. 2 C. de re jud. (7. 52.) „Res

judicatae si sub praetextu com-

putationis instaurentur, nullus

erit litium finis,“ welche Stelle,

ſo verſtanden, mit L. 1 § 1 quae

sent. (Note i.) nicht im Wider-

ſpruch ſteht, da ſie von einem ganz

anderen Falle ſpricht. Das ganze

Gewicht liegt auf den Worten sub

praetextu. In dem, von Macer

in der angeführten Digeſtenſtelle

aufgeſtellten Falle konnte von einem

praetextus nicht die Rede ſeyn,

da der bloße Augenſchein entſchied.

(q) L. 1 § 2 quae sent. (49. 8).

Vgl. L. 27. 32 de re jud. (42. 1),

L. 19 de appell. (49. 1), woraus

zugleich erhellt, daß die Verletzung

einer Lex, oder eines Senatuscon-

ſults hierin auf gleicher Linie ſtand

mit der Verletzung einer Kaiſer-

conſtitution.

|0401 : 383|

§. 292. Rechtskraft der Gründe. (Fortſetzung.)

daß auch der fehlende Richter ſelbſt ſeinen Irrthum (ähn-

lich einem bloßen Schreibfehler) wieder verbeſſern könne.

Dieſe Meinung würde jedoch ganz irrig ſeyn, und beide

Fälle haben eine verſchiedene Natur. Die in einem Urtheil

enthaltene Geſetzverletzung kann nur durch ein Rechtsmittel

gegen das Urtheil berichtigt werden, und iſt nur dadurch

von anderen, in einem Urtheil vorkommenden Fehlern ver-

ſchieden, daß die Anfechtung nicht den beſchränkenden Re-

geln und Formen der Appellation unterworfen iſt. Der

innere Unterſchied des Rechnungsfehlers von der Geſetz-

verletzung liegt darin, daß der Rechnungsfehler von Jedem,

der nur darauf aufmerkſam gemacht wird, unfehlbar aner-

kannt werden muß; bei der angeblichen Geſetzverletzung

aber kommt es erſt auf eine, oft nicht unzweifelhafte, Prü-

fung des Inhalts des Geſetzes an, ferner auf eine Ver-

gleichung des Geſetzes mit dem Urtheil, insbeſondere auch

auf die Frage, ob der Richter in der That das Geſetz ver-

kannt, oder vielmehr in der Subſumtion der Thatſachen

unter das Geſetz geirrt hat, auf welchen letzten Fall die

Befreiung von den regelmäßigen Bedingungen der Appel-

lation ganz und gar nicht bezogen werden darf (r).

An die ſo eben erwähnte Regel des Römiſchen Rechts

von der Geſetzverletzung in einem Urtheil, deren Anfechtung

nicht unter den gewöhnlichen Regeln und Formen der Ap-

pellation ſtehen ſoll, haben ſich in dem Prozeßrecht neuerer

 

(r) L. 32 de re jud. (42. 1). L. 1 § 2 quae sent. (49. 8).

|0402 : 384|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Zeiten ſehr wichtige Rechtsinſtitute in mannichfaltiger Ent-

wickelung angeſchloſſen. — Es gehört dahin die Lehre des

gemeinen Deutſchen Prozeſſes von der Nichtigkeit des Ur-

theils wegen des verletzten jus in thesi (s); ferner im

Franzöſiſchen Prozeſſe das Rechtsmittel der Caſſation;

eben ſo im früheren Preußiſchen Prozeſſe die (dem gemei-

nen Deutſchen Prozeſſe nachgebildete) Nichtigkeitsklage wegen

verletzter klarer Geſetze (t); im neueren Preußiſchen Prozeſſe

die Nichtigkeitsbeſchwerde, welche eine der Franzöſiſchen

Caſſationsbeſchwerde ähnliche Natur hat (u).

Alle dieſe, den neueren Zeiten angehörenden, Rechtsinſti-

tute ſind hier nur beiläufig erwähnt worden, um auf ſie

die gemeinſame Bemerkung zu beziehen, daß ſie lediglich

dem Prozeßrechte angehören, und mit der hier vorliegenden

Lehre von der Rechtskraft keine unmittelbare Berührung

haben, inſofern alſo von den, ſo eben aus dem Römiſchen

Rechte dargeſtellten Folgen des Rechnungsfehlers weſentlich

verſchieden ſind. Es ſind insgeſammt Rechtsmittel gegen

richterliche Urtheile, und inſofern ſind ſie mit der Appellation

gleichartig, obgleich von dieſer in Bedingungen und For-

men mehr, oder weniger verſchieden (v).

 

(s) Linde Lehrbuch § 419—422.

(t) Allgemeine Gerichtsordnung

Th. 1 Tit. 16 § 2 N. 2.

(u) Geſetz vom 14. Dez. 1833

(Geſetzſammlung 1833 S. 302).

(v) Aehnlich der Römiſchen Be-

handlung des Rechnungsfehlers iſt

die Vorſchrift der Preußiſchen A.

G. O. I. 14. § 1. „Wenn in dem

publicirten Urtel erſter Inſtanz

irgend ein Irrthum in Worten,

Namen, oder Zahlen vorgefallen

… zu ſeyn ſcheint, ſo bedarf es

deshalb keiner Appellation, ſon-

dern … dieſes (das Kollegium)

muß … den vorgefallenen Irr-

thum durch eine … Regiſtratur

abändern laſſen“ u. ſ. w.

|0403 : 385|

§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.

§. 293.

Genauere Beſtimmung des Inhalts. Rechtskraft der

Gründe. Schriftſteller.

Die Unterſuchung über die Rechtskraft der Gründe

würde nicht zu einem befriedigenden Schluß geführt ſeyn,

wenn nicht auch die Meinungen unſrer Schriftſteller über

dieſe Frage überſichtlich dargeſtellt würden. Daß dieſe

Meinungen ſo ſehr unter ſich ſelbſt im Widerſtreit ſind,

muß gerade bei einem Gegenſtand von ſo häufiger prak-

tiſcher Anwendung auffallen, und iſt nur daraus zu erklä-

ren, daß man es verſäumt hat, die Begriffe und die Fra-

gen, worauf es bei dieſem Streit ankommt, zu klarer Ent-

wicklung zu bringen, bevor die Entſcheidung der Fragen

unternommen wurde.

 

An die Darſtellung der gemeinrechtlichen Literatur ſoll

die Behandlung deſſelben Gegenſtandes im Preußiſchen

Recht angeſchloſſen werden. Dieſes Verfahren würde nicht

zu rechtfertigen ſeyn, wenn das Preußiſche Recht hierin (ſo

wie in den wichtigſten Theilen des eigentlichen Prozeß-

rechts) einen eigenen und neuen Weg eingeſchlagen hätte;

ſo verhält es ſich aber in der That nicht. Praxis und

Literatur geht hier ſtets aus von wenigen, allerdings nicht

erſchöpfenden, Geſetzſtellen. Bei deren Abfaſſung aber lag

augenſcheinlich nicht die Abſicht zum Grunde, die Lehre

von der Rechtskraft auf einem neu erfundenen Grunde zu

erbauen, welche Abſicht ſchon durch die Kürze und Unvoll-

 

VI. 25

|0404 : 386|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſtändigkeit dieſer Stellen widerlegt wird. Vielmehr ſollte

nur mit wenigen Worten die Befolgung derjenigen Regeln

über die Rechtskraft angeordnet werden, deren Kenntniß

und Übung bei allen damals vorhandenen Richtern aus

dem gemeinen Recht vorausgeſetzt werden konnte.

Um aber die folgende literariſche Darſtellung verſtänd-

licher zu machen, iſt es nöthig, zwei Geſichtspunkte hervor

zu heben, welche möglicherweiſe ſowohl von der Geſetz-

gebung, als von der Wiſſenſchaft und der Praxis in der

Lehre von der Rechtskraft aufgefaßt werden können, und

welche großentheils zu entgegengeſetzten Zielen führen. Da-

bei muß an die ſchon oben (§ 291) gemachte Bemerkung

erinnert werden, daß die Rechtskraft unzertrennlich ver-

bunden iſt mit der Möglichkeit und dem Bedürfniß der

Appellation; was rechtskräftig zu werden fähig und be-

ſtimmt iſt, kann und muß, damit es nicht rechtskräftig

werde, durch Appellation angefochten werden, und umge-

kehrt: was nicht rechtskräftig wird, braucht und ſoll nicht

Gegenſtand einer Appellation ſeyn.

 

Der eine Geſichtspunkt nun, den man in der Lehre

von der Rechtskraft vorzugsweiſe verfolgen kann, iſt die

Befriedigung des augenblicklichen Bedürfniſſes. Es ſoll ſo

leicht und ſo ſchnell, als möglich, auf die letzte Entſcheidung

des jetzt vorliegenden praktiſchen Streites hingewirkt

werden. Kann dieſe Entſcheidung auch bei künftigen

Streitigkeiten helfen, ſo iſt es gut; für dieſen untergeord-

neten Gegenſtand aber haben wir wenig zu ſorgen.

 

|0405 : 387|

§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.

Der entgegengeſetzte Geſichtspunkt iſt die Feſtſtellung aller,

unter den Parteien ſtreitig gewordenen und bis zur Spruch-

reife verhandelten, Rechtsverhältniſſe für alle Zukunft. So

weit dabei die Entſcheidung des zunächſt vorliegenden, unmit-

telbar praktiſchen Streites erleichtert und beſchleunigt werden

kann, muß es geſchehen; nur darf durch die Verfolgung

dieſes untergeordneten Zweckes das angegebene eigentliche

Ziel nicht gefährdet werden (a).

 

Dieſer zweite Geſichtspunkt iſt unzweifelhaft der der

Römiſchen Juriſten. Dafür zeugt ihre gründliche Aus-

bildung der Lehre von der Rechtskraft, deren Darſtellung

die Aufgabe der vorliegenden Abhandlung iſt.

 

Der erſte Geſichtspunkt iſt nicht ſelten in neuerer Zeit

von Schriftſtellern und Gerichten auf einſeitige Weiſe ver-

folgt worden, und in dieſem Gegenſatz iſt wohl der Haupt-

grund der ſtarken Meinungsverſchiedenheiten in dieſer Lehre

zu ſuchen.

 

Die Meinungen der Schriftſteller laſſen ſich auf drei

Klaſſen zurück führen.

 

(a) Es darf freilich dieſe Be-

hauptung nicht dahin übertrieben

werden, als ob das Urtheil nie

früher geſprochen werden dürfte,

als bis alle ſtreitig gewordenen

Fragen ſpruchreif geworden wären,

welchem möglichen Mißverſtänd-

niß ſchon oben vorgebeugt worden

iſt (S. 360). Nur was wirklich

ſpruchreif geworden iſt (oder in

naher Zeit gemacht werden kann),

ſoll durch das Urtheil ſo feſtge-

ſtellt werden, daß dieſe Feſtſtellung

für alle Zukunft ſicheres Recht

bilden könne.

25*

|0406 : 388|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

I. Die meiſten verneinen die Rechtskraft der Gründe

unbedingt, ſelbſt ohne für den Fall eine Ausnahme vorzu-

behalten, wenn die Gründe mit der Urtheilsformel ſelbſt

verwebt ſind (b). Dahin ſind auch diejenigen zu rechnen,

welche den Gründen nur inſofern einen Werth beilegen,

als dadurch vielleicht ein zufällig undeutliches Urtheil er-

klärt werden kann (c); denn auch in dieſer Meinung wird

die wahre Bedeutung der Gründe, und das innere Ver-

hältniß derſelben zu dem Urtheil ſelbſt, völlig verkannt.

 

II. Einige Schriftſteller nehmen die Rechtskraft der

Gründe an, wenn ſie in das Urtheil eingerückt ſind, nicht,

wenn ſie blos in einem abgeſonderten Aufſatz ſtehen. Sie

tadeln aber eben deshalb die Einrückung in das Urtheil,

halten es alſo für einen Nachtheil, wenn die Gründe

rechtskräftig werden. Dieſe Meinung hatte früher

Wernher, und ſie iſt nachher von Claproth ange-

nommen worden (d). — Später änderte Wernher ſeine

Meinung dahin, daß auch die abgeſonderten Gründe

rechtskräftig werden, inſofern ſie der Richter zugleich mit

dem Urtheil den Parteien publicire. Eben deshalb aber

tadelt er nun auch dieſes Verfahren, und findet es beſſer,

ſie nicht zu publiciren (e).

 

(b) Berger oecon. forensis

Lib. 4 T. 22 Th. 4 Not. 6. —

Hymmen Beiträge B. 6 S. 102

N. 45. — Martin Prozeß § 113

Note d. — Linde Lehrbuch § 381

Note 5.

(c) Cocceji jus controv. XLII.

1 Qu. 8 Pufendorf Obs. I. 155.

(d) Wernher Obs. T. 1 P. 4

Obs. 172. — Claproth ordentl.

Prozeß Th. 2 § 210.

(e) Wernher Obs. T. 3 P. 3

Obs. 97 N. 24 — 32.

|0407 : 389|

§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.

Dieſe ganze Meinung, und insbeſondere die War-

nung gegen Publication der Gründe, hangt augenſcheinlich

zuſammen mit der oben erwähnten Auffaſſung, nach welcher

das ganze Streben auf die ſchnelle Beſeitigung des augen-

blicklichen Bedürfniſſes und auf die Verminderung der

Rechtsmittel, nicht auf die bleibende Feſtſtellung ſtreitiger

Rechtsverhältniſſe für die Zukunft, gerichtet ſeyn ſoll. Das-

ſelbe Motiv liegt auch der erſten Meinung zum Grunde,

durch welche die Rechtskraft der Gründe überhaupt, und

ohne Rückſicht auf äußere Form und Stellung, ver-

neint wird.

 

III. Bei einer dritten Klaſſe von Schriftſtellern endlich

wird der innere Zuſammenhang der Gründe mit dem In-

halt des Urtheils, und daher die Theilnahme der Gründe

an der Rechtskraft, richtig anerkannt, ohne Unterſchied, in

welcher Form die Gründe ausgeſprochen, und an welcher

Stelle dieſelben angebracht ſind.

 

Der erſte Schriftſteller neuerer Zeiten, bei welchem

ich dieſe freiere Anſicht finde, iſt J. H. Böhmer. Er

nennt die Gründe weſentliche Beſtandtheile des Urtheils,

die Seele des Urtheils, die Ergänzung des richterlichen

Gedankens, und ſchreibt ihnen daher dieſelbe Kraft, wie

dem Urtheil ſelbſt, zu (f).

 

(f) Böhmer exercit. ad Pand.

T. 5 p. 534 § 18: „Equidem

rationes decidendi virtualiter

sententiae inesse creduntur,

cum contineant fundamenta,

quibus judex motus sententiam

eo, quo factum est, modo

tulit, adeoque eandem vim cum

ipsa sententia habere videntur,

utpote cujus anima et quasi

|0408 : 390|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Zu den Schriftſtellern dieſer Klaſſe gehört ferner

Bayer, der ſich ausdrücklich dahin erklärt, daß es bei der

Rechtskraft nicht darauf ankomme, an welchem Orte (in

der Urtheilsformel, oder in den Entſcheidungsgründen) ein

Ausſpruch des Richters ſtehe, und daß jede Entſcheidung

irgend eines, in dem vorhergehenden Verfahren beſtrittenen

Hauptpunktes rechtskräftig werde (g). Eben ſo gehört dahin

auch Wächter, der die Streitfrage über die Rechtskraft

der Gründe zwar nicht als ſolche behandelt, wohl aber

die Grundſätze des Römiſchen Rechts über die Rechtskraft

ſo darſtellt, wie es nur unter Vorausſetzung einer richtigen

Entſcheidung jener Streitfrage möglich iſt (h).

 

Noch beſtimmter aber und ausführlicher ſprechen ſich

über dieſen Punkt zwei neuere Schriftſteller aus, deren

geſchichtliche Auffaſſung der Lehre von der Rechtskraft von

einer anderen Seite her oben bekämpft werden mußte,

Kierulff und Buchka. Der erſte behauptet ganz

richtig (i), „daß das richterliche Urtheil nach ſeinem Geiſt

und nicht nach dem bloßen Wortinhalt behandelt werden

 

nervus sunt.“ (Wörtlich gleich-

lautend mit Jus eccl. Prot. Lib. 2

T. 27 § 14). — Weiterhin ver-

neint er die Rechtskraft derjenigen

Stücke der Entſcheidungsgründe,

worin der Richter zur bloßen Er-

läuterung fremdartige Erwägungen

mit einmiſcht, z. B. Betrachtungen

über die Lage des Eigenthums bei

Gelegenheit der Entſcheidung über

eine Beſitzklage. Gewiß mit Recht,

da ſolche Betrachtungen zu den

blos ſubjectiven Gründen gehören

(§ 291. e).

(g) Bayer Civilprozeß S. 184

Ausg. 4.

(h) Wächter Handbuch des

in Württemberg geltenden Privat-

rechts B. 2 § 73.

(i) Kierulff S. 250. 254.

256. 260. Vgl. oben § 283

S. 282.

|0409 : 391|

§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.

darf.“ Ferner: „Was man gewöhnlich Entſcheidungsgründe nennt,

iſt eben der wahre concrete Inhalt, und die Condemnation, oder

Abſolution ſind nur der Ausſpruch des, aus ihm gefolgerten, recht-

lichen Reſultats. Was entſchieden iſt, weiß man wahrhaft nur,

wenn man jene ſogenannten Gründe kennt, und die gewöhnlich

ſogenannte Entſcheidung ſelbſt giebt davon nur eine oberflächliche

andeutende Kunde.“ Damit iſt die Sache ſelbſt ſo richtig be-

zeichnet, daß ſich von dieſem Standpunkt aus jede einzelne Frage

über die Rechtskraft der Gründe befriedigend beantworten läßt.

Allein derſelbe Schriftſteller verknüpft mit dieſer richtigen Auf-

faſſung der Sache ſelbſt eine ganz irrige geſchichtliche Behauptung,

indem er annimmt, dieſe richtige Einſicht ſey erſt die Frucht der,

im heutigen Recht völlig zur Herrſchaft gelangten aequitas, das

Römiſche Recht habe dieſe Lehre noch nicht anerkannt. Dieſe Auf-

faſſung hängt zuſammen, ſie ſteht und fällt, mit der oben wider-

legten Behauptung, daß die Römer bis in ihre neueſte Geſetz-

gebung unter der Herrſchaft des Conſumtionsprinzips gebunden

geweſen ſeyen, alſo niemals die Handhabung des Inhalts des

Urtheils, vermittelſt der poſitiven Function der exceptio rei judi-

catae, als wahre Aufgabe der Rechtskraft rein und vollſtändig

durchgeführt hätten (§ 283). Die Widerlegung dieſer Anſicht

iſt ſchon oben verſucht worden, ſie iſt aber jetzt noch durch folgende

Bemerkung zu ergänzen. Es müßte doch angegeben werden können,

wann und wie die beſſere Einſicht des heutigen Rechts, und zwar

namentlich in Anwendung auf die Rechtskraft der Gründe, ent-

ſtanden ſeyn ſollte. Sie könnte etwa durch ein deutſches Neichs-

geſetz geltend geworden ſeyn; ein ſolches findet ſich nicht. Es

könnten einzelne Schriftſteller eine gründliche Theorie aufgeſtellt,

|0410 : 392|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

und damit allgemeine Anerkennung gefunden haben, im Wider-

ſpruch mit dem Römiſchen Recht; oder es könnte, ohne theoretiſche

Durchführung, blos in der geſunden Praxis, die beſſere Einſicht

allgemein durchgedrungen ſeyn. Aber es iſt ja ſo eben gezeigt

worden, wie ganz mangelhaft, unter einander ſtreitend, und be-

ſonders der richtigen Lehre mehr oder weniger widerſprechend, bis

auf die neueſte Zeit faſt alle Schriftſteller die Rechtskraft der

Gründe behandelt haben; darunter Schriftſteller, die aus der Mitte

der Praxis hervorgegangen ſind, und aus deren Zeugniſſen allein

wir den Stand der Praxis kennen. Vor der unbefangenen Er-

wägung dieſer Thatſachen muß die geſchichtliche Auffaſſung des

erwähnten Schriftſtellers als unmöglich zerfallen, ſelbſt ohne Dar-

legung des wahren Inhalts des Römiſchen Rechts.

Ganz ähnlich iſt die Behandlung dieſer Frage bei Buchka,

der nur noch ausführlicher, und mit mehr Schein der Quellen-

forſchung, auf dieſelbe eingegangen iſt. Die eigene Darſtellung,

die derſelbe von der Rechtskraft der Gründe giebt, iſt befriedigen-

der, als die irgend eines früheren Schriftſtellers (k). Er behauptet,

der Richter müſſe und wolle über Alles entſcheiden, das bis zur

Duplik als Gegenſtand des verhandelten Rechtsſtreites feſtgeſtellt

worden ſey. Der Umfang dieſer zur Rechtskraft beſtimmten Ent-

ſcheidung ſey alſo nicht blos aus der Urtheilsformel, ſondern auch

aus den beigefügten Entſcheidungsgründen zu erkennen. Von

dieſem Grundſatz macht er die richtige Anwendung auf die Rechts-

kraft der Präjudicialpunkte und insbeſondere der legitimatio ad

causam. Von dieſem Allen aber, als der im heutigen Recht

 

(k) Buchka B. 2 S. 183 —209, beſonders S. 183. 184. 207.

|0411 : 393|

§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.

gewonnenen Einſicht, behauptet er gerade das Gegentheil für den

Standpunkt des Römiſchen Rechts, in welchem, wie er glaubt, die

Rechtskraft nur auf die unmittelbare Entſcheidung ſelbſt, nicht

auf die Gründe, insbeſondere nicht auf die Präjudicialpunkte, ſoll

bezogen worden ſeyn (l). Die Bemerkungen, die ſo eben über die

Auffaſſung von Kierulff gemacht worden ſind, finden auch hier

ihre volle und buchſtäbliche Anwendung.

Wenn man die ſehr aus einander gehenden und oft ſo irrigen

Anſichten der Schriftſteller in dieſer Lehre erwägt, ſo liegt der

Gedanke ſehr nahe, daß nothwendig auch die Praxis hierin von

jeher eine ganz verſchiedene und großentheils irrige geweſen ſeyn

müſſe. Dennoch muß ich die Richtigkeit dieſer Folgerung bezwei-

feln, und vielmehr für wohl möglich halten, daß Mancher unter

den angeführten Schriftſtellern eine beſſere Praxis mit erlebt und

ſelbſt geübt haben mag, als man ihm nach ſeinen Schriften zu-

trauen ſollte. Dieſer Umſtand würde ſich aus der, ſchon im

Anfang des gegenwärtigen §. ausgeſprochenen, Bemerkung erklären,

nach welcher die, in der Lehre von der Rechtskraft herrſchenden,

falſchen Anſichten weniger aus deutlich gedachten, und mit be-

ſtimmtem Bewußtſeyn angenommenen Irrthümern, als aus einem

Mangel an klarer Entwicklung der hier vorkommenden Begriffe

und Fragen entſprungen ſind.

 

Aus zuverläſſiger Mittheilung kann noch hinzugefügt werden,

 

(l) Buchka B. 1 S. 290—314,

beſonders S. 301. 305. 308. Die

klarſten Stellen, aus welchen die rich-

tige Auffaſſung der Rechtskraft bei dem

Römiſchen Juriſten hervorgeht, L. 7

§ 4. 5 de exc. r. j. (44. 2) ſucht er

auf gezwungene Weiſe zu entkräften

(S. 296). Die ſcheinbaren Gründe,

die er aus anderen Stellen für ſeine

Behauptung anführt (insbeſondere bei

der Alimentenklage S. 305 und bei

der pignoris capio S. 308) können

erſt weiter unten widerlegt werden

(§ 298).

|0412 : 394|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

daß die Praxis des K. Sächſiſchen Oberappellationsgerichts zu

Dresden mit der hier aufgeſtellten Lehre völlig übereinſtimmt.

Dieſe Übereinſtimmung erhellt aus den nachſtehenden Regeln, die

in dem erwähnten Gerichtshof befolgt werden.

Deciſive Sätze, welche in die Entſcheidungsgründe aufgenom-

men worden ſind, der Sache nach aber die nothwendige Unter-

lage der Entſcheidung (alſo integrirende Theile derſelben) bilden,

erlangen mit der Entſcheidung Rechtskraft.

 

Sätze, die in den Rationen ausdrücklich zu Motivirung der

Abweiſung aufgeſtellt worden ſind, oder dem Zuſammenhange

nach bei der Entſcheidung ſtillſchweigend vorausgeſetzt ſeyn

müſſen, gehen mit der Entſcheidung ſelbſt in Rechtskraft über.

 

Wegen der Entſcheidungsgründe kann daher gegen das

Urthel appellirt werden, ſo lange oder ſo weit noch eine

Appellation gegen das Urthel zuläſſig iſt.

 

§. 294.

Genauere Beſtimmung des Inhalts. Rechtskraft der Gründe.

Preußiſches Recht.

Im Preußiſchen Prozeßrecht iſt die Rechtskraft des Urtheils

in einigen ſo allgemein gefaßten Stellen anerkannt (a), daß dar-

aus die unzweifelhafte Abſicht hervorgeht, nur den Beſtand des

vorgefundenen gemeinen Rechts in dieſe Lehre aufzunehmen, und

ferner gelten zu laſſen.

 

Was aber insbeſondere die Rechtskraft der Gründe

betrifft, ſo findet ſich eine Geſetzſtelle, welche auf den

 

(a) A. G. O. Einleitung § 65. 66 und I. 16 § 1.

|0413 : 395|

§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.

erſten Blick dieſe Rechtskraft unbedingt auszuſchließen, und

insbeſondere auch auf den Ort, wo ſich ein richterlicher

Ausſpruch findet, den größten Werth zu legen ſcheint.

Allg. Gerichtsordnung I. 13 § 38. Die Kollegia und

Urtelsfaſſer müſſen ſorgfältig Acht geben, daß überall

die wirkliche Entſcheidung und deren Gründe deutlich

von einander unterſchieden, und nicht etwa, das zu

der erſtern gehört, in die letzteren, noch auch um-

gekehrt, mit eingemiſcht werde, indem bloße Ent-

ſcheidungsgründe niemals die Kraft eines

Urtels haben ſollen (b).

 

Indeſſen bleibt dabei der Begriff der Gründe noch ganz

unentſchieden, und beſonders läßt der Ausdruck: bloße

Entſcheidungsgründe, dem Gedanken Raum, daß hier ver-

ſchiedene Arten von Gründen als denkbar vorausgeſetzt

 

(b) Die Materialien zur Allg.

Gerichtsordnung geben über die

Entſtehung und den Sinn dieſer

Stelle gar keinen Aufſchluß. Das

von der Hand von Suarez ge-

ſchriebene Concept (Band 15 fol. 44)

iſt mit dem gedruckten Text wört-

lich gleichlautend. Das gedruckte

Corpus j. Frid. von 1781 Tit. 13

§ 11 ſtimmt eben ſo überein bis

auf Kleinigkeiten (z. B. maaßen

anſtatt indem). Ein früherer Ent-

wurf von der Hand von Suarez

ſtimmt gleichfalls weſentlich über-

ein, nur mit etwas mehr wört-

lichen Verſchiedenheiten, z. B. mit

eingemiſchten lateiniſchen Aus-

drücken, wie diſtinguiret, vice

versa (B. 5 fol. 61; es iſt daſelbſt

Tit. 14). Ein noch älterer Ent-

wurf von Carmer (1775) hat

eine ſolche Beſtimmung noch gar

nicht (B. 2 fol. 75—77; es iſt

daſelbſt das Cap. XVII.). — Eine

ganz ähnliche Bewandniß hat es

mit dem § 36. Dieſer ſteht im

Corpus J. Frid. 1781 Tit. 13

§ 10 und hat gleichfalls nur ge-

ringe Verſchiedenheiten von der

A. G. O. („die bei der Sache

etwa vorkommenden Präliminär-

und Präjudicialfragen“). Der

Entwurf von Suarez B. 5 fol. 61

ſagt: „passus praeliminares et

praejudiciales.“

|0414 : 396|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſein möchten, welches mit der oben aufgeſtellten Lehre

ganz übereinſtimmen würde (c).

Ganz beſonders aber iſt dabei eine kurz vorhergehende

Geſetzſtelle zu berückſichtigen, die bei dem Streit über die

Rechtskraft meiſt überſehen zu werden pflegt.

 

Die Frage wegen der Rechtskraft der Gründe tritt mit

praktiſcher Wichtigkeit beſonders da hervor, wo neben dem

eigentlichen Klagegrund gewiſſe Präjudicialfragen zu ent-

ſcheiden ſind, wohin insbeſondere die ſogenannten exce-

ptiones litis finitae (z. B. Vergleich), und die ſogenannte

legitimatio ad causam gehören. Für die Behandlung

ſolcher Fälle giebt das Preußiſche Prozeßgeſetz folgende an

ſich zweckmäßige Vorſchrift (d). Wenn die Präjudicial-

frage wahrſcheinlich leicht und ſchnell, die Hauptſache aber

ſchwierig zu entſcheiden iſt, ſo wird zuerſt die Präjudicial-

frage allein inſtruirt und durch ein beſonderes Urtheil ent-

ſchieden; für dieſen Fall kann kein Zweifel an der Rechts-

kraft der Entſcheidung ſeyn. Wenn dagegen beide Fragen

„ungefähr in gleichem Verhältniß ſtehen“, ſo bleibt es bei

der Regel: „Hauptſache und Exception werden zu gleicher

Zeit inſtruirt und abgeurtelt“ (e). Es fragt ſich nun,

wie dieſes Letzte ausgeführt werden ſoll.

 

Nach der ſtrengen Lehre Derjenigen, welche durchaus

keine Rechtskraft der Gründe aufkommen laſſen wollen,

 

(c) Schon ein neuerer Schrift-

ſteller hat auf dieſen Ausdruck

aufmerkſam gemacht. Koch Lehr-

buch des Preuß. Rechts B. 1

§ 199

(d) A. G. O. I. 10 § 62—81 b.

(e) A. G. O. I. 10 § 62 c. und

§ 63 verglichen mit § 68. Ganz

eben ſo ſoll es gehalten werden,

wenn die Hauptſache einfach und

leicht, die Exception aber ſchwierig

iſt; außer wenn es in dieſem Fall

|0415 : 397|

§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.

müßte das Urtheil Nichts enthalten, als allein die Verur-

theilung, oder die Freiſprechung; die Überzeugung, die der

Richter über die Präjudicialfragen gewonnen hätte, wäre

für ihn blos ein Beweggrund der Entſcheidung, käme

nicht in das Urtheil, würde nicht rechtskräftig, und wäre

nicht Gegenſtand eines möglichen Rechtsmittels (f). Ge-

ſetzt nun, es fände ſich über dieſe Frage gar keine geſetz-

liche Vorſchrift, ſo müßte es doch für höchſt bedenklich ge-

halten werden, wenn der Umfang der in jedem einzelnen

Rechtsſtreit eintretenden Rechtskraft von ganz zufälligen

Umſtänden abhängig gemacht werden ſollte. Nichts kann

nämlich zufälliger ſeyn, als die dem ſubjectiven Ermeſſen

des Richters überlaſſene Vermuthung, daß eine Präjudicial-

frage leichter, als die Haupſache, entſchieden werden könne.

Wenn der Richter dieſer Vermuthung Raum giebt, wird

über die Präjudicialfrage ein beſonderes Urtheil geſprochen,

das dann unzweifelhaft rechtskräftig wird; ſollte nun wohl

die Rechtskraft blos deswegen nicht eintreten, weil zufällig

der Richter jene Vermuthung nicht gelten läßt, und daher

kein beſonderes Urtheil über die Präjudicialfrage ſpricht?

In der That aber findet ſich über jene Frage, nämlich

über die Behandlung des Falles eines gleichzeitigen Urtheils

über die Präjudicialpunkte und die Hauptſache, folgende

ausführliche Vorſchrift:

 

gelingt, in der Hauptſache ſo-

gleich eine rechtskräftige Abwei-

ſung zu bewirken, weil dadurch

die Verhandlung über die Ex-

ception ohnehin entbehrlich wird.

§ 64—67.

(f) Daß die Sache in der neue-

ſten Zeit in dieſer buchſtäblichen

Strenge aufgefaßt worden iſt, wird

unten nachgewieſen werden.

|0416 : 398|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Allg. G. O. I. 13 § 36.

In dem Urtel ſelbſt müſſen zuvörderſt die bei der

Sache ſich findenden, vorläufigen und Präjudicial-

fragen, wohin auch die Incidentpunkte gehören, ab-

gemacht, und bei jedem Punkte die Gründe der Ent-

ſcheidung beigefügt; ſodann zur Deciſion der Haupt-

ſache übergegangen; wenn auch dieſe aus mehreren

Punkten beſteht, bei jedem derſelben die Entſcheidung

beſonders feſtgeſetzt, und die Gründe dafür ſofort an-

gehängt werden (vgl. Note b.)

Hier iſt alſo ausdrücklich vorgeſchrieben, daß Aus-

ſprüche, die nicht unmittelbar die augenblickliche Erledigung

des vorliegenden Streites durch Verurtheilung oder Frei-

ſprechung enthalten, die daher nach dem üblichen Ver-

fahren der Gerichte nicht in das Urtheil, ſondern blos in

die Entſcheidungsgründe geſetzt zu werden pflegen, daß dieſe

Ausſprüche dennoch in das Urtheil ſelbſt aufgenommen und

dadurch der Rechtskraft unzweifelhaft unterworfen werden

ſollen.

 

Ich kann in dieſer Geſetzſtelle nur die beſtimmte Aner-

kennung des oben aufgeſtellten Grundſatzes über die Rechts-

kraft der (objectiven) Gründe des Urtheils finden. Der

einzige Zweifel, den man gegen die Richtigkeit dieſer Aus-

legung des angeführten Geſetzes erheben könnte, möchte

darin beſtehen, daß das Geſetz vielleicht den Ausdruck:

Präjudicialfragen in irgend einem engeren Sinn ge-

nommen hätte. Ich verſtehe darunter alle Fragen über-

haupt, wodurch, unabhängig von dem eigentlichen Klage-

 

|0417 : 399|

§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.

grund, eine endliche Entſcheidung der ganzen Sache

herbeigeführt werden kann, ſo daß dann eine Prüfung der

Wahrheit, oder Unwahrheit des Klagegrundes unnöthig

wird. Es gehören dahin die ſogenannten exceptiones litis

finitae, aber eben ſo auch die ſogenannten exceptiones litis

ingressum impedientes, ferner die exceptio deficientis

legitimationis ad causam, und andere mehr. Von allen

dieſen wird ausdrücklich geſagt, daß ſie ganz auf gleiche

Weiſe behandelt werden ſollen, und zwar nach dem oben

aufgeſtellten Unterſchied (g). Sind ſie ſchneller, als die

Hauptſache, ſpruchreif zu machen, ſo wird über ſie durch

ein beſonderes Urtheil entſchieden, das alſo jedem mög-

lichen Urtheil über den Klagegrund vorhergeht (h). Stehen

ſie mit der Hauptſache „ungefähr in gleichem Verhältniß“,

ſo werden ſie mit der Hauptſache zugleich abgeurtelt, und

auf die Einrichtung des Urtheils in dieſem Falle geht eben

der oben mitgetheilte § 36, der alſo den Ausdruck: Präju-

dicialfragen, in der größten denkbaren Ausdehnung

nimmt (i).

(g) Über dieſe, nach der Vor-

ſchrift des Geſetzes völlig gleich-

artige Behandlung aller hier auf-

gezählten Fälle laſſen keinen

Zweifel die § 79—81 b. (G. O.

I. 10), verglichen mit § 62—78 b.

(h) Gerade aus dieſem Um-

ſtand, daß über ſolche Fragen ab-

geſondert und vorhergehend

verhandelt und entſchieden wird,

oder doch werden kann, erklärt und

rechtfertigt ſich die allgemeine Be-

zeichnung derſelben als Präju-

dicialfragen.

(i) Im § 81 a. heißt die le-

gitimatio ad causam ein Prä-

judicialpunkt, und das Mar-

ginale: Andere Präjudicial-

punkte bei § 81 b. ſagt deutlich

genug, daß alle vorhergehenden

Fälle als Präjudicialpunkte ange-

ſehen werden, wozu auch der Name

vollkommen paßt. Über den Aus-

druck: Präjudicialfragen oder

|0418 : 400|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Wollte man etwa eine Widerlegung dieſer Auslegung

des Geſetzes aus dem Umſtande hernehmen, daß in der

Praxis die Urtheile anders abgefaßt werden, als es nach

dieſer Auslegung des § 36 geſchehen müßte, fo könnte ich

dieſe Widerlegung nicht anerkennen. Ob die Praxis hierin

von dem Geſetz abgewichen iſt, ja ob ſie vielleicht durch

Gründe der Zweckmäßigkeit zu dieſer Abweichung beſtimmt

ſeyn mag, iſt für unſere Frage völlig gleichgültig. Es

kommt dabei lediglich auf den wahren Sinn des Geſetzes

ſelbſt an, und aus dieſem von mir feſtgeſtellten Sinn folgt,

daß unſer Prozeßgeſetz die Rechtskraft der objectiven

Gründe deutlich gedacht und gewollt hat. Es hat dieſe

Rechtskraft ſogar dadurch zu ſichern geſucht, daß es ſolche

Stücke, die in der That die objectiven Gründe in ſich

ſchließen, in die Urtheilsformel ſelbſt aufzunehmen vorge-

ſchrieben hat.

 

Ich will nun in chronologiſcher Ordnung zuſammen-

ſtellen, welche Äußerungen der, auf dem Boden jener Ge-

ſetze erwachſenen Praxis zur öffentlichen Kunde gekommen

 

Präjudicialpunkte vgl. Beth-

mann-Hollweg Verſuche S. 123

bis 137, und A. G. O. I. 5 § 29. —

Ich habe geglaubt, dieſe Frage

etwas ausführlich behandeln zu

müſſen, weil neuerlich eine will-

kührlich einſchränkende Erklärung

des § 36 verſucht worden iſt.

Waldeck im neuen Archiv für

Preußiſches Recht, Jahrg. 7 (1841)

S. 469 — 471. Er ſelbſt giebt

aber zu, daß die legitimatio

ad causam zu den Präjudicial-

punkten gehört (worüber der § 36

einen Ausſpruch verlangt), und

wenn dieſe ein Gegenſtand des

Urtheils, alſo rechtskräftig wird,

ſo iſt eigentlich ſchon die ganze

Rechtskraft der Gründe im Prin-

zip anerkannt.

|0419 : 401|

§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.

ſind. Ich rechne dahin ſowohl Urtheilsſprüche der Ge-

richte, als Reſcripte der höchſten Aufſichtsbehörde.

1. Urtheil des Geheimen Ober-Tribunals vom

22. Auguſt 1817 (k).

 

Ein Mühlenpächter hatte Erlaß von Pachtgeldern ge-

fordert wegen geſtörter Ausübung des gepachteten Rechts.

Ein rechtskräftiges Urtheil hatte den Erlaß im Allgemeinen

als begründet anerkannt, aber als Bedingung deſſelben die

im Landrecht vorgeſchriebene Legung einer Adminiſtrations-

rechnung gefordert. Kläger konnte eine ſolche Rechnung

nicht legen, klagte aber dennoch von Neuem auf

Pachterlaß.

 

Zwei Urtheile wieſen die neue Klage ab wegen des

rechtskräftigen früheren Urtheils. Das Reviſionsurtheil

änderte ab und ſprach den Erlaß zu, indem es die Rechts-

kraft durch zwei Gründe beſeitigte. Erſtlich habe in dem

früheren Prozeß der Beklagte ſelbſt erklärt, es ſey ihm

gleichgültig, ob der Beweis durch Rechnung, oder auf

andere Weiſe geführt werde. Zweitens widerſpreche das

rechtskräftige Urtheil ſich ſelbſt, indem es den Erlaß über-

haupt für begründet erkläre, und doch noch an eine Be-

dingung knüpfe.

 

Auf den erſten Blick könnte man geneigt ſeyn, hierin

eine freie Behandlung der Rechtskraft, und namentlich eine

Anerkennung der Rechtskraft der Gründe zu finden. Ich

 

(k) Simon und Strampff Rechtsſprüche B. 1 S. 62.

VI. 26

|0420 : 402|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

finde darin vielmehr eine wahre Verletzung der Rechtskraft,

die ich für ſehr bedenklich halte. Die in den Voracten

enthaltene Erklärung einer Partei gehört nicht zu den Ur-

theilsgründen, und ihre Nichtachtung hätte höchſtens ein

Rechtsmittel rechtfertigen können. Ein innerer Widerſpruch

iſt aber gewiß nicht vorhanden, wenn ein Anſpruch zwar

anerkannt, aber doch nur unter einer Bedingung (d. h. theil-

weiſe) anerkannt wird.

2. Reſcript vom 18. Nov. 1823 (l) (Miniſter Kirch-

eiſen).

 

In dem Tenor eines abweiſenden Urtheils brauche

nicht der abgewieſene Antrag umſtändlich aufgenommen zu

werden, „indem die beigefügten Entſcheidungsgründe …

dem ſuccumbirenden Theil jederzeit hierüber die erforderliche

Belehrung geben.“

 

Der Ausdruck Belehrung iſt zwar nicht ohne Bedenken;

dennoch ſcheint die richtige Anſicht vorausgeſetzt, daß die

Gründe einen wahren Beſtandtheil des Urtheils ausmachen;

denn nur unter dieſer Vorausſetzung geben die Gründe die

erforderliche Belehrung, d. h. die Belehrung über die

Frage, ob die Partei ein Rechtsmittel einzulegen hat.

 

3. Reſcript vom 28. Juli 1835 (m) (Min. Mühler).

Darin wird geſagt, das Erkenntniß bilde nur in Verbin-

dung mit den Gründen ein Ganzes, ein wahres Urtheil.

 

(l) Kamptz Jahrbücher B. 22 S. 173.

(m) Kamptz Jahrbücher B. 46 S. 112.

|0421 : 403|

§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.

Daher ſey auch ein, auf einem geſetzwidrigen Grunde

ruhendes Urtheil für nichtig zu erklären, ſelbſt wenn das-

ſelbe aus anderen Gründen gerechtfertigt erſcheine, alſo in

der letzten Entſcheidung beſtätigt werden müſſe.

Dabei iſt augenſcheinlich die richtige Lehre vom Ver-

hältniß der Gründe zum Urtheil vorausgeſetzt.

 

4. Urtheil des Tribunals vom 1. Decbr. 1843 (n).

 

Ein Gutsherr hatte rückſtändige Laudemiengelder einge-

klagt, der Beklagte hatte durch Widerklage Löſchung der

Hypothek auf dieſe Rückſtände verlangt. Der Beklagte

wurde rechtskräftig verurtheilt und mit der Widerklage ab-

gewieſen. Nun klagte der vorige Beklagte auf Löſchung

der hypothekariſch eingetragenen Laudemialverpflichtung des

Gutes ſelbſt (nicht mehr einzelner Rückſtände). Beide erſte

Richter wieſen die neue Klage zurück wegen der exceptio

rei judicatae. In Folge einer Nichtigkeitsbeſchwerde wurde

deswegen abgeändert, weil das frühere Urtheil nur über

einzelne Laudemialzahlungen, nicht über das Laudemial-

recht ſelbſt, rechtskräftig entſchieden habe, ſo daß in den

zwei erſten Urtheilen die (nicht rechtskräftigen) Gründe

mit dem (rechtskräftigen) Urtheil verwechſelt worden ſeyen.

 

In dieſem Erkenntniß des Tribunals liegt ein ganz

entſchiedener Widerſpruch gegen die oben aufgeſtellten

Grundſätze über die Rechtskraft der Gründe.

 

(n) Koch Schleſiſches Archiv

B. 5 S. 277 fg. Die Hauptſtelle

iſt S. 283—285. Der Heraus-

geber hebt noch mehrere andere

bedenkliche Seiten dieſes Urtheils

heraus.

26*

|0422 : 404|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

5. Plenarbeſchluß des Tribunals vom 23. Januar

1843 (o).

 

Der hier entſchiedene Fall ſelbſt gehört nicht unmittel-

bar in das Gebiet unſrer Frage. Allein in den Gründen

wird ausdrücklich folgende Lehre aufgeſtellt. Wenn der

Klagegrund und mehrere Einreden inſtruirt ſind, und der

Richter freiſprechen will, ſo muß er das Urtheil hierauf

beſchränken, ohne dabei zu ſagen, ob er die Klage für un-

begründet, oder eine oder die andere Einrede für begründet

hält. Sonſt käme der Beklagte, der ſich ja über Nichts zu

beſchweren habe, in die Lage, wenn der Kläger appellire,

gleichfalls gegen die ihm nachtheiligen Gründe zu ap-

pelliren.

 

Hier iſt recht augenſcheinlich der oben (§ 293) darge-

ſtellte und getadelte Geſichtspunkt vorherrſchend, nur leicht

und ſchnell für den Augenblick abzuhelfen, unbekümmert

um die Zukunft, beſonders aber, ſo viel als möglich die

Rechtsmittel zu verhüten. Die Einſeitigkeit dieſes Geſichts-

punktes wird recht augenſcheinlich, wenn man auf die Fälle

Rückſicht nimmt, worin ein nach dieſer Anweiſung einge-

richtetes Urtheil, in Ermangelung eingelegter Rechtsmittel,

ſogleich rechtskräftig wird, oder worin es von der höchſten

Inſtanz geſprochen iſt. Dann kann die, zur Erſparniß von

Rechtsmitteln getroffene Vorkehrung dahin ausſchlagen, daß

künftig neue Prozeſſe entſtehen, die durch eine richtig aus-

 

(o) Entſcheidungen des O. Tribunals B. 9. S. 128 fg. Die Haupt-

ſtelle findet ſich S. 132. 133.

|0423 : 405|

§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.

gedehnte Rechtskraft für immer verhütet worden wären.

Auch iſt nicht einzuſehen, wie die hier aufgeſtellte Lehre

mit der oben angeführten Stelle der Gerichtsordnung (I. 13

§ 36) vereinigt werden ſoll.

6. Plenarbeſchluß des Tribunals vom 19. September

1845 (p).

 

Wenn ein Beklagter Einwendungen gegen das Klage-

recht ſelbſt hat, und daneben die Einrede der fehlenden

Activlegitimation, ſo kann nach Umſtänden über dieſe Prä-

judicialeinrede beſonders inſtruirt und erkannt werden.

Wenn aber Dieſes nicht geſchieht, ſondern beide Einwen-

dungen gleichzeitig verhandelt werden, ſo ſoll (nach jenem

Plenarbeſchluß) die Präjudicialeinrede nicht in dem Tenor,

ſondern nur in den Gründen erwähnt werden, die Ent-

ſcheidung darüber ſoll nicht rechtskräftig werden, und es

ſoll dagegen kein Rechtsmittel zuläſſig ſeyn.

 

Gegen dieſe Entſcheidung gelten dieſelben Gründe,

welche bereits gegen die vorhergehende geltend gemacht

worden ſind; ja es iſt in ihr der Widerſpruch mit der an-

geführten Stelle der A. G. O. (I. 13 §. 36) ſogar noch

unmittelbarer und augenſcheinlicher.

 

7. Urtheil des Tribunals vom 26. Januar 1847 in

Sachen Neſte auf Molſtow wider Ulrike Amalie Kolter-

mann (aus handſchriftlicher Mittheilung). In den Gründen

dieſes Urtheils kommt folgende Stelle vor, die mit der hier

vorgetragenen Lehre vollkommen übereinſtimmt:

 

(p) Entſcheidungen des O. Tribunals B. 11 S. 118—122.

|0424 : 406|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

„Im Vorprozeſſe nämlich hat der Verklagte ſich ſchon

„auf den Erbſchaftskaufvertrag vom 1. Juli 1842 ge-

„ſtützt, und dieſen excipiendo gegen die Klägerin gel-

„tend gemacht. Der Reviſionsrichter verwarf jedoch

„den desfallſigen Einwand, indem er ausführte, wie

„dieſer Vertrag die Klägerin nicht beeinträchtigen

„könne. Durch die Verwerfung, wenn ſie auch blos

„in den Urtelsgründen erfolgte, weil es ſich um eine

„Einrede handelte, erloſch die letztere; ſie blieb zu

„einer nachherigen Proteſtation eben ſo wenig, wie zu

„einer neuen Klage geeignet. (cf. Wächter Hand-

„buch Bd. II. S. 558. 567.)“

Endlich iſt auch noch anzugeben, welche Meinungen

von Schriftſtellern des Preußiſchen Rechts über die vor-

liegende Frage aufgeſtellt worden ſind.

 

Grävell hat an mehreren Stellen ſeines Commentars

über die Gerichtsordnung (q) Regeln über das Verhältniß

der Präjudicialpunkte zum Urtheil ſelbſt und zu deſſen

Rechtskraft aufgeſtellt, die wohl auf eine freiere Anſicht

der Sache gedeutet werden können; allein ſeine Ausdrücke

ſind doch ſo wenig beſtimmt und entſchieden, daß ich es

für ungewiß halte, ob dieſer Schriftſteller mit der hier

aufgeſtellten Lehre wirklich übereinſtimmt, oder nicht.

 

(q) Grävell Comm. über die A. G. O. B. 1 S. 145, B. 2

S. 681. 685. 686.

|0425 : 407|

§. 294. Rechtskraft der Gründe. Preußiſches Recht.

Dagegen hat Koch ſehr entſchieden an mehreren Orten

dieſelbe Lehre über die Rechtskraft der Gründe aufgeſtellt,

welche oben für das Preußiſche, wie für das gemeine Recht

vertheidigt worden iſt (r).

 

Zum Schluß dieſer ganzen Unterſuchung iſt noch der

Zuſammenhang derſelben mit einer, an ſich ſehr verſchiede-

nen, Frage bemerklich zu machen, welche in neuerer Zeit

mit Gründlichkeit und Scharfſinn nach beiden Seiten hin

verhandelt worden iſt, mit der Frage nämlich, wie in

einem Richtercollegium abzuſtimmen iſt; ob nach Gründen,

oder vielmehr nach dem letzten Reſultat (s). Im erſten

 

(r) Koch Lehrbuch des Preußi-

ſchen Rechts B. 1 §. 199. 200,

und: Juriſtiſche Wochenſchrift 1837

S. 1—10, S. 21—34. Beſon-

ders entſcheidend iſt folgender

Rechtsfall (S. 1. 2. 31. 32). Einer

Klage auf verfallene Zinspoſten

war die exceptio non numera-

tae pecuniae entgegengeſetzt wor-

den; dieſe wurde verworfen, und

der Beklagte wurde zur Zahlung

der Zinſen verurtheilt. Nunmehr

klagte der vorige Beklagte mit der

condictio sine causa auf Her-

ausgabe des Schuldſcheins, und

zwar aus demſelben Grunde, den

er früher als Einrede ohne Erfolg

geltend gemacht hatte. Der erſte

Richter wies die Klage ab wegen

des rechtskräftigen Urtheils, der

Appellationsrichter reformirte, weil

beide Klagen verſchiedene Objecte

gehabt hätten, und in dem erſten

Prozeß das gegebene Darlehn zwar

angenommen, aber nur in den

Gründen, die nicht rechtskräftig

würden, nicht in dem Tenor, aus-

geſprochen worden ſey. — Koch

tadelt dieſes Urtheil mit Recht.

(s) Für die Abſtimmung nach

Gründen haben ſich ausge-

ſprochen: Ein Miniſterial-Reſcript

von 1819; ein zweites von 1834;

ein drittes von 1840; (Ergänzungen

und Erläuterungen der Preußiſchen

Rechtsbücher B. 8 Breslau 1843,

zu G. O. I. 13 § 31, S. 314. 315.

Juſtiz-Miniſterialblatt 1841 S. 18

bis 24). Ferner: Göſchel Zer-

ſtreute Blätter B. 1 S. 238. Koch

Lehrbuch des Preußiſchen Rechts

B. 1 §. 64. — Für die Abſtim-

|0426 : 408|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Falle muß aus den, durch die Mehrheit angenommenen, ein-

zelnen Gründen das Reſultat gezogen werden, auf die Ge-

fahr hin, daß mit dieſem Reſultat an ſich die Mehrheit

vielleicht nicht zufrieden ſeyn würde. Im zweiten Falle

müſſen die Entſcheidungsgründe aus allen, von den einzel-

nen Mitgliedern vorgebrachten Gründen ſo ausgeſucht

werden, wie ſie zu dem gezogenen Reſultat paſſen, auf die

Gefahr hin, daß jeder dieſer Gründe für ſich von der

Mehrheit mißbilligt werden möchte (t).

Es iſt nicht meine Abſicht, mich hier in die Prüfung

dieſer ſchwierigen und verwickelten Frage im Allgemeinen

einzulaſſen, und dadurch den Gang unſrer Unterſuchung zu

unterbrechen: ich will nur den partiellen Zuſammenhang

nachzuweiſen ſuchen, in welchem dieſe Frage mit der hier

aufgeſtellten Lehre von der Rechtskraft der Gründe ſteht.

Wenn dieſe Lehre richtig iſt, d. h. wenn die objectiven

Gründe wahre Beſtandtheile des Urtheils ſind, und mit

demſelben rechtskräftig werden ſollen, ſo muß nothwendig

über jeden objectiven Grund, nicht blos über Verurtheilung

oder Freiſprechung, beſonders abgeſtimmt und entſchieden

werden, weil ſonſt die Rechtskraft dieſer Gründe nicht von

dem Collegium in ſeiner Mehrheit entſchieden ſeyn würde.

Es bleibt aber dabei noch unentſchieden, ob vielleicht in

 

mung nach dem Reſultat: Dor-

guth, Juriſtiſche Wochenſchrift

1841 S. 153. 173. 625. 645. 647.

671, und Waldeck im neuen

Archiv für Preußiſches Recht,

Jahrg. 7. (1841) S. 427—471.

(t) Dieſes letzte Verfahren ver-

langt ausdrücklich Dorguth a. a.

O. S. 159 N. 11.

|0427 : 409|

§. 295. Wirkungen der Rechtskraft.

Anſehung der ſubjectiven Gründe das entgegengeſetzte Ver-

fahren als richtig anzuſehen ſeyn möchte (u).

§. 295.

Rechtskraft. II. Wirkungen. Einleitung.

Die bisher geführte Unterſuchung ging darauf aus, die

Bedingungen der Rechtskraft feſtzuſtellen; es bleibt nun

noch übrig, die Wirkung derſelben zu unterſuchen (a).

 

In der Wirkung der Rechtskraft ſind drei Stufen zu

unterſcheiden, welche in folgenden Rechtsinſtituten erſcheinen:

Execution, actio judicati, Einrede der Rechtskraft.

 

Die beiden erſten Inſtitute ſind inſofern von beſchränk-

terer Anwendung, als ſie nur bei verurtheilenden Erkennt-

niſſen vorkommen, nicht bei freiſprechenden, während das

dritte (die Einrede) bei jeder Art von Erkenntniſſen vor-

kommen kann. Ein größerer Unterſchied aber, in Bezie-

hung auf unſren beſonderen Zweck, liegt darin, daß die

zwei erſten Inſtitute mehr zu dem Prozeßrecht zu rechnen

ſind, anſtatt daß das dritte ganz dem materiellen Recht

angehört, deſſen Darſtellung allein in unſrer Aufgabe liegt.

 

Die Execution iſt im Fall eines verurtheilenden Er-

kenntniſſes, wenn demſelben nicht freiwillig Folge geleiſtet

 

(u) Allerdings habe ich ſelbſt

kein Bedenken, mich bei den ſub-

jectiven Gründen für daſſelbe Ver-

fahren, wie bei den objectiven, zu

erklären. Dieſes würde z. B. zur

Anwendung kommen, wenn etwa

die Beweiskraft einzelner Zeugen

oder Urkunden aus verſchiedenen

Gründen beſtritten werden ſollte.

(a) Der Zuſammenhang dieſer

verſchiedenen Fragen iſt oben, am

Ende des §. 283, angegeben

worden.

|0428 : 410|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

wird, die nächſte und fühlbarſte Wirkung der Rechtskraft.

Sie hat jedoch keinen anderen Zweck, als den, dem richter-

lichen Ausſpruch durch äußere Macht ſichere Geltung zu ver-

ſchaffen, und gehört alſo als letztes Glied in die Reihe

der Prozeßhandlungen (b). Eine Einwirkung auf das

materielle Recht, durch Veränderung der Rechtsverhältniſſe,

liegt darin nicht, und wenn eine ſolche Veränderung durch

Veranlaſſung der Execution dennoch eintritt, ſo liegt der

Grund nicht ſowohl in der Natur und Beſtimmung der-

ſelben, als in zufälligen Umſtänden. Für viele Verpflich-

tungen nämlich, die das verurtheilende Erkenntniß dem

Beklagten auferlegen kann, iſt ein unmittelbarer Zwang

gar nicht möglich, und es müſſen dann entweder indirecte

Zwangsmittel angewendet, oder Surrogate aufgeſucht

werden, um ſo durch Umwege dem Urtheil eine annähernde

Ausführung zu verſchaffen (c).

(b) Aus den Quellen des

Römiſchen Rechts gehört dahin

ein großer Theil des Digeſten-

titels de re judicata (42. 1),

insbeſondere die Beſtimmungen

über das tempus judicati (L. 7,

L. 4 § 5, L. 29 de re jud.

u. ſ. w.), ſo wie die über das

pignus in causa judicati

captum.

(c) Die Herausgabe einer vom

Beklagten beſeſſenen Sache kann

unmittelbar erzwungen werden;

eben ſo, durch Abpfändung und

Verkauf, die Zahlung einer Geld-

ſumme. Nicht ſo, wenn zur Voll-

ziehung des Urtheils eine freie

Thätigkeit des Beklagten erforder-

lich iſt; in dieſem Falle bleibt

Nichts übrig, als indirecter Zwang,

z. B. durch perſönliche Haft, oder

Verwandlung des urſprünglichen

Gegenſtandes in eine Geldzahlung

durch aestimatio, die im R. R.

in ſehr ausgedehnter Weiſe vor-

kommt. Hierüber ſind von jeher

in der Theorie und Praxis ſehr

verſchiedene Regeln angenommen

worden. Vgl. Wächter Heft 2

S. 14—33.

|0429 : 411|

§. 295. Wirkungen der Rechtskraft.

Etwas, aber nicht viel, anders verhält es ſich mit der

Actio judicati. Allerdings enthält dieſe inſofern ein neues

materielles Rechtsinſtitut, als ihr eine eigenthümliche Obli-

gation zum Grunde liegt, welche jedoch ſelbſt nur die Ent-

wicklung und Vollendung der, durch die Litisconteſtation

begründeten Obligation iſt (d). Indeſſen hat dieſe Obli-

gation keinen anderen Stoff, als die Execution, und ſo iſt

ſie ſelbſt doch eigentlich nur eine andere Form der Execu-

tion, mit welcher ſie daher die weſentlich prozeſſualiſche

Natur theilt (e). — So haben denn auch die meiſten Ei-

genthümlichkeiten, die man als Privilegien dieſer Klage

bezeichnen kann, eine überwiegend prozeſſualiſche Beſchaf-

fenheit (f). Eine derſelben, die ganz in das materielle

Recht gehört, muß jedoch noch beſonders hervorgehoben

werden: dieſe betrifft die Urtheilszinſen.

 

(d) S. o. § 258 S. 32. 33.

Viele Stellen, die von dieſer

Obligation handeln, ſind zuſam-

mengeſtellt bei Keller S. 199

Note 3.

(e) Ein großer Theil des Di-

geſtentitels de re judicata (42.

1) handelt von der actio judi-

cati, deren allgemeine Natur in

folgenden Stellen angegeben wird:

L. 4. 5. 6. 7. 41 § 2. 43. 44.

61 de re jud. (42. 1). Bei

den neueren Juriſten iſt oft noch

neben dieſer Klage von einer be-

ſonderen imploratio officii judi-

cis die Rede, die aber im Grunde

immer wieder die actio judicati

iſt, wenn ſie auch vielleicht weniger

förmlich erſcheint. Vgl. Buchka

B. 2 S. 214. — Anders freilich

verhält es ſich in der beſonderen

Prozeßgeſetzgebung mancher Länder,

worin verſchiedene Stufen dieſer

Rechtsverfolgung vorgeſchrieben

ſind. So in der Preußiſchen Allg.

Gerichtsordnung Th. 1. Tit. 24

§ 3 Tit. 28 § 14.

(f) Dahin gehört im älteren

Recht die Strafe der doppelten

Zahlung bei Ableugnung des Ur-

theils, ferner die manus injec-

tio, die satisdatio, ein beſonderes

vadimonium. Gajus IV. § 9.

21. 25. 102. 186.

|0430 : 412|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Wenn nämlich das Urtheil dem Beklagten eine Geld-

zahlung auferlegt, ſo iſt es denkbar, daß er von dieſer

Summe vor dem Urtheil Vertragszinſen, Verzugszinſen,

Prozeßzinſen, oder auch gar keine Zinſen zu zahlen hatte.

Es entſteht nun die Frage, ob das rechtskräftige Urtheil

auf die Zinsverpflichtung, je nach dieſen verſchiedenen Fäl-

len, irgend einen abändernden Einfluß ausübt für die künf-

tige Zeit. Das Römiſche Recht iſt in der Beantwortung

dieſer Frage lange ſchwankend geweſen; die Entſcheidung

des Juſtinianiſchen Rechts iſt aber nicht zweifelhaft (g).

Von dem Augenblick des rechtskräftigen Urtheils an iſt

aller bisherige Zinſenlauf gehemmt, und dieſe Begünſtigung

des Beklagten, die ihm die freiwillige Erfüllung des Ur-

theils erleichtern ſoll, dauert vier Monate. Hat er inner-

halb dieſes Zeitraums nicht gezahlt, ſo wird nicht etwa der

frühere Zinſenlauf fortgeſetzt, ſondern es entſtehen, ohne

daß es einer Mahnung bedarf, neue Zinſen, welche ſtets

zwölf Procente (centesimae) betragen, jedoch nur von der

früheren Kapitalſchuld, nicht von früheren Zinſen, bezahlt

werden müſſen. — Dieſe ganz eigenthümliche, ſehr will-

kührliche Vorſchrift iſt indeſſen nach dem übereinſtimmenden

Zeugniß der bewährteſten praktiſchen Schriftſteller im heu-

tigen Recht nicht anerkannt worden (h). Es bleibt alſo

nunmehr bei einem unveränderten Fortgang der früher lau-

 

(g) L. 13 C. de usur. (4. 32).

L. 1. 2. 3 C. de us. rei jud.

(7. 54).

(h) Voetius Lib. 22 Tit. 1

§ 11, Stryk ibid. § 13. Lauter-

bach ibid. § 22.

|0431 : 413|

§. 295. Wirkungen der Rechtskraft.

fenden Zinſen, insbeſondere der Prozeßzinſen, wo ſolche zur

Anwendung kommen, auch nachdem ein rechtskräftiges Ur-

theil ergangen iſt.

Unter den drei oben angegebenen Wirkungsarten der

Rechtskraft bleibt jetzt noch die letzte zur näheren Be-

trachtung übrig: die exceptio rei judicatae, oder die Ein-

rede der Rechtskraft. Von dieſer iſt ſchon oben nach-

gewieſen worden, daß die hiſtoriſche Entwicklung der

Rechtskraft ſich hauptſächlich an ſie, als ihren eigentlichen

Mittelpunkt, angeknüpft hat (§ 281 fg.). Durch ſie ſollte

vorzugsweiſe die Fiction der Wahrheit des rechtskräftigen

Urtheils praktiſch durchgeführt werden, oder mit anderen

Worten, es ſollte durch ſie bewirkt werden, daß niemals

der Inhalt eines Urtheils mit dem Inhalt eines früheren

rechtskräftigen Urtheils in Widerſpruch trete. Allerdings

theilte ſie in früherer Zeit dieſen Beruf mit anderen ver-

wandten Rechtsinſtituten (i); als aber dieſe allmälig ver-

ſchwanden, diente ſie allein zu jenem wichtigen Zweck,

ſo daß ſie im neueſten Recht eine noch höhere Stufe der

Wichtigkeit eingenommen hat, als in der früheren Zeit.

 

Dieſe Einrede kann begründet werden ſowohl durch

eine Freiſprechung, als durch eine Verurtheilung, hat alſo

inſofern eine weitere Wirkungsſphäre, als die Execution

 

(i) Nämlich mit der, ſchon in

der Litisconteſtation liegende Con-

ſumtion der Klage, wodurch

manche Klagen ipso jure zerſtört,

andere vermittelſt einer exceptio

rei in judicium deductae ent-

kräftet wurden (§ 281).

|0432 : 414|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

und die actio judicati, da dieſe nur aus einer Verurthei-

lung entſpringen können. — Aus der Freiſprechung ent-

ſpringt dieſe Einrede zum Vortheil des Beklagten, welcher

dadurch gegen jede neue Klage geſchützt wird, wodurch der

Erfolg jener Freiſprechung gefährdet werden könnte. —

Aus der Verurtheilung kann ſowohl der Kläger, als der

Beklagte, einen Anſpruch auf jene Einrede erwerben.

Der Kläger, wenn durch eine neue Klage der frühere Be-

klagte ein Recht geltend zu machen verſucht, welches mit

der rechtskräftigen Verurtheilung im Widerſpruch ſteht

(§. 287). Der Beklagte, wenn er aus dem früher ab-

geurtheilten Recht von Neuem in Anſpruch genommen

wird, und zwar über die Gränzen der rechtskräftigen Ver-

urtheilung hinaus (§ 286).

Die Einrede der Rechtskraft ſteht in Verwandtſchaft

mit einigen anderen Rechtsinſtituten, die mehr oder weniger

ähnliche Natur mit ihr haben. — Dahin gehört zunächſt

die exceptio pacti und jurisjurandi, indem ein Rechtsſtreit

eben ſowohl durch Vertrag oder Eid, als durch rechts-

kräftiges Urtheil, zu Ende geführt werden kann. In allen

dieſen Fällen iſt es gleich unzuläſſig, durch eine neue

Klage mit einer ſolchen Beendigung in Widerſpruch zu

treten, und damit Dieſes nicht geſchehe, ſind eben jene

drei Einreden aufgeſtellt worden. Bei jeder derſelben kann

es in Frage kommen, ob auch wiklich die neue Klage die-

ſelbe iſt, worauf ſich die frühere Beendigung bezog, und

bei der Erörterung dieſer oft ſchwierigen Frage kann nicht

 

|0433 : 415|

§. 295. Wirkungen der Rechtskraft.

ſelten die Vergleichung einer dieſer Einreden mit den

anderen gute Dienſte thun. Ein durchgreifender Unterſchied

aber zwiſchen dieſen drei Einreden beſteht darin, daß die

exceptio pacti und jurisjurandi ſchon im jus gentium

anerkannt ſind, welches von der exceptio rei judicatae,

als einem Inſtitut des blos poſitiven Rechts, nicht be-

hauptet werden kann (§ 249. c).

Eine fernere Verwandtſchaft hat dieſe Einrede mit der

oben abgehandelten Concurrenz der Klagen (§ 231 fg.).

 

Der Grundſatz der Concurrenz ſoll verhindern, daß der

durch eine Klage geforderte und zuerkannte Gegenſtand

noch einmal gefordert werde; der Grundſatz unſrer Einrede

ſoll verhindern, daß der, im frühern Rechtsſtreit geforderte

und abgeſprochene Gegenſtand ferner gefordert werde.

Inſofern wird bei dieſen beiden Rechtsinſtituten ein gerade

entgegengeſetzter früherer Erfolg vorausgeſetzt. Ihre Ver-

wandtſchaft aber beſteht in der Vorausſetzung einer ge-

wiſſen Identität des erſten und zweiten Rechtsſtreits.

Indeſſen iſt dieſe Verwandtſchaft doch mehr ſcheinbar, als

wahr, wenn man die Einrede der Rechtskraft in ihrer

neueſten Geſtalt (der poſitiven Function) auffaßt, indem

bei dieſer die Identität eine ganz andere Bedeutung hat,

als in der Lehre von der Concurrenz. Der Grundſatz der

Concurrenz kann den Gebrauch einer neuen Klage aus-

ſchließen, auf deren Verhältniß zu der früheren Klage die

Einrede der Rechtskraft gar nicht anwendbar ſeyn würde,

und eben ſo kann auch umgekehrt dieſe Einrede eine neue

 

|0434 : 416|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Klage in ſolchen Fällen ausſchließen, auf welche der

Grundſatz der Concurrenz gar keine Anwendung findet.

Manche Schriftſteller haben dieſen Umſtand überſehen, und

daher beide Inſtitute in eine ihrer Natur nicht angemeſſene

Verbindung zu bringen geſucht (k).

Der Zweck und Erfolg der Einrede der Rechtskraft

läßt ſich einfach dahin beſtimmen, daß ſie auf Entkräftung

jeder Klage geht, die mit dem Inhalt eines früheren rechts-

kräftigen Urtheils in Widerſpruch zu treten verſucht. —

So, wie alle anderen Exceptionen, kann auch dieſe in Ge-

ſtalt einer Replication oder Duplication geltend gemacht

werden, wenn die Lage des Rechtsſtreits dazu Gelegenheit

darbietet. In ſolchen Fällen wird dadurch nicht die Klage

des Gegners, ſondern deſſen Exception oder Replication

entkräftet. Man kann daher für alle dieſe Fälle die ge-

meinſame Formel ſo ausdrücken: Es ſoll dadurch jederzeit

der Anſpruch des Gegners entkräftet werden, welcher mit

einem rechtskräftigen Urtheil in Widerſpruch treten würde.

 

Rach dieſen Vorbemerkungen bleibt noch der wichtigſte

Punkt zu erörtern übrig: unter welchen Bedingungen

die Einrede der Rechtskraft anwendbar iſt. Auf dieſe Frage

wird ſich der ganze noch übrige Theil der gegenwärtigen

Abhandlung beziehen.

 

(k) S. o. § 231 p. — Mehr

wirkliche Verwandtſchaft beſtand

noch zwiſchen der Concurrenz und

der exceptio rei judicatae in

ihrer älteren Geſtalt (der negativen

Function).

|0435 : 417|

§. 296. Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.

§. 296.

Einrede der Rechtskraft. Bedingungen. — Ueberſicht.

Dieſelbe Rechtsfrage.

Die Frage nach den Bedingungen dieſer Einrede hat

folgende Bedeutung. Wenn in einem gegenwärtigen Rechts-

ſtreit die Einrede aus der rechtskräftigen Entſcheidung eines

früheren Rechtsſtreits gebraucht wird um die neue Klage

zu entkräften, ſo ſoll das Verhältniß feſtgeſtellt werden, in

welchem der erſte zu dem zweiten Rechtsſtreit ſtehen muß,

damit die Einrede dieſe Wirkung haben könne.

 

Über dieſe Frage finden wir in folgenden zwei Stellen

des Ulpian einen großentheils wörtlich gleichlautenden

Ausſpruch, merkwürdigerweiſe jedesmal mit Berufung auf

das Zeugniß des Julian.

 

L. 3 de exc. r. j. (44. 2). Julianus lib. 3 Dig. respon-

dit, exceptionem rei judicatae obstare, quotiens eadem

quaestio inter easdem personas revocatur.

L. 7 § 4 eod. Et generaliter, ut Julianus definit, ex-

ceptio rei judicatae obstat, quotiens inter easdem per-

sonas eadem quaestio revocatur, vel alio genere ju-

dicii(a).

In beiden übereinſtimmenden Stellen wird zur Anwend-

barkeit der Einrede ein zweifaches Verhältniß der Identität

zwiſchen dem erſten und zweiten Rechtsſtreit erfordert: die

 

(a) In derſelben Stelle heißt

es, wenige Zeilen vorher, (L. 7

§ 1 eod.): „Et quidem ita

definiri potest, totiens eandem

rem agi, quotiens apud judicem

posteriorem id quaeritur, quod

apud priorem quaesitum est.“

VI. 27

|0436 : 418|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

jetzt zu entſcheidende Rechtsfrage ſoll dieſelbe ſeyn,

welche ſchon früher entſchieden worden iſt, und die Per-

ſonen, die jetzt ſtreiten, ſollen dieſelben ſeyn, welche

den früheren Rechtsſtreit geführt haben.

Man kann Beides kurz als objective und ſubjective

Identität bezeichnen. Zunächſt ſoll nun die erſte, die Iden-

tität der Rechtsfrage, genau beſtimmt werden.

 

Was in den angeführten beiden Stellen als eadem

quaestio bezeichnet wird, heißt in manchen anderen Stellen

eadem res (b). Es iſt einleuchtend, daß dieſer letzte Aus-

druck weit unbeſtimmter iſt, als der erſte, indem es bei der

großen Vieldeutigkeit des Wortes res ungewiß bleibt, ob

vielleicht eine Übereinſtimmung in dem äußern Gegenſtand,

oder in dem Namen, oder in der Formel beider Klagen

gemeint ſeyn möge. Der Ausdruck quaestio dagegen deutet

geradezu auf die in beiden Klagen der richterlichen Prü-

fung und Entſcheidung vorliegende Rechtsfrage, legt alſo

dem zweiten Richter die Pflicht auf, den Inhalt des frü-

 

(b) L. 7 pr. de exc. r. j.

(Ulp.), L. 14 pr. eod. (Paul.),

L. 27 eod. (Nerat.). — Derſelbe

Ausdruck findet ſich in L. 5 eod.;

allein dieſe Stelle ſpricht in der That

nicht von unſerer Einrede, ſondern

von folgender Frage. Bei einer

beabſichtigten mandati actio hatte

ſich der Kläger eine cautio ju-

dicio sisti verſprechen laſſen, und

zwar vor der L. C. (vgl. L. 10

§ 2, L. 13 si quis caut.). Er

änderte nachher ſeine Abſicht, und

ſtellte zu demſelben Zweck die

a. negot. gest. an. Wenn nun

der Beklagte ausblieb, ſo fragte

es ſich, ob die für eine andere

Klage verſprochene Caution den-

noch verfallen ſey. Ulpian be-

jaht dieſe Frage, weil es eadem

res ſey. Vgl. Buchka B. 1

S. 97. — Dennoch kann die Auf-

nahme dieſer Stelle in unſeren Di-

geſtentitel nicht getadelt werden,

da für die Exception das Daſeyn

der eadem res eben ſo, und in

demſelben Sinn, wie für die

Caution, erfordert wurde.

|0437 : 419|

§. 296. Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.

heren Urheils zu beachten und zu befolgen. Dieſe größere

Beſtimmtheit des Ausdrucks iſt nicht nur an ſich eine

weſentliche Verbeſſerung, ſondern ſie enthält zugleich ein

unverkennbares Zeichen, daß man ſich, indem man dieſen

Ausdruck wählte, der neueren Entwicklung unſres Rechts-

inſtituts (der poſitiven Function der exceptio rei judicatae)

deutlich bewußt geworden war.

Allerdings wurde auch bei der älteren Geſtalt jener

Exception (der negativen Function) eine gewiſſe Identität

beider Klagen erfordert; allein dieſe hatte dabei eine nicht

wenig verſchiedene Bedeutung, indem vorzugsweiſe auf die

übereinſtimmende Intentio beider Klagen (nicht auf den In-

halt des Urtheils) geſehen wurde, wovon in dem neueſten

Recht ohnehin nicht mehr die Rede ſeyn könnte (c).

 

Zunächſt iſt alſo das Daſeyn derſelben Rechtsfrage

(die objective Identität), als erſte Bedingung für die Ein-

rede der Rechtskraft, genau zu beſtimmen. Dieſe Bedingung

ſchließt zwei entgegengeſetzte Regeln in ſich, deren Sinn

vorläufig feſtzuſtellen und durch Beiſpiele anſchaulich zu

machen iſt.

 

I. Soweit beide Klagen auf einer verſchiedenen

Rechtsfrage beruhen, darf die Einrede der Rechtskraft

 

(c) Dieſer Punkt iſt von Keller

§ 33 mit großer Sorgfalt, und

mit Beachtung der nöthigen Ein-

ſchränkungen behandelt worden. —

Von demſelben Schriftſteller wird

S. 272—275 ausgeführt, daß

eadem quaestio mit der eigen-

thümlichen Natur der Einrede in

ihrer poſitiven Function in Ver-

bindung ſteht.

27*

|0438 : 420|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

nicht angewendet werden, auch wenn ein Schein von

Uebereinſtimmung vorhanden ſeyn ſollte. Erläuternde An-

wendungen ſind folgende.

Die Entſcheidung einer Beſitzklage begründet niemals

die Einrede der Rechtskraft für die künftige Eigenthums-

klage (d), und eben ſo auch umgekehrt. Man könnte ver-

ſucht ſeyn, das Eigenthum als das größere, den Beſitz als

das geringere Recht an der Sache anzuſehen, folglich den

Beſitz als Beſtandtheil des Eigenthums; dieſe Auffaſſung

aber würde ganz irrig ſeyn. Beide Rechte ſind vielmehr

ganz ungleichartig (e), ſo daß die Bejahung des einen mit

der Verneinung des andern niemals im Widerſpruch ſteht.

 

Wird eine confeſſoriſche Klage auf iter abgewieſen,

ſpäter eine confeſſoriſche Klage auf actus angeſtellt, ſo ſteht

die Einrede nicht entgegen (f). Zwar umfaßt der actus

unter andern auch alle einzelnen im iter enthaltenen Befug-

niſſe; dennoch ſind es Servituten verſchiedener Art und

Benennung, deren jede alſo, unabhängig von der anderen,

durch ein Rechtsgeſchäft beſonders begründet werden kann.

 

Die Abweiſung der Eigenthumsklage hindert nicht die

ſpätere Anſtellung einer Condiction auf dieſelbe Sache, ob-

gleich beide Klagen denſelben äußeren Zweck haben, nämlich

dem Kläger dieſe Sache zu verſchaffen (g).

 

Die Abweiſung einer durch Dolus bedingten Klage

hindert nicht die ſpätere Anſtellung der Aquiliſchen Klage,

 

(d) L. 14 § 3 de exc. r. jud.

(44. 2).

(e) L. 12 § 1 de adqu. vel

am. poss. (41. 2).

(f) L. 11 § 6 de exc. r. jud.

(44. 2).

(g) L. 31 de exc. r. jud.

(44. 2).

|0439 : 421|

§. 296. Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.

weil dieſe ſchon durch bloße Culpa begründet werden

kann (h).

II. Soweit dagegen beide Klagen auf derſelben

Rechtsfrage beruhen, iſt die Einrede der Rechtskraft an-

zuwenden, auch wenn ein Schein von Verſchiedenheit vor-

handen ſeyn ſollte.

 

Um dieſe wichtige, und in manchen Beziehungen

ſchwierige, Regel in das wahre Licht zu ſetzen, ſollen zuerſt

die einfachſten Fälle betrachtet werden, die Fälle, in welchen

an dem Daſein unbedingter Uebereinſtimmung kein Zweifel

denkbar iſt. Dann iſt zu unterſuchen, welche einzelnen Be-

ſtandtheile jener unbedingten, vollſtändigen Uebereinſtimmung

etwa fehlen dürfen, ohne die Annahme der für unſren

Zweck erforderlichen Uebereinſtimmung aufzuheben, alſo ohne

für die Anwendbarkeit der Einrede der Rechtskraft ein

Hinderniß darzubieten. In ſolchen Fällen wird ein bloßer

Schein der Verſchiedenheit vorhanden ſeyn, bei weſent-

licher Gleichheit.

 

Ich will zwei Fälle aufſtellen, in welchen die Ueber-

einſtimmung beider Klagen keinem auch nur ſcheinbaren

Zweifel unterworfen ſeyn kann.

 

Die auf ein Landgut aus dem Grund der Erſitzung

angeſtellte Eigenthumsklage wird rechtskräftig abgewieſen.

In der Folge wiederholt derſelbe Kläger gegen denſelben Be-

klagten die Eigenthumsklage aus demſelben Erwerbungs-

 

(h) L. 13 pr. de lib. causa (40. 12).

|0440 : 422|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

grunde. — Eine Darlehnsklage auf Hundert wird rechts-

kräftig abgewieſen, und ſpäter gegen denſelben Beklagten

wiederholt. — In beiden Fällen iſt die ſpätere Klage von

der früheren in keiner Beziehung verſchieden; ſie iſt eine

reine, einfache Wiederholung derſelben, und die Anwend-

barkeit der Einrede der Rechtskraft kann daher keinem

Zweifel unterliegen.

Es iſt jedoch keinesweges erforderlich, daß die Über-

einſtimmung alle hier angegebenen Vorausſetzungen umfaſſe;

ſie kann in mehreren derſelben fehlen, und dennoch als

wahre Uebereinſtimmung gelten, alſo auch die Einrede der

Rechtskraft begründen. Alles kommt darauf an, daß in

jedem einzelnen Fall die oben aufgeſtellten Grundbedingungen

jener Einrede wirklich vorhanden ſind, nämlich: dieſelbe

Rechtsfrage, und dieſelben Perſonen.

 

Ich will eine vorläufige Überſicht der möglichen Ver-

ſchiedenheiten beider Klagen geben, welche nicht als noth-

wendige Hinderniſſe für die Anwendung unſrer Einrede zu

betrachten ſind.

 

1. Der zweite Rechtsſtreit kann über eine Klage von

anderem Namen und anderer Natur geführt werden,

als der erſte. (Ungleichartige Klage).

2. Die Parteirollen können in dem zweiten Rechtsſtreit

verwechſelt ſeyn, ſo daß der frühere Kläger jetzt als

Beklagter auftritt.

3. Das Recht, welches in der einen Klage der Haupt-

gegenſtand des Streites iſt, kann in der anderen als

|0441 : 423|

§. 296. Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.

bloße Bedingung eines anderen, eigentlich verfolgten

Rechts zur Sprache kommen (als Legitimationspunkt).

4. Der äußere Gegenſtand kann in beiden Klagen ver-

ſchieden ſeyn.

5. Der juriſtiſche Gegenſtand kann in beiden Klagen ver-

ſchieden ſeyn.

6. Das beſtrittene Recht kann in beiden Klagen aus

verſchiedenen Entſtehungsgründen abgeleitet werden.

Die hier aufgeſtellte Behauptung geht alſo dahin, daß

die Übereinſtimmung der Rechtsfrage (eadem quaestio)

für die Anwendbarkeit der Einrede der Rechtskraft allein

entſcheidend iſt, und daß daneben andere, wenn auch ſehr

ſcheinbare, Verſchiedenheiten beider Klagen nicht in Betracht

kommen. Dieſe Behauptung aber ſteht in dem engſten

Zuſammenhang mit der oben aufgeſtellten Lehre von den

(objectiven) Gründen des Urtheils, als weſentlichen, un-

trennbaren Beſtandtheilen deſſelben, auf welche ſich die

Rechtskraft des Urtheils ſelbſt mit erſtreckt. In der Auf-

faſſung der Römiſchen Juriſten erſcheinen beide Behaup-

tungen als zuſammenhangende Stücke eines und deſſelben

Grundſatzes, und auch bei den neueren Schriftſtellern be-

währt ſich dieſer innere Zuſammenhang darin, daß faſt

überall beide Fragen gleich richtig oder gleich irrig aufge-

faßt zu werden pflegen (i).

 

(i) Derſelbe innere Zuſammen-

hang bewährt ſich in der Behand-

lung beider Gegenſtände, wie ſie

in der Praxis und in der Literatur

des Preußiſchen Rechts wahrzu-

nehmen iſt. Vgl. Koch Lehrbuch

V. 1 § 200.

|0442 : 424|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Daß in der That dieſe Behauptung dem Römiſchen

Recht entſpricht, ſoll nunmehr für die aufgeſtellten Klaſſen

der Verſchiedenheiten, durch welche die Einrede der Rechts-

kraft nicht ausgeſchloſſen wird, im Einzelnen nachgewieſen

werden.

 

§. 297.

Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.

1. Ungleichartige Klage.

Der Umſtand, daß die zweite Klage einen anderen

Namen führt, als die erſte, iſt niemals ein Hinderniß für

die Anwendung der Einrede.

 

Dieſe Regel iſt geradezu ausgeſprochen in einer der

oben angeführten Hauptſtellen über die Bedingungen

unſrer Einrede (§ 296).

 

L. 7 § 4 de exc. r. j. (44. 2) .., exceptio rei ju-

dicatae obstat, quotiens inter easdem personas eadem

quaestio revocatur, vel alio genere judicii(a).

 

Ein erläuterndes Beiſpiel der Anwendung dieſer Regel

würde etwa folgendes ſeyn. Wenn Jemand ſeine Sache

einem Anderen als Pfand, oder Commodat, oder Depoſitum

hingiebt, und der Empfänger dieſe Sache beſchädigt, ſo

hat der Geber die Wahl, ob er mit der Contractsklage

oder mit der Aquiliſchen Klage Entſchädigung fordern

 

(a) Ganz eben ſo ſagt L. 5

eod. „etsi diverso genere

actionis.“ Es iſt jedoch von die-

ſer Stelle ſchon oben bemerkt

worden, daß ſie nicht unmittelbar

von der Einrede der Rechtskraft

ſpricht (§ 296. a).

|0443 : 425|

§. 296. Einrede. Dieſelbe Rechtsfrage.

will. Iſt aber eine dieſer Klagen abgewieſen, weil der

Richter keine Beſchädigung annimmt, ſo iſt auch der Ge-

brauch der anderen Klage durch die Einrede der Rechts-

kraft ausgeſchloſſen.

Eine ſolche Entſcheidung findet ſich nun wirklich in

mehreren einzelnen Anwendungen, jedoch ſo unbeſtimmt,

daß dieſe allein nicht als zweifelloſe Beſtätigungen unſrer

Regel gelten können. Wenn nämlich darin blos geſagt

wird, die ſpätere Klage werde durch die frühere ausge-

ſchloſſen (b), ſo bleibt es dabei noch ungewiß, ob nicht

vorausgeſetzt iſt, die Entſchädigung ſey durch die frühere

Klage bereits bewirkt worden, in welchem Fall vielmehr

die Regel der Concurrenz, als die der Einrede, entſcheidend

ſeyn würde. In einigen anderen Stellen wird allerdings

die exceptio rei judicatae als Grund der Ausſchließung

erwähnt; jedoch iſt es auch da nicht klar, ob in der That

der Inhalt des früheren Urtheils und nicht vielmehr das

bloße Daſeyn deſſelben, alſo die Einrede in der negativen

Function, gemeint iſt (c).

 

Dagegen ſind völlig klar und unzweifelhaft mehrere

Entſcheidungen, die bei den folgenden Klaſſen der Ver-

ſchiedenheit vorkommen werden, namentlich bei der Ver-

ſchiedenheit der Parteirollen, und bei dem Legitimations-

punkt.

 

(b) L. 18 § 1 commod. (13. 6),

L. 38 § 1 pro soc. (17. 2), L. 1

§ 21 tutelae (27. 3), L. 4 § 5

quod cum eo (14. 5).

(c) L. 4 § 3 de noxal. (9. 4),

L. 25 § 1 de exc. r. jud. (44. 2).

|0444 : 426|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Eben ſo unzweifelhaft iſt folgende Entſcheidung für die

exceptio jurisjurandi, deren hier anwendbare Analogie

ſchon oben (§ 295) geltend gemacht worden iſt. Wenn

eine Entſchädigung eingeklagt wird mit der Klage aus

einem Mandat, einer Geſchäftsführung, einer Societät,

und der Beklagte ſchwört, die Thatſache, woraus die Ent-

ſchädigung abgeleitet wird, ſey nicht wahr, ſo wird durch

die Einrede des Eides nicht blos die Wiederholung der

früheren Klage ausgeſchloſſen, ſondern auch die certi con-

dictio, wenn etwa eine ſolche aus derſelben Thatſache,

worauf ſich der Eid bezog, an ſich begründet werden

könnte. Auch hier wird die Anwendbarkeit der Einrede in

dem ſpäteren Rechtsſtreit ausdrücklich davon abhängig ge-

macht, daß darin eadem quaestio, wie in dem früheren

Rechtsſtreit, zur Entſcheidung gebracht werde (d).

 

2.

Verſchiedene Parteirolle in dem erſten und

zweiten Rechtsſtreit. Auch durch dieſe Verſchiedenheit wird

die Anwendung der Exception oder Replication der Rechts-

kraft niemals verhindert, welches aus folgenden ganz un-

zweifelhaften Entſcheidungen einzelner Fälle hervorgeht.

 

Wenn der Beklagte in einer Eigenthumsklage verurtheilt

wird, und dann dieſelbe Eigenthumsklage gegen den früheren

 

(d) L. 28 § 4 de jurejur. (12. 2)

„Exceptio jurisjurandi non

tantum, si ea actione quis uta-

tur, cujus nomine exegit jus-

jurandum, opponi debet, sed

etiam, si alia, si modo eadem

quaestio in hoc judicium dedu-

catur“ rel. Ganz eben ſo ver-

hält es ſich mit der exceptio

pacti. L. 27 § 8 de pactis

(2. 14).

|0445 : 427|

§. 297. Einrede. Dieſelbe Rechtsfrage.

Beklagten anſtellt, ſo ſteht ihm unſre Einrede entgegen,

weil die frühere Verurtheilung unabänderlich ausgeſprochen

hat, daß er nicht Eigenthümer ſey (e). — Ganz eben ſo

verhält es ſich mit der Erbrechtsklage, welche nach erfolgter

Verurtheilung in umgekehrter Weiſe angeſtellt wird (f). —

Derſelbe Fall endlich kann auch bei der Hypothekarklage

zwiſchen zwei Pfandgläubigern eintreten, wenn in dem

erſten Rechtsſtreit dem Kläger die Priorität zugeſprochen

worden iſt, und nun in dem zweiten der frühere Beklagte

als Kläger abermals dieſe Priorität für ſich geltend zu

machen verſucht (g).

Wenn ferner in einer Eigenthumsklage der Kläger ab-

gewieſen wird, weil der Richter das Eigenthum verneint,

dann aber der Beſitz der Sache an dieſen Kläger kommt,

und nun der frühere Beklagte gegen ihn die Publicianiſche

Klage anſtellt, ſo kann der frühere Kläger (gegenwärtig

Beklagter) gegen dieſe Klage die exceptio dominii gebrauchen.

Allein dieſe Einrede wird ihm durch die replicatio rei judi-

catae entkräftet, weil in dem früheren Rechtsſtreit das

Daſein ſeines Eigenthums rechtskräftig verneint worden

iſt (h).

 

(e) L. 30 § 1 de exc. r. jud.

(44. 2), L. 40 § 2 de proc. (3. 3).

— Vgl. oben § 287. a.

(f) L. 15 de exc. r. jud.

(44. 2).

(g) L. 19 de exc. r. jud. (44. 2)

„eandem enim quaestionem re-

vocat in judicium.“ Auch in

dieſer einzelnen Anwendung ge-

braucht alſo Marcellus denſelben

entſcheidenden Ausdruck, der in den

allgemeinen Ausſprüchen des Ul-

pian vorkommt (§ 296).

(h) L. 24 de exc. r. jud.

(44. 2).

|0446 : 428|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Wird einer perſönlichen Klage die Einrede der Compen-

ſation entgegengeſetzt, und dieſe deswegen verworfen, weil

der Richter die Gegenforderung als unbegründet anſieht,

ſo könnte ſpäterhin dieſe Gegenforderung als ſelbſtſtändige

Klage geltend gemacht werden. Dann aber würde die Ein-

rede der Rechtskraft dieſe Klage ausſchließen müſſen, weil

der frühere Richter das Daſeyn der Gegenforderung rechts-

kräftig verneint hat (i).

 

In den beiden zuletzt angeführten Fällen konnte nicht

blos die Verſchiedenheit der Parteirolle einen Zweifel an

der Anwendbarkeit jener Einrede erregen, ſondern auch die

ungleichnamige Klage, die dem erſten und zweiten Rechts-

ſtreit zum Grunde liegt. Da nun auch dieſer Umſtand

kein Hinderniß für die Anwendbarkeit iſt, ſo liegt darin

eine unzweifelhafte Beſtätigung der im Anfang dieſes

Paragraphen aufgeſtellten Regel.

 

Einen Zweifel an der Richtigkeit der hier aufgeſtellten

Regel könnte man aus der Äußerung des Paulus über

folgenden Rechtsfall herleiten (k). Der Verkäufer einer

fremden Sache erwirbt ſpäter das Eigenthum, und vindicirt

nun gegen den Käufer; dieſer kann ſich gegen die Klage

ſchützen durch eine exceptio doli (oder rei venditae et tra-

ditae). Er kann auch den Gebrauch der Einrede unter-

laſſen, und hinterher mit der actio emti das Intereſſe, oder

 

(i) L. 8 § 2 de neg. gestis

(3. 5), L. 7 § 1 de compens.

(16. 2), L. 1 § 4 de contr. tut.

(27. 4). — Vgl. oben § 291. d.

(k) L. 18 de evict. (21. 2),

verbunden mit L. 17 eod.

|0447 : 429|

§. 297. Einrede. Dieſelbe Rechtsfrage.

mit der Stipulationsklage den verſprochenen doppelten Kauf-

preis einklagen; dieſes Alles iſt durch unzweifelhafte Rechts-

regeln beſtätigt. Paulus aber ſetzt hinzu, dieſe Klagen

würden ihm ſelbſt dann zuſtehen, wenn er die Einrede ge-

braucht hätte, aber ohne Erfolg (etsi .. opposita ea nihilo-

minus evictus sit), d. h. wenn die Einrede verworfen

worden, oder unbeachtet geblieben wäre. Dieſes würde im

Widerſpruch ſtehen mit unſrer Regel, wenn der Richter

ausgeſprochen hätte, der frühere Verkauf, als Grund der

Einrede, ſey nicht wahr. Dieſes anzunehmen, liegt aber

in der Stelle kein nothwendiger Grund. Der Fall kann

vielmehr auch ſo gedacht werden, daß der Richter die Ein-

rede aus Verſehen unbeachtet ließ, oder daß er die Rechts-

regel verkannte, worauf die Einrede beruht, indem er etwa

die Vindication des früheren Verkäufers irrigerweiſe nicht

als eine doloſe Zuwiderhandlung gegen den eigenen Ver-

trag anſah (l).

§. 298.

Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage.. Legi-

timationspunkt.

3. Entſcheidung über den Legitimations-

punkt.

(l) Allerdings iſt auch die Leſe-

art zweifelhaft, indem bei den Wor-

ten: vel ex emto, Haloander be-

merkt: alias desunt. Allein wenn

man auch dieſe Worte wegdenkt,

ſo wird dadurch die im Text er-

wähnte Schwierigkeit nicht beſei-

tigt. Die rechtskräftige Vernei-

nung des früheren Kaufvertrags

hätte die (durch dieſen Vertrag

bedingte) Stipulationsklage eben

ſowohl ausgeſchloſſen, als die

actio emti.

|0448 : 430|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Die Verſchiedenheit zwiſchen dem erſten und zweiten

Rechtsſtreit kann ferner darin beſtehen, daß die Rechts-

frage, die in dem einen Rechtsſtreit unmittelbar Gegen-

ſtand des Streites und der Entſcheidung war, in dem

anderen blos als eine Bedingung erſchien, ohne welche der

Kläger ſeinen eigentlichen Anſpruch nicht geltend machen

konnte. Auch dieſe Verſchiedenheit ſoll die Anwendung

der Einrede nicht hindern können (a).

 

Folgende Beiſpiele mögen vorläufig zur Erläuterung

dieſer Regel dienen. Wenn der mit einer Erbrechtsklage

abgewieſene Kläger gegen den früheren Beklagten die

Eigenthumsklage auf eine zu dieſer Erbſchaft gehörende

Sache anſtellt, ſo ſteht ihm die Einrede der Rechtskraft

entgegen, obgleich in dem zweiten Rechtsſtreit das abge-

ſprochene Erbrecht nicht Gegenſtand des Streites iſt, wohl

aber eine Bedingung für das behauptete Daſeyn des

Eigenthums, welche alſo zur Legitimation des Klägers

gehört. — Eben ſo auch umgekehrt. Wenn jener Kläger

die Eigenthumsklage zuerſt anſtellt, und durch die Beerbung

des früheren Eigenthümers zu begründen verſucht, vom

Richter aber abgewieſen wird, weil dieſer die Beerbung

(als legitimatio ad causam) verneint, ſo könnte derſelbe

 

(a) Ich erwähne hier blos die

Legitimation des Klägers (die Activ-

legitimation), von welcher auch

Andere bei dieſer Gelegenheit aus-

ſchließend zu reden pflegen. Aller-

dings könnten auch Fälle der Paſſiv-

legitimation in Betracht kommen;

allein theils iſt dieſe überhaupt

nicht oft Gegenſtand eines Rechts-

ſtreites, theils wird ſie noch weit

ſeltener ſo vorkommen, daß daraus

ſpäter eine Einrede der Rechtskraft

entſpringen könnte.

|0449 : 431|

§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.

Kläger nunmehr die Erbrechtsklage gegen den früheren

Beklagten anſtellen wollen; dabei aber würde ihm die

Einrede der Rechtskraft eben ſo entgegen ſtehen, wie in

dem zuerſt aufgeſtellten, umgekehrten Fall (b).

Dieſe praktiſch ſehr wichtige Regel ſteht in augen-

ſcheinlichem Zuſammenhang mit der oben vorgetragenen

Lehre von der Rechtskraft der Gründe, mit welcher ſie

nothwendig ſteht und fällt. Die Wahrheit derſelben iſt

auch ſchon von heutigen Schriftſtellern anerkannt, und ſehr

richtig auf den Grundſatz der eadem quaestio zurückge-

führt worden (c). Ein Schriftſteller der neueſten Zeit hat

ſie gleichfalls für das heutige Recht ſehr klar und befrie-

digend durchgeführt (d). Aber in folgerechtem Zuſammen-

hang mit ſeiner, ſchon oben gerügten, irrigen Auffaſſung

der Rechtskraft der Gründe, hat derſelbe Schriftſteller

behauptet, dem Römiſchen Recht ſey dieſe Behandlung des

Legitimationspunktes völlig fremd (e). Da alſo dieſe wich-

tige Frage, und zwar nicht ohne einigen Schein, in Zweifel

gezogen worden iſt, ſo iſt eine erſchöpfende Behandlung

derſelben vorzugsweiſe nöthig. Ich werde zuerſt die ein-

zelnen Ausſprüche des Römiſchen Rechts zuſammen ſtellen,

worin jene Regel, wie ich glaube, unzweifelhaft anerkannt

 

(b) In dieſen beiden Fällen

könnte noch der andere Zweifel

entſtehen, ob etwa deswegen die

Einrede unanwendbar wäre, weil

es zwei Klagen von verſchiedener

Natur und Benennung ſeyen. Da-

von iſt jedoch ſchon oben § 297

Num. 1 gehandelt worden.

(c) Keller S. 272—275.

(d) Buchka B. 2 S. 187—190.

(e) Buchka B. 1 S. 299—301.

Vgl. oben § 293. l.

|0450 : 432|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

wird, dann aber die Scheingründe zu beſeitigen ſuchen,

die man derſelben neuerlich entgegengeſtellt hat.

a. Die beiden, ſchon oben als Beiſpiele angeführten,

Fälle von der Erbrechtsklage und Eigenthumsklage werden

von Ulpian nicht nur genau ſo, wie es hier geſchehen,

entſchieden, ſondern auch in unmittelbare Verbindung mit

der eadem quaestio geſetzt, aus welcher die Entſcheidung

abgeleitet wird.

 

L. 3 de exc. r. jud. (44. 2). Julianus lib. 3 Dig.

respondit, exceptionem rei judicatae obstare, quotiens

eadem quaestio inter easdem personas revocatur: et

ideo, etsi singulis rebus petitis hereditatem petat, vel

contra, exceptione summovebitur(f).

L. 7 § 4 eod. Et generaliter, ut Julianus definit, ex-

ceptio rei judicatae obstat, quotiens inter easdem

personas eadem quaestio revocatur, vel alio genere

(f) Es würde ganz unrichtig

ſeyn, dieſe und die folgende Stelle

ſo erklären zu wollen, als wäre in

beiden Prozeſſen die hereditatis

petitio angeſtellt, einmal auf die

ganze Erbſchaft, das anderemal auf

einzelne Erbſchaftsſachen. Singu-

las res petere und singularum

rerum petitio iſt vielmehr ſtets

die eigenthümliche Bezeichnung der

Eigenthumsklage, alſo ganz gleich-

bedeutend mit specialis in rem

actio. Vgl. § 2 J. de off. jud.

(4. 17), L. 1 pr. § 1 de rei vind.

(6. 1). Auch würden ſonſt dieſe

Fälle nicht als erläuternde Bei-

ſpiele zu den Worten: vel alio

genere judicii paſſen, wozu ſie

doch in der zweiten Stelle zugleich

dienen ſollen. — Allerdings muß

man in beiden Stellen hinzu-

denken, daß die Eigenthumsklage

auf die angebliche Beerbung des

früheren Eigenthümers gegründet

wurde. Ulpian ſagt dieſes frei-

lich nicht, aber er deutet es durch

die Verbindung mit der eadem

quaestio ſo unverkennbar an, daß

hierüber kein Zweifel bleiben kann.

|0451 : 433|

§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.

judicii. Et ideo, si hereditate petita singulas res

petat, vel singulis rebus petitis hereditatem petat,

exceptione summovebitur.

b. Ein ganz ähnlicher Fall iſt der, wenn eine Schuld-

klage von dem angeblichen Erben des urſprünglichen Gläu-

bigers angeſtellt, und wegen des fehlenden Erbrechts ab-

gewieſen, dann aber gegen dieſelbe Perſon die Erbrechts-

klage angeſtellt wird; eben ſo auch, wenn umgekehrt zuerſt

die Erbrechtsklage abgewieſen, dann die Schuldklage an-

geſtellt wird. In beiden Fällen ſoll gleichfalls die Ein-

rede der Rechtskraft Anwendung finden. Dieſen Ausſpruch

knüpft Ulpian unmittelbar an den vorhergehenden an,

welcher die Eigenthumsklage zum Gegenſtand hatte; auch

iſt die völlige Gleichartigkeit beider Ausſprüche ganz unver-

kennbar (g). Hier aber fügt Ulpian folgenden Grund

hinzu: Nam cum hereditatem peto, et corpora, et actiones

omnes, quae in hereditate sunt, videntur in petitionem

deduci. Dieſer Ausdruck deutet allerdings auf den Grund-

ſatz der Conſumtion, alſo auf die Einrede der Rechtskraft

in ihrer negativen Function, und daraus hat der eben

angeführte Schriftſteller folgern wollen, daß Ulpian über-

haupt nur hieran, und nicht (wie hier behauptet wird) an

eine Rechtskraft des Ausſpruchs über den Legitimations-

 

(g) L. 7 § 5 de exc. r. jud.

(44. 2). Dieſe Stelle wird an den

vorhergehenden, von der Eigen-

thumsklage handelnden, Paragra-

phen mit folgenden Worten ange-

knüpft: „Idem erit probandum,

etsi quis debitum petierit a

debitore hereditario, deinde

hereditatem petat“ rel.

VI. 28

|0452 : 434|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

punkt, gedacht habe; außerdem würde ihn der Vorwurf

einer Verwechslung beider ganz verſchiedenen Grundſätze

treffen (h). In dieſer Behauptung wird aber die wahre

Lage der Sache völlig verkannt. Zu Ulpian’s Zeit be-

ſtanden beide Formen der Einrede der Rechtskraft in voller

Geltung neben einander, und nur in den ſeltenen Fällen,

worin dieſelben in Widerſtreit kamen, ſollte die neuere,

vollkommnere Form den Vorzug erhalten (§ 282). Nun

erwähnt Ulpian zuerſt den Fall der Eigenthumsklage,

deſſen Entſcheidung er befriedigend aus dem Grundſatz der

poſitiven Function (der eadem quaestio) rechtfertigt. Dann

geht er zu dem Fall der Schuldklage über, und auch dabei

hätte dieſelbe Rechtfertigung völlig ausgereicht. Er führt

aber dieſen Fall auf den Grundſatz der negativen Function

(der Conſumtion) zurück, der darauf gleichfalls anwendbar

war und ganz zu derſelben Entſcheidung führte. Darin

lag weder in der Sache ſelbſt ein Irrthum, noch eine In-

conſequenz, oder eine Verwechslung verſchiedenartiger

Grundſätze.

c. Wenn ein Miteigenthümer die Eigenthumsklage auf

ſeinen Theil der Sache gegen den andern Miteigenthümer

anſtellt, und damit abgewieſen wird, dann aber gegen den

früheren Beklagten die a. communi dividundo wegen der-

ſelben Sache anſtellt, ſo ſteht ihm die Einrede der Rechts-

kraft entgegen, weil dieſe letzte Klage das Miteigenthum

 

(h) Buchka B. 1 S. 299—301. — Vgl. unten Beilage XVI.

Note q.

|0453 : 435|

§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.

(als Activlegitimation) vorausſetzt, welches aber in der

erſten Klage rechtskräftig abgeſprochen iſt. — Ganz Daſſelbe

gilt auch, wenn ein Miterbe zuerſt mit der Erbrechtsklage

abgewieſen wird, und dann die a. familiae herciscundae

gegen den früheren Beklagten anſtellt. Es iſt dabei gleich-

gültig, ob in der erſten Klage der Richter annahm, der

Kläger ſey nicht Erbe, oder die eingeklagte Sache gehöre

nicht zur Erbſchaft (i).

d. Im Römiſchen Prozeß kommt häufig eine exceptio

praejudicialis vor, wodurch der Beklagte verlangen kann

daß die Sache ſo lange ausgeſetzt bleibe, bis über eine

andere Sache entſchieden ſeyn wird. Dieſe gründet ſich

großentheils darauf, daß außerdem über eine wichtigere

Sache nebenher, und daher vielleicht nicht mit angemeſſener

Sorgfalt, rechtskräftig entſchieden werden würde; ſie ſetzt

alſo die rechtskräftige Entſcheidung des Legitimationspunktes

geradezu voraus (k). — Dahin gehört z. B. folgender Fall.

Zwiſchen A. und B. iſt Streit über das Eigenthum des

fundus Titianus. Außerdem macht A. Anſpruch auf eine

Wegeſervitut über das unbeſtrittene Grundſtück des B.,

um zu jenem ſtreitigen Grundſtück zu gelangen. Hier

kann B. die Ausſetzung der confeſſoriſchen Klage bis zur

 

(i) Dieſe verſchiedenen Fälle

kommen vor in folgenden Stellen:

L. 8, L. 11 § 3 de exc. r. jud.

(44. 2) und L. 25 § 8 fam. herc.

(10. 2). Die Schwierigkeiten, welche

die zuletzt angeführte Stelle dar-

bietet, ſind vortrefflich beſeitigt von

Keller S. 364—366.

(k) Die Zulaſſung dieſer Ein-

rede war übrigens von einem ſehr

freien richterlichen Ermeſſen ab-

hängig. Vgl. L. 7 § 1 de her.

pet. (5. 3).

28*

|0454 : 436|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

abgeſonderten Entſcheidung der Eigenthumsklage wegen des

fundus Titianus verlangen. Der Grund wird dahin ange-

geben: videlicet quod non aliter viam mihi deberi pro-

baturus sim, quam prius probaverim, fundum Titianum

meum esse (l). Die durch die Einrede abzuwendende Ge-

fahr lag alſo lediglich darin, daß bei Gelegenheit der con-

feſſoriſchen Klage über die weit wichtigere Frage des Grund-

eigenthums, als bloßen Legitimationspunkt, und dennoch

rechtskräftig entſchieden werden würde. — Ganz eben ſo

verhält es ſich bei den im Anfang dieſes Paragraphen er-

wähnten Fällen einer Eigenthumsklage und einer darauf

folgenden Erbrechtsklage. Auch in dieſen Fällen hätte der

Beklagte verlangen können, daß zuvor eine abgeſonderte

Erbrechtsklage angeſtellt und entſchieden würde (m). Da

er Dieſes unterließ, ſo war nun durch die Entſcheidung

(l) L. 16 de except. (44. 1). —

Die unmittelbar darauf folgende

Stelle (L. 17 eod.) geht in der

That auf die exc. rei jud., nicht

auf die exc. praejudicii, ſteht

alſo nicht in innerem Zuſammen-

hang mit der vorhergehenden. Sie

ſetzt aber auch gar nicht eine Ab-

weiſung voraus, und iſt daher im

Sinn ihres Verfaſſers auf die ne-

gative Function der Einrede (die

Conſumtion der Klage) zu beziehen.

Aber ſelbſt wenn man ſie, im

Sinn des Juſtinianiſchen Rechts,

auf die poſitive Function umdeuten

wollte, würde ſie doch keinen Zwei-

fel gegen anderwärts begründete

Rechtsregeln erregen können. Denn

die confeſſoriſche Klage konnte ab-

gewieſen ſeyn, weil der Richter die

Errichtung einer Servitut verneinte,

nicht gerade, weil er das Grund-

eigenthum des Klägers in Abrede

ſtellte. Daher iſt die Erklärung

bei Buchka I. 303 zu verwerfen.

(m) L. 13 de except. (44. 1),

worin ausgeſprochen iſt, daß durch

die exceptio praejudicialis die

Eigenthumsklage einſtweilen aus-

geſchloſſen wird, ſo lange die Erb-

rechtsklage noch nicht angeſtellt iſt.

|0455 : 437|

§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.

über den Legitimationspunkt das Erbrecht des Klägers

rechtskräftig verneint (n).

Es ſind nun noch die Scheingründe zu beſeitigen, wo-

durch neuerlich verſucht worden iſt, die Rechtskraft der

Entſcheidung über den Legitimationspunkt aus Stellen des

Römiſchen Rechts zu widerlegen.

 

Wenn Alimente gefordert werden auf den Grund der

Verwandtſchaft oder des Patronats, der Beklagte aber

dieſen Grund beſtreitet, ſo ſoll der Richter, ehe er über

die Alimente entſcheidet, das Daſeyn der Verwandtſchaft

oder des Patronats prüfen, jedoch nur obenhin (summatim);

auch wird ausdrücklich hinzugefügt, die richterliche Ge-

währung oder Abweiſung der Alimente ſolle keinen Einfluß

haben auf den möglichen künftigen Rechtsſtreit über die

Verwandtſchaft (o). — Die Abſicht ging alſo dahin, daß

bei offenbar ungegründeter Verwandtſchaft die Alimente ver-

weigert, außerdem aber einſtweilen zugeſprochen werden

ſollten. Dieſe Vorſchrift nun ſoll als Beweis gelten, daß

die Römer der Entſcheidung über den Legitimationspunkt

überhaupt keine Rechtskraft zugeſchrieben hätten (p). Allein

gegen eine ſolche Folgerung hätte ſchon die Vorſchrift

 

(n) Vgl. die oben abgedruckten

Stellen: L. 3, L. 7 § 4 de exc.

r. jud. (44. 2). — Daſſelbe gilt

auch, wenn bei ſtreitigem Grund-

eigenthum eine actio communi

dividundo, oder eine Condiction

wegen der Früchte angeſtellt werden

ſollte; auch Das kann durch die

exc. praejud. abgewendet werden.

L. 18 de except. (44. 1).

(o) L. 5 § 8. 9. 18 de agnosc.

(25. 3), L. 10 de his qui sui (1. 6).

(p) Buchka B. 1 S. 305.

|0456 : 438|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

mißtrauiſch machen müſſen, daß der Richter nur summatim

prüfen ſolle, wovon die natürliche Folge iſt, daß eine

ſolche Prüfung auf den Erfolg des ſpäteren Rechtsſtreits

keinen Einfluß haben durfte. Auch iſt es nicht ſchwer, den

Grund dieſer beſonderen Vorſchrift und ihrer Folge in der

ganz eigenthümlichen Natur der Alimentenforderung zu ent-

decken. Bei dieſer kommt es darauf an, dem dringenden

perſönlichen Bedürfniß ſchnell abzuhelfen, und dem unwieder-

bringlichen Nachtheil vorzubeugen, der aus dem Mangel

an Unterhalt entſtehen kann. Es würde daher ganz will-

kührlich ſeyn, aus dieſer höchſt eigenthümlichen Vorſchrift

irgend eine Folgerung für die allgemeine Behandlung des

Legitimationspunktes zu ziehen. Vielmehr iſt in dieſem be-

ſonderen Fall anzunehmen, daß der Richter, der die Ali-

mente zuſpricht, damit noch gar keine beſtimmte Ueberzeugung

von dem wirklichen Daſeyn einer Verwandtſchaft habe aus-

ſprechen wollen.

Ein ähnlicher, aber noch weniger ſcheinbarer Einwurf

iſt aus folgender Vorſchrift des Römiſchen Rechts ent-

nommen worden. Wenn ein rechtskräftig verurtheilter

Schuldner dem Urtheil nicht Folge leiſtet, ſo wird bekannt-

lich die Execution dadurch bewirkt, daß die richterliche

Obrigkeit Sachen des Verurtheilten abpfänden, und zur

Befriedigung des Gläubigers verkaufen läßt (q). Wenn

nun bei dieſem Verfahren eine dritte Perſon auftritt, welche

 

(q) Pignus in causa judicati captum.

|0457 : 439|

§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.

das Eigenthum einer abgepfändeten Sache für ſich in An-

ſpruch nimmt, ſo ſoll dieſer neue Anſpruch obenhin (sum-

matim) geprüft werden. Wird derſelbe offenbar ungegrün-

det befunden, ſo wird das eingeſchlagene Verfahren fortge-

ſetzt; bleibt die Frage zweifelhaft, ſo ſoll die Pfändung

an dieſer ſtreitigen Sache aufgegeben, und an deren Stelle

eine andere, unſtreitige Sache geſetzt werden. In keinem

Fall aber ſoll dieſe richterliche Verfügung auf die künftige

Entſcheidung über das Eigenthum jener ſtreitigen Sache

irgend einen Einfluß haben (r). Dieſe letzte Beſtimmung

nun wird wieder als Beweis geltend gemacht, daß die

Römer der Entſcheidung über den Legitimationspunkt

niemals die Rechtskraft beigelegt hätten (s). Allein in

dem hier vorausgeſetzten Fall war ja über das Eigenthum

der abgepfändeten Sache noch gar kein eigentlicher Rechts-

ſtreit unter den betheiligten Parteien geführt worden. Der

Richter hatte von Anfang an völlig freie Wahl, welche

Sachen des ungehorſamen Schuldners er pfänden wollte.

Hatte er gewählt, und entſtanden Zweifel über das Eigen-

(r) L. 15 § 4 de re jud. (42. 1)

„.. ipsos, qui rem judicatam ex-

sequuntur, cognoscere debere

de proprietate, et si cognove-

rint, ejus fuisse, qui condemna-

tus est, rem judicatam exse-

quentur. Sedsciendum est, sum-

matim eos cognoscere debere,

nec sententiam eorum posse de-

bitori praejudicare, si forte di-

mittendam eam rem putave-

rint, quasi ejus sit, qui contro-

versiam movit, non ejus, cujus

nomine capta est … Sed il-

lud debet dici, ubi controversia

est de pignore, id dimitti de-

bere, et capi aliud, si quod

est sine controversia.“

(s) Buchka B. 1 S. 308.

|0458 : 440|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

thum der gewählten Sache, ſo konnte er die Wahl ändern,

und zu dieſem willkührlichen Entſchluß reichte ſchon der

bloße Zweifel hin. Welchen Entſchluß alſo auch der

Richter faſſen mochte, ſo lag darin niemals der Ausdruck

einer gewonnenen Ueberzeugung von dem Eigenthum oder

Nichteigenthum irgend einer beſtimmten Perſon. Es lag

alſo darin nicht die Entſcheidung über einen ſtreitigen Le-

gitimationspunkt, und dieſe Vorſchrift kann daher auch nicht

benutzt werden, um daraus irgend eine Folgerung zu ziehen

für die Römiſche Anſicht über die Rechtskraft der, den Le-

gitimationspunkt betreffenden, richterlichen Entſcheidung.

Endlich wird noch als ein Einwurf gegen die hier ver-

theidigte Lehre ein einzelnes Reſcript des K. Severus (t)

geltend gemacht, zu deſſen vollſtändiger Erklärung eine

etwas ausführliche Vorbereitung nöthig iſt. Wenn in einer

Provinz ein Rechtsſtreit über die Standesverhältniſſe einer

Perſon (Freiheit, Verwandtſchaft u. ſ. w.) geführt wurde,

ſo ſollte der Präſes in eigener Perſon, ohne Judex, ent-

ſcheiden, anſtatt daß über alle anderen Sachen, namentlich

über Erbrechtsklagen, ein von ihm niedergeſetzter Judex zu

entſcheiden hatte. Nun war ein Mann geſtorben und hatte

ein Teſtament hinterlaſſen; der Teſtamentserbe war im Be-

ſitz der Erbſchaft. Die Vormünder eines Unmündigen aber

behaupteten, dieſer ſey ein nachgeborner Sohn des Erb-

laſſers, und durch deſſen Geburt ſey das Teſtament ver-

 

(t) L. 1 C. de ord. cogn. (3. 8). Buchka B. 1 S. 301. 302

|0459 : 441|

§. 298. Einrede. Legitimationspunkt.

nichtet worden. Sie fragten bei dem Kaiſer an, ob ſie

unmittelbar die Erbrechtsklage vor einem Judex anſtellen

könnten, der dann zugleich die Vorfrage wegen der rechts-

kräftigen Geburt unterſuchen würde. Das Reſcript geht

dahin, daß dieſer Weg zuläſſig ſey. Denn obgleich der

Judex nicht befugt geweſen wäre, über das Familienver-

hältniß, als Gegenſtand einer ſelbſtſtändigen Klage (u), ein

Urtheil zu ſprechen, ſo könne er doch bei Gelegenheit der

Erbrechtsklage auch das Familienverhältniß (als Legitima-

tionspunkt) feſtſtellen, indem das Urtheil wörtlich immer

nur auf das Erbrecht gerichtet ſeyn würde. — Dieſes iſt

der Inhalt folgender Stelle:

L. 1 C. de ord. cogn. (3. 8) Adite praesidem pro-

vinciae, et ruptum esse testamentum Fabii Praesentis

agnatione filii docete: neque enim impedit notionem

ejus, quod status quaestio in cognitione vertitur, etsi

super status causa cognoscere non possit(v). Per-

 

(u) Man könnte glauben, die

Vormünder hätten zuerſt in einer

beſonderen Klage, vor dem Präſes

ſelbſt, das Familienverhältniß zur

Anerkennung bringen müſſen. Al-

lein nicht nur wäre Dieſes eine

unnütze Weitläufigkeit geweſen, ſon-

dern es kommt auch überhaupt

eine beſondere Klage auf Anerken-

nung der Agnation gegen einen

Nichtverwandten (den fremden

Teſtamentserben) nicht vor. —

Bethmann-Hollweg Verſuche

S. 125, nimmt an, der Beklagte

habe in dieſem Fall durch eine

exceptio praejudicii die abge-

ſonderte Entſcheidung über das

Familienverhältniß erzwingen kön-

nen, und blos, weil er Dieſes unter-

ließ, ſey dem Richter über die Erb-

rechtsklage auch die Entſcheidung

über die Agnation anheimgefallen.

(v) In dieſen Worten liegt die

eigentliche Schwierigkeit der Stelle.

Die gewöhnliche Erklärung aller

älteren Schriftſteller geht dahin,

der Präſes habe überhaupt keine

Befugniß gehabt, über eine Klage

|0460 : 442|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

tinet enim ad officium judicis, qui de hereditate cog-

noscit, universam incidentem quaestionem, quae in

judicium devocatur, examinare: quoniam non de ea,

sed de hereditate pronuntiat(w).

Nun wird behauptet, weil nach den Schlußworten der

Richter nicht über das Familienverhältniß entſcheide, ſo

werde auch hierin ſeine Annahme nicht rechtskräftig. In

dieſer Behauptung liegt aber ein offenbarer Zirkel. Jene

Worte ſprechen nur von dem wörtlichen Inhalt des richter-

lichen Ausſpruchs, der ſtets mit der angebrachten Klage

im Zuſammenhang ſteht. Die Streitfrage iſt aber gerade

die, ob noch irgend Etwas, und wie Viel, außer jenem

 

de statu zu erkennen, und zu die-

ſer Erklärung neigte ſich Anfangs

auch Cujacius hin. (Merill.

variant. ex Cuj. II. 1). Dieſe

Vorausſetzung aber wird durch

mehrere Stellen widerlegt, am be-

ſtimmteſten durch L. 7 C. ne de

statu defunct. (7. 21). Daher

muß die hier bemerkte Unfähigkeit

nicht auf den Präſes ſelbſt, ſon-

dern auf den von ihm über die

Erbrechtsklage niedergeſetzten Judex

bezogen werden, deſſen wörtliche

Erwähnung vielleicht nur in dem

für den Codex aus dem ganzen

Reſcript gemachten Auszug aus-

gefallen iſt. Eine Beſtätigung die-

ſer Annahme liegt in den gleich

darauf folgenden Worten: Perti-

net enim ad officium judicis,

qui de hereditate cognoscit.

Dieſe Erklärung findet ſich bei

Hotomanus obs. VI. 6, Cujac.

recit. in Dig., L. 74 de re jud.,

L. 5. de her. pet. (Opp. T. 7

p. 165. 220), Giphan. explan.

Codicis, L. 1 de ord. jud. p. 152.

(w) Weſentlich übereinſtimmend

mit der angeführten Stelle iſt auch

noch folgende. L. 3 C. de jud.

(3. 1). Quoties quaestio status

bonorum disceptationi concur-

rit: nihil prohibet, quo magis

apud eum quoque, qui alioquin

super causa status cognoscere

non possit, disceptatio termi-

netur. — Alioquin heißt: wenn

die causa status Gegenſtand einer

eigenen, ſelbſtſtändigen Klage ge-

weſen wäre. — Disceptatio ter-

minetur deutet offenbar auf eine

definitive, für immer wirkſame Feſt-

ſtellung.

|0461 : 443|

§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.

wörtlichen Inhalt, rechtskräftig werde. Dieſe Frage

wird in der angeführten Stelle weder bejaht noch verneint,

und ſie kann nur theils aus allgemeinen Grundſätzen (über

die Rechtskraft der Gründe), theils aus den oben ange-

führten unzweifelhaften Stellen des Ulpian entſchieden

werden. — So iſt denn auch der Inhalt der hier ange-

führten Stelle ſchon längſt von mehreren der bewährteſten

Ausleger aufgefaßt worden, welche gleichfalls annehmen,

daß in jenem Ausſpruch des Richters auch das als In-

cidentfrage vorgebrachte Familienverhältniß völlig und für

immer feſtgeſtellt ſey (x).

§. 299.

Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage. Äußerer

und juriſtiſcher Gegenſtand der Klage.

4. Verſchiedenheit des äußeren Gegenſtandes

in beiden Klagen.

Auch dieſe Verſchiedenheit iſt nicht nothwendig ein

Hinderniß für die Anwendung der Einrede, indem es auch

in dieſer Hinſicht lediglich darauf ankommt, zu unterſuchen,

ob dieſelbe Rechtsfrage in beiden Klagen vorhanden iſt

oder nicht.

 

(x) Cujacius l. c. p. 220.

„Ceterum si pronuntietur, he-

reditatem esse actoris, tacite

etiam videbitur pronuntiatum

de ejus libertate.“ — Giphanius

l. c. p. 156. „Ut scilicet, dum

de principali causa pronuntia-

tur, simul et per consequentiam

ac tacite de causa status di-

judicetur, non vero, ut simul,

aut etiam separatim de utra-

que causa nominatim pronun-

tietur.“

|0462 : 444|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Wenn daher einige Stellen des Römiſchen Rechts mit

ſcheinbarer Allgemeinheit ſagen, die Einrede ſey nur an-

wendbar, inſofern der Gegenſtand beider Klagen ein und

derſelbe ſey (a), ſo iſt Dieſes von den allerdings gewöhn-

lichſten Fällen zu verſtehen, in welchen die Verſchiedenheit

der Gegenſtände zugleich mit ganz verſchiedenen Rechts-

fragen verbunden iſt. Iſt alſo die Eigenthumsklage über

ein Haus abgewieſen, ſo wird aus dieſem Urtheil bei dem

künftigen Rechtsſtreit über das Eigenthum eines Land-

gutes eine Einrede in der Regel nicht abgeleitet werden

können.

 

Dagegen giebt es in der That viele und wichtige Fälle,

worin die Verſchiedenheit in den äußeren Gegenſtänden

beider Klagen die Anwendbarkeit der Einrede auf die

ſpätere Klage nicht hindert. In dieſen Fällen wird die

Anwendbarkeit gerechtfertigt durch das allgemeine Verhält-

niß eines Ganzen zu ſeinen Theilen. Indem näm-

lich jeder Theil in dem Ganzen enthalten iſt, wird ſehr

häufig ein Ausſpruch über das Ganze zugleich den Aus-

 

(a) L. 12. 13 de exc. r. jud.

(44. 2). „Cum quaeritur, haec

exceptio noceat, nec ne, in-

spiciendum est, an idem corpus

sit. — Quantitas eadem, idem

jus.“ — Die erſte der hier in den

Digeſten zuſammengefügten Stel-

len iſt von Paulus, die zweite

von Ulpian. — Es werden da-

bei noch die billigen Zuſätze gemacht,

daß die bleibende Einheit des Ge-

genſtandes nicht geſtört werde durch

die natürlichen Veränderungen in

dem Umfang einer Sache; eben ſo

auch, wenn von dem Eigenthum

einer Heerde die Rede ſey, nicht

dadurch, daß einzelne Thiere dazu

kommen, oder davon ausſcheiden.

L. 14 pr. L. 21 § 1 eod.

|0463 : 445|

§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.

ſpruch über jeden Theil dieſes Ganzen in ſich ſchließen.

Dadurch wird dann die Verſchiedenheit der Gegenſtände

beider Klagen in bloßen Schein aufgelöſt ſeyn, und als

weſentliche Gleichheit anerkannt werden müſſen. Durch

dieſe abſtracte Auffaſſung der Frage ſoll jedoch blos vor-

läufig der Geſichtspunkt für dieſelbe angedeutet ſeyn.

Erſt durch die Anwendung auf die einzelnen dahin gehö-

renden Fälle kann dafür Anſchaulichkeit, Überzeugung, und

zugleich richtige Begränzung gewonnen werden.

a. Der wichtigſte Fall dieſer Art betrifft die Erbrechts-

klage, welche ein ganzes Vermögen als ſolches zum eigent-

lichen Gegenſtand hat, aber durch den zufälligen Beſitz des

Beklagten an einem einzelnen Stück der Erbſchaft veran-

laßt ſeyn kann. Iſt nun die auf ein Haus des Erblaſſers

angeſtellte Erbrechtsklage abgewieſen, und wird nachher

gegen denſelben Beklagten wegen eines Landgutes des Erb-

laſſers dieſelbe Klage angeſtellt, ſo ſteht ihr die Einrede

der Rechtskraft entgegen, obgleich in beiden Klagen der

äußere Gegenſtand völlig verſchieden iſt. Denn die ent-

ſcheidende Rechtsfrage betrifft in beiden Klagen das Da-

ſeyn des Erbrechts; wird nun dieſes Daſeyn in der erſten

Klage verneint, ſo bindet dieſe Verneinung auch den

Richter, der über die zweite Klage zu entſcheiden hat (b).

 

(b) Natürlich wird dabei vor-

ausgeſetzt, daß die erſte Klage

deswegen abgewieſen wurde, weil

der Richter annahm, der Kläger

ſey nicht Erbe. Gründete ſich

die Abweiſung darauf, daß die Ei-

genſchaft des Hauſes als eines

Stückes der Erbſchaft, oder daß

der Beſitz des Beklagten verneint

wurde, ſo kann daraus eine Ein-

|0464 : 446|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Dieſelbe Frage kann auch in folgender verwickelteren

Geſtalt vorkommen, worin ſie im Römiſchen Recht aus-

drücklich erwähnt und entſchieden worden iſt (c). A. und B.

machen Anſpruch auf die ganze Erbſchaft des verſtorbenen

C. — A. beſitzt aus dieſer Erbſchaft ein Haus, B. ein

Landgut. — A. klagt mit der Erbrechtsklage wegen des

Landgutes, und B. wird verurtheilt. — Wenn nunmehr B.

gegen A. wegen des Hauſes die Erbrechtsklage anſtellen

will, ſo ſteht ihm die Einrede der Rechtskraft entgegen,

weil aus der früheren Verurtheilung nothwendig folgt, daß

er kein Erbrecht hat (d).

 

b. Dieſelbe Regel kann aber auch zur Anwendung

kommen, wenn irgend ein einzelnes Vermögensſtück (ſey

es ein dingliches Recht oder eine Schuldforderung) einge-

klagt, die Klage abgewieſen, und dann für einen Theil

jenes Vermögensſtücks wiederholt wird. Die Abweiſung

für das Ganze iſt auch entſcheidend für den einzelnen Theil,

ſo daß hier die Regel zur Anwendung kommt: In toto et

pars continetur (e).

 

Es verdient bemerkt zu werden, da es neuerlich bezwei-

felt worden iſt, daß dieſe Regel gleich wahr iſt für den

älteren und neueren Standpunkt unſrer Einrede, obgleich

 

rede gegen die auf das Landgut

gerichtete zweite Klage nicht abge-

leitet werden.

(c) L. 15 de exc. r. jud. (44. 2).

(d) Vgl. oben § 287. a.

(e) L. 113 de R. J. (50. 17). —

Ähnliche Regeln, wie die hier für

die Einrede der Rechtskraft aufge-

ſtellte, gelten auch für die exe.

pacti und jurisjurandi. L. 27

§ 8 de pactis (2. 14), L. 7 de

jurej. (12. 2).

|0465 : 447|

§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.

für beide aus etwas verſchiedenen Gründen (f). Nach

dem Grundſatz der Conſumtion iſt die Regel wahr, weil

die Eigenthumsklage auf ein Landgut nicht blos das ganze

Gut, ſondern auch jedes einzelne Stück deſſelben in ju-

dicium deducirt, alſo die Klage darauf conſumirt. Nach

dem Grundſatz der eadem quaestio (der poſitiven Function

der Einrede) iſt die Regel wahr, weil der Richter bei der

auf ein Ganzes gerichteten Klage befugt iſt, nicht nur

dieſes Ganze zuzuſprechen, ſondern auch jeden Theil des-

ſelben, wenn er darauf den Anſpruch für begründet hält.

Weiſt er alſo den Kläger überhaupt ab, ſo hat er damit

in der That ausgeſprochen, daß der Kläger auch keinen

denkbaren Theil des Ganzen zu fordern habe (g). Mit

dieſem Ausſpruch aber würde jede ſpätere Klage auf irgend

einen Theil jenes Ganzen völlig im Widerſpruch ſtehen.

Die ſo eben aufgeſtellte wichtige Regel wird in einer

Stelle des Ulpian ſo erſchöpfend behandelt, daß ſich an

 

(f) Vgl. Wächter Erörterungen

H. 3 S. 44, welcher die Behaup-

tung von Vangerow widerlegt,

daß dieſer Satz nur aus dem

Grundſatz der Conſumtion gerecht-

fertigt werden könne.

(g) Vgl. oben § 286. 292. —

Es iſt wohl darauf zu achten, daß

der hier aufgeſtellte Satz eben nur

wahr iſt für die Fälle, in welchen

der Richter auch Das zuſprechen

konnte, worauf die zweite Klage

gerichtet wird; außerdem iſt die

Einrede nicht anwendbar. Vgl.

oben § 286. d. i. Wenn daher von

mehreren Beſtandtheilen eines

Rechtsanſpruchs nur einer einge-

klagt wird, ſo wird die ſpätere

Klage auf die übrigen Theile nicht

nothwendig durch die Einrede aus-

geſchloſſen, weil der Richter nicht

Mehr zuſprechen durfte, als der

Kläger begehrte. Daraus ſind

folgende Stellen zu erklären, die

daher mit der im Text aufgeſtellten

Regel nicht im Widerſpruch ſtehen:

L. 20, L. 21 pr. de exc. r. jud.

(44. 2), L. 46 § 5 de admin.

(26. 7), L. 2 C. de jud. (3. 1).

Vgl. Keller S. 540.

|0466 : 448|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

den Inhalt dieſer Stelle die vielfachen Anwendungen der

Regel am beſten werden anknüpfen laſſen.

L. 7 pr. de exc. r. jud. (44. 2). Si quis, cum totum

petisset, partem petat, exceptio rei judicatae nocet:

nam pars in toto est. Eadem enim res accipitur,

etsi pars petatur ejus, quod totum petitum est(h).

Nec interest, utrum in corpore hoc quaeratur, an in

quantitate, vel in jure. Proinde si quis fundum

petierit, deinde partem petat, vel pro diviso, vel pro

indiviso: dicendum erit, exceptionem obstare. Proinde

etsi proponas mihi, certum locum me petere ex eo

fundo, quem petii, obstabit exceptio.

Ulpian ſagt, die Regel vom Ganzen und dem Theil

komme in dreierlei Anwendungen vor. Zuerſt bei einem

corpus und deſſen realen und idealen Theilen. Wird alſo

die Eigenthumsklage auf ein Landgut abgewieſen, ſo darf

dieſelbe nachher auch nicht auf ein abgegränztes Stück

dieſes Gutes wiederholt werden (i), und eben ſo wenig

auf das ideale Drittheil oder Viertheil deſſelben. — Zweitens

bei einer quantitas. Wird alſo eine Schuldklage auf 100

abgewieſen, ſo darf dieſelbe ſpäter auch nicht auf 70 oder

30 erneuert werden, weil jede dieſer kleineren Summen in

 

(h) Nach dieſen Worten könnte

man zweifeln, ob nicht vielleicht

Ulpian dieſe Regel lediglich aus

dem Grundſatz der Conſumtion

ableiten wolle. Dieſer Zweifel ver-

ſchwindet dadurch, daß er ſchon

wenige Zeilen nachher Alles auf

den Grundſatz der eadem quae-

stio, alſo auf die poſitive Function,

zurückführt. S. o. § 296. a.

(i) Dieſer Theil der Stelle wird

auch noch beſtätigt in L. 26 § 1 eod.

|0467 : 449|

§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.

dem früheren Urtheil mit abgeſprochen worden iſt. —

Drittens bei einem jus. Wird daher die Klage auf den

Nießbrauch eines Hauſes abgewieſen, ſo darf dieſelbe ſpäter

auch nicht auf den Rießbrauch des halben Hauſes erneuert

werden. Eben ſo iſt durch die Abweiſung der Klage auf

eine ganze Erbſchaft auch die Wiederholung dieſer Klage

auf irgend einen idealen Theil dieſer Erbſchaft ausge-

ſchloſſen (k).

Als Ganzes im Verhältniß zu ſeinen Theilen, muß hier

auch jedes eingeklagte Aggregat einzelner Sachen betrachtet

werden, wenn die Klage abgewieſen, und nachher auf ein-

zelne, in jenem Aggregat enthaltene, Sachen erneuert wird.

Dahin gehören die Fälle, wenn zuerſt zwei Sachen zugleich

vindicirt werden, ſpäter (nachdem jene Klage abgewieſen

worden) eine derſelben (l). Ferner, wenn die Eigenthums-

klage auf eine Heerde abgewieſen, und dann auf einzelne

Thiere aus derſelben Heerde wiederholt wird (m).

 

(k) Die abgewieſene Erbrechts-

klage auf die Hälfte der Erbſchaft

ſchließt daher die ſpätere Wieder-

holung auf ein Sechstheil aus.

L. 30 pr. de exc. r. jud. (44. 2).

Die von Donellus XXII. 5 § 10

zu dieſer Stelle vorgeſchlagene

Emendation: partem sextantem,

anſtatt sextantis, ſcheint unnöthig,

da auch ohne Änderung die Worte

eben ſo erklärt werden können:

pars sextantis für: quae in

sextante consistit. — Von die-

ſer Stelle wird übrigens noch un-

ten die Rede ſeyn (§ 300).

(l) L. 7 pr., L. 21 § 1 de

exc. r. jud. (44. 2).

(m) L. 21 § 1 de exc. r. jud.

(44. 2). Indem in dieſen beiden

Fällen ſchon die erſte Klage auf

alle Stücke zugleich gerichtet war,

ſind dieſe Fälle weſentlich verſchie-

den von den, in der Note g. er-

wähnten Fällen. Ein Widerſpruch

iſt alſo in dieſen Stellen durchaus

nicht vorhanden.

VI. 29

|0468 : 450|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

c. Der bisher abgehandelte Fall kann ferner in umge-

kehrter Weiſe eintreten, ſo daß zuerſt auf einen Theil ge-

klagt, dieſe Klage aber abgewieſen, und ſpäter für das

Ganze wiederholt wird. Es fragt ſich, ob auch hier die

neue Klage durch die Einrede ausgeſchloſſen werde. Dieſe

Frage wird von Einigen allgemein bejaht (n), von Anderen

allgemein verneint (o); Beides mit Unrecht. Es fehlt hier

an einem ſo durchgreifenden Grund, wie er in dem vorher-

gehenden, umgekehrten Fall anerkannt werden mußte, und

es iſt daher in jedem einzelnen Fall beſonders zu unterſuchen,

ob in der zweiten Klage dieſelbe Rechtsfrage, wie in der

erſten, vorliegt, welcher Umſtand allein überall entſcheiden

muß. Wenn z. B. die Eigenthumsklage auf ein abge-

gränztes Stück eines Landgutes angeſtellt und abgewieſen

wird, ſo kann ſpäter jedes andere Stück eingeklagt werden,

weil jedes Stück auch als ſelbſtſtändiger Gegenſtand eines

beſonderen Eigenthums betrachtet werden kann. Wird da-

her die neue Klage auf das ganze Gut gerichtet, ſo iſt ſie

für das früher eingeklagte Stück durch das vorige Urtheil

allerdings ausgeſchloſſen, für die übrigen Stücke aber

nicht. — Wenn dagegen die confeſſoriſche Klage auf das

jus altius non tollendi von zehen Fuß Höhe abgewieſen,

und nachher auf zwanzig Fuß Höhe erneuert wird, ſo ſteht

ihr die Einrede der Rechtskraft entgegen, weil die ausge-

 

(n) Faber in Cod. Lib. 7 T. 19 def. 5, beſonders not. 16.

(o) Toullier T. 10 § 153. 155. 156.

|0469 : 451|

§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.

dehntere Servitut ohne die bereits abgeſprochene beſchränk-

tere gar nicht ausgeübt werden kann (p).

d. Mit dem hier abgehandelten Verhältniß des Ganzen

zu ſeinem Theil ſind folgende Fragen nahe verwandt.

 

Wenn eine Zinſenklage abgewieſen, nachher aber eine

andere Zinsſumme, oder auch das Kapital eingeklagt wird,

ſo fragt es ſich, ob die Einrede der Rechtskraft auf die

zweite Klage angewendet werden kann. Eben ſo, wenn die

abgewieſene erſte Klage auf Zahlung einer angeblich fälligen

Rente (eines Kanon) gerichtet war, die zweite Klage einen

anderen Poſten derſelben Rente, oder das Recht der Rente

ſelbſt, zum Gegenſtand hat.

 

Auch bei dieſer Frage kommt Alles darauf an, ob in

beiden Klagen dieſelbe Rechtsfrage zum Grunde liegt, oder

nicht. Wurde alſo die erſte Klage deswegen abgewieſen,

weil der Richter annahm, es ſey keine Kapitalſchuld oder

kein Recht auf eine Rente vorhanden, ſo iſt die zweite

Klage durch die Einrede ausgeſchloſſen. Anders, wenn ſich

die Abweiſung darauf gründete, daß der eingeklagte einzelne

Poſten ſchon bezahlt, oder compenſirt ſey.

 

Ganz Daſſelbe muß auch gelten, wenn der Beklagte zur

Zahlung einer einzelnen Forderung von Zinſen oder Renten

verurtheilt wurde, nachdem er das Recht auf Zinſen oder

Renten überhaupt beſtritten hatte. Durch jene Verurtheilung

wird das Recht im Allgemeinen rechtskräftig feſtgeſtellt (q).

 

(p) L. 26 pr. de exc. r. jud. (44. 2).

(q) Buchka hat auch hier wieder die Frage für das heutige Recht

29*

|0470 : 452|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Entſcheidungen des Römiſchen Rechts über die hier

aufgeworfene Frage finden ſich nicht. Die Stellen, die

man dafür anzuführen pflegt, berühren dieſelbe in der That

nicht (r).

 

5. Verſchiedenheit des juriſtiſchen Gegen-

ſtandes der beiden Klagen.

Dieſe Verſchiedenheit iſt gleichfalls kein nothwendiges

Hinderniß für die Anwendung unſrer Einrede. Wenn

daher mit der condictio furtiva der Erſatz einer geſtohlenen

Sache gefordert wird, der Richter aber die Klage abweiſt,

weil er das Daſeyn eines Diebſtahls verneint, ſo kann

nachher auch keine actio furti auf Strafe wegen dieſes

Diebſtahls angeſtellt werden; eben ſo verhält es ſich, wenn

umgekehrt die actio furti zuerſt angeſtellt, und abgewieſen

wird. Zwar iſt der juriſtiſche Gegenſtand beider Klagen

(Erſatz und Strafe) völlig verſchieden. Wenn daher in

 

richtig beantwortet, für das Römi-

ſche Recht irrigerweiſe das Gegen-

theil angenommen. B. 1 S. 307.

308, B. 2 S. 184. 191. — Einige

irrige Entſcheidungen Preußiſcher

Gerichte über dieſe Frage ſind ſchon

oben angeführt worden. § 294

Note n. und r.

(r) L. 23 de exc. r. jud. (44. 2)

ſpricht gar nicht von dem Fall

einer abgewieſenen Zinſenklage,

alſo von der Einrede in der poſi-

tiven Function, ſondern verneint

nur die Conſumtion der Kapital-

klage durch die bloße Anſtellung

der Zinſenklage. Dieſe Verneinung

folgte nothwendig ſchon daraus,

daß auf Kapital und Zinſen zwei

ganz verſchiedene Obligationen und

Klagen gerichtet waren (vgl. oben

S. 126. 160). Keller S. 536.

— Die L. 4 C. depos. (4. 34)

iſt nach dem älteren Recht zu er-

klären aus der Conſumtion der

einen untheilbaren Klage, nach dem

neueren Recht aus der ſtillſchwei-

genden Verwerfung der nicht zu-

geſprochenen Verzugszinſen, die der

Richter ſtets nach freiem Ermeſſen

zuſprechen konnte (§ 286).

|0471 : 453|

§. 299. Einrede. Gegenſtand der Klage.

der erſten Klage der Kläger ſeinen Zweck erreicht hat, ſo

kann dennoch die zweite Klage angeſtellt werden, ſo daß

ihr der Grundſatz der Concurrenz nicht entgegen ſteht (s).

Eben ſo iſt die zweite Klage gewiß nicht ausgeſchloſſen

durch Anwendung des Grundſatzes der Conſumtion. Allein

es iſt unleugbar, daß beiden Klagen dieſelbe Rechtsfrage

zum Grunde liegt; wird alſo in der einen das Daſeyn

eines Diebſtahls verneint, ſo muß dieſe Verneinung auch

der anderen Klage entgegen ſtehen, da beide gleichmäßig

durch die Thatſache eines begangenen Diebſtahls bedingt

ſind (t). Ein ausdrückliches Zeugniß für dieſen Satz iſt

nicht vorhanden. Er folgt aber unzweifelhaft aus dem

allgemeinen Grundſatz, und er wird überdem dadurch be-

ſtätigt, daß er für die exceptio jurisjurandi ausdrücklich

anerkannt wird (u), deren innere und weſentliche Ver-

wandtſchaft mit der Einrede der Rechtskraft ſchon oben

dargethan worden iſt (§ 295).

§. 300.

Einrede der Rechtskraft. Dieſelbe Rechtsfrage. Ver-

ſchiedenheit des Erwerbsgrundes.

6. Eine Verſchiedenheit kann endlich noch vorkommen

in dem Erwerbsgrunde, woraus das in beiden

Klagen verfolgte Recht abgeleitet wird (origo

 

(s) Vgl. oben B. 5 § 234. a.

(t) Keller S. 281. Anderer Meinung iſt Buchka B. 1 S. 131.

(u) L. 13 § 2 de jurej. (12. 2).

|0472 : 454|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

actionis). Auch eine ſolche Verſchiedenheit iſt nicht allgemein

ein Hinderniß für die Anwendung der Einrede.

Über dieſe Frage enthält das Römiſche Recht ſo klare

und beſtimmte Regeln, daß darüber wenig Streit und

Zweifel entſtanden iſt; nur eine Ausnahme jener Regeln

hat zu großen Streitigkeiten Anlaß gegeben.

 

Es wird in der Regel unterſchieden zwiſchen perſön-

lichen Klagen und Klagen in rem. Bei jenen iſt der Er-

werbsgrund der Obligation Dasjenige, wodurch dieſe eine

individuelle Natur erhält. Bei Eigenthum und Erbrecht

dagegen kommt es nur auf die Natur des Rechts und

deſſen Gegenſtand an, und es bleibt ein und daſſelbe

Recht, ohne Unterſchied, aus welchem Grunde es entſtanden

ſeyn möge. Wenn daher die auf ein Haus gerichtete

Klage aus einem Kaufvertrag abgewieſen, dann aber eine

Klage auf daſſelbe Haus aus einem Vermächtniß angeſtellt

wird, ſo ſteht die Einrede der Rechtskraft nicht entgegen,

weil beiden Klagen völlig verſchiedene Obligationen, alſo

auch verſchiedene Rechtsfragen, zum Grunde liegen. Wenn

dagegen die Eigenthumsklage auf ein Haus aus dem Er-

werb durch Tradition abgeleitet und nun abgewieſen wird, ſo

kann ſie auch nicht dadurch erneuert werden, daß der

Kläger etwa verſucht, das Eigenthum nunmehr auf Er-

ſitzung zu gründen. Denn die Rechtsfrage iſt in beiden

Klagen das Daſeyn des Eigenthums, und die möglichen

Erwerbsgründe ſind nur die Mittel, wodurch der Kläger

verſucht, den Richter von dieſem Daſeyn zu überzeugen;

 

|0473 : 455|

§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.

wenn er über dieſe Mittel ſeine Meinung ändert (mutata

opinio), ſo dürfen nicht deswegen beide Klagen als ver-

ſchiedene angeſehen werden. Eben ſo würde es ſich ver-

halten, wenn der angebliche Erbe eines Verſtorbenen mit

der Erbrechtsklage aus einem Teſtament abgewieſen wird,

und dann als Inteſtaterbe die Erbrechtsklage erneuert.

Die ſo unterſcheidende Regel iſt in folgenden Stellen

ſehr klar und beſtimmt ausgeſprochen (a):

 

L. 14 § 2 de exc. r. jud. (44. 2). (Paulus).

Actiones in personam ab actionibus in rem hoc

differunt: quod, cum eadem res ab eodem mihi de-

beatur, singulas obligationes singulae causae se-

quuntur, nec ulla earum alterius petitione vitiatur:

at cum in rem ago, non expressa causa, ex qua

rem meam esse dico, omnes causae una petitione

adprehenduntur: neque enim amplius, quam semel,

res mea esse potest: saepius autem deberi potest.

L. 11 § 5 eod. (Ulpianus).

Itaque adquisitum quidem postea dominium aliam

causam facit, mutata autem opinio petitoris non

facit. Utputa opinabatur ex causa hereditaria, se

dominium habere: mutavit opinionem, et coepit

putare ex causa donationis: haec res non parit

petitionem novam: nam qualecumque et undecumque

 

(a) Parallelſtellen: L. 159 de

R. J. (50. 17), L. 3 § 4 de adqu.

vel am. poss. (41. 2). — Sehr

gut handelt von dieſer Frage

Keller § 35.

|0474 : 456|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

dominium adquisitum habuit, vindicatione prima in

judicium deduxit.

Beide Hälften dieſer Regel ſollen nun noch in der An-

wendung auf einzelne Fälle näher betrachtet werden.

 

Die Regel für die perſönlichen Klagen wird in

folgenden Anwendungen anerkannt. Wenn Jemand einen

beſtimmten Sclaven aus einer Stipulation, außerdem aber

auch aus einem Vermächtniß zu fordern hat, ſo ſind

Dieſes zwei ganz verſchiedene, von einander unabhängige

Rechte. Wird alſo die Klage auf das eine dieſer Rechte

abgewieſen, ſo kann der ſpäteren Klage auf das andere

Recht die Einrede der Rechtskraft nicht entgegengeſetzt

werden (b). — Eben ſo verhält es ſich, wenn Jemand

Hundert zuerſt aus einem Darlehen einklagt, und dann,

nachdem er mit jener Klage abgewieſen worden iſt, die-

ſelben Hundert aus einem Fideicommiß (c).

 

Neratius drückt die hier für die perſönlichen Klagen

aufgeſtellte Regel ſo aus: die Einheit oder Verſchiedenheit

beider Klagen beruhe auf der causa proxima actionis (d).

Dieſe nähere Beſtimmung würde ſich etwa in folgender

Anwendung wirkſam zeigen. Wenn der Miether eines

Pferdes dieſes angeblich beſchädigt haben ſoll, ſo hat der

Vermiether gegen ihn zwei verſchiedene Klagen, aus dem

 

(b) L. 18 de obl. et act. (44. 7),

Gajus IV. § 55.

(c) L. 93 § 1 de leg. 3 (32. un.),

L. 28 § 13. 14 de lib. leg. (34. 3).

(d) L. 27 de exc. r. jud.

(44. 2). Die Erklärung, die Puchta

von dieſem Ausdruck giebt (Rhein.

Muſeum II. 252. 253), halte ich

nicht für richtig.

|0475 : 457|

§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.

Miethvertrag, und aus dem beſchädigten Eigenthum (a. L.

Aquiliae). Wird daher die eine dieſer Klagen abgewieſen,

ſo könnte man glauben, die andere ſey nicht ausgeſchloſſen,

weil in dieſer das Recht aus einem anderen Entſtehungs-

grunde abgeleitet werde. Allein die causa proxima actionis

iſt die Beſchädigung. Wird dieſe rechtskräftig verneint, ſo

iſt dieſe Verneinung auch für die zweite Klage entſcheidend.

Die wahre Gränze für die Zuläſſigkeit der Einrede kann

daher hier, wie überall, nur danach beurtheilt werden, ob

in beiden Klagen dieſelbe Rechtsfrage zum Grunde liegt.

Der folgende, von Ulpian erzählte Rechtsfall hat unbe-

gründete Zweifel an der allgemeinen Anerkennung der hier

abgehandelten Regel veranlaßt. Ein Sclave hatte von

ſeinem Herrn Auftrag zur Führung von zweierlei Ge-

ſchäften erhalten: zum Betrieb eines Oelhandels, und zur

Aufnahme von Darlehnen. Ein Gläubiger hatte ihm ein

Darlehen gegeben, indem er irrigerweiſe annahm, daß

daſſelbe zum Oelhandel verwendet werden ſollte, und hatte

nun gegen den Herrn die institoria actio wegen des Auf-

trags zu dieſem Handelsbetrieb angeſtellt. Nachdem er ab-

gewieſen worden war, wollte er von Neuem klagen, indem

er ſich darauf bezog, daß der Sclave auch zur Aufnahme

von Darlehnen überhaupt ermächtigt war. Eigentlich, ſagt

Ulpian, iſt die Klage conſumirt; dennoch muß ihm, nach

Julian’s (richtiger) Bemerkung, eine utilis actio geſtattet

werden (e). — Der Grundſatz der Conſumtion führte hier

 

(e) L. 13 pr. de instit. act. (14. 3).

|0476 : 458|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

auf die Zulaſſung der Einrede, weil die zweite Klage, der

Form nach, eine Wiederholung der früheren war. Allein

nach der neueren Ausbildung der exceptio rei judicatae,

d. h. nach dem Grundſatz der eadem quaestio, mußte die

Einrede verworfen werden, weil der frühere Richter nur

die Verwendung des Geldes zum Oelhandel verneint hatte,

womit die gegenwärtige Annahme eines im Auftrag des

Sclaven liegenden Darlehens nicht im Widerſpruch ſteht.

In dieſer Entſcheidung liegt alſo nur eine der auch ſonſt

vorkommenden Spuren, daß allmälig die neuere Geſtalt der

exceptio rei judicatae, wo ſie mit der älteren in Wider-

ſtreit kam, in den gerichtlichen Entſcheidungen vorgezogen

wurde (f).

Die Regel für die Klagen in rem ging dahin, daß

ungeachtet der Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes, woraus

der Kläger in beiden Klagen ſein Recht ableitet, die Ein-

rede der Rechtskraft dennoch auf die ſpätere Klage anwend-

bar ſeyn ſoll. Die oben abgedruckten entſcheidenden Stellen

reden allerdings zunächſt nur von der Eigenthumsklage und

dem Erwerbe des Eigenthums; allein die erſte unter jenen

Stellen ſpricht doch die Regel allgemein aus für alle ac-

tiones in rem, und es hat keinen Zweifel, daß der ganze

Inhalt jener Stellen eben ſowohl auf die Erbrechtsklage,

 

(f) Keller S. 580. Kie-

rulff S. 263. Vgl. oben § 282.

— Die exceptio rei judicatae

wurde in dieſem Fall ohne Zweifel

durch eine doli replicatio ent-

kräftet, und auf dieſem Wege

wurde dem Kläger ein günſtiger

Erfolg ſeiner Klage verſchafft

(„utilem ei actionem compe-

tere ait“).

|0477 : 459|

§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.

als auf die Eigenthumsklage, Anwendung findet. Eine Be-

ſtätigung dieſer Behauptung findet ſich in einer Stelle des

Paulus, die auf mancherlei Weiſe mißverſtanden worden

iſt (g). In einem Teſtament war für ein Sechstheil des

Vermögens zum Erben eingeſetzt worden ein Verwandter

des Verſtorbenen, der als Inteſtaterbe auf die Hälfte der

Erbſchaft Anſpruch gehabt haben würde. Dieſer klagte als

Inteſtaterbe gegen einen gleichfalls eingeſetzten Beſitzer der

Erbſchaft auf die Hälfte, indem er das Teſtament als un-

gültig anfocht; er wurde abgewieſen, und wollte nun als

Teſtamentserbe gegen denſelben Beſitzer das ihm angewie-

ſene Sechstheil einklagen. Paulus ſagt, dieſe zweite

Klage ſey durch die Einrede der Rechtskraft ausgeſchloſſen.

Darin liegt die Anerkennung, daß dieſe Einrede anwendbar

iſt, auch wenn beide Erbrechtsklagen auf verſchiedenen Er-

werbsgründen der Erbſchaft beruhen, die erſte auf der Ver-

wandtſchaft, die zweite auf einem Teſtament.

Nur aus Mißverſtändniß iſt auf dieſe Regel eine Stelle

des Ulpian bezogen worden, die hier genau erklärt werden

muß, weil ſich an die irrige Auffaſſung derſelben manche

bedenkliche Irrthümer angeknüpft haben (h). Es war ein

Mann geſtorben und hatte ſowohl ein Teſtament für ſich

ſelbſt, als ein Pupillarteſtament für ſeinen unmündigen

 

(g) L. 30 pr. de exc. r. jud.

(44. 2). Vgl. Keller S. 288. 289.

— In anderer Beziehung iſt dieſe

Stelle ſchon oben benutzt worden.

§ 299. k.

(h) L. 11 pr. de exc. r. jud.

(44. 2). Von dieſer Stelle handeln

Keller S. 290. 580. Puchta

Rhein. Muſeum II. 264. III. 483.

Kierulff S. 261. 262.

|0478 : 460|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Sohn hinterlaſſen. Bald darauf ſtarb auch der Sohn, und

nun klagte deſſen Mutter als Inteſtaterbin aus dem Ter-

tullianiſchen Senatusconſult gegen den Beſitzer der Erb-

ſchaft, indem ſie behauptete, das Teſtament ihres Mannes

ſey rumpirt, und dadurch zugleich das Pupillarteſtament

ihres Sohnes ungültig geworden. Da ſich dieſe Be-

hauptung als falſch erwies, ſo wurde ſie abgewieſen. Als

aber nunmehr das Pupillarteſtament eröffnet wurde, fand

ſich darin gar kein Subſtitut vor, und nun wollte die

Mutter nochmals als Inteſtaterbin gegen denſelben Beſitzer

klagen. Neratius ſagt, die Einrede der Rechtskraft ſtehe

ihr entgegen, und auch Ulpian hält Dieſes an ſich für

unzweifelhaft, giebt jedoch in den Schlußworten noch eine

Aushülfe an, die den wichtigſten Theil der ganzen Stelle

enthält. Ehe ich aber dieſe Schlußworte erkläre, will ich

zuvor den Geſichtspunkt für den bisher dargelegten Gang

des ganzen Rechtsfalls feſtzuſtellen ſuchen. Man hat die

Sache ſo aufgefaßt, als hätte die Mutter zwei Erbrechts-

klagen aus verſchiedenen Erwerbsgründen der Erbſchaft

verſucht, wodurch dieſe Stelle in Verbindung mit der ſo

eben abgehandelten Rechtsregel kommen würde; Dieſes iſt

jedoch offenbar nicht richtig; vielmehr war die erſte, wie die

zweite Klage eine und dieſelbe hereditatis intestati petitio,

nur mit verſchiedenen vorgebrachten Rechtfertigungsgrün-

den (i). Der erſte Rechtsſtreit war aber ſchlecht geführt

(i) Die Schlußworte der Stelle:

quae unam tantum causam

egit rupti testamenti, entſcheiden

für keine dieſer beiden, an ſich

|0479 : 461|

§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.

und ſchlecht entſchieden worden. Die Klägerin, die einen

an ſich ganz unzweifelhaften Inteſtaterbanſpruch hatte,

durfte gar nicht abgewieſen werden, bevor das Pupillar-

teſtament eröffnet war (k). — Ich komme nun zu den

Schlußworten der Stelle, worin Ulpian folgende Aus-

hülfe in Ausſicht ſtellt: sed ex causa succurrendum erit

ei, quae unam tantum causam egit rupti testamenti. Dieſe

Worte pflegen ſo aufgefaßt zu werden, daß es hart und

unbillig ſeyn würde, wenn die vorige Klägerin wegen ihrer

unvorſichtigen Prozeßführung leiden ſollte; daher müſſe ſie

Reſtitution gegen die Rechtskraft erhalten. Natürlich zeigt

man ſich nun geneigt, eine ſolche Reſtitution überall ein-

treten zu laſſen, wo die Einrede der Rechtskraft einem

Kläger beſondere Nachtheile droht. — Dieſe Lehre mag

milde und billig ſcheinen; aber es iſt unleugbar, daß damit

der ganze Gewinn aus dem Grundſatz der Rechtskraft, die

ganze damit verbundene Rechtsſicherheit, ſo gut als ver-

nichtet ſeyn würde. Alles wäre in der That der unbe-

ſchränkten Willkühr des Richters überlaſſen, und es iſt gar

nicht denkbar, daß Ulpian ganz vorübergehend, in wenigen

Worten, die ganze Lehre von der Rechtskraft, die gerade er,

denkbaren Erklärungen, da ſie eben

ſo gut von zwei verſchiedenen Recht-

fertigungsgründen, als von zwei

verſchiedenen Klagen, verſtanden

werden können. Eine actio rupti

testamenti giebt es ja ohnehin

nicht, ſondern nur eine heredi-

tatis petitio, zu deren Rechtfer-

tigung der Kläger, unter vielen

anderen Gründen, auch darauf ſich

berufen kann, daß ein Teſtament

ruptum ſey.

(k) L. 1 § 1 testam. quem-

adm. aper. (29. 3), L. 6 de

transact. (2. 15).

|0480 : 462|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

vor allen Anderen, mit großer Conſequenz durchgeführt hat,

ſollte wankend gemacht haben. — Eine hiſtoriſche Erklärung

dieſer Worte liegt allerdings nahe. Zur Zeit des Ulpian

hatten Frauen einen allgemeinen Anſpruch auf Reſtitution,

wenn ſie durch Rechtsunwiſſenheit in Nachtheil geriethen,

und zwar beſonders, wenn dieſe Rechtsunwiſſenheit bei

ſchädlichen Handlungen oder Unterlaſſungen in einer Pro-

zeßführung wahrgenommen wurde (l). Daß aber die Frau,

von welcher hier die Rede iſt, durch Rechtsunwiſſenheit

den Verluſt des erſten Prozeſſes ſich zugezogen hatte, iſt

ſchon oben gezeigt worden. Vielleicht hatte alſo Ulpian

ausdrücklich geſagt, daß der Frau dieſe Reſtitution wegen

ihres Geſchlechts gegeben werden müſſe, und die Compila-

toren haben dieſe Erwähnung, wegen des hierin verän-

derten Rechts, vertilgt (m). Allerdings kann dieſe hiſto-

riſche Erklärung auf die Stelle, wie ſie als Beſtandtheil

des Juſtinianiſchen Rechts vor uns liegt, nicht angewendet

werden. Allein auch hier wird der ganze Schlußſatz doch

nur dadurch wichtig und gefährlich, daß manche Ausleger

die Worte: ex causa, auf eine unbeſchränkte Willkühr des

Richters in Geſtattung einer milden Nachſicht deuten.

Eben ſo nahe, und noch näher, liegt es aber, die Worte:

(l) Vgl. oben B. 3 S. 432 und

S. 384 (Num. XIX.), S. 427

(Num. XXIX).

(m) Vielleicht hatte Ulpian

geſchrieben: sed sexus causa

succurrendum erit ei, ſo wie es

in L. 2 § 7 de j. fisci (49. 14)

heißt: si ea persona sit, quae

ignorare propter rusticitatem,

vel propter sexum femininum,

jus suum possit. Die Verände-

rung von sexus causa in ex

causa war dann ſehr einfach und

leicht.

|0481 : 463|

§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.

ex causa, ſo zu erklären: wenn überhaupt ein ſonſt begrün-

deter Reſtitutionsgrund (etwa Minderjährigkeit, Betrug

u. ſ. w.) vorliegt. Nach dieſer Erklärung iſt der beiläufig

hingeworfene Satz höchſtens trivial, aber weder irrig noch

gefährlich.

Bisher iſt die Regel dargeſtellt worden, ſowohl für die

perſönlichen Klagen, als für die Klagen in rem. Bei dieſen

letzten Klagen aber kommen zwei wichtige Ausnahmen in

Betracht, in welchen die Einrede für den Fall eines an-

deren Erwerbsgrundes eben ſo ausgeſchloſſen bleiben muß,

wie ſie ſchon in der Regel für dieſen Fall bei den perſön-

lichen Klagen ohnehin ausgeſchloſſen iſt. Dieſe Ausnahmen

beziehen ſich auf den Fall der causa superveniens und auf

den der causa adjecta oder expressa.

 

a. Causa superveniens.

Wenn eine Eigenthumsklage abgewieſen wird, weil der

Kläger, nach dem Ausſpruch des Richters, kein Eigenthum

hat, ſo darf die Klage, nach der oben aufgeſtellten Regel,

ſelbſt dann nicht erneuert werden, wenn ſich der Kläger

auf einen anderen Erwerbsgrund, als den der früheren

Klage zum Grunde liegenden, berufen wollte. Die Er-

neuerung der Klage aber iſt ihm ausnahmsweiſe erlaubt,

wenn der behauptete andere Erwerb erſt nach Beendigung

des erſten Rechtsſtreites eingetreten ſeyn ſoll (n).

 

(n) L. 11 § 4. 5 de exc. r.

jud. (44. 2). — Ebenſo, wenn in

einem Rechtsſtreit über die Frei-

heit der Sklave für frei erklärt

|0482 : 464|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Eben ſo verhält es ſich, wenn die frühere Abweiſung

nicht auf das fehlende Eigenthum des Klägers, ſondern

auf den fehlenden Beſitz des Beklagten gegründet war, der

Kläger aber behauptet, der damals fehlende Beſitz ſey nach

dem Ende des früheren Rechtsſtreits an den Beklagten ge-

kommen (o).

 

Wenn ferner eine Erbrechtsklage abgewieſen wird, weil

der Richter annimmt, der Kläger ſei nicht Erbe, und nun

eine neue Erbrechtsklage aus einer erſt ſpäter eingetretenen

Erwerbung des Erbrechts abgeleitet wird, ſo ſoll dieſe neue

Klage durch die Einrede der Rechtskraft nicht ausgeſchloſſen

ſeyn (p).

 

Der Grund dieſer Ausnahme liegt in der oben aufge-

ſtellten Regel, daß jedes Urtheil ſtets nur Etwas ausſprechen

will und kann, für den Zeitpunkt in welchem es erlaſſen

wird (§ 292. k. l.). Alle ſpäteren Aenderungen der Rechts-

verhältniſſe liegen daher ganz außer ſeinem Bereich, und

es kann alſo auch nicht auf den Erfolg einer Klage ein-

wirken, die eine ſolche ſpätere Aenderung zum Gegen-

ſtand hat.

 

Wegen der durchgreifenden Allgemeinheit dieſes Grundes

 

wird, nachher aber ſein früherer

Gegner das Eigenthum dieſes Skla-

ven durch Erbſchaft oder auf irgend

eine andere Weiſe wirklich erwirbt;

Dieſem ſteht die Einrede nicht

entgegen. L. 42 de lib. causa

(40. 12).

(o) L. 17 de exc. r. jud.

(44. 2). — Daſſelbe muß behauptet

werden, wenn eine Erbrechtsklage,

oder eine a. ad exhibendum blos

wegen des fehlenden Beſitzes ab-

gewieſen war. L. 9 pr. L. 18

eod., L. 8 pr. ratam rem (46. 8).

(p) L. 25 pr. de exc. r. jud.

(44. 2).

|0483 : 465|

§. 300. Einrede. Verſchiedenheit des Erwerbsgrundes.

würde derſelbe nicht blos, wie hier behauptet wird, auf

Klagen in rem, ſondern eben ſo auch auf perſönliche

Klagen Anwendung finden können. Bei dieſen aber fehlt

es meiſt deswegen an einem Bedürfniß, weil bei ihnen die

ganz anders lautende Regel eine ſolche Ausnahme ohnehin

entbehrlich macht. Dennoch kommen hier ſeltnere Fälle vor,

worin ein ſolches Bedürfniß eintritt, und dann iſt auch

die Anwendung der angegebenen Ausnahme ganz unbe-

denklich. — Wenn alſo z. B. aus einem bedingten Vertrag

vor Eintritt der Bedingung geklagt wird, ſo iſt der Kläger

abzuweiſen. Tritt aber nachher die Bedingung ein, ſo

kann die frühere Klage, ungehindert durch die Einrede der

Rechtskraft, wiederholt werden (q).

b. Causa adjecta oder expressa.

Der Sinn dieſer Ausnahme geht dahin, daß es dem

Kläger frei ſteht, ſeine Klage in rem auf einen einzelnen,

beſtimmten Erwerbsgrund (z. B. Erſitzung bei dem Eigen-

thum, Teſtament bei dem Erbrecht) zu beſchränken. Das

hat für ihn den Nachtheil, daß er im Lauf des Rechts-

ſtreits nicht zum Beweiſe eines anderen Erwerbsgrundes

übergehen kann: den Vortheil, daß die Abweiſung ihn

 

(q) L. 43 § 9 de aedil. ed.

(21. 1). — Eben ſo, wenn wegen

der bedingten Schuld nicht die

Schuldklage, ſondern die Hypothe-

karklage angeſtellt und abgewieſen

worden iſt. L. 13 § 5 de pign.

(20. 1). — Eben ſo, wenn die

perſönliche Klage blos wegen einer

Einrede abgewieſen wurde, deren

Grund durch ein ſpäteres Ereigniß

weggeräumt wird. L. 2 de exc.

r. jud. (44. 2), L. 15 de obl.

et act. (44. 7).

VI. 30

|0484 : 466|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

nicht hindert, künftig die Klage zu erneuern, indem er ſie

alsdann aus einem anderen Erwerbsgrund ableitet (r).

Durch dieſe Ausnahme wird daher die Anwendung der

Regel ſelbſt auf die Fälle beſchränkt, worin die erſte Klage

auf das Eigenthum oder das Erbrecht im Allgemeinen,

ohne Hinzufügung eines einzelnen Erwerbsgrundes, ange-

ſtellt wird.

 

Da jedoch dieſe zweite Ausnahme neuerlich zum Gegen-

ſtand eines lebhaften Streites geworden iſt, deſſen Dar-

ſtellung hier den Zuſammenhang allzuſehr unterbrechen

würde, ſo iſt die Prüfung dieſer Streitfrage in die Bei-

lage XVII. verwieſen worden.

 

§. 301.

Einrede der Rechtskraft. Bedingungen. Dieſelben

Perſonen.

Die zweite Bedingung für die Anwendbarkeit der Ein-

rede der Rechtskraft (§ 296) beſteht darin, daß dieſelben

Perſonen als Parteien in dem zweiten Rechtsſtreit er-

ſcheinen müſſen, unter welchen der frühere Rechtsſtreit ge-

führt worden iſt, oder in der ſubjectiven Identität

beider Klagen (a). Wo dieſe Bedingung fehlt, wirkt die

 

(r) L. 11 § 2. L. 14 § 2 de

exc. r. jud. (44. 2).

(a) L. 3. L. 7 § 4 de exc.

r. jud. (44. 2) „inter easdem

personas“ (abgedruckt oben § 296

S. 417). L. 1 eod., L. 63 de

re jud. (42. 1), L. 12 de jurej.

(12. 2), L. 1 C. inter al. acta

(7. 60), L. 2 C. de exc. (8. 36). —

Über dieſen Gegenſtand iſt im All-

gemeinen zu vergleichen Keller

§ 44. 45.

|0485 : 467|

§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.

Einrede nicht, ſo daß alſo in jedem ſpäteren Rechtsſtreit

eine dritte Perſon aus dem früheren rechtskräftigen Urtheil

weder Rechte geltend machen, noch einer Verbindlichkeit

unterworfen werden kann (b).

Dieſe Regel iſt von beſonderer Wichtigkeit bei den

Klagen in rem. Denn da das Eigenthum, und eben ſo

auch das Erbrecht, als eine allgemeine, gegen Jeden wirk-

ſame, Eigenſchaft des Berechtigten gedacht wird, ſo liegt

der Gedanke ſehr nahe, daß die rechtskräftige Bejahung

oder Verneinung dieſer Eigenſchaft eben ſo allgemein für

und wider alle Menſchen ihre Wirkung äußern müſſe.

Dennoch verhält es ſich damit ganz anders. Das Weſen

der Rechtskraft beſteht in einer Fiction der Wahrheit für

das geſprochene Urtheil (§ 280). Auf die Anwendung

dieſer Fiction erwirbt die obſiegende Partei ein Recht gegen

die unterliegende, und ſo hat das, aus dem Urtheil ent-

ſpringende Rechtsverhältniß völlig die Natur einer Obliga-

tion, und wirkt daher nicht auf fremde Perſonen, die etwa

auf daſſelbe Eigenthum oder Erbrecht Anſpruch machen

möchten (c). — Bei den perſönlichen Klagen, deren Gegen-

 

(b) L. 2 C. quib. res jud.

(7. 56): „Res inter alios judica-

tae neque emolumentum afferre

his, qui judicio non interfue-

runt, neque praejudicium so-

lent irrogare.“

(c) L. 63 de re jud (42. 1)

„… Diversa causa est, si fundum

a te Titius petierit, quem ego

quoque, sed non ex persona

Titii, ad me pertinere dico.

Nam quamvis contra Titium,

me sciente, judicatum sit,

nullum tamen praejudicium

patior: quia neque ex eo jure,

quo Titius victus est, vindico,

neque potui Titio intercedere,

quo minus jure suo utatur.“

30*

|0486 : 468|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſtand ein Rechtsverhältniß zwiſchen zwei beſtimmten Per-

ſonen iſt, kann in den meiſten Fällen ſelbſt ein ſolcher

Zweifel gar nicht entſtehen, ſo daß hier jene Regel von

geringerer Wichtigkeit iſt. Doch kommen auch dabei Fälle

vor, worin ſich dieſelbe wirkſam zeigt. Wenn nämlich ein

Gläubiger oder Schuldner ſtirbt, und mehrere Erben hinter-

läßt, ſo geht auf jeden Erben ein Theil des Rechtsverhält-

niſſes über, welcher dann Gegenſtand eines ſelbſtſtändigen

Rechtsſtreites für dieſen Erben werden kann. Das Urtheil

über dieſen Rechtsſtreit ſoll nun auf den, dem anderen

Erben zukommenden Theil des Rechtsverhältniſſes keinen

Einfluß haben, obgleich dieſes urſprünglich ein ungetrenntes

Ganze war, und daher die Gründe der Entſcheidung meiſt

gemeinſame ſeyn werden (d).

Wollte man die hier aufgeſtellte Regel in aller Strenge

geltend machen, ſo würde dadurch der Gebrauch der Ein-

rede ſehr eingeſchränkt werden. Ihre praktiſche Wichtigkeit

beruht daher großentheils auf einigen Erweiterungen der

Regel, die nun noch darzuſtellen ſind.

 

Dieſe Erweiterungen ſind von zweierlei Art. Die

meiſten und wichtigſten beruhen auf der Anwendung des

allgemeinen, ſchon anderwärts begründeten, Succeſſions-

 

(d) L. 22 de exc. r. jud.

(44. 2). „Si cum uno herede

depositi actum sit, tamen et

cum ceteris heredibus recte

agetur, nec exceptio rei judi-

catae eis proderit: nam etsi

eadem quaestio in omnibus

judiciis vertitur, tamen per-

sonarum mutatio, cum quibus

singulis suo nomine agitur,

aliam atque aliam rem facit.“

L. 63 de re jud. (42. 1), L. 2

C. quib. res jud. (7. 56).

|0487 : 469|

§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen

verhältniſſes; wir können dieſe Erweiterungen natürliche

nennen. Andere dagegen beruhen auf beſonderen Vor-

ſchriften, herbeigeführt durch das eigenthümliche Bedürfniß

einzelner Rechtsinſtitute; dieſe werden wir als poſitive

Erweiterungen zu bezeichnen haben.

I. Natürliche Erweiterungen.

Die Einrede, als Wirkung der Rechtskraft, ſoll ſich

nicht blos auf die früheren Parteien ſelbſt beziehen,

ſondern auch auf die Succeſſoren dieſer Parteien (e).

 

a. Dieſer Satz gilt ſowohl für das Recht der obſie-

genden, als für die Verbindlichkeit der unterliegenden

Partei aus dem früheren Urtheil.

 

b. Er gilt ſowohl für die Univerſalſucceſſion, als für

die Singularſucceſſion (f).

 

Für die Univerſalſucceſſion, insbeſondere für die Erben

der urſprünglichen Parteien, verſteht er ſich ſo ſehr von

ſelbſt, daß er dabei nicht beſonders erwähnt zu werden

pflegt. Man kann dahin unter andern auch den Fall

rechnen, wenn ein Sohn in väterlicher Gewalt einen

Prozeß führt und das Recht der Einrede erwirbt; dieſes

 

(e) L. 2 C. de exc. (8. 36)

„… vel successoribus ejus.“ —

In der alten Lehre von der Con-

ſumtion machte beſondere Schwie-

rigkeit die Frage, welche Perſonen

eine Klage in judicium deduciren

könnten, insbeſondere ob Procu-

ratoren, Cognitoren u. ſ. w. Hier-

auf gehen L. 4 L. 11 § 7 L. 25

§ 2 de exc. r. jud. (44. 2).

Vgl. Keller § 37 — 44. Dieſe

Schwierigkeit iſt nicht vorhanden

bei der Exception in ihrer neueren

Geſtalt, da ſich Alles auf die all-

gemeinen Grundſätze von rechts-

kräftiger Vertretung im Prozeß

zurückführen läßt.

(f) Vgl. über dieſe Begriffe

B. 3 § 103.

|0488 : 470|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Recht geht, eben ſo wie jeder Erwerb des Sohnes, un-

mittelbar auf den Vater über (g).

Eben ſo aber geht auch auf die Singularſucceſſoren das

Recht und die Verpflichtung aus der Einrede über (h),

insbeſondere alſo auf den, welcher durch Kauf in das

Recht der urſprünglichen Partei eingetreten iſt (i). Eben

ſo, wenn der Eigenthümer einer Sache Prozeß über die-

ſelbe führt, und dann die Sache verpfändet, geht der

Vortheil und Nachtheil aus dem rechtskräftigen Urtheil auf

den Pfandgläubiger über.

 

c. Jener Satz iſt nur wahr, wenn die Succeſſion

nach dem rechtskräftigen Urtheil begründet wurde; iſt ſie

früher begründet, ſo hat das Urtheil keine rückwirkende

Kraft für den Succeſſor (k). Wenn alſo ein Gläubiger

einen Theil ſeiner Forderung einem Dritten überträgt, und

dann für den übrigen Theil gegen den Schuldner klagt,

ſo hat das Urtheil keinen Einfluß auf den Ceſſionar.

 

II. Poſitive Erweiterungen.

Dieſe haben die Natur wahrer Ausnahmen von der

aufgeſtellten Regel, ſo daß in den Fällen derſelben die

Vortheile und Nachtheile der Rechtskraft auf Perſonen be-

zogen werden, die in dem früheren Rechtsſtreit nicht als

 

(g) L. 11 § 8 de exc. r. jud.

(44. 2).

(h) L. 28 de exc. r. jud.

(44. 2). „Exceptio rei judi-

catae nocebit ei, qui in do-

minium successit ejus, qui ju-

dicio expertus est.“

(i) L. 9 § 2. L. 11 § 3. 9

de exc. r. jud. (44. 2), L. 25

§ 8 fam. herc. (10. 2), vgl. oben

§ 298 i. —

(k) L. 3 § 1 de pign. (20. 1),

L. 29 § 1. L. 11 § 10 de exc.

r. jud. (44. 2).

|0489 : 471|

§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.

Parteien erſchienen, und auch nicht in ein Succeſſions-

verhältniß zu jenen Parteien eingetreten ſind (l). Das

praktiſche Verhältniß dieſer Ausnahmen zu der Regel läßt

ſich ſo ausdrücken: Das richterliche Urtheil macht in der

Regel jus inter partes, in dieſen ausgenommenen Fällen

jus inter omnes.

Man kann dieſe Ausnahmen auf den gemeinſamen

Geſichtspunkt zurückführen, daß der Fremde, auf welchen

die Wirkung der Rechtskraft bezogen werden ſoll, durch

eine der Parteien vertreten (repräſentirt) war (m). Nur

muß man nicht glauben, daß damit ein durchgreifender

Grundſatz aufgeſtellt wäre, durch deſſen freie Anwendung

überall das Daſeyn ſolcher Ausnahmen entſchieden werden

könnte. Vielmehr bleiben es ſtets nur einzelne, poſitiv

anerkannte Fälle, und es ſollte durch den aufgeſtellten

Geſichtspunkt nur klar gemacht werden, in welcher Ver-

wandtſchaft ſie unter einander ſtehen, und aus welchem

Grunde für ſie eine abweichende Behandlung angemeſſen

gefunden worden iſt.

 

Die einzelnen Fälle dieſer Ausnahmen ſind folgende:

 

A. Klagen, die auf einen perſönlichen Zuſtand (status),

insbeſondere auf ein Verhältniß des Familienrechts, ge-

richtet ſind.

 

(l) Vgl. über dieſe Ausnahmen:

Keller § 46. 47. 48. Bracken-

hoeft Identität der Rechtsver-

hältniſſe § 20.

(m) Damit hängt zuſammen

das Erforderniß eines justus con-

tradictor, wovon ſogleich bei

mehreren einzelnen Fällen die Rede

ſeyn wird.

|0490 : 472|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Nach einer in früherer Zeit ſehr verbreiteten Meinung

ſollten alle Klagen der hier bezeichneten Art die erwähnte

beſondere Natur haben. In der That kann Dieſes nur

in folgenden zwei Fällen behauptet werden:

 

a. Wenn die rechtmäßige Geburt eines Kindes, und

die davon abhängige väterliche Gewalt, beſtritten wird,

ſo ſoll das Urtheil über den von dem Vater geführten

Rechtsſtreit nicht blos für die Parteien, ſondern auch für

alle übrigen Familenglieder, namentlich für die Geſchwiſter

des Kindes, die Wirkung der Rechtskraft haben (n).

 

b. Wenn über den Zuſtand eines Freigebornen zwiſchen

ihm und dem wirklichen Patron, oder dem einzigen Prä-

tendenten des Patronats, ein Rechtsſtreit geführt wird, ſo

bringt deſſen Entſcheidung den wirklichen Zuſtand eines

Freigebornen oder Freigelaſſenen hervor, auch im Verhält-

niß zu allen fremden Perſonen, z. B. wenn von der

Möglichkeit einer rechtsgültigen Ehe dieſer Perſon die

Frage entſteht, oder von der Fähigkeit derſelben, in den

 

(n) L. 1 § 16. L. 2, L. 3 pr.

de agnosc. (25. 3) „placet enim,

ejus rei judicem jus facere.“

Durch dieſe Worte ſoll alſo hier

eine mehr als gewöhnlich ausge-

dehnte Wirkſamkeit der Rechts-

kraft ausgedrückt werden, das jus

inter omnes, im Gegenſatz des

jus inter partes. Vgl. oben

§ 282 e. — Anders verhält es

ſich hier bei der Entſcheidung durch

Eid, wobei es (für den künftigen

Rechtsſtreit dritter Perſonen) heißt:

„veritatem esse quaerendam.“

L. 3 § 2. 3 de jurej. (12. 2),

welche Worte den Gegenſatz bil-

den von: res judicata pro veri-

tate accipitur (ſ. die folgende

Note). — Die abſolute Wirkung

des Urtheils gilt auch zum Nach-

theil des Vaters, z. B. bei dem,

gegen eine dritte Perſon angeſtell-

ten Interdict de liberis exhiben-

dis. L. 1 § 4 de lib. exhib.

(43. 30).

|0491 : 473|

§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.

Senat einzutreten, oder von den Verhältniſſen des Erb-

rechts (o).

In allen übrigen Fällen ſolcher Klagen gilt dagegen

die erwähnte ausgedehntere Wirkung des Urtheils nicht;

vielmehr bleibt es für ſie bei der, auf die Parteien be-

ſchränkten Wirkung. Das Urtheil, welches einen Sclaven

für frei, oder einen Freigelaſſenen für einen Freigebornen

erklärt, hindert daher eine dritte Perſon nicht, denſelben

als dem Sclavenrecht oder dem Patronatsrecht unter-

worfen in Anſpruch zu nehmen (p).

 

Aber auch in jenen beiden beſonderen Fällen ſoll die

Ausnahme nur unter folgenden Bedingungen eintreten: Es

 

(o) L. 25 de statu hominum

(1. 5). „.. res judicata pro ve-

ritate accipitur“ ſ. die vorher-

gehende Note und oben § 282. d.,

L. 1. 4 de collus. (40. 16), L. 27

§ 1 de lib. causa (40. 12), L. 14

de j. patron. (37. 14). Auch hier

hat wieder der Eid dieſe ausge-

dehntere Wirkung nicht. Anders

bei der Strafklage des Patrons

wegen in jus vocatio, weil dieſe

über das perſönliche Verhältniß

der Parteien nicht hinaus geht.

L. 8 § 1 de in jus voc. (2. 4).

(p) L. 42 de lib causa (40. 12),

L. 1. 5 si ingen. (40. 14). — Da

indeſſen auch die ſcheinbare Inge-

nuität oder Libertinität, die auf

dieſe Weiſe vorübergehend entſte-

hen konnte, große Nachtheile mit

ſich führte, ſo geſtattete man wohl

jedem Dritten, der für ſich Patro-

natsrecht in Anſpruch nehmen

wollte, an dem Prozeß Theil zu

nehmen, in welchem Fall dann das

Urtheil auch für dieſen Dritten

wirkſam wurde. Das iſt der Sinn

der etwas ſchwierigen Worte in

L. 63 de re jud. (42. 1). „.. Nam

et si libertus meus, me inter-

veniente, servus vel libertus

alterius judicetur, mihi prae-

judicatur.“ Wohl nur durch

ſolche Erklärung iſt ein Wider-

ſpruch dieſer Worte mit den un-

mittelbar folgenden zu beſeitigen,

die oben in der Note c. abgedruckt

ſind. Darauf deuten auch die Worte

quo ignorante in L. 5 si ingen.

(40. 14). — Beſondere Schwierig-

keit entſtand bei angeblichen Mit-

eigenthümern eines Sclaven. Hier

ſuchte man zu verſchiedenen Zeiten

verſchiedene Aushülfe. L. 9 pr.

§ 1. 2, L. 30 de lib. causa (40. 12),

L. 29 pr. de exc. r. jud. (44. 2).

|0492 : 474|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

ſoll ein justus contradictor den Rechtsſtreit geführt haben (q);

es ſoll ein contradictoriſches, nicht ein Contumacialurtheil

ſeyn (r); es ſoll endlich keine Colluſion unter den Parteien

zum Grunde liegen (s).

B. Klagen aus dem Erbrecht.

 

Auch hier wieder ſtehen die meiſten Fälle ganz unter

der gewöhnlichen Regel.

 

Wenn alſo A. gegen B. die Erbrechtsklage anſtellt, und

das Erbrecht des A. bejaht oder verneint wird, ſo hat

Dieſes auf den ſpäteren Rechtsſtreit über das Erbrecht

zwiſchen A. und C. oder zwiſchen B. und C. durchaus

keinen Einfluß (t). Eben ſo, wenn zwiſchen dem Teſta-

mentserben und einem Legatar über die Gültigkeit des

Teſtaments oder des Legats geſtritten wird, und nachher

ein anderer Legatar gegen denſelben Erben klagt (u).

 

Die Fälle der Ausnahme in Beziehung auf das Erb-

recht ſind folgende:

 

a. Wenn über die Gültigkeit eines Teſtaments zwiſchen

dem Teſtamentserben und dem Inteſtaterben geſtritten und

entſchieden wird, ſo ſind an dieſe Entſcheidung auch Die-

jenigen gebunden, die aus dieſem Teſtament als Legatare

 

(q) L. 3 de collus. (40. 16).

Der Sinn dieſer Bedingung iſt

bereits im Text erklärt worden:

Der Rechtsſtreit ſoll von dem Vater,

oder dem wahren Patron, oder

dem einzigen Patronatsprätenden-

ten, geführt worden ſeyn.

(r) L. 27 § 1 de lib. causa

(40. 12), vgl. L. 24 de dolo (4. 3).

(s) Tit. Dig. de collus. (40. 16).

Die Anfechtung aus dieſem Grunde

war einem Jeden (als popularis

actio) geſtattet.

(t) L. 12 de jurej. (12. 2).

(u) L. 1 de exc. r. jud. (44. 2).

|0493 : 475|

§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.

oder Freigelaſſene u. ſ. w. Rechte ableiten; dieſe ausge-

dehntere Wirkſamkeit des Urtheils wird hier gleichfalls

durch den Ausdruck: Judex jus facit, bezeichnet. Auch hier

wird aber ein contradictoriſches Urtheil, ſo wie die Abwe-

ſenheit der Colluſion, vorausgeſetzt. Die erwähnten Per-

ſonen haben zu ihrer Sicherheit die Befugniß, an dem

Rechtsſtreit Theil zu nehmen, und ſelbſt gegen das ihnen

nachtheilige Urtheil die Berufung einzulegen (v).

Es fragt ſich, ob auch die Gläubiger der Erbſchaft

unter dieſer Vorſchrift ſtehen. Sie unterſcheiden ſich von

den Legataren darin, daß ihr Recht an ſich von der Gül-

tigkeit des Teſtamentes unabhängig iſt. Es kann aber für

ſie gefährlich werden, unbedingt an den ſiegenden Theil

in jenem Erbſchaftsſtreit verwieſen zu werden, weil dieſer

vielleicht zahlungsunfähig ſeyn kann. Das Recht nun

haben ſie unzweifelhaft, ſich an den zu halten, der in dem

Rechtsſtreit über die Erbſchaft obgeſiegt hat (w). Aber

eine Verpflichtung dazu läßt ſich wohl nicht behaupten;

vielmehr muß ihnen auch verſtattet werden, ihre Schuld-

klagen gegen den damals unterliegenden Theil anzuſtellen,

wenn ſie dieſem beweiſen können, daß er der wahre

Erbe iſt.

 

b. Wenn ein Teſtament als inofficiosum angefochten

 

(v) L. 3 pr. de pign. (20. 1.),

L. 50 § 1 de leg. 1. (30. un.)

„jus facit haec pronuntiatio“,

L. 14 de appell. (49. 1) „an jus

faciat judex“, L. 12 pr. § 2

C. de pet. her. (3. 31).

(w) L. 50 § 1 in f. de leg. 1

(30. un.), L. 12 § 1 C. de pet.

her. (3. 31).

|0494 : 476|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

wird, und der Richter die Klage begründet findet, ſo iſt

der Erfolg ein ganz anderer, als bei der gewöhnlichen

Erbrechtsklage. Es wird angenommen, das Teſtament

ſey bis dahin gültig geweſen, und das Urtheil habe das-

ſelbe reſcindirt. Dadurch wird nun die gewöhnliche In-

teſtaterbfolge eröffnet, die möglicherweiſe einer anderen

Perſon, als dem Kläger, welcher die Reſciſſion bewirkte,

die Erbſchaft verſchaffen kann. Dieſe ausgedehntere Wir-

kung wird auch hier durch die Worte: Jus facit judex, be-

zeichnet, und ſie tritt wieder nur ein, wenn das Urtheil

ein contradictoriſches iſt (x).

C. Klagen, deren Führung einem Mitbetheiligten

überlaſſen wird (y).

 

Es kann geſchehen, daß der, welcher zunächſt dazu

berufen iſt, als Kläger oder Beklagter einen Rechtsſtreit

zu führen, ſein Recht von einem Anderen ableitet, der

dann oft mehr, als er ſelbſt, Vortheil oder Rachtheil

von dem Ausgang des Streites zu erwarten hat. Er kann

 

(x) L. 6 § 1 de inoff. (5. 2),

L. 8 § 16 eod., L. 17 § 1 eod.

„jus ex sententia judicis fieri.“

— Ob dieſe Regel noch im heutigen

Recht Geltung hat, kann an dieſer

Stelle nicht unterſucht werden. Es

hängt von der allgemeineren Frage

ab, ob überhaupt die Eigenthüm-

lichkeiten der alten querela inof-

ficiosi noch fortdauern, oder ob

dieſe Klage durch die Novelle 115

weſentlich umgebildet worden iſt.

Wer dieſe letzte Meinung annimmt,

zu der ich mich bekenne, muß die

Fortdauer der ausgedehnteren

Rechtskraft bei dieſer Klage ver-

werfen, da an ihre Stelle nun

eine gewöhnliche Erbrechtsklage

getreten iſt. — Über die Natur

jener Klage im älteren Recht vgl.

oben B. 2 S. 127—131.

(y) L. 63 de re jud. (42. 1).

Bei Keller S. 68 fg. finden ſich

treffliche Bemerkungen über die

ſchwierigen Theile dieſer wichtigen

Stelle.

|0495 : 477|

§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.

nun dieſen Anderen zum Beiſtand in dem Rechtsſtreit auf-

fordern, er kann ihm aber auch die eigene, ſelbſtſtändige

Führung des Streits überlaſſen. Wenn er dieſen letzten

Weg einſchlägt, ſo wird der Streit für oder wider den

Anderen entſchieden; er ſelbſt erſcheint als Partei gar

nicht, und nach der allgemeinen Regel müßte daher das

Urtheil ihm weder Vortheil noch Nachtheil bringen. Hier

aber wäre die Anwendung dieſer Regel offenbar unrichtig,

da er zunächſt dazu berufen war, den Prozeß zu führen,

und die Überlaſſung an den Anderen ganz aus ſeinem freien

Entſchluß hervorging. Hier ſind alſo die Vortheile und

Nachtheile der Rechtskraft auf ihn gerade ſo anzuwenden,

wie wenn er ſelbſt in dem Rechtsſtreit als Partei aufge-

treten wäre.

Es werden im Römiſchen Recht drei einzelne Anwen-

dungen zuſammengeſtellt, um die Natur dieſer Ausnahme

anſchaulich zu machen, wodurch jedoch die Ausnahme ſelbſt

auf dieſe einzelnen Fälle keinesweges beſchränkt werden

ſoll (z).

 

(z) L. 63 de re jud. (42. 1)

„.. Scientibus sententia, quae

inter alios data est, obest,

cum quis de ea re, cujus actio

vel defensio primum sibi com-

petit, sequenti agere patiatur:

veluti si creditor experiri pas-

sus sit debitorem de proprie-

tate pignoris, aut maritus so-

cerum vel uxorem de proprie-

tate rei in dotem acceptae,

aut possessor venditorem de

proprietate rei emtae: et haec

ita ex multis constitutionibus

intelligenda sunt. Cur autem

his quidem scientia nocet, su-

perioribus vero non nocet, illa

ratio est, quod …, qui prio-

rem dominum defendere cau-

sam patitur, ideo propter

scientiam praescriptione rei,

quamvis inter alios judicatae,

|0496 : 478|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

a. Der erſte Fall iſt der einer verpfändeten Sache,

wenn dieſe in den Beſitz einer dritten Perſon kommt, die

auf das Eigenthum Anſpruch macht. Hier könnte der

Pfandgläubiger mit der Hypothekarklage gegen den dritten

Beſitzer klagen; er kann es aber auch dem Verpfänder

überlaſſen, die Eigenthumsklage gegen den Dritten anzu-

ſtellen, deren Entſcheidung dann auch für den Pfand-

gläubiger wirkſam ſeyn ſoll. Eben ſo verhält es ſich, wenn

der Pfandgläubiger die Sache beſitzt, und der Dritte gegen

ihn die Eigenthumsklage anſtellt, in welcher er gleichfalls

die Prozeßführung ſelbſt übernehmen, oder dem Verpfänder

(als ſeinem Defenſor) überlaſſen kann (aa).

 

b. Der zweite Fall bezieht ſich auf einen Ehemann,

der eine Dotalſache beſitzt, und deshalb von einem Dritten

mit der Eigenthumsklage in Anſpruch genommen wird.

Der Beſitzer kann wieder ſelbſt den Prozeß als Beklagter

führen, oder dem Beſteller der Dos (Schwiegervater oder

Ehefrau) dieſe Prozeßführung überlaſſen. In dieſem letzten

Fall bringt das Urtheil auch ihm Vortheil oder Nach-

theil (bb).

 

summovetur, quia ex voluntate

ejus de jure, quod ex persona

agentis habuit, judicatum est.“

(aa) Die Worte: si creditor

experiri passus sit debitorem,

können in dieſem Fall ſowohl auf

die Stellung des Klägers, als auf

die des Beklagten, bezogen werden,

auf welche doppelte Beziehung auch

die vorhergehenden Worte hin-

deuten.

(bb) In dieſem Fall iſt blos

an die Stellung des Beklagten

(die defensio) zu denken, da der

Schwiegervater und die Ehefrau

keine Vindication mehr haben.

Eben ſo verhält es ſich auch in

dem folgenden Fall, welches Letzte

noch beſonders durch den Ausdruck

possessor beſtätigt wird.

|0497 : 479|

§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.

c. Eben ſo verhält es ſich in dem dritten Fall, wenn

der Beſitzer einer erkauften Sache von einem Dritten mit

der Eigenthumsklage in Anſpruch genommen wird. Er

kann ſelbſt als Beklagter den Prozeß führen, oder dieſe

Prozeßführung dem Verkäufer überlaſſen, da dieſer ohne-

hin für die Eviction ihm verpflichtet iſt.

 

D. Eine beſondere Schwierigkeit entſteht in dem Fall,

wenn für ein Grundſtück, das mehreren Miteigenthümern

gehört, eine confeſſoriſche oder negatoriſche Klage zu führen

iſt. Wenn ſich dieſe Miteigenthümer entſchließen, den

Rechtsſtreit gemeinſchaftlich zu führen, ſo iſt jede Schwie-

rigkeit gehoben. Allein keiner dieſer Miteigenthümer hat

die Befugniß, die übrigen zu dieſer Theilnahme zu

zwingen (cc). Eben ſo wäre es auf der anderen Seite

ſehr hart für den Gegner, wenn ihm zugemuthet werden

ſollte, denſelben Rechtsſtreit gegen jeden Miteigenthümer

von Neuem zu führen, mit ſtets erneuerter Mühe und Ge-

fahr des Verluſtes. Daher ſind für dieſen Fall folgende

beſondere Regeln angenommen worden.

 

a. Jeder Miteigenthümer kann für ſich allein die con-

feſſoriſche Klage auf die ganze Servitut (in solidum) an-

ſtellen (dd), und wenn der Gegner verurtheilt wird, ſo

ſoll der Vortheil der Rechtskraft auch den übrigen Mit-

eigenthümern zu gut kommen (ee).

 

(cc) Martin Prozeß Ausg. 12

§ 306. Mittermaier Archiv

für civil. Praxis B. 3 S. 42.

(dd) L. 4 § 3 si serv. (8. 5),

L. 6 § 4 eod., L. 1 § 5 de arb.

caed. (43. 27).

(ee) L. 4 § 3 cit. „victoria

et aliis proderit.“

|0498 : 480|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

b. Die bloße Conſequenz dieſes letzten Satzes führt

dahin, daß ſich die übrigen auch den Nachtheil aus der

Rechtskraft des freiſprechenden Urtheils gefallen laſſen

müſſen (ff). War ihnen der Rechtsſtreit bekannt, ſo haben

ſie es ſich ſelbſt zuzuſchreiben, wenn ſie es unterließen,

durch freiwillige Theilnahme die ungünſtige Entſcheidung

abzuwenden. War er ihnen unbekannt, ſo wäre es aller-

dings ungerecht, wenn ſie durch die Unredlichkeit oder

Nachläſſigkeit ihres Miteigenthümers in bleibenden Nach-

theil kommen ſollten (gg). Allein dieſe Ungerechtigkeit wird

nicht dadurch abgewendet, daß ſie die Rechtskraft des

Urtheils für ſich nicht anzuerkennen brauchten, ſondern

vielmehr durch eine Entſchädigungsklage gegen den, welcher

den Prozeß geführt, und den Verluſt veranlaßt hat (hh).

Will ſich dieſer gegen einen ſolchen Vorwurf und die da-

mit verbundene Gefahr ſchützen, ſo kann er die übrigen

durch litis denuntiatio zur Theilnahme an dem Rechtsſtreit

rechtzeitig auffordern.

 

(ff) Cujacius, recit. in L. 4

si serv. Opp. T. 7 p. 453. An-

derer Meinung iſt Glück B. 10

S. 236. Für die Richtigkeit der

hier aufgeſtellten Meinung ſpricht

auch die actio pluviae arcendae,

bei welcher ganz Daſſelbe gilt.

L. 11 § 1. 2 de aqua et aq. pluv.

(39. 3).

(gg) L. 19 si serv. (8. 5) „non

est aequum, hoc ceteris damno

esse.“

(hh) Sowohl wegen dolus, als

wegen culpa, haben ſie gegen ihn,

im Fall einer vertragsmäßigen

Gemeinſchaft, die actio pro so-

cio, außerdem die actio negotio-

rum gestorum; in beiden Fällen

die actio communi dividundo.

L. 20 comm. div. (10. 3). — Lag

eine Colluſion beider Parteien zum

Grunde, ſo haben ſie noch außer-

dem gegen den Gegner die doli

actio, welche wichtig ſeyn kann,

wenn etwa der Miteigenthümer

zahlungsunfähig ſeyn ſollte. L. 19

si serv. (8. 5).

|0499 : 481|

§. 301. Einrede. Dieſelben Perſonen.

c. Wenn umgekehrt das mit der Servitut belaſtete

Grundſtück mehrere Eigenthümer hat, ſo kann der Gegner

jeden einzelnen unter dieſen mit der confeſſoriſchen Klage

belangen, und es ſollen dieſelben Regeln, wie in dem vor-

hergehenden Fall, eintreten (ii), obgleich in dieſem Fall kein

ſo dringendes Bedürfniß vorhanden iſt, als in dem vorher-

gehenden Fall, da jener gegen alle Miteigenthümer gleich-

zeitig und mit einer gemeinſamen Klage auftreten kann.

 

d. Dieſelben Regeln ſind ohne Zweifel von beiden

Seiten auch für die negatoriſche Klage anzuwenden.

 

e. Eine hierher gehörende Beſtimmung findet ſich endlich

noch in dem Longobardiſchen Lehenrecht. Hier iſt dem Va-

ſallen das Recht eingeräumt, den Rechtsſtreit über das

Eigenthum des Lehengutes gegen dritte Perſonen ſelbſt-

ſtändig, ohne Zuziehung des Lehenherrn, zu führen, mit

dem ausdrücklichen Zuſatz, daß der Vortheil und Nachtheil

aus der rechtskräftigen Entſcheidung des Rechtsſtreits auch

auf den Lehenherrn bezogen werden müſſe. Daſſelbe ſoll

ſogar gelten, wenn der Rechtsſtreit nicht durch Urtheil,

ſondern durch Vergleich geendigt worden iſt. Nur im Fall

einer Unredlichkeit des Vaſallen ſoll der Lehenherr von

dieſer Verpflichtung frei ſeyn (kk).

 

(ii) L. 4 § 4 si serv. (8. 5).

Nur bei der servitus oneris fe-

rendi ſoll dieſe ſolidariſche Rück-

wirkung auf die übrigen Miteigen-

thümer inſofern nicht gelten, als

dieſe Servitut, abweichend von al-

len übrigen, den Eigenthümer des

belaſteten Grundſtücks zugleich zu

poſitiven Leiſtungen verpflichtet.

L. 6 § 4 eod.

(kk) II. Feud. 43. — Eine

ähnliche Beſtimmung enthält das

VI. 31

|0500 : 482|

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.

Römiſche Recht für den Emphy-

teuta, den Superficiar, und den

Pfandgläubiger eines Grundſtücks,

welchen die Befugniß eingeräumt

wird, die dem Grundſtück zuſte-

henden Servituten durch confeſſo-

riſche Klagen ſelbſtſtändig zu ver-

folgen. Jedoch wird dabei nicht

beſtimmt, daß das Urtheil auch für

den Grundeigenthümer bindende

Kraft haben ſoll, worauf doch ge-

rade das Meiſte ankommt. L. 16

de serv. (8. 1), L. 3 § 3, L. 9

de op. novi nunt. (39. 1), L. 1

§ 5 de remiss. (43. 25).

|0501 : [483]|

Beilagen.

XV. XVI. XVII.

31*

|0502 : [484]|

|0503 : [485]|

Beilage XV.

Appellatio und Provocatio.

(Zu § 285.)

I.

In der Römiſchen Verfaſſung finden ſich, von ſehr alter

Zeit her, zwei Inſtitute, unter den Namen appellatio und

provocatio, die neben manchen Verſchiedenheiten die Ähn-

lichkeit mit einander haben, daß durch dieſelben der Aus-

ſpruch oder der Erfolg eines richterlichen Urtheils verhindert

werden kann (a). Dieſe Ähnlichkeit haben beide auch mit

dem, im Anfang der Kaiſerregierung eingeführten, Inſtanzen-

zug; da nun überdem bei dieſem auch die Namen der er-

wähnten alten Inſtitute angewendet wurden, ſo werden

wir auf die Annahme geführt, daß der Inſtanzenzug aus

ihnen in geſchichtlicher Entwickelung hervorgegangen iſt.

Wie dieſe Entwickelung eingetreten iſt, und welches der

beiden alten Inſtitute dabei als Grundlage gedient hat,

 

(a) Ohne Zweifel war es dieſe

Ähnlichkeit, wodurch Cicero ver-

anlaßt wurde, in der von ihm dar-

geſtellten idealen Staatsverfaſſung,

die doch ganz auf Römiſche Ein-

richtungen gebaut war, beide In-

ſtitute ſo zu vermiſchen, als ob ſie

gar nicht verſchieden geweſen wären.

Cicero de leg. III. 3.

|0504 : 486|

Beilage XV.

wird durch die folgende genauere Betrachtung derſelben,

und durch ihre Vergleichung mit den Inſtanzen der Kaiſer-

zeit, zu ermitteln ſeyn.

II.

Die alte provocatio ſetzte voraus die Verurtheilung

eines Römers durch eine, mit Criminalgerichtsbarkeit ver-

ſehene Obrigkeit; ſie beſtand in der Berufung des Verur-

theilten auf das höhere Urtheil der Volksverſammlung,

wodurch jenes erſte Urtheil abgeändert oder beſtätigt werden

konnte (b). Darin lag alſo die vollſtändige Einrichtung

einer höheren Inſtanz.

 

Nach einem unzweideutigen Zeugniß des Cicero beſtand

die provocatio auch ſchon zur Zeit der Könige (c). Nach

einer Stelle des Pomponius iſt ſie erſt nach der Ver-

treibung der Könige eingeführt worden (d). Neuere Schrift-

ſteller haben dieſen Widerſpruch durch die Annahme zu be-

ſeitigen geſucht, daß ſie bei Gründung der Republik eine

ausgedehntere Anwendung, als unter den Königen, erhalten

habe (e).

 

(b) Die quellenmäßigen Nach-

richten über die provocatio, ſo

wie die Meinungen der neueren

Schriftſteller über dieſelbe, ſind

ſehr vollſtändig zuſammengeſtellt

bei Geib Geſchichte des römi-

ſchen Criminal-Prozeſſes. Leipzig

1842. S. 152—168. 387—392.

(c) Cicero de re publica II.

31. Vgl. Seneca epist. 108.

(d) L. 2 § 16 de orig. jur.

(1. 2).

(e) Entweder ſo, daß ſie früher

nur den Patriciern zu gut gekom-

men wäre, ſpäter auch den Plebe-

jern (Niebuhr Röm. Geſchichte I.

361. 557); oder ſo, daß die, von

den Königen perſönlich ausge-

ſprochenen Strafurtheile der Be-

rufung nicht unterlegen hätten.

|0505 : 487|

Appellatio und Provocatio.

Während der Republik war ihre Anwendung faſt all-

gemein, und es werden nur zwei Obrigkeiten erwähnt,

deren Strafurtheile der Berufung an die Volksverſammlung

nicht unterworfen waren: die Decemvirn und die Dictatoren.

Beide ſtanden außer der Reihe der regelmäßigen, ſtets

fortdauernden und wiederkehrenden, öffentlichen Gewalten.

 

Dennoch wird in der ſpäteren Zeit der Republik, in

welcher gerade der Schutz der individuellen Freiheit ſtets

wachſend erſcheint, der wirkliche Gebrauch einer ſolchen Be-

rufung an das Volk faſt gar nicht erwähnt, und dieſe auf-

fallende Erſcheinung iſt auf folgende Weiſe zu erklären.

In dieſer ſpäteren Zeit wurde faſt der ganze Criminal-

prozeß durch ſtändige Commiſſionen für die Unterſuchung

einzelner Verbrechen beſorgt (quaestiones perpetuae). Dazu

war eine Anzahl von Prätoren angeordnet, die nicht ſo,

wie die älteren Criminal-Obrigkeiten, aus eigener obrigkeit-

licher Macht, ſondern in Kraft dieſes beſonderen Auftrags

richteten, und zwar in Gemeinſchaft mit Geſchworenen, die

hierin die Stelle des Volks vertraten. Auf einen ſolchen

Urtheilsſpruch, der gleichſam von dem Volk ſelbſt (nur in

commiſſariſcher Form) ausgegangen war, ſchien die Be-

rufung an das Volk nicht anwendbar.

 

III.

Eine ganz andere Natur hatte die appellatio, die auf

einen weit allgemeineren und unbeſtimmteren Schutz der

individuellen Freiheit gegen Bedrückung durch öffentliche

 

|0506 : 488|

Beilage XV.

Handlungen aller Art (alſo unter andern auch im Civil-

prozeß) berechnet war (f). Alle ſolche Handlungen nämlich,

wohin hauptſächlich die Ausübung obrigkeitlicher Macht

gehörte, konnten verhindert werden durch den bloßen Ein-

ſpruch ſehr vieler einzelnen Perſonen. Ein ſolcher Einſpruch

hieß intercessio; die Bitte des Einzelnen, zu ſeinem Schutz

von jener Befugniß Gebrauch zu machen, hieß appellatio.

Berechtigt zu einem ſolchen Einſpruch gegen die

Handlung einer Obrigkeit war zunächſt jede andere obrig-

keitliche Perſon, die einen gleichen, oder einen höheren Rang

hatte, als der Handelnde (par majorve potestas), alſo

Prätor gegen Prätor, Conſul gegen Conſul, Conſul gegen

Prätor, ohne Rückſicht darauf, ob die einzelne Handlung

mit dem beſonderen Geſchäftskreiſe deſſen, der den Einſpruch

that, Berührung hatte (g).

 

Ohne Rückſicht auf das Rangverhältniß hatten die

Tribunen ein allgemeines Recht des Einſpruchs nach allen

Seiten hin, alſo auch gegen die Handlungen der Prätoren

und der Conſuln (h). Bald übten ſie dieſes Recht als

 

(f) Zimmern Rechtsgeſchichte

B. 3 § 169. Keller Semestria

Vol. 1 C. 1 § 8 p. 139—170.

(g) Cicero de leg. III. 3. —

Nicht ganz gleichartig iſt es, wenn

der Prätor (nach ſeinem unzweifel-

haften Recht) dem von ihm ernann-

ten Juder den Auftrag entzog (ve-

tare judicare); wohl aber, wenn

ein Conſul dieſem Juder den Urtheils-

ſpruch unterſagte. L. 58 de jud.

(5. 1) „Judicium solvitur ve-

tante eo, qui judicare jusserat:

vel etiam eo, qui majus impe-

rium in eadem jurisdictione ha-

bet.“ (Eadem jurisdictio iſt hier

im geographiſchen Sinn zu ver-

ſtehen). Nach geſprochenem Urtheil

hatte auch ſelbſt der Prätor dar-

über keine Macht. L. 14 de re

jud. (42. 1).

(h) Cicero de leg. III. 3.

|0507 : 489|

Appellatio und Provocatio.

Einzelne aus, bald in Folge einer collegialiſchen Berathung

und Beſchlußnahme.

IV.

Die Wirkung eines ſolchen Einſpruchs war eine negative;

es ſollte nun zunächſt gar Nichts geſchehen. Daher diente

im Civilprozeß der Einſpruch zum Schutz des Beklagten,

nicht des Klägers. Dieſe Einwirkung auf den Prozeß war

alſo ähnlich einer bloßen Caſſation, nicht einer Inſtanz, da

der Einſpruch keine poſitive Abänderung an die Stelle der

verhinderten Maaßregel ſetzen konnte.

 

Dennoch war der praktiſche Einfluß eines ſolchen Ein-

ſpruchs oft nicht minder ſtark, als der einer Freiſprechung,

da durch den Grundſatz der Comſumtion die Wiederholung

der vorigen Klage verhindert wurde, und durch die kurze

Prozeßverjährung alles Recht des Klägers leicht untergehen

konnte.

 

V.

Gegenſtand des Einſpruchs konnten die verſchiedenſten

Handlungen des Prozeſſes ſeyn; namentlich ein Decret des

Prätors; eben ſo die Faſſung der Formel, wenn etwa der

Prätor ein judicium purum geben, der Einſprechende aber,

zum Schutz des Beklagten, die Hinzufügung einer Einrede

erzwingen wollte (i).

 

(i) Cicero acad. quaest. II. 30., wo dieſer Fall figürlich, aber

als eine bekannte Sache, erwähnt wird.

|0508 : 490|

Beilage XV.

Es fragt ſich, wie einem ſolchen Einſpruch Geltung

verſchafft werden konnte, wenn etwa der Prätor ſeine ab-

weichende Meinung hätte durchſetzen wollen, welches freilich

nicht leicht vorgekommen ſeyn wird. Dazu fand ſich das

ſichere Mittel, ſobald der Prätor in die Lage kam, irgend

einen Ausſpruch durch Beſchlagnahme von Sachen zur

Execution zu bringen (possessio oder venditio bonorum).

Dieſe äußere Handlung konnte durch das Verbot eines

anderen Prätors oder eines Tribuns unmittelbar verhindert

werden (k).

 

Es iſt nicht zu bezweifeln, daß dieſe außerordentliche

Maaßregel in ſehr verſchiedener Abſicht und mit ſehr

verſchiedenem Erfolg wird angewendet worden ſeyn: bald

zum Schutz des wahren Rechts gegen das ungerechte Ver-

fahren der ordentlichen Gerichtsobrigkeit; bald zum Schutz

wahrer oder vermeintlicher Billigkeit gegen die Strenge des

bloßen Buchſtabens; bald als wahrer Mißbrauch, als par-

teiiſcher Eingriff in den richtigen Gang des Prozeſſes (l).

 

VI.

Es ergiebt ſich aus dieſer ganzen Darſtellung, daß

dieſe ſonderbare Einrichtung die etwas zweideutige Natur

einer blos indirecten Einwirkung auf den Gang der Rechts-

pflege hatte. Daher erklären ſich die ſcheinbar wider-

ſprechenden Äußerungen alter Schriftſteller über die ver-

 

(k) Keller l. c., p. 140—145.

(l) Keller l. c., p. 151—155.

|0509 : 491|

Appellatio und Provocatio.

faſſungsmäßige Stellung der Tribunen. Bald wird von

ihnen geſagt, ſie hätten keinen Theil an der Rechtspflege (m).

Dagegen werden ſie in unzweideutigen anderen Stellen

mitten unter den richterlichen Obrigkeiten aufgezählt, und

ſelbſt als Recht ſprechend erwähnt (n). Es wird beſon-

ders bemerkt, daß ſie ſtets in der Lage ſeyen, in den

Civilprozeß eingreifen zu können, und daß es deshalb nicht

für ſchicklich erachtet werden könne, wenn ſie während

ihrer Amtsführung für Andere als Sachwalter auftreten

wollten (o).

VII.

Die hier aufgeſtellten allgemeinen Anſichten von der

provocatio und appellatio, ihrer Ähnlichkeit und Verſchie-

denheit, werden durch folgende Reihe von Beiſpielen aus

der Römiſchen Geſchichte ſowohl Anſchaulichkeit als Be-

ſtätigung erhalten.

 

Beſonders wichtig ſind hier die Ereigniſſe während der

kurzen Regierung der Decemvirn und gleich nach dem

Sturze derſelben, indem dabei die beiden oben genannten

Inſtitute neben einander, und in ihrer verſchiedenartigen

Wirkſamkeit, erwähnt werden.

 

Die Decemvirn wurden ernannt sine provocatione,

das heißt ſo, daß von ihren Strafurtheilen eine Berufung

 

(m) Gellius XIII. 12. „Tri-

buni antiquitus creati videntur

non juri dicundo.“

(n) Auct. ad Herennium II.

13, L. 2 § 34 de orig. jur. (1. 2).

(o) Plinius epist. I. 23.

|0510 : 492|

Beilage XV.

an die Volksverſammlung nicht zuläſſig ſeyn ſollte. Da-

gegen galt auch hier die appellatio, indem jeder Römer,

der ſich von einem der Decemvirn bedrückt glaubte, irgend

einen Collegen deſſelben um ſeinen Einſpruch bitten konnte.

Allein im zweiten Jahre dieſer ungewöhnlichen Regierung

wurde ſelbſt dieſe Zuflucht durch Übereinkunft der Decem-

virn vereitelt, ſo daß jeder Verſuch einer appellatio nur

eine noch härtere Behandlung des Bedrückten zur Folge

hatte (p).

Nach dem Sturz der Decemvirn klagte der Tribun

Virginius den Appius vor dem Volke an, und bedrohte

ihn mit augenblicklicher Verhaftung, wenn er nicht Bürgen

ſtelle für ein gerichtliches Verfahren vor einem Judex.

Appius verſuchte gegen dieſe Drohung vergeblich zuerſt eine

provocatio an das Volk, dann eine appellatio an andere

Tribunen; er wurde in das Gefängniß abgeführt, wo

er ſein Leben endigte (q).

 

VIII.

Folgende Fälle geben Zeugniß von dem Einſpruch im

Civilprozeß, der durch die appellatio gleicher oder höherer

obrigkeitlicher Perſonen bewirkt wurde.

 

Verres erließ als Prätor viele Decrete im Wider-

ſpruch mit ſeinem eigenen Edict. Dieſe unerhörte Will-

kühr hatte die Folge, daß ſein College, der Prätor

 

(p) Livius III. 33. 34. 36.

(q) Livius III. 56. 57.

|0511 : 493|

Appellatio und Provocatio.

L. Piſo, durch oft wiederholten Einſpruch ſolcher Unge-

rechtigkeit mit Erfolg entgegen trat (r).

Als zur Abbürdung der Schulden die Abtretung von

Vermögensſtücken nach einer öffentlichen Taxe eingeführt

worden war, erhielt der Prätor C. Trebonius den Auf-

trag, dieſe neue Vorſchrift zur Ausführung zu bringen.

Der Prätor M. Coelius, der dieſe Maaßregel mißbilligte,

ſuchte ſie dadurch zu vereiteln, daß er ſein Tribunal neben

dem Tribunal des Trebonius aufrichtete, und jedem Ver-

klagten, der ſich an ihn wenden würde, den Einſpruch

gegen das Verfahren des Trebonius anbot. Es meldete

ſich jedoch Niemand, um von dieſem Anerbieten Gebrauch

zu machen (s).

 

Ein verſtorbener Freigelaſſener hatte, mit Übergehung

ſeines Patrons, den Verſchnittenen Genucius (matris

magnae Gallus) zum Erben eingeſetzt (t). Der Prätor

Cn. Oreſtes gab dem eingeſetzten Erben zuerſt eine B. P.

secundum tabulas, dann eine Erbſchaftsklage (u). Allein

der Conſul Lepidus entkräftete dieſes Verfahren des Prä-

tors (v) zum Vortheil des Patrons, und zwar aus dem

Grunde, weil der eingeſetzte Erbe weder Mann, noch Weib

ſey (w).

 

(r) Cicero in Verrem II. 1.

C. 46.

(s) Caesar de bello civ. III. 20.

(t) Valerius Max. VII. 7 § 6.

(u) Es wird restitutio in bona

genannt; wahrſcheinlich war es ein

Interdict quorum bonorum.

(v) „praetoriam jurisdictio-

nem abrogavit.“

(w) Die wirkſame Interceſſion

des Conſuls gegen das vom Prä-

tor eingeleitete Verfahren iſt klar;

nicht ſo klar iſt der vom Conſul

angegebene Grund. Wollte etwa

|0512 : 494|

Beilage XV.

IX.

Die Einwirkung der Tribunen in den Civilprozeß tritt

in folgenden Fällen hervor.

 

In einem Prozeß des Quinctius hatte ein Prätor mit

Unrecht ein Decret auf Bürgſchaft erlaſſen. Die Tribunen

wurden um Einſpruch gebeten, und ohne dieſen unmittel-

bar auszuſprechen, bewirkten ſie doch durch ihre Drohung,

daß mit der Execution eingehalten wurde (x).

 

M. Tullius hatte gegen Q. Fabius eine Klage ange-

ſtellt de vi hominibus armatis coactisve damno dato.

Der Beklagte verlangte, daß in die Formel der beſchrän-

kende Zuſatz aufgenommen werde: injuria damno dato;

mit Unrecht, da dieſe Beſchränkung nicht in die erwähnte

Klage, ſondern nur in die a. L. Aquiliae gehörte. Als

der Prätor in dieſes Verlangen nicht einging, appellirte der

Beklagte an die Tribunen; allein dieſe billigten das Decret

des Prätors über die Faſſung der Formel, und erklärten:

nihil se addituros (y). — Wären die Tribunen dem Ver-

langen des Beklagten beigetreten, ſo würden ſie das auf

 

der Conſul den Caſtraten für ehr-

los halten, und daher unwürdig,

das Tribunal zu betreten, ſo hatte

ja dem Conſul dieſe perſönliche

Berührung Niemand zugemuthet;

auch konnten ſelbſt wirklich Ehr-

loſe für ſich ſelbſt poſtuliren. (L. 1

§ 8 de his qui not.). Vielleicht

ſollte eine analoge Anwendung der

L. Voconia gemacht werden, indem

der Caſtrat noch weniger als ein

Weib ſey, alſo mindeſtens eben ſo

unfähig zur Erbeinſetzung. Vgl.

L. 12 § 1 de bon. poss. (37. 1).

(x) Cicero pro Quinctio C. 7.

20. 21. Keller l. c., p. 139 sq.

(y) Cicero pro Tullio C. 7.

38. 39. 40. Keller l. c., p. 144.

145.

|0513 : 495|

Appellatio und Provocatio.

dieſe, von ihnen mißbilligte, Formel gegründete Verfahren

in allen ſeinen praktiſchen Folgen verhindert haben.

Bei einer Klage von Provinzialen gegen die Erpreſſun-

gen des C. Antonius hindern die Tribunen das Decret,

welches der Prätor der Peregrinen auf dieſe Klage erlaſſen

wollte (z).

 

Ähnliche Eingriffe der Tribunen finden ſich auch im

Criminalprozeß. So wurde einmal von ihnen einem Ange-

klagten verboten, ſich zu verantworten, welches Verfahren

als unerhört dargeſtellt wird (aa). — Als bei einem

anderen Criminalprozeß ein einzelner Judex fehlte, indem

er in einem Civilprozeß beſchäftigt war, verbot ein Tribun

die Abſtimmung und befahl, die Civilſache auszuſetzen,

damit jener Judex an der Criminalſache Antheil nehmen

könne (bb).

 

X.

Es iſt ſchon oben bemerkt worden, daß ſich bald nach

dem Anfang der Kaiſerregierung ein regelmäßiger Inſtanzen-

zug im Civilprozeß findet, welcher bis zum Kaiſer auf-

wärts geht, und wovon während der Republik Nichts zu

bemerken iſt. Bei der ganzen Gründung der Kaiſergewalt

aber finden wir durchgehend den Grundſatz feſtgehalten,

etwas der Form und dem Namen nach ganz Neues nicht

zu erfinden, ſondern alte Einrichtungen der Republik zu

 

(z) Asconius in or. Cic. in toga candida p. 84 ed. Orell.

(aa) Cicero in Vatin. C. 14.

(bb) Cicero pro Cluentio C. 27.

|0514 : 496|

Beilage XV.

benutzen, um aus der bisher ungewohnten Verbindung

derſelben das wahrhaft Neue unbemerkt hervorgehen zu

laſſen.

Dieſe Analogie führt zu der ſehr wahrſcheinlichen Ver-

muthung, daß auch jener Inſtanzenzug an die oben er-

wähnten alten Inſtitute (provocatio und appellatio), als

neue Entwickelung derſelben, wird angeknüpft worden ſeyn,

und es fragt ſich dann zunächſt, an welches unter dieſen

beiden Inſtituten.

 

Manche haben die provocatio der alten Verfaſſung als

Grundlage der neuen Inſtanzen angenommen, und es ſcheint

dafür der Umſtand zu ſprechen, daß in der provocatio in

der That ein wahrer Inſtanzenzug enthalten war. Dennoch

muß ich dieſer Annahme entſchieden widerſprechen. Erſtlich,

weil die alte provocatio nur auf Criminalſachen, nie auf

den Civilprozeß, angewendet wurde. Zweitens, weil in der

Annahme einer provocatio an den Kaiſer die förmliche

Gleichſtellung der kaiſerlichen Gewalt mit der Gewalt des

alten populus gelegen hätte, deren Schein noch lange Zeit

hindurch ſehr ſorgfältig vermieden wurde, indem die Kaiſer

nur obrigkeitliche, von dem populus übertragene, Gewalten

auszuüben ſcheinen wollten.

 

XI.

Giebt man nun die Anknüpfung des neuen Inſtanzen-

zuges an die provocatio auf, ſo bleibt nur noch die appel-

latio als Grundlage der neuen Einrichtung übrig, und in

 

|0515 : 497|

Appellatio und Provocatio.

dieſer iſt auch in der That eine völlig genügende Grund-

lage für den Inſtanzenzug zu finden.

Zuvörderſt iſt es unzweifelhaft, daß der Kaiſer in ſeinen

verfaſſungsmäßigen Amtsrechten die Mittel beſaß, um aus

allen Theilen des Reichs in Civilprozeſſen Appellationen

anzunehmen, und durch Einſpruch auf den Erfolg des

Rechtsſtreits einzuwirken. In Rom und Italien diente

dazu die tribunicia potestas, die ſchon im J. 706 an Cäſar,

im J. 724 an Auguſt, lebenslänglich verliehen wurde (cc).

In der kaiſerlichen Hälfte der Provinzen war der Unter-

ſtatthalter ohnehin von den Anweiſungen des Kaiſers, der

ihn angeſtellt hatte, ganz abhängig. In den Senatsprovinzen

aber hatte der Kaiſer das Recht der intercessio gegen alle

gerichtlichen Handlungen des Proconſuls, mit welchem er

vermöge ſeiner allgemeinen proconsularis potestas gleichen

Rang hatte.

 

Obgleich nun oben gezeigt worden iſt, daß die alte

appellatio und intercessio, nach ihrer an ſich nur verneinen-

den und hindernden Natur, von einer eigentlichen Inſtanz

weſentlich verſchieden war, und mehr die Natur einer

bloßen Caſſation hatte, ſo liegt doch in der Natur der

Caſſation, ſobald ſie regelmäßig und oft wiederkehrend aus-

geübt wird, eine natürliche Annäherung an die Inſtanz.

Gerade die regelmäßige und häufige Ausübung war

während der Republik unmöglich, weil die Gewalt der

 

(cc) Dio Cassius XLII. 20, LI. 19.

VI. 32

|0516 : 498|

Beilage XV.

Tribunen nur einjährig, durch Theilung unter Viele ge-

ſchwächt, durch die wichtigere Beſchäftigung mit politiſchen

Zwecken faſt ausſchließend in Anſpruch genommen war.

Dieſes Alles verhielt ſich bei der fortdauernden tribunicia

potestas des Kaiſers ganz anders. Dennoch würde auch

hier die Entſtehung eines eigentlichen Inſtanzenzuges

vielleicht gar nicht, vielleicht erſt ſpäter, eingetreten ſeyn,

wenn nicht das innere Bedürfniß dazu angetrieben hätte

(§ 284). Dieſes Bedürfniß zu befriedigen, war in dem

ruhigen Gang der einmal gegründeten Monarchie möglich

und leicht, und daß die bloße Benutzung der, ohnehin be-

kannten und unbeſtrittenen, Beſtandtheile der kaiſerlichen

Gewalt dazu völlig ausreichte, ohne daß es dazu einer

ganz neuen Erfindung, ja ſelbſt nur neuer Formen und

Namen, bedurfte, iſt ſo eben gezeigt worden.

Man könnte die hierin eintretende Veränderung ſo aus-

drücken: Der Kaiſer wendete die, ihm ohnehin allgemein

zukommende, appellatio und intercessio auf das Verfahren

im Civilprozeß ſo allgemein und regelmäßig an, daß in

dieſer neuen Entwicklung die appellatio zugleich die Natur

einer provocatio annahm.

 

XII.

Eine wichtige Beſtätigung der hier aufgeſtellten ge-

ſchichtlichen Erklärung des Inſtanzenzuges liegt in der,

unter der Kaiſerregierung ſchnell eintretenden Umbildung

des Sprachgebrauchs. Noch bei Livius werden die Aus-

 

|0517 : 499|

Appellatio und Provocatio.

drücke provocatio und appellatio in ihrer eigenthümlichen

Bedeutung ſtreng aus einander gehalten (Note p. q.).

Bald aber verſchwindet dieſe Unterſcheidung, ſo daß nun

beide Ausdrücke als ganz gleichbedeutende Bezeichnungen

eines und deſſelben Begriffs gebraucht werden, wie wir

Dieſes namentlich in unſeren Rechtsquellen durchaus wahr-

nehmen.

Plinius hist. nat. VI. 22 (von einem Indiſchen Volk):

„sic quoque appellationem esse ad populum.“

Gellius IV. 4: „Mamilia ad tribunos plebei pro-

vocavit.“

Gellius VII. 19: „Scipio Africanus fratris nomine ad

collegium tribunorum provocabat.“

L. 1 § 1 quae sent. (49. 8): „nec appellare necesse

est, et citra provocationem corrigitur.“

L. 1 § 1 a quib. app. (49. 2): „Et quidem stultum

est, illud admonere, a principe appellare fas non

esse, cum ipse sit qui provocatur.“

XIII.

Man könnte nun glauben, neben dem neuen, in der

kaiſerlichen Gewalt vereinigten, Inſtanzenzug ſeyen die

alten, getrennten Inſtitute der provocatio und appellatio

in ihrer Eigenthümlichkeit völlig verſchwunden. Allerdings

war jetzt von einer provocatio an die Volksverſammlung

durchaus nicht mehr die Nede. Dagegen dauerte das

frühere Recht der einzelnen Volkstribunen, Appellationen

 

32*

|0518 : 500|

Beilage XV. Appellatio und Provocatio.

anzunehmen, und ſich durch Interceſſion in den Civilprozeß

einzumiſchen, noch neben der neuen Inſtanzeneinrichtung

unverändert fort; es blieb aber ſo unbedeutend als früher.

Dieſe Fortdauer bezeugt aus eigener Erfahrung der jüngere

Plinius, der es eben deshalb für unſchicklich erklärt,

wenn Tribunen während ihrer Amtszeit in fremden Prozeſſen

als Vertreter von Parteien auftreten wollten (Note o).

|0519 : [501]|

Beilage XVI.

L. 7 de exceptione rei judicatae (44. 2).

(Zu § 296 und § 299.)

Keine einzelne Stelle der Digeſten liefert ſo reichhaltige

Belehrung für die Lehre von der Rechtskraft, als dieſe.

Sie zeichnet ſich aus, eben ſo durch tief eingreifende Regeln,

als durch die Schärfe, Beſtimmtheit und Sicherheit ihrer

Entſcheidungen. Dieſes Lob kann indeſſen nur unbedingt

gelten von dem Anfang und Ende der Stelle; in der Mitte

liegt gar manches Dunkle, Zweifelhafte, ſcheinbar Wider-

ſprechende.

 

Ich glaube, dieſe Schwierigkeiten ganz oder großentheils

beſeitigen zu können durch eine andere Erklärung der

Stelle, deren Verſchiedenheit von der bisher üblichen Er-

klärung durch eine veränderte Abtheilung der Paragraphen

anſchaulich werden wird. Dieſes einfache Mittel iſt von

jeher als allgemein zuläſſig, und ganz in das Gebiet der

bloßen Auslegung fallend, angeſehen worden; weſentlich

verſchieden von einer verſuchten Verbeſſerung des Textes,

 

|0520 : 502|

Beilage XVI.

da die Abtheilung in Paragraphen, wie wir ſie in unſren

Ausgaben finden, lediglich das Werk der Herausgeber iſt,

alſo nicht zum Beſtand des handſchriftlichen Textes gehört.

Dennoch könnte dieſes Verfahren mit einigem Mißtrauen

betrachtet werden, wenn es in der Abſicht eingeſchlagen

würde, eine, durch die bisher übliche Erklärung der Stelle

unterſtützte, fremde Lehre von der Rechtskraft wankend zu

machen, und eine eigene neue Lehre an deren Stelle zu

ſetzen; wenn ferner die bisher übliche Auffaſſung der Stelle

von den Auslegern befriedigend gefunden worden wäre, und

dieſe jetzt in ihrem ruhigen Beſitz geſtört werden ſollten.

Von dieſem Allen aber findet ſich hier gerade das Gegen-

theil.

 

Der dunkle, zweifelhafte Theil der Stelle iſt bisher von

keiner Seite dazu benutzt worden, um irgend eine Lehre

von der Rechtskraft darauf zu gründen, und er ſoll auch

von mir nicht dazu benutzt werden. Die Zweifel, die dabei

in Erwägung kommen, liegen überhaupt nicht in der Lehre

von der Rechtskraft, ſondern in ganz andern Theilen der

Rechtswiſſenſchaft, hauptſächlich in den Lehren vom Eigen-

thum und Beſitz. — Was aber die Hauptſache iſt: die

Ausleger, die ſich bisher mit dieſem dunklen Theil der

Stelle ernſthaft beſchäftigt haben, ſind mit demſelben, ſo

wie er bis jetzt aufgefaßt wurde, nicht im Geringſten zu-

frieden, können alſo auch nicht in einem friedlichen Beſitz-

ſtand geſtört werden. Folgende Äußerungen werden dieſe

Behauptung ganz außer Zweifel ſetzen.

 

|0521 : 503|

L. 7 de exceptione rei judicatae.

Donellus äußert ſich über die vorliegende Stelle in

folgenden Worten (a): Hoc quidem Ulpianus negaverat

obiter in principio L. 7 D. de exc. rei jud. his verbis …

Sed quod hic exempli tantum caussa, et velut aliud agens

posuerat, id corrigit postea, et mutat ex professo in

lapidibus, cementis, et tignis, addita in § 2 ea ratione,

ex qua facile intelligere liceat, hoc idem illud et de tabu-

lis navis sentire. Offenbar wird hier angenommen, daß

Ulpian den Gegenſtand ſehr leichtfertig behandelt habe.

 

Keller erklärt die vermeintlichen Widerſprüche in der

Stelle aus einem ſteten Schwanken des Verfaſſers zwiſchen

der poſitiven und negativen Function der Einrede. Zugleich

ſetzt er voraus, die hier vorliegende Stelle des Ulpian

möge vielleicht ein ſehr unvollſtändiger Auszug ſeyn, den

die Verfaſſer der Digeſten aus einer längeren Stelle

gemacht haben möchten, mit Weglaſſung vieler Citate aus

anderen alten Juriſten (b). — Eben ſo urtheilt ein anderer

Schriftſteller, Ulpian habe ganz verſchiedene Dinge durch

einander geworfen, und ſey dadurch zu ſehr ſchwankenden

Entſcheidungen geführt worden (c).

 

(a) Donellus Lib. 22 C. 5

§ 9.

(b) Keller S. 261—276, be-

ſonders 263. 271. Das Schwanken

zwiſchen beiden Geſtalten der Ex-

ception kann ich gerade bei dieſer

Stelle am wenigſten annehmen,

die zuerſt in der Mitte (§ 1), und

dann noch beſtimmter gegen das

Ende (§ 4), den Grundſatz der po-

ſitiven Function der Einrede ſo

klar ausſpricht und ſo conſequent

durchführt.

(c) Brackenhoeft Identität der

Rechtsverhältniſſe S. 209 fg., be-

ſonders S. 210. 215.

|0522 : 504|

Beilage XVI.

Alle dieſe Ausleger ſind alſo mit der vorliegenden Stelle

des Schriftſtellers in hohem Grade unzufrieden, und

würden es ſich ganz wohl gefallen laſſen, wenn es gelänge,

durch eine neue Erklärung die Widerſprüche zu beſeitigen,

durch deren Annahme ſie zu ſo harten Urtheilen über den

alten Juriſten beſtimmt wurden.

 

Hienach ſoll der folgende Verſuch nicht dazu dienen,

in der Lehre von der Rechtskraft eine eigene neue Lehre

zu rechtfertigen, oder eine fremde Lehre zu bekämpfen. Er

iſt vielmehr dazu beſtimmt, erſtlich für den Verfaſſer der

Stelle als Ehrenrettung zu dienen, zweitens das unheim-

liche Gefühl zu entfernen, welches unvermeidlich zurück

bleibt, wenn in der Mitte der klarſten und reichhaltigſten

Stelle über die Rechtskraft eine Reihe von Äußerungen

ſich findet, die als unzuſammenhangend, ſchwankend, oder

ſogar als völlig widerſprechend anerkannt werden müßten.

 

Nach dieſer Vorbereitung laſſe ich den Text unſerer

Stelle mit den nöthigen Erklärungen folgen.

 

Princ. Si quis, cum totum petisset, partem petat:

exceptio rei judicatae nocet; nam pars in toto est: eadem

enim res accipitur, etsi pars petatur ejus, quod totum

petitum est. Nec interest, utrum in corpore hoc quae-

ratur, an in quantitate, vel in jure. Proinde si quis

fundum petierit, deinde partem petat, vel pro diviso, vel

pro indiviso: dicendum erit, exceptionem obstare. Proinde

etsi proponas mihi, certum locum me petere ex eo fundo,

quem petii, obstabit exceptio. Idem erit probandum, etsi

 

|0523 : 505|

L. 7 de exceptione rei judicatae.

duo corpora fuerint petita, mox alterutrum corpus pe-

tatur: nam nocebit exceptio(d).

§ 1. Item (e) si quis fundum petierit, mox arbores

 

(d) Dieſer Theil der Stelle iſt

ſchon oben mitgetheilt und aus-

führlich erklärt worden (S. 448).

Er iſt eben ſo gerechtfertigt von

dem Standpunkt der poſitiven, als

der negativen Function aus, und

Ulpian entſcheidet hier mit unzwei-

felhafter Sicherheit, ohne dem Ge-

danken an eine mögliche Meinungs-

verſchiedenheit Raum zu laſſen.

(e) In dieſem Theil der Stelle

liegt die vorgeſchlagene neue Ab-

theilung und die darauf gegrün-

dete neue Erklärung der Stelle.

Die Ausgaben ziehen die Worte

Item si bis tabulas vindicem

noch zu dem princ. und fangen

den § 1 erſt mit den Worten Si

ancillam an. Dadurch werden

alle in jenen Worten enthaltenen

Fälle mit in den vorhergehenden

Ausſpruch hineingezogen, daß die

Einrede unzweifelhaft an-

wendbar ſey (nam nocebit ex-

ceptio). Betrachten wir dabei zu-

erſt das Sprachliche, dann das

Sachliche. Jeder Anfang eines

Satzes mit Item bezeichnet eine

Verwandtſchaft dieſes Satzes mit

dem vorhergehenden; dieſe Ver-

wandtſchaft aber kann im Grad

und Umfang verſchieden ſeyn. Sie

kann ſich beziehen ſowohl auf die

in beiden Sätzen erwähnten Fälle

(die zu entſcheidenden Fragen),

als auf die Behandlung dieſer

Fälle (die Entſcheidung ſelbſt);

ſie muß aber nicht ſprachlich dieſe

Ausdehnung haben, kann ſich viel-

mehr auch beſchränken auf den

Fall oder die Frage, neben mehr

oder weniger Verſchiedenheit in

der Behandlung und Entſcheidung.

Wenn in dem vorliegenden Fall

die ganze Stelle abſchlöſſe mit den

Worten tabulas vindicem, ſo

wäre es durchaus nothwendig, die

Verwandtſchaft der Sätze in der

größten Ausdehnung anzunehmen,

ſo wie es die Ausgaben voraus-

ſetzen. Jetzt aber, da ein anderer

Satz, mit anderem Ausgang, folgt

(magnae quaestionis est), haben

wir ſprachlich ganz freie Wahl,

und dieſe Wahl kann nur durch

ſachliche Gründe entſchieden

werden. Dieſe Gründe aber

ſprechen für die von mir vorge-

ſchlagene Abtheilung, indem nur

auf dieſem Wege der handgreifliche

Widerſpruch mit der Entſcheidung

des § 2 über die cementa ver-

hütet werden kann, durch deſſen

Anerkennung eben alle Ausleger zu ſo

harten Urtheilen über Ulpian ver-

leitet werden. — Meine Erklärung

der Stelle läßt ſich etwa ſo aus-

drücken: „Wenn ferner Jemand

zuerſt ein Landgut vindicirt, und

ſpäter (nachdem er abgewieſen wor-

den) abgehauene Bäume aus dieſem

Landgut, oder auch ein Haus …

|0524 : 506|

Beilage XVI.

excisas ex eo fundo petat: aut insulam petierit, deinde

aream, vel tigna, vel lapides petat: item si navem

petiero, postea singulas tabulas vindicem: si (f) ancillam

praegnantem petiero, aut (g) post litem contestatam con-

ceperit et pepererit, mox partum ejus petam: atrum

idem petere videor, an aliud, magnae quaestionis est (h).

Et quidem ita definiri potest, totiens eandem rem agi,

quotiens apud judicem posteriorem id quaeritur, quod

apud priorem quaesitum est (i). In his igitur fere

omnibus exceptio nocet (k).

oder ein Schiff … oder eine Scla-

vin … ſo iſt in allen dieſen

Fällen die Anwendbarkeit

der Exception ein Gegen-

ſtand großer Zweifel und

Streitfragen.“ (Behauptet

wird darüber von Ulpian bis dahin

noch gar Nichts).

(f) Daß dieſer Fall nicht ſo,

wie die übrigen, mit item einge-

leitet wird, kann der bloßen Ab-

wechslung wegen geſchehen ſeyn.

Es iſt aber auch möglich, daß

item wirklich da ſtand, und daß

es durch die ſcheinbare Ähnlichkeit

mit den vorhergehenden Sylben

icem ausgefallen iſt. In dieſer

Vorausſetzung können wir es durch

Gemination herſtellen.

(g) Die Handſchriften und Aus-

gaben leſen hier et, welches jedoch

gar keinen Sinn giebt, da die zur

Zeit der Klage (der Litisconteſtation)

bereits ſchwangere Sclavin unmög-

lich gleich nachher nochmals

ſchwanger werden kann. Die ſehr

gelinde Veränderung in aut giebt

folgenden einfachen Sinn: „wenn

eine vindicirte Sclavin entweder

ſchon zur Zeit der L. C. ſchwanger

iſt, oder gleich nachher, während

des Prozeſſes, ſchwanger wird.“

Vor conceperit iſt alſo hinzu zu

denken: ancilla petita; eine

Veränderung des Textes iſt deshalb

nicht nöthig.

(h) Dieſe Worte beziehen ſich

nun auf alle Fälle zugleich, die

nach dem gegenwärtigen Abdruck

im § 1 voranſtehen (Note e).

(i) In dieſen Worten wird ein

leitender Grundſatz aufgeſtellt, der

zur Löſung aller zuſammengeſtellten

Streitfragen dienen ſoll. Dieſer

Grundſatz aber beſteht darin, daß

beide Klagen auf der Entſcheidung

einer und derſelben Rechtsfrage

beruhen müſſen, wenn die Exception

anwendbar ſeyn ſoll (S. 417. 418).

(k) Die Anwendung des aufge-

ſtellten Grundſatzes ſoll nach Ul-

pian’s Ausſpruch dahin führen,

|0525 : 507|

L. 7 de exceptione rei judicatae.

§ 2. Sed in cementis et tignis diversum est(l): nam

is, qui insulam petit, si cementa, vel tigna, vel quid

aliud suum petat, in ea condicione est, ut videatur aliud

petere: etenim cujus insula est, non utique et cementa

sunt: denique ea, quae juncta sunt aedibus alienis, sepa-

rata dominus vindicare potest(m).

 

daß beinahe in allen vorher

angegebenen ſtreitigen Fällen die

Exception wirklich anwendbar ſey.

Sehen wir zu, ob ſich dieſer Aus-

ſpruch bewährt. Die Exception

iſt in der That anwendbar: 1. bei

dem Landgut und den abgehauenen

Bäumen, 2. bei dem Haus und

dem leeren Boden (area), 3. bei

der Sclavin und dem, vor oder

nach der Klage erzeugten, Kind

derſelben. Sie iſt nicht anwend-

bar bei dem Haus und dem Bau-

material, wie der § 2 ausdrücklich

ſagt.

(l) Der Fall der Baumateria-

lien wird alſo als der einzige ge-

nannt, worin es anders gehalten

werde, indem hier die Exception

nicht anwendbar ſey. Dieſes paßt

ſehr gut als Gegenſatz zu den un-

mittelbar vorhergehenden Worten:

in his fere omnibus. Das

Sed in cementis drückt daher ein

nur aus, und giebt die Erklärung

des fere. — Der Ausſpruch über

die cementa iſt hier übrigens ſo

entſchieden und unzweifelhaft, daß

dadurch die gewöhnliche Erklärung

der vorhergehenden Erwähnung der

cementa ganz unmöglich wird

(Note e). Der wahre Grund die-

ſes von den übrigen Fällen ver-

ſchiedenen Ausſpruchs wird in der

folgenden Note angegeben werden.

(m) Über die Schiffe erklärt

ſich Ulpian nicht; ich glaube aber,

daß es bei den Brettern eines

Schiffes eben ſo gehalten werden

muß, wie bei den Balken eines

Hauſes. Wenn der Richter die

Vindication eines Schiffes abweiſt,

ſo liegt darin keine ſtillſchweigende

Verneinung des Eigenthums an

einzelnen Brettern, weil er ein

ſolches Eigenthum in dieſer Lage

des Rechtsſtreits gar nicht zuer-

kennen kann; dazu müßte erſt eine

Abtrennung der Bretter durch die

a. ad exhibendum vorher bewirkt

worden ſeyn. L. 23 § 5 de R. V.,

L. 6 ad exhib. — Der Unterſchied

des Schiffes von dem Hauſe beſteht

nur darin, daß bei dem Hauſe

nicht einmal dieſe vorhergehende

Abtrennung verlangt werden kann.

L. 6 cit., L. 7 § 10 de adqu.

rer. dom. Ohne Abtrennung

iſt eine Vindication oder ein Zu-

ſprechen der einzelnen Beſtandtheile

in beiden Fällen gleich unmöglich.

|0526 : 508|

Beilage XVI.

§. 3. De fructibus eadem quaestio est, ut(n)de

partu; haec enim nondum erant in rebus humanis, sed ex

ea re sunt, quae petita est: magisque est, ut ista excep-

tio noceat(o). Plane si in restitutionem vel fructus, vel

 

(n) Die Handſchriften und Aus-

gaben leſen et, der Sinn fordert

ut. Der Sinn geht nämlich da-

hin, daß die oben für das Sclaven-

kind aufgeworfene Frage ganz eben

ſo auch für die Früchte aufgefaßt

und beantwortet werden müſſe (wo-

hin die gleich Anfangs genannten

arbores excisae gerechnet wer-

den können). Anſtatt ut könnte

auch geſetzt werden ac, welches

durch die gemeinſame Abbreviatur

der Handſchriften in et irrig über-

gegangen ſeyn könnte.

(o) Die Handſchriften und Aus-

gaben leſen: non noceat, allein

die Gloſſe ſagt: „Si habes sine

non, plana est … si vero

habeas non noceat, ut habent

fere omnes communiter“ rel.

Es iſt nicht richtig, Dieſes als

eine von Accurſius vorgeſchlagene

Emendation aufzufaſſen; vielmehr

liegt darin das Zeugniß, daß in

der That zwei handſchriftliche Leſe-

arten vorlägen, zwiſchen welchen zu

wählen ſey, deren eine jedoch die

überwiegende Zahl der Handſchrif-

ten für ſich habe; für beide Texte

werden dann Erklärungen verſucht.

— Die Leſeart noceat (ohne non)

halte ich aus folgendem Grunde für

die richtige. Nach dem Grund-

ſatz der negativen Function könnte

man vielleicht unterſcheiden wollen

zwiſchen der Erzeugung vor oder

nach der L. C.; Ulpian aber unter-

ſcheidet nicht. Nach dem Grund-

ſatz der poſitiven Function (der

eadem quaestio), den Ulpian in

der ganzen Stelle überall auf-

ſtellt und anwendend durchführt,

iſt die allgemeine Anwendbarkeit

der Exception unzweifelhaft, da die

Verneinung des Eigenthums an

der Mutter auch die Vindication

des von dieſer Mutter gebornen

Kindes unmöglich machen muß.

Was aber dieſe Leſeart und Er-

klärung durchaus nothwendig macht,

iſt der Ausdruck des § 1: In his

fere omnibus … nocet. Dieſer

Ausdruck wäre ganz widerſinnig,

wenn gerade in den ſo häufigen

Fällen der Sclavenkinder und der

Früchte das Gegentheil gelten

ſollte. — Die Worte: haec enim

nondum . . petita est müſſen

nun ſo erklärt werden: „denn

wenngleich das Kind in manchen

Fällen zur Zeit der Klage noch

nicht exiſtirte, alſo nicht mit in

judicium deducirt war, ſo iſt doch

überall durchgreifend der Grund-

ſatz der eadem quaestio, indem

hier das Eigenthum an dem ſpäter

vindicirten Kind nur aus dem

Eigenthum an der Mutter abge-

leitet werden ſoll (sed ex ea re

sunt, quae petita est), welches

|0527 : 509|

L. 7 de exceptione rei judicatae.

etiam partus venerunt, aestimatique sunt: consequens erit

dicere, exceptionem objiciendam(p).

§ 4. Et generaliter … exceptione summovebitur.

 

§ 5. Idem erit probandum … videntur in petitio-

nem deduci(q).

 

Die bisher verſuchte Erklärung der Stelle des Ulpian

in ihren einzelnen Theilen wird noch anſchaulicher werden

durch die folgende zuſammenhängende Darlegung des Ge-

dankenganges.

 

Der Verfaſſer fängt an mit der Betrachtung einer

Reihe von Fällen, in welchen zuerſt ein Ganzes einge-

klagt (und abgewieſen) wird, dann ein Theil dieſes

Ganzen. In allen dieſen Fällen, ſagt er, iſt die Exception

entſchieden anwendbar, und er erwähnt dabei nicht einmal

 

Letzte aber durch das frühere Ur-

theil verneint worden iſt.“ Bei

den Worten: haec enim muß alſo

hinzu gedacht werden ein etsi

oder quidem, und daraus, daß

Dieſes überſehen, und daher in

dieſen Worten der poſitive Grund

der Entſcheidung geſehen wurde

(anſtatt eines bloßen Zweifelsgrun-

des), iſt eben die falſche Leſeart:

non noceat entſtanden.

(p) Dieſer letzte Satz (Plane

si rel.) enthält nach der gewöhn-

lichen Erklärung (mit non noceat)

eine entgegengeſetzte Entſchei-

dung; nach meiner Erklärung

enthält er eine gleiche Entſcheidung,

aber aus einem anderen, von den

übrigen Meinungsverſchiedenheiten

ganz unabhängigen, alſo noch

durchgreifenderen Grunde. Wenn

nämlich in dem früheren Rechts-

ſtreit der Beklagte gewiſſe Früchte

bereits durch Geldentſchädigung ver-

gütet, alſo erkauft hat, ſo würde

eine neue Vindication derſelben

Früchte den ganz unzweifelhaften

Grundſätzen der Concurrenz völlig

widerſprechen (§ 232).

(q) Die zwei letzten Paragraphen,

die mit den bisher abgehandelten

Schwierigkeiten der ganzen Stelle

keine Berührung haben, ſind ſchon

oben mitgetheilt und erklärt worden

(S. 432. 433).

|0528 : 510|

Beilage XVI.

eines von anderen Schriftſtellern erhobenen Zweifels oder

Streites.

Darauf läßt er folgen (§ 1) eine Reihe verſchieden-

artiger Fälle, die ſich nicht ſo, wie die vorhergehenden, auf

ein gemeinſames Verhältniß (das des Ganzen zum Theil)

zurück führen laſſen, wenigſtens nicht ſo unmittelbar und

ſicher. Für dieſe Fälle giebt er zunächſt keine eigene Ent-

ſcheidung, wohl aber die Bemerkung, daß ſie häufig Ge-

genſtand von Streit und Zweifel ſeyen. — Er ſtellt nun

eine Regel auf, woraus überall die Entſcheidung herge-

nommen werden müſſe, und dieſe Regel iſt keine andere,

als die, welche das Weſen der poſitiven Function der Ein-

rede ausdrückt: das Daſeyn einer eadem quaestio in

beiden Klagen, als Bedingung der Anwendbarkeit der Ex-

ception. — Er fügt dann hinzu, daß in Anwendung dieſer

Regel faſt in allen vorher angegebenen zweifelhaften

Fällen die Exception in der That zugelaſſen werden müſſe.

 

Er geht dann über (§ 2) zur beſonderen Betrachtung

eines unter jenen zweifelhaften Fällen, in welchem die

Exception nicht anwendbar ſeyn ſoll.

 

Darauf folgt (§ 3) die beſondere Betrachtung eines

anderen unter jenen Fällen, dem noch eine ausgedehntere

Anwendung zugeſchrieben wird. In dieſem weit um-

faſſenden Fall ſoll wieder die Exception wirklich zur An-

wendung kommen, und es wird ein ſcheinbarer Zweifel

beſeitigt, der für dieſen Fall beſonders erhoben werden

könnte.

 

|0529 : 511|

L. 7 de exceptione rei judicatae.

Endlich wird die ſchon oben aufgeſtellte Regel über die

Anwendung der Exception in einer vollſtändigeren Formel

wiederholt (§ 4), und es wird davon Anwendung gemacht

auf das Verhältniß der Erbrechtsklage zur Eigenthums-

klage (§ 4), ſo wie auf das Verhältniß der Erbrechtsklage

zu einer aus derſelben Erbſchaft abgeleiteten Schuldklage

(§ 5).

 

Es iſt ſchon oben angeführt worden, daß ein neuerer

Ausleger dem Ulpian den Vorwurf macht, er ſchwanke in

dieſer Stelle beſtändig zwiſchen dem Standpunkt der poſi-

tiven und negativen Function der exceptio rei judicatae,

und eben aus dieſem Schwanken könnte man verſucht ſeyn,

die Dunkelheiten der hier vorliegenden Stelle, ſo wie die

(wirklichen oder vermeintlichen) Widerſprüche derſelben zu

erklären. Gegen dieſen Vorwurf habe ich mich ſchon

wiederholt erklärt. Es wird aber dieſe Meinungsverſchie-

denheit dazu dienen können, die Art, wie wir die beiden

Geſtalten oder Functionen jener Exception, in ihrer Ver-

wandtſchaft und Verſchiedenheit, zu denken haben, noch

anſchaulicher zu machen, als es ſchon oben (§ 281. 282)

verſucht worden iſt.

 

Wir ſind jetzt gewohnt, jene beiden Functionen der

Exception als auf verſchiedenen, theilweiſe entgegengeſetzten,

Principien beruhend zu denken, und wir thun in ſofern

wohl mit dieſer Auffaſſung des Gegenſtandes, als durch

dieſe ſcharfe Ausbildung des Gegenſatzes eine vollſtändigere

 

|0530 : 512|

Beilage XVI.

Einſicht gewonnen worden iſt. Nur würden wir zu weit

gehen, wenn wir annehmen wollten, daß derſelbe Gedanke

auch ſchon bei der Entſtehung und Ausbildung der poſitiven

Function in dieſer Art zum Bewußtſeyn gekommen wäre.

Die ältere Geſtalt der Exception beruhte auf dem

Grundſatz, daß eine einmal angeſtellte Klage nicht von

Neuem vorgebracht werden ſolle; hier knüpfte ſich die An-

wendung der Exception an ein äußeres, formelles Merkmal.

Auch war dieſer Grundſatz für die meiſten Fälle ganz

ausreichend. In der Praxis aber zeigten ſich allmälig ein-

zelne Fälle, worin jener Grundſatz nicht ausreichte; manche

ſogar, worin die conſequente Durchführung derſelben zu

unbilliger Härte ausſchlug. Die Wahrnehmung dieſes

praktiſchen Bedürfniſſes führte zum Nachdenken über eine

mögliche Abhülfe, und dieſe wurde darin gefunden, daß

man an die Stelle des urſprünglichen formellen Grund-

ſatzes einen mehr materiellen ſetzte, hergenommen aus der

inneren Natur des Rechtsverhältniſſes und des Rechts-

ſtreites. Anſtatt daß man ſich früher damit begnügte, die

Wiederholung einer Klage zu verhindern, ging jetzt das

Beſtreben dahin, den Inhalt eines geſprochenen

Urtheils gegen jede ſpätere Gefährdung ſicher zu ſtellen,

und dieſer neuere, erſchöpfendere Grundſatz (die eadem

quaestio) iſt in keiner Stelle ſo klar ausgeſprochen, ſo

wiederholt eingeſchärft, und durch mannichfaltige Anwen-

dungen anſchaulich gemacht, als in der hier vorliegenden

Stelle des Ulpian.

 

|0531 : 513|

L. 7 de exceptione rei judicatae.

Dieſe Ausbildung des Rechtsinſtituts erfolgte aber nicht

in der Art, daß man den älteren Grundſatz glaubte ver-

werfen, vernichten, durch einen neuen verdrängen zu

müſſen; es war weniger eine Verneinung, als eine Ver-

tiefung deſſelben. In der großen Mehrzahl der Fälle trafen

ohnehin beide Grundſätze in ihren Folgen völlig zuſammen.

So gerade in der bedeutenden Zahl von Fällen, die in

unſrer Stelle Ulpian einer näheren Betrachtung unter-

wirft.

 

Wenn daher Ulpian in dieſer Stelle den Grundſatz der

eadem quaestio wiederholt ausſpricht, und durch mannich-

faltige Anwendungen erläutert, ſo konnte er daneben unbe-

denklich und arglos Ausdrücke gebrauchen, die mit dem

Grundſatz der negativen Function (der Klagenconſumtion)

zuſammen hangen (r). Es liegt in dieſer Ausdrucksweiſe

kein Grund, ihm das Schwanken zwiſchen verſchiedenen

Grundſätzen vorzuwerfen; ja ſelbſt eine Unvorſichtigkeit des

Ausdrucks möchte in dieſem Verfahren kaum behauptet

werden können.

 

 

(r) Dahin gehören folgende Aus-

drücke: eadem enim res accipitur

(princ.). — Utrum idem petere

videor, an aliud (§ 1). — aliud

petere (§ 2). — videntur in pe-

titionem deduci (§ 5). — Vgl.

auch oben S. 433. 434.

VI. 33

|0532 : [514]|

Beilage XVII.

Causa adjecta s. expressa.

(Zu § 300.)

I.

Folgende Sätze ſind im Römiſchen Recht deutlich ausge-

ſprochen und auch von den neueren Rechtslehrern allgemein

anerkannt.

 

Wenn eine perſönliche Klage auf eine Sache abgewieſen

wird, ſo kann eine neue perſönliche Klage auf dieſelbe

Sache angeſtellt werden, vorausgeſetzt, daß die derſelben

zum Grunde liegende Obligation einen anderen Entſtehungs-

grund hat, als die der früheren Klage zum Grunde liegende

Obligation. Denn jede Obligation wird durch ihren Ent-

ſtehungsgrund individualiſirt, nicht durch ihren Gegenſtand.

 

Anders verhält es ſich bei den Klagen in rem. Die

abgewieſene Eigenthumsklage auf ein Landgut kann daher

nicht von Neuem angeſtellt werden, wenngleich die erſte

Klage auf Tradition, die zweite auf Erſitzung als Ent-

ſtehungsgrund des Eigenthums gegründet werden ſollte.

 

Jeder dieſer Sätze iſt als Regel unbeſtritten.

 

|0533 : 515|

Beilage XVII. Causa adjecta s. expressa.

II.

Für die zweite dieſer Regeln werden aber zwei Aus-

nahmen behauptet.

 

Die erſte Ausnahme bezieht ſich auf den Fall, wenn

der Entſtehungsgrund des Eigenthums, den der Kläger

der ſpäteren Klage zum Grunde legt, neuer iſt, als der

frühere Rechtsſtreit (causa superveniens), weil dann das

frühere Urtheil über dieſen Entſtehungsgrund nicht ent-

ſchieden haben kann.

 

Dieſe Ausnahme iſt gleichfalls unbeſtritten.

 

Die zweite Ausnahme betrifft den Fall, wenn die

frühere Klage nicht auf das Eigenthum dieſer Sache über-

haupt gerichtet, ſondern auf einen beſtimmten Entſtehungs-

grund dieſes Eigenthums (z. B. Tradition) ausdrücklich

beſchränkt war. Dann ſoll es, in Folge dieſer Ausnahme,

erlaubt ſeyn, von Neuem eine Eigenthumsklage auf dieſelbe

Sache anzuſtellen, wenn darin das Eigenthum aus einem

anderen Entſtehungsgrund, z. B. aus der Erſitzung, abge-

leitet wird (a).

 

Dieſe zweite Ausnahme, die in neuerer Zeit lebhaft

angefochten worden iſt, ſoll hier einer neuen Unterſuchung

unterworfen werden.

 

Der Unterſuchung ſelbſt iſt eine nähere Feſtſtellung des

 

(a) Auf folgende Stellen wird

dieſe Ausnahme gegründet: L. 11

§ 2 de exc. rei jud. (44. 2) von

Ulpian, und L. 14 § 2 eod. von

Paulus.

33*

|0534 : 516|

Beilage XVII.

Sinnes und der Conſequenzen beider entgegenſtehenden

Meinungen voran zu ſchicken.

III.

Die Vertheidiger der Ausnahme nehmen an, daß die

erſte und die zweite Klage auf beſtimmte, und zwar ver-

ſchiedene, Entſtehungsgründe des eingeklagten Rechts be-

ſchränkt geweſen ſeyn müſſe. Dieſe Beſchränkung muß

nach dem älteren Römiſchen Prozeß ohne Zweifel in die

formula gelegt worden ſeyn. — Da wir keine formula

haben, ſo muß im heutigen Prozeß die Beſchränkung in

der Klage ausgedrückt ſeyn. Nur kann dazu die bloße Er-

zählung, wie das Eigenthum entſtanden ſey, nicht genügen;

vielmehr muß die beſtimmte Abſicht ausgedrückt werden, die

erwähnte Ausnahme herbeizuführen, wobei es jedoch gleich-

gültig iſt, in welchen Ausdrücken, und an welchem Orte

der Klage Dieſes geſchehen möge.

 

IV.

Wählt der Kläger den Weg dieſer Ausnahme, ſo ſind

damit Vortheile und Nachtheile für ihn verknüpft. Der

Vortheil beſteht darin, daß er ſich für den Fall der Ab-

weiſung einer ſo beſchränkten Klage eine neue Klage vor-

behält. Der Nachtheil iſt darin zu ſuchen, daß er nun

zur Begründung der angeſtellten Klage keinen anderen, als

den beſonders angegebenen Entſtehungsgrund, benutzen darf,

anſtatt daß er ohne dieſe Beſchränkung nicht nur jeden

 

|0535 : 517|

Causa adjecta s. expressa.

anderen Grund, ſondern auch mehrere Gründe neben ein-

ander, geltend machen könnte.

V.

Die Gegner der Ausnahme wollen durch die Verwerfung

derſelben die Wirkſamkeit der exceptio rei judicatae er-

weitern, alſo die Möglichkeit einer Wiederholung abge-

wieſener Klagen beſchränken. Weil aber Dieſes in manchen

einzelnen Fällen allzu hart ſeyn könnte, ſo fügen ſie eine

Milderung hinzu, die in der Ertheilung einer Reſtitution

beſtehen ſoll. Durch dieſe Reſtitution ſoll der abgewieſene

Kläger die Eigenthumsklage aus einem neuen Entſtehungs-

grund anſtellen können, auch wenn dazu nicht durch den

beſchränkenden Vorbehalt in der erſten Klage der Grund

gelegt worden iſt.

 

Beſchränkt man dieſe Reſtitution auf die allgemeinen

Reſtitutionsgründe, z. B. Minderjährigkeit oder Betrug,

ſo iſt die Aushülfe ſehr unbedeutend. Ueberläßt man ſie

dagegen dem freien Ermeſſen des Richters, ſo daß eben

jene Härte als Reſtitutionsgrund gelten ſoll, dann wird

dadurch eine Willkühr und Rechtsunſicherheit herbeigeführt,

wodurch die ſichere Wirkſamkeit der Rechtskraft weit mehr

verliert, als für ſie durch die Verwerfung der Ausnahme

gewonnen werden ſoll.

 

VI.

Ich gehe nun zur Darſtellung des Streites ſelbſt über.

Bis vor etwa zwanzig Jahren wurde die Richtigkeit der

 

|0536 : 518|

Beilage XVII.

Ausnahme ſo allgemein angenommen, daß kein Zweifel

darüber wahrzunehmen war (b). Puchta zuerſt verſuchte

es, dieſelbe mit Scharfſinn und Gelehrſamkeit zu wider-

legen, und ſeit dieſer Zeit ſind die Stimmen ziemlich ge-

theilt geblieben.

Als Gegner der Ausnahme ſind folgende Schriftſteller

zu bemerken:

 

Puchta Rhein. Muſeum B. 2 (1828) S. 251—270,

B. 3 S. 467—487.

Curſus der Inſtitutionen B. 2 § 175.

Zimmern Rechtsgeſchichte B. 3 S. 152. 422.

Buchka B. 1 S. 145, ſo viel das Römiſche Recht

betrifft.

Als Vertheidiger der Ausnahme, alſo der früherhin

allgemeinen Meinung, ſind ſeitdem folgende Schriftſteller

aufgetreten:

 

Heffter Rhein. Muſeum B. 3 S. 222—238.

Richelmann Einfluß des Irrthums auf Verträge

S. 116—118.

Brackenhoeft Identität der Rechtsverhältniſſe S. 116

bis 118.

Buchka B. 2 S. 192 nach dem heutigen Recht.

Wächter Württemb. Privatrecht B. 2 S. 445.

Der Reihe dieſer Vertheidiger ſchließe auch ich mit

voller Ueberzeugung mich an.

 

Ganz vereinzelt ſteht hierin die Meinung von Kierulff

 

(b) Noch bei Keller (1827) S. 290. 291 findet ſich keine Spur

eines Zweifels.

|0537 : 519|

Causa adjecta s. expressa.

S. 257, welcher behauptet, nach der modernen aequitas

müſſe jede Klage, ſie möge eine Beſchränkung auf einen

beſtimmten Entſtehungsgrund enthalten, oder nicht, den

Vortheil genießen, den die Römer mit der causa expressa

verbanden. Durch eine ſolche aequitas würde aller Vor-

theil zerſtört ſeyn, den in dieſer Lehre die Praxis aus den

Grundſätzen einer geſunden Theorie zu ziehen vermag.

VII.

In dem Streit ſelbſt ſind bisher Gründe von dreierlei

Art geltend gemacht worden: Erſtlich allgemeine Be-

trachtungen über das wahre Bedürfniß des Prozeßrechts;

zweitens die ſonſt bekannten allgemeinen Formen des

Römiſchen Prozeſſes; drittens, was das Wichtigſte iſt, der

Inhalt der zwei Stellen der Digeſten, aus welchen allein

die Ausnahme hergeleitet wird. Ich will mich in der

eigenen Unterſuchung an dieſen von Anderen gewählten

Gang anſchließen, und jede dieſer drei Klaſſen von Gründen

beſonders erwägen.

 

VIII.

Was zuerſt das allgemeine Bedürfniß des Prozeßrechts

betrifft, ſo behaupten die Gegner, die Ausnahme ſei un-

zweckmäßig, und ſie enthalte eine große Härte gegen den

Beklagten, den der Kläger auf dieſe Weiſe mit immer er-

neuerten Klagen beunruhigen könne. Für einzelne Fälle

 

|0538 : 520|

Beilage XVII.

eines dringenden Bedürfniſſes ſey es beſſer, durch Reſti-

tution zu helfen (c).

Keine dieſer Behauptungen kann zugegeben werden (d).

Eine Gefahr für die Ruhe des Beklagten iſt gewiß nicht

vorhanden, da der Kläger die Luſt an oft wiederholten

vergeblichen Klagen durch die Prozeßkoſten theuer be-

zahlen müßte.

 

Daß für den Kläger nicht ſelten ein wichtiges und

billiges Bedürfniß zu einem ſolchen Verfahren eintreten

kann, wird aus der Betrachtung folgender Fälle unver-

kennbar hervorgehen. Bei einer Eigenthumsklage kann der

Kläger von dem Erwerb durch Tradition überzeugt ſeyn,

für den Fall aber, daß der Richter denſelben nicht an-

nehmen ſollte, den Erwerb durch Erſitzung nachzuweiſen

vorbehalten wollen. Die gleichzeitige Verhandlung beider

Erwerbungsgründe kann dadurch unzweckmäßig werden,

daß der Beweis der Erſitzung ſehr umſtändlich und koſt-

ſpielig ſeyn kann. — Wenn ein eingeſetzter Erbe, der zu-

gleich der nächſte Verwandte des Verſtorbenen iſt, die

Erbrechtsklage anſtellen will, die Gültigkeit des Teſtaments

aber zweifelhaft iſt, ſo kann der Kläger zwiſchen zwei

verſchiedenen, einander widerſprechenden, Erbrechtsklagen

wählen (e). Hier ſcheint es natürlicher und zweckmäßiger,

zunächſt eine dieſer Klagen allein durchzuführen mit Vor-

 

(c) Puchta Muſ. B. 2 S. 261,

B. 3 S. 483—485.

(d) Vgl. Heffter Muſ. B. 3

S. 230. 231.

(e) Ein Fall ſolcher Art iſt

vorausgeſetzt in L. 30 pr. de exc.

rei jud. (44. 2), ſ. o. S. 459.

|0539 : 521|

Causa adjecta s. expressa.

behalt der anderen, als beide zu verbinden, indem bei

dieſer Verbindung die Vertheidigung einer jeden dieſer

Klagen durch die widerſprechende Vertheidigung der anderen

nothwendig geſchwächt werden muß.

Die Gegner wollen für ſolche Fälle durch ſpätere Er-

theilung einer Reſtitution helfen. Allein eine regelmäßige

Vorſorge iſt für Fälle der oben beſchriebenen Art offenbar

räthlicher und zweckmäßiger, als eine außerordentliche und

willkürliche, deren Gefahren ſchon oben (Num. V.) be-

merklich gemacht worden ſind, und die, je nach den zu-

fälligen Anſichten des Richters, bald unbillig gewährt, bald

unbillig verſagt werden kann.

 

IX.

Ich wende mich nun zur Betrachtung der Gründe, die

aus den Formen des alten Römiſchen Prozeſſes herge-

nommen ſind, an welche Formen allerdings Ulpian und

Paulus (Note a) gedacht haben müſſen. Es fragt ſich

alſo, wenn ein ſolcher Vorbehalt, wie ihn die hier beſtrit-

tene Ausnahme vorausſetzt, gemacht werden ſollte, wie

derſelbe in jene Formen eingefügt werden konnte.

 

Bekanntlich gab es (außer der legis actio) für die

Klagen in rem zwei verſchiedene Formen: durch Sponſion,

und durch petitoria formula (f).

 

Daß mit der Sponſionsklage jener Vorbehalt vereinbar

war, geben die Gegner ſelbſt zu. Es wird nur bezweifelt,

 

(f) Gajus IV. § 91—95.

|0540 : 522|

Beilage XVII.

ob der Beklagte auf eine ſo gefaßte Sponſionsformel ſich

habe einlaſſen müſſen, und es wird hinzugefügt, daß für

das Juſtinianiſche Recht in jedem Fall dieſe Form als

unanwendbar gedacht werden müſſe (g). Dieſes Letzte iſt

denn auch unbedenklich zuzugeben.

X.

Die Frage beſchränkt ſich daher auf den Fall der peti-

toria formula, d. h. derjenigen Geſtalt der Eigenthums-

klage, welche allein in den Digeſten vorkommt, und darin

regelmäßig den Namen rei vindicatio führt. Wie war es

möglich, hier jenen Vorbehalt einzufügen?

 

Er konnte vielleicht ſchon in die Intentio geſetzt

werden (h). Die Gründe, die man gegen dieſe Möglich-

keit angeführt hat (i), kann ich nicht als durchgreifend

anerkennen. Durch eine ſolche Faſſung, wird geſagt, habe

die Klage aufgehört, eine Eigenthumsklage zu ſeyn, und

ſey gewiſſermaßen eine in factum actio geworden. Allein

wenn etwa die Formel: Si paret, hominem Stichum Auli

Agerii esse, den Zuſatz bekommen hätte: ex causa manci-

pationis, ſo war Dieſes noch immer eine reine juris civilis

intentio (k). — Ferner wird geſagt, unter dieſer Voraus-

 

(g) Puchta Muſ. B. 2 S. 264.

265. 268. Vgl. B. 3 S. 467.

(h) Heffter S. 234 giebt dafür

eine mögliche Faſſung an.

(i) Puchta Muſ. II. 263—267,

III. 474. 477.

(k) Hierauf allein kommt es an,

damit eine in jus concepta in-

tentio angenommen werden könne,

im Gegenſatz einer in factum

concepta. Gajus IV. § 45. 46.

|0541 : 523|

Causa adjecta s. expressa.

ſetzung hätte es mehrere Arten der Faſſung einer petitoria

formula geben müſſen, wovon wir doch keine Spur hätten.

Dabei iſt nur zu bedenken, daß alle überhaupt vorhandenen

Spuren der petitoria formula ohnehin höchſt dürftig und

zufällig ſind, wodurch der eben angegebene Grund der

Gegner völlig entkräftet wird.

Alſo für möglich halte ich es allerdings, daß jener

Vorbehalt in die Intentio eingefügt wurde, allein nicht für

wahrſcheinlich, und zwar deswegen nicht, weil die folgende

Art der Einfügung viel einfacher, natürlicher, und darum

wahrſcheinlicher iſt.

 

XI.

Eine andere Art möglicher Einfügung jenes Vorbe-

halts iſt nämlich die durch eine praescriptio, und dieſe

halte ich durch ihre Einfachheit und Natürlichkeit, ſo wie

durch ſo manche ganz nahe liegende Analogie, für ganz

unzweifelhaft.

 

Die Gründe, die dagegen aufgeſtellt worden ſind (l),

erſcheinen mir als völlig unerheblich.

 

Man ſagt, Präſcriptionen ſeyen nur im Fall eines

dringenden, unabweislichen Bedürfniſſes gegeben worden,

welches hier fehlte. — Wir wiſſen jedoch kein Wort davon,

wie leicht oder ſchwer die Römer es nahmen bei der Ge-

ſtattung von Präſcriptionen. Daß es aber auch in unſrem

 

(l) Puchta Muſ. II. 260, III. 471.

|0542 : 524|

Beilage XVII.

Fall an einem ernſten Bedürfniß nicht fehlte, iſt ſchon oben

gezeigt worden (Num. VIII.). In einem von Gajus ange-

führten Fall einer wirklich ertheilten praescriptio (m) iſt

das dringende Bedürfniß gewiß weit weniger einleuchtend,

als in unſrem Fall.

Ferner, ſagt man, ſey es ganz ungewiß, ob überhaupt

bei Klagen in rem Präſcriptionen gegeben worden ſeyen. —

Allerdings ſind die Beiſpiele, die Gajus angiebt, nur von

perſönlichen Klagen entlehnt; da er jedoch überhaupt nur

zwei Beiſpiele angiebt, ſo liegt in dieſer Induction gewiß

ein ſehr ſchwacher Grund gegen die Anwendung der Prä-

ſcriptionen auch auf Klagen in rem.

 

XII.

Die Anwendung einer Präſcription auf einen Fall der

hier in Frage ſtehenden Ausnahme muß in folgender Weiſe

gedacht werden.

 

Sollte eine Eigenthumsklage beſchränkt werden auf den

Erwerb des Eigenthums durch Mancipation, alſo mit dem

Vorbehalt einer künftigen neuen Klage aus einer Uſucapion,

ſo wurde die Präſcription hinzugefügt:

ea res agatur de fundo mancipato(n).

 

(m) Gajus IV. § 131 „ea res

agatur de fundo mancipando.“

(n) Ganz ähnlich der von Ga-

jus IV. § 131 angeführten Prä-

ſcription: ea res agatur de fundo

mancipando. Dieſe Präſcrip-

tion ſollte den Zweck einer actio

emti auf die Mancipation (mit

Ausſchluß der noch vorbehaltenen

Tradition) beſchränken. In unſrem

Fall ſoll die Begründung der

Vindication auf die Mancipation

|0543 : 525|

Causa adjecta s. expressa.

Wurde nun dieſe Klage rechtskräftig abgewieſen, und

ſollte ſpäterhin eine neue Eigenthumsklage auf Uſucapion

gegründet werden, ſo war auch dabei wieder eine Be-

ſchränkung nöthig, ſonſt wären alle möglichen Erwerbungs-

gründe geltend gemacht worden, alſo unter andern auch der

rechtskräftig abgewieſene Grund der Mancipation, wodurch

der Beklagte einen Anſpruch auf die Einrede der Rechts-

kraft erhalten hätte. Dieſe zweite Beſchränkung konnte nun

in ganz gleichartiger Weiſe, wie die erſte, ausgedrückt

werden, etwa:

ea res agatur de fundo usucapto.

 

Es war aber auch eine allgemeinere Faſſung dieſer

zweiten Präſcription möglich und ausreichend, die dann

auch auf Fälle anderer Art angewendet werden konnte (o),

etwa in dieſen Worten:

ea res agatur de eadem re alio modo.

 

Dieſe letzte Form einer Präſcription kam nun in der

That vor nach folgenden unzweideutigen Zeugniſſen, und

in dieſen Zeugniſſen liegt daher zugleich eine wichtige ge-

ſchichtliche Beſtätigung der hier aufgeſtellten Behauptung,

 

beſchränkt werden (mit Ausſchluß

der noch vorbehaltenen Begründung

durch Uſucapion). Beide Prä-

ſcriptionen haben den Zweck, irgend

Etwas für künftige Zeit dem Klä-

ger vorzubehalten. — Bei der Erb-

rechtsklage konnte die Präſcription

etwa ſo lauten: ea res agatur

de hereditate ex testamento

(oder de B. P. secundum tabulas)

— oder: ea res agatur de legi-

tima hereditate (oder de B. P.

unde legitimi).

(o) So z. B. auf den, in der

Note n. angeführten, Fall bei

Gajus IV. § 131, wenn ſpäterhin

die actio emti auf die vacua

possessio tradenda angeſtellt

werden ſollte.

|0544 : 526|

Beilage XVII.

daß unter den Präſcriptionen eine Formel üblich war, die

auf den Fall unſrer Ausnahme unmittelbar angewendet

werden konnte.

Cicero ad fam. XIII. 27 (an Servius aus dem J. 707):

„Licet eodem exemplo saepius tibi hujus generis

litteras mittam … tamen non parcam operae, et,

ut vos soletis in formulis, sic ego in epistolis: de

eadem re alio modo.“

Cicero de finibus V. 29 (aus dem J. 708):

„Quae cum Zeno didicisset a nostris, ut in

actionibus praescribi solet, de eadem re egit alio

modo“(p).

(p) Neuerlich iſt dieſe, von Cicero

zweimal angeführte, Präſcription

anders gedeutet worden von Liebe

Stipulation S. 173. Es ſoll näm-

lich darunter verſtanden ſeyn die

von Seiten des Beklagten vor-

gebrachte praescriptio (eigentlich

exceptio) rei judicatae, und der

Zuſatz: alio modo, ſoll darauf

gehen, daß nach L. 7 § 4 de exc.

r. j. dieſe Exception gegen eine

neue Klage vel alio genere ju-

dicii gebraucht werden konnte.

Ich muß dieſe Erklärung verwer-

fen als gezwungen und unhaltbar.

Die wenigen Stellen, in welchen

die exc. r. j. den Namen prae-

scriptio führt (L. 10. 11 de exc.,

L. 29 pr. de exc. r. j., L. 63

de re jud., L. 42 de lib. causa),

ſind aus der Nachläſſigkeit des

Ausdrucks zu erklären, nach welcher

ja auch ſonſt die Namen prae-

scriptio und exceptio willkühr-

lich verwechſelt zu werden pflegen.

Wäre hier wirklich die exc. rei

jud. gemeint, ſo hätte wenigſtens

die Formel ganz anders lauten

müſſen, nämlich nach Gajus IV.

§ 133 etwa ſo: ea res agatur,

si ea res judicata nondum sit.

Der poſitive Ausdruck: de eadem

re, konnte nur zu einer eigentlichen

praescriptio paſſen, die pro

actore aufgeſtellt wurde (Gajus

IV. 130. 133). — Mancher anderen

Gründe gegen dieſe Erklärung

nicht zu gedenken.

|0545 : 527|

Causa adjecta s. expressa.

XIII.

Nachdem die allgemeinen Gründe für und wider die

Richtigkeit der Ausnahme geprüft worden ſind, ſollen nun-

mehr die zwei Stellen der Digeſten erklärt werden, woraus

die Ausnahme herzuleiten iſt.

 

L. 11 de exc. rei judicatae (44. 2) (q).

§ 1. Denique et Celsus scribit, si hominem petiero,

quem ob eam rem meum esse existimavi, quod mihi

traditus ab alio est, cum is ex hereditaria causa

meus esset, rursus petenti mihi obstaturam excep-

tionem.

§ 2. Si quis autem petat, fundum suum esse, eo

quod Titius eum sibi tradiderit: si postea alia ex

causa petat, causa adjecta non debet summoveri

exceptione.

Beide Paragraphen drücken offenbar zwei entgegengeſetzte

Fälle aus, die daher auch verſchieden behandelt werden

ſollen. Die Stellung des autem aber im § 2 zeigt, daß

der Gegenſatz ſchon in den erſten Worten dieſes §. ange-

deutet ſeyn ſoll. Folgende Paraphraſe wird den Inhalt

beider Sätze zur Anſchauung bringen.

 

Wenn ich einen Sclaven vindicire, in der Meinung,

daß ich ihn durch Tradition erworben habe, und wenn

ich mit dieſer Klage abgewieſen werde, dann aber die

 

 

(q) Über den inneren Zuſammenhang dieſer ganzen Stelle vgl.

Heffter S. 227. 228.

|0546 : 528|

Beilage XVII.

Entdeckung mache, daß ich in der That Eigenthum

hatte, nur nicht in Folge einer Tradition, ſondern

in Folge einer Beerbung, ſo wird mir die Einrede

der Rechtskraft entgegen ſtehen, wenn ich deshalb von

Neuem eine Vindication anſtelle. Wenn ich dagegen

die erſte Vindication angeſtellt habe, nicht blos in der

irrigen Vorausſetzung einer Tradition, ſondern indem

ich dieſe Erwerbung als Grund der Vindication in

der Klage ausdrücklich angebe (Si .. petat, fundum

suum esse, eo quod Titius .. tradiderit), ſo bin

ich nach abgewieſener Klage durch jene Einrede nicht

gehindert, eine neue Vindication aus einem anderen

Erwerbsgrund anzuſtellen, weil ich die causa nicht

blos vorausgeſetzt, ſondern in der Klage ausgedrückt

hatte (causa adjecta für: quia causa adjecta erat).

Puchta erklärt die Worte: causa adjecta, von einer nova

oder superveniens causa, alſo von der oben aufgeführten

erſten Ausnahme (Num. II), ſo daß dann die zweite

Ausnahme durch dieſe Stelle keine Begründung erhalten

würde (r).

 

Dieſer Erklärung ſtehen folgende Gründe entgegen.

Nach mehreren anderen Stellen bezeichnet der Ausdruck

causa adjecta vielmehr einen vom Kläger in der Klagformel

gemachten Zuſatz (s), alſo eine reine Thätigkeit des Klägers,

 

(r) Puchta Muſ. II. S. 258.

(s) L. 1 § 2 de rei vind. (6. 1),

Vaticana fragm. § 52. Vgl.

Heffter S. 223. 227. — Als

Unterſtützung jener Erklärung kann

nicht angeführt werden L. 3 de

|0547 : 529|

Causa adjecta s. expressa.

anſtatt daß der ſpätere Erwerb ohne Wiſſen und Zuthun

des Klägers eingetreten ſeyn kann, alſo durch jenen Aus-

druck ſehr unpaſſend, in jedem Fall ſehr undeutlich, be-

zeichnet ſeyn würde.

Ferner würden alsdann die §§ 4 und 5 eine ganz müßige,

zweckloſe Wiederholung des § 2 enthalten, anſtatt daß nach

der gewöhnlichen, auch von mir angenommenen, Erklärung die

eine Ausnahme in dem § 2, die andere in dem § 4 ent-

halten iſt, und der § 5 nur nochmals an die mutata opinio

erinnert, um den Gegenſatz derſelben gegen das adquisitum

postea dominium recht ſcharf hervor zu heben.

 

XIV.

Die zweite, von Paulus herrührende, Stelle lautet ſo:

 

L. 14 § 2 de exc. rei jud. (44. 2):

Actiones in personam ab actionibus in rem hoc

differunt, quod, cum eadem res ab eodem mihi debea-

tur, singulas obligationes singulae causae sequuntur,

nec ulla earum alterius petitione vitiatur: at cum in

rem ago, non expressa causa, ex qua rem meam

esse dico, omnes causae una petitione apprehenduntur.

Neque enim amplius, quam semel, res mea esse potest:

saepius autem deberi potest.

Dieſe Stelle iſt ſo zu erklären. Die Abweiſung einer

 

usurp. (41. 3) „Usucapio est

adjectio dominii per continua-

tionem possessionis“; denn der

fortgeſetzte Beſitz beſteht ja eben

in einer ſteten Thätigkeit des Be-

ſitzers.

VI. 34

|0548 : 530|

Beilage XVII.

perſönlichen Klage hindert den Kläger nicht, auf denſelben

Gegenſtand von Neuem zu klagen, wenn nur die neue

Klage auf einer Obligation aus einem anderen Entſtehungs-

grunde (causa) beruht; denn jeder beſondere Entſtehungs-

grund bildet eine beſondere, für ſich beſtehende Obligation.

Anders verhält es ſich bei den Klagen in rem, die ſtets

das Recht an einem beſtimmten Gegenſtand an ſich ſelbſt,

und mit allen dabei denkbaren Entſtehungsgründen, um-

faſſen, ſo daß die abgewieſene Klage in rem nicht wieder-

holt werden darf, auch wenn der Kläger einen anderen als

den früher vorgebrachten Entſtehungsgrund geltend machen

wollte. Dieſe letzte Regel leidet jedoch eine Ausnahme in

dem Fall, wenn der Kläger bei der erſten Klage einen be-

ſtimmten, einzelnen Entſtehungsgrund des Rechts, aus

welchem allein er jetzt klagen wolle, ausgedrückt hat; in

dieſem Fall hindert ihn die Abweiſung nicht, ſpäter aus

einem anderen Entſtehungsgrund zu klagen.

Ich glaube nicht, daß die Einfachheit und Natürlichkeit

dieſer Erklärung bezweifelt werden kann. Eine beſondere

Unterſtützung derſelben finde ich aber darin, daß ſie ſo

ganz mit dem Inhalt der vorhergehenden Stelle (Num. XIII.)

übereinſtimmt, während doch in beiden Stellen Ausdruck

und Wendung völlig verſchieden iſt.

 

Die Gegner dieſer Ausnahme erklären die Worte: non

expressa causa, ſo: „da bei den Klagen in rem die Er-

werbsart nicht vorkommt, d. h. nicht vorkommen kann“,

 

|0549 : 531|

Causa adjecta s. expressa.

oder: „wegen Nichthervorhebung der Erwerbsart“ (t).

Sie ſehen alſo in dieſen Worten nicht eine hinzugefügte

Ausnahme, ſondern den Grund der Allgemeingültigkeit der

Regel ſelbſt. Ich finde dieſe Erklärung nicht nur an ſich

ſehr gezwungen, ſondern vorzüglich deshalb verwerflich,

weil es, wenn eine ſolche Ausnahme, wie die Gegner

meinen, den Römern völlig fremd war, an allem Motiv

fehlte, jene Worte hinzuzufügen. Wäre die juriſtiſche Con-

troverſe, in deren Mitte wir uns jetzt befinden, vor der

Zeit des Paulus geführt worden, ſo konnten etwa jene

Worte zur Noth hinzugefügt werden, als Warnung und

Widerſpruch gegen die (von Paulus mißbilligte) Meinung.

Wenn aber, wie die Gegner vorausſetzen, die Römer an

eine ſolche Ausnahme niemals dachten, ſo iſt in der That

kein Grund einzuſehen, weshalb Paulus die Worte: non

expressa causa, beizufügen für nöthig finden konnte.

XV.

Eine wichtige Unterſtützung der hier behaupteten Aus-

nahme liegt noch in der ganz ähnlichen Behandlung eines

anderen, aber nahe verwandten Falles. Wenn ein Käufer

die erkaufte Sache wegen Fehlerhaftigkeit zurück geben

wollte, ſo konnten dabei verſchiedene Mängel in Betracht

kommen; war nun die a. redhibitoria einmal zurück-

 

(t) Puchta Muſ. II. S. 269,

III. S. 481; non expressa causa

ſoll alſo ſo viel heißen, als: cum

in his actionibus causa non

exprimatur, oder exprimi non

possit, non soleat.

|0550 : 532|

Beilage XVII.

gewieſen, ſo konnte ſie nicht wegen eines angeblichen anderen

Mangels wiederholt werden. Jedoch konnte ſich der Kläger

dieſe Wiederholung dadurch vorbehalten, daß er die erſte

Klage ausdrücklich auf einen beſtimmten, einzelnen Mangel

vermittelſt einer Präſcription beſchränkte; dann ſtand, wenn

die Klage abgewieſen wurde, einer neuen Klage wegen

eines anderen Mangels Nichts entgegen (u).

L. 48 § 7 de aedil. ed. (21. 1).

Cum redhibitoria actione de sanitate agitur, per-

mittendum est, de uno vitio agere, et praedicere, ut,

si quid aliud postea apparuisset, de eo iterum

ageretur.

Dieſer Fall hat unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Fall

verſchiedener Entſtehungsgründe des Erbrechts oder des

Eigenthums. Die Natur des Bedürfniſſes iſt in beiden

Fällen ganz dieſelbe; und dieſes Bedürfniß wird bei der

redhibitoriſchen Klage ganz auf dieſelbe Weiſe befriedigt,

wie wir es für die Klagen in rem vermittelſt unſerer Aus-

nahme behaupten.

 

(u) Bei der a. quanti mino-

ris iſt dieſe Vorſicht nicht einmal

nöthig; vielmehr kann hier die

Klage wegen neuer Fehler ſtets

wiederholt werden, die erſte Klage

mag nun zuerkannt oder abgewie-

ſen ſeyn; nur darf die Summe

der einzeln zuzuſprechenden Rück-

zahlungen niemals die Summe des

ganzen Kaufpreiſes überſteigen.

L. 31 § 16 eod. Der Grund

des Unterſchiedes liegt darin, daß

die redhibitoriſche Klage nur ein

einfaches Object hat, die Auflöſung

des Kaufes, welche nur einmal

denkbar iſt. Die a. quanti mino-

ris dagegen geht auf einzelne Geld-

zahlungen, die neben einander

beſtehen können.

|0551 : 533|

Causa adjecta s. expressa.

XVI.

Die hier abgehandelte Streitfrage hat eine ganz neue

Wendung bekommen durch die Einmiſchung einer dem Pro-

zeßrecht angehörenden Frage.

 

Viele behaupten nämlich, nach den Reichsgeſetzen müſſe

in der Eigenthumsklage (und ſo auch in anderen Klagen

in rem) der beſondere Entſtehungsgrund des Eigenthums

ſogleich in der Klageſchrift angegeben werden; wo dieſe

Angabe fehle, ſey die Klage ſogleich angebrachtermaßen

abzuweiſen (v).

 

Andere Prozeßlehrer verwerfen dieſe Strenge als ganz

unbegründet; auch läßt ſich eine durchgreifende Regel des

gemeinen Prozeſſes, unterſtützt durch eine übereinſtimmende

Praxis, dafür gewiß nicht behaupten (x). Eben ſo iſt

dieſe Behauptung dem canoniſchen Recht völlig zuwider,

welches geradezu die Möglichkeit vorausſetzt, mit oder ohne

die Angabe beſtimmter Entſtehungsgründe des behaupteten

Rechts zu klagen (y).

 

Dieſe Streitfrage intereſſirt uns jedoch hier nur in

ihrer Rückwirkung auf die ſo eben beendigte Unterſuchung

 

(v) Gönner B. 2 S. 180—

182. Bayer S. 216. Martin

§ 144. Borſt Archiv B. 1 N. 14

S. 174. Langenn und Kori

Erörterungen N. 12. Buchka

B. 2 S. 198. Wächter Hand-

buch B. 2 S. 446.

(x) Heffter Prozeß § 343

und Muſeum B. 3 S. 237. Ferner

die Schriftſteller, die für dieſe

Meinung bei Heffter und bei

Langenn (Note v) angeführt

ſind, worunter ſich gerade die an-

geſehenſten Praktiker befinden.

(y) C. 3 de sent. in VI. (2. 14),

ſ. o. § 262 S. 70.

|0552 : 534|

Beilage XVII.

einer das materielle Recht, und zwar die Lehre von der

Rechtskraft, betreffenden Frage.

Es wird nämlich von mehreren Seiten behauptet, aus

jener ſtrengen Lehre des Prozeßrechts folge, daß die von

uns für die Klagen in rem behauptete Ausnahme im heu-

tigen Recht zur allgemeinen Negel umgewandelt worden

ſey. Denn da nun jeder Kläger ſogleich in der Klage den

Entſtehungsgrund ſeines Eigenthums angeben müſſe, ſo

ſey jedesmal der Fall vorhanden, den unſre Ausnahme

vorausſetzt, und es könne daher jede abgewieſene Eigen-

thumsklage wiederholt werden, ſobald nur der Kläger einen

anderen, als den früheren Entſtehungsgrund des Eigen-

thums, bei der neuen Klage angebe (z).

 

Dieſe Folgerung kann ich nun auf keine Weiſe als

richtig anerkennen. Wenn der Kläger, ſo wie es jene

ſtrenge Lehre fordert, den Entſtehungsgrund ſeines Eigen-

thums angiebt, ſo iſt Das noch ſehr verſchieden von der

bindenden Erklärung, ſich in dieſem Rechtsſtreit nur allein

dieſes Grundes bedienen zu wollen, auf welche Erklärung

Alles ankommt, indem damit beſtimmte Vortheile und

Nachtheile verbunden ſind (Num. III. IV.). Die bloße

Angabe des Entſtehungsgrundes ohne dieſe Erklärung

würde etwa zu vergleichen ſeyn einer ähnlichen Erzählung

der Thatſachen, die im Römiſchen Prozeß der Kläger vor

 

(z) Puchta Muſ. II. S. 267.

Wächter S. 445. — Dieſe

Meinung führt auf einem anderen

Wege zu demſelben Erfolg, welchen

Kierulff aus der heutigen aequitas

ableitet (S. 518. 519.)

|0553 : 535|

Causa adjecta s. expressa.

dem Prätor vorgetragen hätte. Auch dieſe Erzählung

würde keinen Einfluß auf den ferneren Gang der Sache

gehabt haben, und nur die Aufnahme einer entſprechenden

Stelle in die formula hätte einen ſolchen Einfluß haben

können.

Ich muß daher zuerſt beſtreiten, daß nach dem heutigen

gemeinen Prozeß eine Eigenthumsklage nur unter der

Vorausſetzung angenommen werden dürfe, wenn darin die

Angabe eines beſtimmten Entſtehungsgrundes des Eigen-

thums enthalten ſey.

 

Geſetzt aber auch, man wollte dieſe ſtrenge Lehre des

Prozeßrechts annehmen, ſo muß ich ferner beſtreiten, daß

dadurch die Natur der hier unterſuchten Ausnahme umge-

bildet worden ſey, und daß ſich dieſelbe aus einer bloßen

Ausnahme in die nunmehr allgemein gültige Regel (ent-

gegengeſetzt der Regel des Römiſchen Rechts) umgewan-

delt habe.

 

Gedruckt in der Deckerſchen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei.

 

|0554|

|0555|

|0556|

|0557|