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[[I]/0009]

Gedanken und Erinnerungen.

Von

Otto Fürſt von Bismarck.

[[II]/0010]

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Gedanken und Erinnerungen.

Von

Otto Fürſt von Bismarck.

Zweiter Band.

[Abbildung]

Stuttgart 1898.

Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung

Nachfolger.

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Alle Rechte, insbeſondere das Ueberſetzungsrecht, vorbehalten.

Copyright 1898 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger.

Druck von C. Grumbach in Leipzig.

[[V]/0013]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein 1–31

I. Differenz mit Graf R. v. der Goltz über die Behandlung der ſchles¬

wig-holſteiniſchen Frage S. 1. Brief Bismarcks an Goltz 1. II. Mi¬

niſterrath über die in der däniſchen Frage einzunehmende Haltung 8.

Möglichkeiten der Löſung 8. Ungangbarkeit des von der öffentlichen

Meinung vorgeſchlagenen Weges 9. Einfluß des Liberalismus auf

die deutſchen Regierungen 10, auf König Wilhelm 11. Die Auguſten¬

burgiſche Geſinnung der öffentlichen Meinung 12. Das letzte Lebens¬

zeichen der Wochenblattspartei 13. III. Schwierigkeiten bei Abſchluß des

Gaſteiner Vertrags 15. Schreiben Bismarcks an den König 15. Pſycho¬

logiſcher Wandel in der Stimmung des Königs ſeit der Beſitznahme

von Lauenburg 17. Haltung der Fortſchrittspartei in Hinſicht auf

Kiel und die preußiſche Flotte 18. Aus Bismarcks Rede vom

1. Juni 1865 18. Vaterlandsloſigkeit politiſcher Parteien in Deutſch¬

land unter der Einwirkung des Parteihaſſes 21. Ein ächt deutſcher

Gedanke 21. Deutſcher Parteigeiſt in Politik und Religion 21.

Erhebung Bismarcks in den Grafenſtand 22. IV. Verhandlungen

mit Graf Platen über eine Verheirathung der Prinzeſſin Friederike von

Hannover mit Prinz Albrecht Sohn 23. Hannöverſche Rüſtungen 24.

Unterredung mit dem Kurprinzen Friedrich Wilhelm von Heſſen 24.

Ablehnung der Februarbedingungen durch den Erbprinzen von Auguſten¬

burg 25. Welfiſche Lügen 25. Ein Brief des Erbprinzen an Bis¬

marck 26. Briefe des Königs an Bismarck in Sachen des Auguſten¬

burgers 27. Denkſchrift des Kronprinzen vom 26. Februar 1864 28.

Unterredung mit dem Erbprinzen am 1. Juni 1864 28. Der Wiener

Friede 29. Die Februarbedingungen von 1865 29. V. Bedeutung

des Nord-Oſtſee-Kanals 29. Widerſpruch Moltkes gegen den Kanal¬

bau 29. Wichtigkeit der Kanalverbindung für die militäriſche Siche¬

rung der deutſchen Küſte 30. Welchen Werth würde eine Fortſetzung

des Kanals bis zur Weſermündung, ev. Jahde und Ems haben? 30.

Helgoland 31.

[VI/0014]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg 32–50

I. Mit dem Hauptquartier in Reichenberg S. 32. Verſtimmung der

Militärs gegen Bismarck wegen Einmiſchung in Angelegenheiten

ihres Reſſorts 32. Franzöſiſche Einmiſchung nach der Schlacht bei

Königgrätz 33. Dilatoriſche Antwort des Königs 33. Moltkes An¬

ſicht über einen eventuellen Krieg gegen Frankreich neben dem öſter¬

reichiſchen 33. Bismarck für Frieden mit Oeſterreich ohne territorialen

Gewinn an öſterreichiſchem Staatsbeſitz 34. Gefahren einer Verbindung

franzöſiſcher und ſüddeutſcher Truppen 34. Bismarck räth dem König

den Appell an die ungariſche Nationalität 35. II. Kriegsrath in

Czernahora 35. Bismarck ſchlägt anſtatt eines Angriffs auf die

Floridsdorfer Linien den Donauübergang bei Preßburg vor 36.

Widerſtrebender Gehorſam des großen Generalſtabs 37. Diplo¬

matiſche Erwägungen über das Maß der Oeſterreich aufzuerlegenden

Friedensbedingungen 37. Reſſortpolitik und Staatspolitik im Wider¬

ſtreit mit einander 38. III. Erſte Skizze der Friedensbedingungen 38.

Steigerung der Begehrlichkeit des Königs 38. Sein Wunſch nach

Rückerwerb der fränkiſchen Fürſtenthümer 39. Was ſprach gegen den

Erwerb bairiſcher und öſterreichiſcher Gebiete? 39. Karolyi verweigert

jede Landabtretung und fordert auch die Integrität Sachſens als

conditio sine qua non des Friedensſchluſſes 41. Waffenſtillſtand 41.

Gefecht bei Blumenau 42. IV. Verhandlungen mit Karolyi und

Benedetti über die Bedingungen des Präliminarfriedens 42. Schwierig¬

keit der Lage gegenüber den militäriſchen Einflüſſen 42. Verantwort¬

lichkeit Bismarcks für die Geſtaltung der Zukunft 42. Kriegsrath

vom 23. Juli 43. Weinkrampf 43. Denkſchrift an den König 43.

Vortrag beim Könige 44. Meinung des Königs 45. Seine Erregung

über Bismarcks Widerſpruch 46. Bismarcks Stimmung (Selbſtmord¬

gedanken) 47. Vermittlung des Kronprinzen 47. Marginal des

Königs 47. V. Die ſüddeutſchen Bevollmächtigten in Nikolsburg 48.

Herr v. Varnbüler 48. Die franzöſiſchen Beziehungen des Stutt¬

garter Hofes, getragen durch die Vorliebe der Königin von Holland

für Frankreich 48. Ihre anti-öſterreichiſche Geſinnung 49. Varnbülers

Abweiſung in Nikolsburg, ſeine Annahme in Berlin 49.

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund 51–77

I. Innere Lage Preußens nach dem Kriege S. 51. Der franzöſiſche

Krieg eine Nothwendigkeit, wenn Preußen die Mainlinie überſchritt 51.

Rheinbundreminiſcenzen Napoleons III. 52. Sein Irrthum über

die nationale Geſinnung in Süddeutſchland 52. Gründe Bismarcks

für Hinausſchiebung des Krieges mit Frankreich 52. Die Beilegung

des Conflicts durch das Indemnitätsgeſuch 53. Unſicherheit eines

[VII/0015]

Inhaltsverzeichniß.

Bündniſſes mit Italien 53. Haltung der italieniſchen Politik während

des öſterreichiſchen Krieges 53. Wahrſcheinlichkeit eines Dreibundes

Frankreich-Oeſterreich-Italien 53. Beunruhigung Rußlands durch das

Wachsthum Preußens 54. Platoniſche Haltung der engliſchen Po¬

litik 55. II. Ergebniß der Erwägungen über die auswärtige Lage

für Bismarcks innere Politik 56. Bornirtheit der Fortſchrittspoli¬

tiker 57. III. Das allgemeine Wahlrecht als Mittel zum nationalen

Zweck 58. Anſicht Bismarcks vom Werthe des allgemeinen Wahl¬

rechts 58. Die Heimlichkeit der Wahl begünſtigt die Herrſchaft ehr¬

geiziger Führer über die Maſſen und läßt den Einfluß der Gebildeten

nicht zu ſeinem Rechte kommen 58. Ein Uebergewicht der Beſitzen¬

den über die Begehrlichen iſt für die Sicherheit des Staates nütz¬

lich 59. Ein Ueberwiegen des begehrlichen Elements führt leicht nach

dem Zuſammenſturze des alten Staates zur Dictatur, Gewaltherrſchaft

und Abſolutismus zurück 60. Nothwendigkeit der Kritik im monarchi¬

ſchen Staate 60. Die freie Preſſe und die Parlamente als Organe

der Kritik 61. Aufgabe einer conſervirenden Politik 61. IV. Reactio¬

näre Beſtrebungen innerhalb der conſervativen Fraction und ihre

Vertreter in Prag 62. Anträge auf eine Reviſion der Verfaſſung 62.

Als Epiſode: Vorſchlag eines preußiſch-ruſſiſchen Bündniſſes zur Lö¬

ſung des innern Conflicts und der deutſchen Frage im Jahre 1863 62.

Beurtheilung des ruſſiſchen Antrags durch Bismarck 63. Wahr¬

ſcheinliche Entwicklung der Dinge bei einem ſiegreichen Kriege Preußens

und Rußlands gegen Oeſterreich und Frankreich 65. Ablehnung des

ruſſiſchen Antrags durch den König 67. V. Zaudern des Königs im

Jahre 1866 gegenüber reactionären Vorſchlägen conſervativer Hei߬

ſporne 67. Welche Folgen hätte ein Entſchluß im Sinne der Reaction

gehabt? 67. Kritik der preußiſchen Verfaſſung 68. Abneigung des

Königs gegen das Indemnitätsgeſuch 69. Der König giebt den Er¬

wägungen Bismarcks nach 70. VI. Die Annexionen, wenn auch

nicht unbedingt geboten, ſo doch um des territorialen Zuſammenhangs

der preußiſchen Gebietstheile erwünſcht 70. Unvereinbarkeit eines

ſelbſtändigen Hannover mit der Durchführung deutſcher Einheit unter

preußiſcher Leitung 71. Zurückweiſung des Briefes Georgs V. 71.

Bismarck bringt den König von dem Gedanken einer Zerſtückelung

von Hannover und Kurheſſen ab 72. Abneigung des Königs gegen

Naſſau ein väterliches Erbtheil 72. Friedensverträge mit den ſüd¬

deutſchen Staaten 72. Herr v. Varnbüler ſchließt für Württemberg

Frieden und Bündniß mit Preußen 73. Roggenbachs Anträge auf

eine Vergrößerung Badens auf Koſten Baierns 73. Ablehnung

dieſer Anträge durch Bismarck 73. Ein verſtümmeltes Baiern wäre

ein Bundesgenoſſe Oeſterreichs und Frankreichs geweſen 74. VII. Die

Welfenlegion, ihre Bildung und Auflöſung 75. VIII. Bismarck in

[VIII/0016]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Urlaub 76. Verhandlungen mit Sachſen 77. Loyale Haltung der

Könige Johann und Albert von Sachſen 77. Concentrirender Druck

des Bundes mit Oeſterreich auf Baiern und Sachſen 77. Die parla¬

mentariſchen Exceſſe des deutſchen Elements in Oeſterreich gefährden

das Gewicht des deutſch-nationalen Elements 77.

Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche 78–93

Das ſpaniſche Miniſterium entſcheidet ſich für die Thronbeſteigung des

Erbprinzen Leopold von Hohenzollern S. 78. Der Name „Hohen¬

zollern“ ein völkerrechtlich nicht haltbarer Vorwand zum Eingriffe

Frankreichs in die Freiheit der ſpaniſchen Königswahl 78. Eine

Differenz Preußens mit Frankreich hat Bismarck bei der Candidatur

des Hohenzollernſchen Prinzen nicht erwartet 78. Ein Geſpräch Bis¬

marcks über die dem Prinzen nach ſeiner Wahl zum Könige von

Spanien erwachſenden Pflichten gegenüber Frankreich 78. Auffaſſung

der ſpaniſchen Thronfrage durch Bismarck 79. Bismarck erwartete

von der Wahl des Hohenzollern mehr wirthſchaftliche als politiſche

Erfolge 79. Frankreich macht die ſpaniſche Angelegenheit durch Fäl¬

ſchung zu einer preußiſchen 81. Paſſivität Spaniens gegenüber der

franzöſiſchen Einmiſchung 81. Die Candidatur des Prinzen nur

eine Familienangelegenheit des Hohenzollernſchen Hauſes 82. Unter¬

ſchätzung des nationalen Sinnes in Deutſchland durch die franzöſiſchen

Politiker 82. Ultramontane Tendenzen in der franzöſiſchen Politik 83.

Preußens Bedrohung durch Frankreich aus Anlaß der ſpaniſchen

Königswahl eine internationale Unverſchämtheit 83. Verſchärfung

des beleidigenden Charakters der franzöſiſchen Zumuthung durch die

Haltung des Miniſteriums Gramont-Ollivier 83. La Prusse cane 84.

Bismarck verläßt Varzin 84. Eindruck der Nachrichten aus Ems 84.

Entſchluß Bismarcks, aus dem Dienſt zu ſcheiden, beſtärkt durch die

Mittheilung von der Entſagung des Erbprinzen 84. Aufgabe der

Reiſe nach Ems 85. Unterredung mit Roon 85. Die Verhandlungen

des Königs mit Benedetti waren incorrect vom conſtitutionellen Stand¬

punkt aus 86. Einwirkungen auf den König ſeitens der Königin im

Sinne des Friedens mit Frankreich 86. Roon und Moltke zu Tiſch

bei Bismarck (13. Juli 1870) 86. Eingang von Abekens Depeſche 87.

Erörterung mit Moltke über die deutſche Kriegsbereitſchaft 88. Die

Annahme der franzöſiſchen Provocation eine Forderung des natio¬

nalen Gefühls, auch den ſüddeutſchen Staaten gegenüber 88. Re¬

daction der „Emſer Depeſche“ 90. Grund ihrer Wirkſamkeit 91.

Eindruck der gekürzten Redaction auf Moltke und Roon 91. Zur

Charakteriſtik Moltkes 92. Seine Kampfluſt mitunter unbequem 92.

Darf der Staatsmann einen wahrſcheinlichen Krieg provociren? 92.

[IX/0017]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles 94–122

I. Verſtimmung der „Halbgötter“ gegen Bismarck S. 94. Bismarck

wird Ohrenzeuge eines Geſprächs des Generals v. Podbielski mit

Roon über die zur Fernhaltung Bismarcks von den militäriſchen Be¬

rathungen getroffenen Vorkehrungen 94. Nachtheil dieſer Reſſort¬

rivalität für die Geſchäftsführung 95. Aufgaben der Heeresleitung

und der Diplomatie im Kriege. Nothwendigkeit ihres Zuſammen¬

wirkens 96. Militäriſcher Boycott Bismarcks in Verſailles 96. II. Situa¬

tion vor Paris 98. Humanitäre Einwirkungen fürſtlicher Frauen

zu Gunſten der Pariſer 98. Beſorgniß Bismarcks vor einer Ein¬

miſchung der Neutralen 99. Graf Beuſts Bemühungen, eine collec¬

tive Mediation der Neutralen zu Stande zu bringen 100. Welche

Mahnung Bismarck daraus entnahm 102. Freundſchaft des Königs

von Italien für Napoleon und Frankreich, antifranzöſiſche Geſinnung

der republikaniſchen Italiener 103. Stimmung in Rußland 104.

Gortſchakows Uebelwollen gegen Bismarck und Preußen 105. Seine

Eitelkeit 105. Gortſchakow auf dem Berliner Congreß 106. Graf

Kutuſoff und Großherzog Alexander als Vermittler am ruſſiſchen

Hofe 108. Stagnation der Belagerung 109. Bismarcks Sorge vor

ſchließlichem Mißerfolge 110. III. Bedrohte Stellung der Deutſchen

vor Paris 111. Mangel an ſchwerem Belagerungsgeſchütz und an

Transportmaterial 112. Bedenken wegen der Koſten 112. Weibliche

(engliſche) Einwirkungen im Hauptquartier im Geiſte der „Humani¬

tät“ 114. IV. Die Annahme des Kaiſertitels durch den König bei

Erweiterung des Norddeutſchen Bundes ein politiſches Bedürfniß 115.

Widerſtreben König Wilhelms I. und deſſen Urſache 115. Anfäng¬

liche Abneigung des Kronprinzen gegen den Kaiſertitel 116. Poli¬

tiſche Phantaſien des Kronprinzen 116. Das Tagebuch des Kron¬

prinzen und ſeine Veröffentlichung durch Geffcken 117. Graf Holn¬

ſtein als Ueberbringer eines Schreibens Bismarcks an den König

von Baiern 117. Schreiben des Königs von Baiern an König Wil¬

helm 118. Schwierigkeiten der Formulirung des Kaiſeritels, Kaiſer

von Deutſchland oder deutſcher Kaiſer? 119. Bismarck in Ungnade

am Tage der Kaiſerproclamation 122.

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf 123–141

I. Graf Ledochowſki und Cardinal Bonnechoſe in Verſailles S. 123.

Der Papſt lehnt eine Einwirkung auf die franzöſiſche Geiſtlichkeit im

Sinne des Friedens ab 123. Streitende Richtungen in Italien 124.

Wirkung einer Parteinahme der preußiſchen Regierung für den

Papſt 124. Verhandlungen Bismarcks mit Biſchof v. Ketteler wegen

Aufnahme der preußiſchen Verfaſſungsartikel über die Stellung der

Kirche im Staate in die Reichsverfaſſung 125. Neubildung der katho¬

[X/0018]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

liſchen Fraction (Centrum) 126. Stärke des Centrums gegenüber

dem Papſte 126. II. Polniſche Seite des Culturkampfs 127. Fort¬

ſchritt der polniſchen Nationalität unter der Wirkſamkeit der „katholiſchen

Abtheilung“ im Cultusminiſterium 127. Die katholiſche Abtheilung

ein Organ des Radziwillſchen Hauſes 128. Bismarck ſucht den König

für Erſetzung der katholiſchen Abtheilung durch einen päpſtlichen

Nuntius zu gewinnen 128. Aufhebung der katholiſchen Abtheilung 129.

III. Antheil Bismarcks an den Maigeſetzen 130. Juriſtiſche Mi߬

griffe der Falkſchen Geſetzgebung 130. Urſachen von Falks Rück¬

tritt 131. IV. Entbehrliches und Unentbehrliches an den Maigeſetzen 132.

v. Puttkamer als Falks Nachfolger 133. Die Beilegung des Cultur¬

kampfs wird erſchwert durch den Zorn der kampfgewöhnten Miniſterial¬

räthe 133. Widerſtand des Kaiſers gegen den Frieden mit Rom 133.

Der Abfall der freiſinnigen Partei, ihr Uebergang in die Bundes¬

genoſſenſchaft des Centrums macht den Culturkampf ausſichtslos 134.

Definitive Ergebniſſe für den Staat 135. Proviſoriſcher Charakter des

Friedens zwiſchen Staat und Kirche 135. V. Beſuch des Königs

Victor Emanuel in Berlin 137. Die Doſe mit Brillanten 137. Portrait

und Alabaſtervaſe 138. VI. M. v. Blanckenburg 139. Bismarck und

die Civilehe 140.

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen 142-161

I. Debatten über den hannöverſchen Provinzialfonds S. 142. Ablehnende

Haltung der conſervativen Partei im Abgeordneten- und im Herren¬

haus 142. Mittel zum Stimmenfang 143. Die Conſervativen fordern

Bismarcks Eintritt in die Fraction 144. Roons Briefe vom 19. und

25. Februar 1868 über die Nothwendigkeit einer Reorganiſation der

conſervativen Partei 144. II. Die Gegner Bismarcks in der conſer¬

vativen Partei und die Motive ihrer Gegnerſchaft 147. Der Neid

der Standesgenoſſen über die Verleihung des Fürſtentitels 148. Wie

Bismarck ſelbſt über den Fürſtentitel dachte 148. Oppoſition der

Conſervativen gegen das Schulaufſichtsgeſetz 149. Auszüge aus Bis¬

marcks Reden 149. Bruch der conſervativen Partei mit Bismarck 150.

Politiſche Folgen des Bruchs 150. Gleichgültigkeit der Frage nach

der Partei, wenn es ſich um dauernde Sicherung des Errungenen

gegenüber dem Auslande handelt 151. III. Geſteigerte Animoſität

der Conſervativen wegen der Annäherung Bismarcks an die National¬

liberalen 151. Junkerverſammlungen bei Roon 152. Graf H. Arnim 152.

Herr v. Caprivi 152. Bismarcks angebliche Feindſchaft gegen die

Armee, widerlegt durch die Thatſachen 152. IV. Die Kreuzzeitung

ſagt Bismarck Fehde an 153. Ein Verleumdungsfeldzug 153. Richter¬

liche Entſcheidung unter der Einwirkung des Parteigeiſtes 153.

V. Rohheit im Parteikampfe wie im Streit über religiöſe Fragen 154.

[XI/0019]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Die Verleumdungen der Kreuzzeitung, die Declaranten als ihre Eides¬

helfer 156. Einwirkung des Bruchs mit alten Freunden auf Bis¬

marcks Nerven 156. Verantwortlichkeitsgefühl eines ehrliebenden

Miniſters 157. VI. Theilnahmloſigkeit der Nationalliberalen im Streite

Bismarcks mit den Conſervativen 158. Fractionsbeſchränktheit 159.

Die parlamentariſchen Condottieri und ihre Herrſchaft über die Frac¬

tionsgenoſſen 160. Größere Trägheit der Conſervativen, Arbeitſam¬

keit der das Beſtehende angreifenden Parteien 160. Die „Reichsglocke“

am Hofe 161.

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen 162–205

I. Graf Harry Arnim S. 162. Seine Jugend 162. Ernennung zum

Botſchafter in Paris 163. Sein Eintreten zu Gunſten der Legi¬

timität 163. Sein Verſuch, Bismarck zu ſtürzen, ſcheitert 164. Pre߬

angriffe der „Spenerſchen Zeitung“ auf Bismarck 165. Des Grafen

Arnim Vorſchläge zur Bekämpfung des „unfehlbar“ gewordenen

Papſtes 165. Zweck und Motive des Gerichtsverfahrens gegen Ar¬

nim 166. 167. Auffaſſung der diplomatiſchen Kreiſe 167. Beziehungen

der „Reichsglocke“ zu Graf H. Arnim 168. II. Hoffnungen der römi¬

ſchen Curie auf einen Sieg Frankreichs 168. Zuſammenhang der Partei¬

nahme der Kaiſerin Eugenie für die kriegeriſche Strömung der fran¬

zöſiſchen Politik mit ihrer Hingebung für den Papſt 169. Die Reſtau¬

ration des Königthums in Frankreich eine Gefahr für den Frieden 169.

Arnim und Gontaut Biron als Verbündete gegen Bismarck 170.

Bewunderung für katholiſches Weſen in evangeliſchen Kreiſen und

am Hofe 170. „Proteſtantiſch iſt ja jeder dumme Junge“ 171. Vor¬

liebe der Kaiſerin Auguſta für den Katholicismus 172. Ein ge¬

heimer franzöſiſcher Polizeiagent (Gérard) als Privatſekretär der

Kaiſerin 172. Die Komödie Gontaut-Gortſchakow im Jahre 1875 172.

Gortſchakows Eitelkeit und ſein Neid auf den ehemaligen „Schüler“ 173.

Gortſchakow als angeblicher Friedensengel und Protector Frank¬

reichs 174. Kaiſer Alexander II. durchſchaut Gortſchakow 175. Ab¬

neigung Bismarcks gegen einen provocirten Krieg 175. Friedlicher

Charakter der deutſchen Reichsgründung 176. Gortſchakows Einfluß

auf die Correſpondenz des Zaren Alexander II. 176. Schreiben

Bismarcks an den Kaiſer vom 13. Auguſt 1875 177. III. Die

Verwaltungsreform des Grafen Friedrich zu Eulenburg 179. Bureau¬

kratiſirung des Landrathspoſtens 179. Der Landrath ſonſt und

jetzt 179. Verhandlungen mit Rudolf v. Bennigſen über ſeinen Ein¬

tritt in's Miniſterium 180. Ueberſpannung der nationalliberalen

Forderungen auf Mitbeſitz des Regiments 181. Abbruch der Ver¬

handlungen mit Bennigſen 183. Graf Eulenburg als Zwiſchen¬

träger 183. Zorn des Kaiſers über Bismarcks „Eigenmächtigkeit“ 183.

[XII/0020]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

v. Bennigſen lehnt definitiv ab 184. Ungeſchicktheit der national¬

liberalen Führer 184. „Nr. 109, Regiment Stauffenberg“ 185. Ur¬

ſachen der Abneigung des Kaiſers gegen Bennigſen 185. Die Ver¬

bündeten der Nationalliberalen im Miniſterium 186. Die Conſeil¬

ſitzung vom 5. Juni 1878 186. Urſprung der Redensart: „an die

Wand drücken, bis ſie quietſchen“ 187. Verbindungen der National¬

liberalen am Hofe, General v. Stoſch ihr Bundesgenoſſe 188. IV. Graf

Botho zu Eulenburg 188. Die Differenz Tiedemann-Eulenburg-Bis¬

marck 189. Schreiben Bismarcks an Tiedemann 189. Schreiben

des Grafen Eulenburg an Bismarck 191. Antwort Bismarcks 192.

Ein Kaiſerlicher Traum 193. Briefwechſel des Kaiſers mit Bis¬

marck 193. Ueble Folgen der Differenz Bismarck-Eulenburg für

Bismarcks Geſundheit 195. Ausbruch der Neſſelſucht 195. Das

Aufreibende in der Stellung eines leitenden Miniſters 195. Rück¬

gang der Kräfte Bismarcks im Anfang der ſiebziger Jahre 195.

Uebergabe des Präſidiums im preußiſchen Miniſterium an Roon 195.

Entmuthigung Bismarcks durch die Intrigen des Reichsglocken¬

ringes 196. Mangel an Aufrichtigkeit bei den amtlichen Mit¬

arbeitern 196. Syſtematiſche Abdrängung Bismarcks von den Ge¬

ſchäften der politiſchen Leitung 196. Gedanken an ein Miniſterium

Gladſtone 197. Ihre Unausführbarkeit bei der Geſinnung des Königs

und des Kronprinzen 197. Bruch mit Delbrück 198. Geſundheits¬

bankerott (Schweninger) 198. V. Unterſtaatsſekretär v. Gruner 198.

Seine Berufung in das Hausminiſterium und Ernennung zum Wirk¬

lichen Geheimen Rathe ohne Gegenzeichnung eines verantwortlichen

Miniſters 199. Schreiben Bismarcks an Geh. Rath Tiedemann 199.

Schreiben Bismarcks an Miniſter v. Bülow 203. Die Veröffent¬

lichung der Ernennung Gruners im Staatsanzeiger unterbleibt 205.

Siebenundzwanzigſtes Kapitel: Die Reſſorts 206–210

Bismarcks Zurückhaltung gegenüber den Reſſorts S. 206. Sein Ein¬

ſpruch nur zur Wahrnehmung eines großen öffentlichen Intereſſes

gegenüber Sonderintereſſen und zur Verhütung übertriebener Re¬

glementirerei 206. Warum trotz ſeiner Zurückhaltung Bismarcks

Ausſcheiden als eine Erleichterung empfunden wurde 207. Wider¬

ſtand des Cultusminiſteriums gegen geſetzliche Normirung des Bei¬

trags jeder einzelnen Gemeinde zur Schule 207. Widerſtand der

Räthe des Finanzminiſteriums gegen die von Bismarck geforderten

Grundlagen einer Steuerreform 207. Widerſtand im landwirthſchaft¬

lichen Miniſterium gegen Viehſperre zur Fernhaltung von Seuchen 208.

Gute Beziehungen Bismarcks zum Reichsſchatzamte 209. Unterord¬

nung des Reichsſchatzamtes unter den preußiſchen Finanzminiſter 209.

Beziehungen Bismarcks zum Reichspoſtamt 209. Herr v. Stephan 209.

[XIII/0021]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß 211–228

I. Anfrage des Generals v. Werder im Auftrage Alexanders II. über

die Haltung Deutſchlands im Falle eines ruſſiſch-öſterreichiſchen

Krieges S. 211. Ungewöhnlichkeit der gewählten Form 211. Stellung

des preußiſchen Militärbevollmächtigten am ruſſiſchen Hofe 212. Sein

directer Verkehr mit dem Kaiſer ohne Vermittlung des auswärtigen

Amtes 212. Was Gortſchakow mit jener Anfrage bezweckte 213.

Dilatoriſche Rückäußerung Bismarcks 213. Sein Antrag auf Ab¬

berufung Werders wird vom Kaiſer Wilhelm abgelehnt. Erneuerung

der Anfrage durch die ruſſiſche Botſchaft 214. Antwort Bismarcks 214.

Ihre Wirkung 214. Annäherung Rußlands an Oeſterreich 214. Ab¬

ſchluß der Convention von Reichſtadt 215. II. Zweck des Balkanfeld¬

zugs 215. Herſtellung eines von Rußland abhängigen Bulgarien 215.

Mißerfolg dieſer Berechnung 215. Eine unehrliche Fiction 215. Der

ruſſiſche Antrag auf Berufung einer Conferenz 215. Gortſchakows

Theilnahme an der Berliner Conferenz wider den Wunſch des

Zaren 216. Schuwalow und Gortſchakow als Gegner 216. Ver¬

logenheit der ruſſiſchen und der engliſchen Politik 216. Leichtigkeit

der Täuſchung von Preſſe und Parlament 216. Ruſſiſche Nörgelei

über die Haltung Deutſchlands bei Ausführung des Berliner Ver¬

trags 217. Berechnete Unehrlichkeit der Haltung Gortſchakows 218.

Der Vorwurf „platoniſcher“ Liebe Deutſchlands zu Rußland 218.

Rußland verlangt von den deutſchen Commiſſaren generelle Zuſtim¬

mung zu allen ruſſiſchen Wünſchen 218. Kriegsdrohung des Zaren

in einem Briefe an Kaiſer Wilhelm 219. Beweiſe für die Mit¬

wirkung Gortſchakows am Schreiben des Zaren 219. Kaiſer Wilhelms

Reiſe nach Alexandrowo von Bismarck nicht gebilligt 220. III. Graf

Peter Schuwalow ſchlägt ein deutſch-ruſſiſches Schutz- und Trutz-

Bündniß vor 220. Brief Bismarcks an Schuwalow 220. Schuwalows

Antwort 222. Perſönlicher Charakter jedes Bundes mit Rußland 224.

Mögliche Verſtimmungen des Zaren durch übelwollende Berichte der

Vertreter Rußlands am Berliner Hofe 225. Pikante Berichte diplo¬

matiſcher Vertreter nützen nicht der Geſammtpolitik 226. Bismarck

lehnt eine „Option“ zwiſchen Rußland und Oeſterreich ab 227.

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund 229–250

I. Tendenz des Bundes der drei Kaiſer: Aufrechterhaltung der Mon¬

archie S. 229. Zuſammenkunft der drei Kaiſer in Berlin 1872 230.

Trübung der daran geknüpften Hoffnungen durch Fürſt Gortſchakow

1875 230. Bismarck als Gegner von Präventivkriegen 230. Wahr¬

ſcheinliche Wirkung eines Angriffes Deutſchlands auf Frankreich im

Jahre 1875 231. Deutſchfeindlicher Charakter der Gortſchakowſchen

[XIV/0022]

Inhaltsverzeichniß.

Politik 232. II. Le cauchemar des coalitions 233. Die Möglich¬

keit und Gefahr der Coalition von Frankreich, Oeſterreich und Ru߬

land 233. Unberechenbarkeit der engliſchen Haltung 233. Deutſchland

vor der Alternative eines Bundes mit Rußland oder Oeſterreich 234.

Bedenken einer Verbindung mit Oeſterreich 234. III. Der Brief des

Zaren Alexander II. zwingt zur Entſcheidung 236. Popularität eines

deutſch-öſterreichiſchen Bündniſſes in Deutſchland 236. Das Bündniß

mit Oeſterreich im Lichte der völkerrechtlichen Traditionen 237. IV. Be¬

gegnung Bismarcks mit Graf Andraſſy in Gaſtein und vorläufige Ver¬

ſtändigung über Abſchluß eines Defenſivbundes gegen einen ruſſiſchen

Angriff 237. Brief Bismarcks an den König von Baiern 238. Ant¬

wort des Königs von Baiern und Bismarcks Replik 243. V. Empfang

Bismarcks auf der Reiſe von Gaſtein nach Wien 244. Popularität

des Bündniſſes bei den Deutſchen Oeſterreichs 245. Abneigung des

Kaiſers Wilhelm gegen einen Bund mit Oeſterreich 246. Unſicherheit

eines Bundes mit Rußland 246. Wirkſamkeit von Verträgen ſonſt

und jetzt 247. Bismarck bewegt den Kaiſer durch Stellung der

Cabinetsfrage zur Genehmigung des Bündniſſes 247. Ritterlichkeit

des Kaiſers Wilhelm dem ruſſiſchen Kaiſer gegenüber 248. VI. Motive

für Bismarcks Gedanken an eine Aufnahme des deutſch-öſterreichiſchen

Bündniſſes in die Geſetzgebung beider Länder 248. Bedingte Halt¬

barkeit aller Verträge zwiſchen Großſtaaten 249. Deutſchland muß ſich

bei aller Freundſchaft für Oeſterreich doch den Weg nach Petersburg frei¬

halten 250. Vermittlerrolle Deutſchlands zwiſchen den concurrirenden

Beſtrebungen Oeſterreichs und Rußlands 251. VII. Das deutſch-öſter¬

reichiſche Bündniß läßt Deutſchland ohne Deckung gegen Frankreich 251.

Mangel an Streitpunkten zwiſchen Deutſchland und Rußland 251.

Fälſchung der öffentlichen Meinung in Rußland 252. Gute Be¬

ziehungen Deutſchlands zu Rußland geben dem Bunde mit Oeſterreich

eine größere Bürgſchaft 252. Eine Entfremdung zwiſchen Deutſch¬

land und Rußland ſteigert Oeſterreichs Anforderungen an den Bundes¬

genoſſen 252. Inoffenſiver Charakter des deutſch-öſterreichiſchen Ver¬

trags 253. Unſicherheit der zukünftigen Entwicklung Oeſterreichs 253.

Möglichkeit einer Annäherung Oeſterreichs an Frankreich bei Herſtel¬

lung der franzöſiſchen Monarchie 254. Aufgabe einer vorausſehenden

Politik Deutſchlands dem öſterreichiſchen Verbündeten gegenüber 256.

Perſönliche Verſtimmung darf unſre Politik gegenüber Rußland

nicht beſtimmen 257. Nationale Intereſſen allein müſſen den

Ausſchlag geben 257. VIII. Vertrauen Alexanders III. zu Bis¬

marcks friedlicher Politik 257. Sein Zweifel an der Fortdauer

der Kanzlerſchaft Bismarcks im Jahre 1889 258. Die clausula

rebus sic stantibus bei Staatsverträgen 258. Toujours en

vedette! 259.

[XV/0023]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands 260–270

Urſachen für Rußlands gegenwärtige Zurückhaltung S. 260. Mangel

eines Kriegsgrundes für Rußland Deutſchland gegenüber 260. Wahr¬

ſcheinlicher Zweck der Truppenaufſtellung im Weſten 261. Rußlands

Streben nach einem ruſſiſchen Verſchluß des Bosporus unter Garantie

des europäiſchen Beſitzſtandes der Türkei 261. Wahrſcheinlichkeiten

für den Erfolg dieſes Strebens 262. Deutſchlands Intereſſe an einer

Feſtſetzung der Ruſſen in Konſtantinopel 263. Aufgabe der öſterreichi¬

ſchen Politik in ſolchem Falle 263. Welche Folgen würde eine Partei¬

nahme Deutſchlands für Oeſterreich haben im Falle eines ruſſiſchen

Vorſtoßes nach dem Bosporus? 264. Die Aufgabe der deutſchen Politik

darf nicht ſein, durch wirthſchaftliche Trinkgelder die Begehrlichkeit

befreundeter Mächte zu ſteigern 265. Für Deutſchland iſt in allen

Fragen, die kein unmittelbares Intereſſe der Nation betreffen, Zurück¬

haltung geboten 265. Deutſchlands Vortheil: ſeine Freiheit von directen

orientaliſchen Intereſſen, ſein Nachtheil: die centrale Lage 266. Die

Wahrung des Friedens bleibt Deutſchlands wichtigſtes Intereſſe 266.

Bismarcks Ideal nach Herſtellung der deutſchen Einheit 267. Fiasco

der ruſſiſchen „Befreiungspolitik“ auf der Balkanhalbinſel 268. Un¬

dankbarkeit „befreiter“ Völker 268. Nächſter Zielpunkt der ruſſiſchen

Politik: ruſſiſcher Verſchluß des Schwarzen Meeres 270.

Einunddreißigſtes Kapitel: Der Staatsrat 271–275

Zweck der Reactivirung des Staatsraths im Jahre 1852 S. 271. Un¬

vollkommenheit der durch das Staatsminiſterium vorbereiteten Geſetz¬

entwürfe 271. Particularismus der Reſſortminiſter 272. Gegenſeitige

Schonung der Reſſortminiſter in den Sitzungen des Staatsmini¬

ſteriums 272. Die parlamentariſchen Berathungen kein unbedingter

Schutz gegen ungeſchickte Geſetzentwürfe des Miniſteriums 273. Arbeits¬

trägheit der meiſten Parlamentarier und Parteiverblendung der Frac¬

tionsführer 273. Ein Denkmal der Flüchtigkeit der Reichstagsverhand¬

lungen 273. Staatsrath und Volkswirthſchaftsrath als Corrective 274.

Eiferſucht der zünftigen Räthe und Parlamentarier gegen unzünftiges

Mitreden andrer 274. Günſtiger Eindruck der Staatsrathsſitzungen 274.

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I. 276–303

I. Günſtige Einwirkung des Nobilingſchen Attentats auf das Wohl¬

befinden des Kaiſers S. 276. Letzte Krankheit und Tod des Kaiſers 276.

II. Militäriſche Vorbildung des Prinzen Wilhelm von Preußen 277.

Seine Stellung zum General v. Gerlach 278. Was iſt ein Pietiſt? 278.

Unbekanntſchaft des Prinzen mit den ſtaatlichen Einrichtungen, ſpeciell

[XVI/0024]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

der Stellung des Gutsherrn zu den Bauern 279. III. Fleiß und Ge¬

wiſſenhaftigkeit des „Regenten“ in Erledigung der Staatsgeſchäfte 280.

Sein Menſchenverſtand 281. Zähes Feſthalten an den Traditionen 281.

Particularismus Wilhelms I. 281. Seine Furchtloſigkeit auf dem

Wege der Pflicht und der Ehre 282. Urſache des Bruchs mit den

Miniſtern der neuen Aera 282. IV. Grundſätzliche Oppoſition der

Prinzeſſin und Königin Auguſta gegen die Regierungspolitik 283.

Herr v. Schleinitz als Gegenminiſter der Königin 283. Amtliche Bericht¬

erſtattung des Hausminiſteriums in politicis 283. Seine Verbindung

mit einem Agenten Drouyns de L'Huys und der „Reichsglocken"-

Partei 284. „Unſer allergnädigſter Reichskanzler iſt heut ſehr un¬

gnädig“ 285. Der Kaiſer unter dem Einfluß der Kaiſerin 285. Die

Kaiſerin Auguſta als Kryſtalliſationspunkt aller Oppoſition 286.

Wilhelm I. unter dem Conflict ſeines Königlichen Pflichtgefühls mit

dem häuslichen Frieden 286. V. Die „Königliche Vornehmheit“ Wil¬

helms I. 287. Seine Freiheit von jeder Eitelkeit 287. Seine Furcht

vor berechtigter Kritik 288. Sein Gerechtigkeitsgefühl gegen Freunde

wie Gegner 288. Wilhelm I. ein gentleman in's Königliche überſetzt 288.

Heftigkeitsausbrüche während der Diſcuſſion 289. Perſönliches Ver¬

hältniß Bismarcks zu Wilhelm I. 289. VI. Wilhelms I. Anſprachen und

Proclamationen, die Wärme ihres Tons ein Ergebniß ſeiner Liebens¬

würdigkeit 290. Treue um Treue 291. König und Miniſter, Herr

und Diener 291. Die Feier vom 1. April 1885 292. Bismarcks Roya¬

lismus 292. VII. Briefe Wilhelms I. an Bismarck 293. Letzter Brief

der Kaiſerin Auguſta an Bismarck 302.

Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III. 304–311

Beziehungen Bismarcks zu dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm S. 304,

zur Kronprinzeſſin 305. Die angebliche Verzichtleiſtung des Kron¬

prinzen im Jahre 1887 zu Gunſten ſeines Sohnes 305. Bismarcks

Eingriff in die ärztliche Behandlung des Dulders 306. Eine ſtaats¬

rechtliche Erörterung über das Recht des Kaiſers und des Königs von

Preußen in Concurrenz mit dem Rechte der parlamentariſchen Corpora¬

tionen 306. Inwieweit iſt der Reichskanzler verantwortlich für das

geſammte Verhalten der Reichsregierung? 307. Der Reichskanzler hat

nur als Mitglied des Bundesraths das Recht, im Reichstag zu er¬

ſcheinen 307. Erwägungen über die Nothwendigkeit einer anderweitigen

Vertheilung des Schwergewichts 308. Ueberſchätzung des Patriotismus

des Reichstags, Unterſchätzung der Treue der Dynaſtien 309. Schädigung

unſrer Zukunft durch den Fractionsgeiſt und die Unfähigkeit der Frac¬

tionsführer 309. Reichsfeindlicher Charakter der Centrumspartei 310.

Ein Brief Kaiſer Friedrichs III. an Bismarck 311.

[[1]/0025]

Neunzehntes Kapitel.

Schleswig-Holſtein.

I.

Zu meinem Nachfolger in Paris war Graf Robert von der

Goltz ernannt worden, der ſeit 1855 Geſandter in Athen,

Conſtantinopel und Petersburg geweſen war. Meine Er¬

wartung, daß das Amt ihn diſciplinirt, der Uebergang von der

ſchriftſtelleriſchen zu einer geſchäftlichen Thätigkeit ihn praktiſcher,

nüchterner gemacht und die Berufung auf den derzeit wichtigſten

Poſten der preußiſchen Diplomatie ſeinen Ehrgeiz befriedigt haben

würde, ſollte ſich nicht ſogleich und nicht völlig erfüllen. Am Ende

des Jahres 1863 ſah ich mich zu einer ſchriftlichen Erörterung mit

ihm genöthigt, die leider nicht vollſtändig in meinem Beſitz iſt;

von ſeinem Briefe vom 22. December, welcher den unmittelbaren

Anlaß dazu gab, iſt nur ein Bruchſtück vorhanden 1), und in der

Abſchrift meiner Antwort fehlt der Eingang. Aber auch ſo hat

dieſe ihren Werth als Schilderung der damaligen Situation und

als Beleuchtung der daraus hervorgegangenen Entwicklung.

„Berlin, den 24. December 1863.

... Was die däniſche Sache betrifft, ſo iſt es nicht möglich,

daß der König zwei auswärtige Miniſter habe, d. h. daß der

1) S. Bismarck-Jahrbuch V 231 f.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 1

[2/0026]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

wichtigſte Poſten in der entſcheidenden Tagesfrage eine der mini¬

ſteriellen Politik entgegengeſetzte immediat bei dem Könige vertrete.

Die ſchon übermäßige Friction unſrer Staatsmaſchine kann nicht

noch geſteigert werden. Ich vertrage jeden mir gegenüber geübten

Widerſpruch, ſobald er aus ſo competenter Quelle wie die Ihrige

hervorgeht; die Berathung des Königs aber in dieſer Sache kann

ich amtlich mit niemandem theilen und ich müßte, wenn Seine

Majeſtät mir dies zumuthen ſollte, aus meiner Stellung ſcheiden.

Ich habe dies dem Könige bei Vorleſung eines Ihrer jüngſten Be¬

richte geſagt; Seine Majeſtät fand meine Auffaſſung natürlich, und

ich kann nicht anders als an ihr feſthalten. Berichte, welche nur

die miniſteriellen Anſchauungen wiederſpiegeln, erwartet niemand;

die Ihrigen ſind aber nicht mehr Berichte im üblichen Sinne,

ſondern nehmen die Natur miniſterieller Vorträge an, die dem

Könige die entgegengeſetzte Politik von der empfehlen, welche er

mit dem geſammten Miniſterium im Conſeil ſelbſt beſchloſſen und

ſeit vier Wochen befolgt hat. Eine, ich darf wohl ſagen ſcharfe,

wenn nicht feindſelige Kritik dieſes Entſchluſſes iſt aber ein andres

Miniſterprogramm und nicht mehr ein geſandſchaftlicher Bericht.

Schaden kann ſolche kreuzende Auffaſſung allerdings, ohne zu

nützen; denn ſie kann Zögerungen und Unentſchiedenheiten her¬

vorrufen, und jede Politik halte ich für eine beſſere als eine

ſchwankende.

Ich gebe Ihnen die Betrachtung vollſtändig zurück, daß eine

‚an ſich höchſt einfache Frage preußiſcher Politik‘ durch den Staub,

den die däniſche Sache aufrührt, durch die Nebelbilder, welche ſich

an dieſelbe knüpfen, verdunkelt wird. Die Frage iſt, ob wir eine

Großmacht ſind oder ein deutſcher Bundesſtaat, und ob wir, der

erſtern Eigenſchaft entſprechend, monarchiſch oder wie es in der

zweiten Eigenſchaft allerdings zuläſſig iſt, durch Profeſſoren, Kreis¬

richter und kleinſtädtiſche Schwätzer zu regiren ſind. Die Jagd

hinter dem Phantom der Popularität ‚in Deutſchland‘, die wir

ſeit den vierziger Jahren betrieben, hat uns unſre Stellung in

[3/0027]

Differenz mit Goltz über Behandlung der Herzogthümerfrage.

Deutſchland und in Europa gekoſtet, und wir werden ſie dadurch

nicht wieder gewinnen, daß wir uns vom Strome treiben laſſen

in der Meinung, ihn zu lenken, ſondern nur dadurch, daß wir feſt

auf eignen Füßen ſtehn und zuerſt Großmacht, dann Bundes¬

ſtaat ſind. Das hat Oeſtreich zu unſerm Schaden ſtets als richtig

für ſich anerkannt, und es wird ſich von der Komödie, die es mit

deutſchen Sympathien ſpielt, nicht aus ſeinen europäiſchen Allianzen,

wenn es überhaupt ſolche hat, herausreißen laſſen. Gehn wir ihm

zu weit, ſo wird es ſcheinbar noch eine Weile mitgehn, namentlich

mitſchreiben, aber die 20 Procent Deutſche, die es in ſeiner Be¬

völkerung hat, ſind kein in letzter Inſtanz zwingendes Element,

ſich von uns wider eignes Intereſſe fortreißen zu laſſen. Es wird

im geeigneten Momente hinter uns zurückbleiben und ſeine Richtung

in die europäiſche Stellung zu finden wiſſen, ſobald wir dieſelbe

aufgeben. Die Schmerlingſche Politik, deren Seitenſtück Ihnen

als Ideal für Preußen vorſchwebt, hat ihr Fiasco gemacht. Unſre

von Ihnen im Frühjahr ſehr lebhaft bekämpfte Politik hat ſich in

der polniſchen Sache bewährt, die Schmerlingſche bittre Früchte

für Oeſtreich getragen. Iſt es denn nicht der vollſtändigſte Sieg,

den wir erringen konnten, daß Oeſtreich zwei Monate nach dem

Reformverſuch froh iſt, wenn von demſelben nicht mehr geſprochen

wird, und mit uns identiſche Noten an ſeine frühern Freunde

ſchreibt, mit uns ſeinem Schooßkinde, der Bundestags-Majorität,

drohend erklärt, es werde ſich nicht majoriſiren laſſen? Wir haben

dieſen Sommer erreicht, wonach wir 12 Jahre lang vergebens

ſtrebten, die Sprengung der Bregenzer Coalition, Oeſtreich hat

unſer Programm adoptirt, was es im October v. J. öffentlich ver¬

höhnte; es hat die preußiſche Allianz ſtatt der Würzburger geſucht,

empfängt ſeine Beihülfe von uns, und wenn wir ihm heut den

Rücken kehren, ſo ſtürzen wir das Miniſterium. Es iſt noch nicht

dageweſen, daß die Wiener Politik in dieſem Maße en gros

et en détail von Berlin aus geleitet wurde. Dabei ſind wir von

Frankreich geſucht, Fleury bietet mehr als der König mag; unſre

[4/0028]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

Stimme hat in London und Petersburg das Gewicht, was ihr ſeit

20 Jahren verloren war; und das acht Monate, nachdem Sie mir

die gefährlichſte Iſolirung wegen unſrer polniſchen Politik prophe¬

zeiten. Wenn wir jetzt den Großmächten den Rücken drehn, um

uns der in dem Netze der Vereinsdemokratie gefangenen Politik

der Kleinſtaaten in die Arme zu werfen, ſo wäre das die elendeſte

Lage, in die man die Monarchie nach Innen und Außen bringen

könnte. Wir würden geſchoben ſtatt zu ſchieben; wir würden uns

auf Elemente ſtützen, die wir nicht beherrſchen und die uns noth¬

wendig feindlich ſind, denen wir uns aber auf Gnade oder Ungnade

zu ergeben hätten. Sie glauben, daß in der ‚deutſchen öffentlichen

Meinung‘, Kammern, Zeitungen c. irgend etwas ſteckt, was uns

in einer Unions- oder Hegemonie-Politik ſtützen und helfen könnte.

Ich halte das für einen radicalen Irrthum, für ein Phantaſie¬

gebilde. Unſre Stärkung kann nicht aus Kammern- und Pre߬

politik, ſondern nur aus waffenmäßiger Großmachtspolitik hervor¬

gehn, und wir haben nicht nachhaltiger Kraft genug, um ſie in

falſcher Front und für Phraſen und Auguſtenburg zu verpuffen.

Sie überſchätzen die ganze däniſche Frage und laſſen ſich dadurch

blenden, daß dieſelbe das allgemeine Feldgeſchrei der Demokratie

geworden iſt, die über das Sprachrohr von Preſſe und Vereinen

diſponirt und dieſe an ſich mittelmäßige Frage zum Mouſſiren

bringt. Vor zwölf Monaten hieß es zweijährige Dienſtzeit, vor

acht Monaten Polen, jetzt Schleswig-Holſtein. Wie ſahn Sie

ſelbſt die europäiſche Lage im Sommer an? Sie fürchteten Ge¬

fahren jeder Art für uns und haben in Kiſſingen kein Hehl ge¬

macht über die Unfähigkeit unſrer Politik; ſind denn nun dieſe

Gefahren durch den Tod des Königs von Dänemark plötzlich ge¬

ſchwunden und ſollen wir jetzt an der Seite von Pfordten, Coburg

und Auguſtenburg, geſtützt auf alle Schwätzer und Schwindler

der Bewegungspartei, plötzlich ſtark genug ſein, alle vier Gro߬

mächte zu brüskiren, und ſind letztre plötzlich ſo gutmüthig oder

ſo machtlos geworden, daß wir uns dreiſt in jede Verlegen¬

[5/0029]

Differenz mit Goltz über Behandlung der Herzogthümerfrage.

heit ſtürzen können, ohne etwas von ihnen zu beſorgen zu

haben?

Sie nennen es eine ‚wundervolle‘ Politik, daß wir das

Gagernſche Programm ohne Reichsverfaſſung hätten verwirklichen

können. Ich ſehe nicht ein, wie wir hätten dazu gelangen ſollen,

wenn wir im Bunde mit den Würzburgern, auf deren Unter¬

ſtützung angewieſen, Europa hätten beſiegen müſſen. Entweder

ſtanden die Regirungen uns ehrlich bei, und der Kampfpreis

war ein Großherzog mehr in Deutſchland, der aus Sorge

für ſeine neue Souveränetät am Bunde gegen Preußen ſtimmt,

ein Würzburger mehr; oder wir mußten, und das war das Wahr¬

ſcheinlichere, unſern Verbündeten durch eine Reichsverfaſſung den

Boden unter den Füßen wegziehn und dennoch dabei auf ihre

Treue rechnen. Mißlang das, wie zu glauben, ſo waren wir

blamirt; gelang es, ſo hatten wir die Union mit der Reichsver¬

faſſung.

Sie ſprechen von dem Staatencomplex von 70 Millionen mit

einer Million Soldaten, der in compacter Weiſe Europa trotzen

ſoll, muthen alſo Oeſtreich ein Aushalten auf Tod und Leben

bei einer Politik zu, die Preußen zur Hegemonie führen ſoll, und

trauen doch dem Staate, der 35 dieſer 70 Millionen hat, nicht über

den Weg. Ich auch nicht; aber ich finde es für jetzt richtig, Oeſt¬

reich bei uns zu haben; ob der Augenblick der Trennung kommt

und von wem, das werden wir ſehn. Sie fragen: wann in aller

Welt ſollen wir denn Krieg führen, wozu die Armeereorganiſation?

und Ihre eignen Berichte ſchildern uns das Bedürfniß Frankreichs,

im Frühjahr Krieg zu haben, die Ausſicht auf eine Revolution in

Galizien daneben. Rußland hat 200000 Mann über den polniſchen

Bedarf auf den Beinen und kein Geld zu Phantaſie-Rüſtungen,

muß alſo muthmaßlich doch auf Krieg gefaßt ſein; ich bin es auf

Krieg und mit Revolution combinirt. Sie ſagen dann, daß wir

uns dem Kriege garnicht ausſetzen; das vermag ich mit Ihren

eignen Berichten aus den letzten drei Monaten nicht in Einklang

[6/0030]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

zu bringen. Ich bin dabei in keiner Weiſe kriegsſcheu, im Gegen¬

theil; bin auch gleichgültig gegen Revolutionär oder Conſervativ,

wie gegen alle Phraſen; Sie werden ſich vielleicht ſehr bald über¬

zeugen, daß der Krieg auch in meinem Programme liegt; ich halte

nur Ihren Weg, dazu zu gelangen, für einen ſtaatsmänniſch un¬

richtigen. Daß Sie dabei im Einverſtändniß mit Pfordten, Beuſt,

Dalwigk und wie unſre Gegner alle heißen, ſich befinden, macht

für mich die Seite, die Sie vertreten, weder zur revolutionären

noch zur conſervativen, aber nicht zur richtigen für Preußen. Wenn

der Bierhaus-Enthuſiasmus in London und Paris imponirt, ſo

freut mich das, es paßt ganz in unſern Kram; deshalb imponirt

er mir aber noch nicht und liefert uns im Kampfe keinen Schuß

und wenig Groſchen. Mögen Sie den Londoner Vertrag revo¬

lutionär nennen: die Wiener Tractate waren es zehnmal mehr

und zehnmal ungerechter gegen viele Fürſten, Stände und Länder,

das europäiſche Recht wird eben durch europäiſche Tractate ge¬

ſchaffen. Wenn man aber an letztre den Maßſtab der Moral

und Gerechtigkeit legen wollte, ſo müßten ſie ziemlich alle ab¬

geſchafft werden.

Wenn Sie ſtatt meiner hier im Amte wären, ſo glaube ich,

daß Sie ſich von der Unmöglichkeit der Politik, die Sie mir heut

empfehlen und als ſo ausſchließlich ,patriotiſch‘ anſehn, daß Sie

die Freundſchaft darüber kündigen, ſehr bald überzeugen würden.

So kann ich nur ſagen: la critique est aisée; die Regirung,

namentlich eine ſolche, die ohnehin in manches Wespenneſt hat

greifen müſſen, unter dem Beifall der Maſſen zu tadeln, hat nichts

Schwieriges; beweiſt der Erfolg, daß die Regirung richtig verfuhr,

ſo iſt von Tadeln nicht weiter die Rede; macht die Regirung

Fiasco in Dingen, die menſchliche Einſicht und Wille überhaupt

nicht beherrſchen, ſo hat man den Ruhm, rechtzeitig vorhergeſagt

zu haben, daß die Regirung auf dem Holzwege ſei. Ich habe

eine hohe Meinung von Ihrer politiſchen Einſicht; aber ich halte

mich ſelbſt auch nicht für dumm; ich bin darauf gefaßt, daß Sie

[7/0031]

Differenz mit Goltz über Behandlung der Herzogthümerfrage.

ſagen, dies ſei eine Selbſttäuſchung. Vielleicht ſteigen mein Patrio¬

tismus und meine Urtheilskraft in Ihrer Anſicht, wenn ich Ihnen

ſage, daß ich mich ſeit 14 Tagen auf der Baſis der Vorſchläge

befinde, die Sie in Ihrem Bericht Nro. — machen. Mit einiger

Mühe habe ich Oeſtreich beſtimmt, die holſteiniſchen Stände zu

berufen, falls wir es in Frankfurt durchſetzen; wir müſſen erſt

darin ſein im Lande. Die Prüfung der Erbfolgefrage am Bunde

erfolgt mit unſerm Einverſtändniß, wenn wir auch mit Rückſicht

auf England nicht dafür ſtimmen; ich hatte Sydow ohne Inſtruction

gelaſſen, er iſt zur Ausführung ſubtiler Inſtructionen nicht gemacht.

Vielleicht werden noch andre Phaſen folgen, die Ihrem Pro¬

gramm nicht ſehr fern liegen; wie aber ſoll ich mich entſchließen,

mich über meine letzten Gedanken frei gegen Sie auszulaſſen, nach¬

dem Sie mir politiſch den Krieg erklärt haben und ſich ziemlich

unumwunden zu dem Vorſatz bekennen, das jetzige Miniſterium und

ſeine Politik zu bekämpfen, alſo zu beſeitigen? Ich urtheile dabei

blos nach dem Inhalt Ihres Schreibens an mich und laſſe alles

bei Seite, was mir durch Colportage und dritte Hand über Ihre

mündlichen und ſchriftlichen Auslaſſungen in Betreff meiner zugeht.

Und doch muß ich als Miniſter, wenn das Staatsintereſſe nicht

leiden ſoll, gegen den Botſchafter in Paris rückhaltlos offen bis

zum letzten Worte meiner Politik ſein. Die Friction, welche Jeder

in meiner Stellung mit den Miniſtern und Räthen, am Hofe, mit

den occulten Einflüſſen, Kammern, Preſſe, den fremden Höfen zu

überwinden hat, kann nicht dadurch vermehrt werden, daß die

Diſciplin meines Reſſorts einer Concurrenz zwiſchen dem Miniſter

und dem Geſandten Platz macht, und daß ich die unentbehrliche

Einheit des Dienſtes durch Diſcuſſion im Wege des Schriftwechſels

herſtelle. Ich kann ſelten ſo viel ſchreiben wie heut in der Nacht

am heiligen Abend, wo alle Beamte beurlaubt ſind, und ich würde

an niemanden als an Sie den vierten Theil des Briefes ſchreiben.

Ich thue es, weil ich mich nicht entſchließen kann, Ihnen amtlich

und durch die Bureaus in derſelben Höhe des Tones zu ſchreiben,

[8/0032]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

bei welchem Ihre Berichte angelangt ſind. Ich habe nicht die

Hoffnung, Sie zu überzeugen, aber ich habe das Vertrauen zu Ihrer

eignen dienſtlichen Erfahrung und zu Ihrer Unparteilichkeit, daß

Sie mir zugeben werden, es kann nur Eine Politik auf einmal

gemacht werden, und das muß die ſein, über welche das Miniſterium

mit dem Könige einig iſt. Wollen Sie dieſelbe und damit das

Miniſterium zu werfen ſuchen, ſo müſſen Sie das hier in der

Kammer und der Preſſe an der Spitze der Oppoſition unternehmen,

aber nicht von Ihrer jetzigen Stellung aus; und dann muß ich

mich ebenfalls an Ihren Satz halten, daß in einem Conflict des

Patriotismus und der Freundſchaft der Erſtre entſcheidet. Ich

kann Sie aber verſichern, daß mein Patriotismus von ſo ſtarker

und reiner Natur iſt, daß eine Freundſchaft, die neben ihm zu

kurz kommt, dennoch eine ſehr herzliche ſein kann“ 1).

II.

Die Abſtufungen, welche in der däniſchen Frage erreichbar

erſchienen und deren jede für die Herzogthümer einen Fortſchritt

zum Beſſern im Vergleich mit dem vorhandenen Zuſtande bedeutete,

gipfelten m. E. in der Erwerbung der Herzogthümer für Preußen,

wie ich ſofort nach dem Tode Friedrichs VII. in einem Conſeil aus¬

geſprochen habe. Ich erinnerte den König daran, daß jeder ſeiner

nächſten Vorfahren — ſelbſt ſeinen Bruder nicht ausgenommen —

für den Staat einen Zuwachs gewonnen habe, Friedrich Wil¬

helm IV. Hohenzollern und das Jahdegebiet, Friedrich Wilhelm III.

die Rheinprovinz, Friedrich Wilhelm II. Polen, Friedrich II.

Schleſien, Friedrich Wilhelm I. Altvorpommern, der Große Kur¬

fürſt Hinterpommern und Magdeburg, Minden u. ſ. w., und er¬

munterte ihn, ein Gleiches zu thun. In dem Protokolle fehlte dieſe

1) Vgl. Bismarck-Jahrbuch V 232 ff. Goltzens Antwort auf dieſen Brief

mit Bismarck's Randbemerkungen ſ. im Bismarck-Jahrbuch V 238 ff.

[9/0033]

Möglichkeiten der Löſung bei Herzogthümerfrage.

meine Aeußerung. Der Geh. Rath Coſtenoble, der die Protokolle

zu führen hatte, ſagte, von mir zur Rede geſtellt, der König hätte

gemeint, es würde nur lieber ſein, wenn meine Auslaſſungen nicht

protokollariſch feſtgelegt würden; Seine Majeſtät ſchien geglaubt

zu haben, daß ich unter bacchiſchen Eindrücken eines Frühſtücks ge¬

ſprochen hätte und froh ſein würde, nichts weiter davon zu hören.

Ich beſtand aber auf der Einſchaltung, die auch erfolgte. Der

Kronprinz hatte, während ich ſprach, die Hände zum Himmel er¬

hoben, als wenn er an meinen geſunden Sinnen zweifelte; meine

Collegen verhielten ſich ſchweigend.

Wäre das höchſte Ziel nicht zu erreichen geweſen, ſo konnten

wir trotz aller Auguſtenburgiſchen Verzichtleiſtungen auf die Ein¬

ſetzung dieſer Dynaſtie und die Herſtellung eines neuen Mittelſtaates

eingehn, wenn die preußiſchen und deutſch-nationalen Intereſſen

ſichergeſtellt wurden, die durch das Weſentliche der nachmaligen

Februarbedingungen, Militärconvention, Kiel als Bundeshafen und

den Nord-Oſtſee-Canal, gedeckt waren.

Wäre auch das nach der europäiſchen Situation und nach dem

Willen des Königs nicht zu erreichen geweſen ohne Iſolirung Preußens

von allen Großmächten einſchließlich Oeſtreichs, ſo ſtand zur Frage,

auf welchem Wege für die Herzogthümer, ſei es in Form der

Perſonalunion oder in einer andern, ein vorläufiger Abſchluß er¬

reichbar bliebe, der immerhin eine Verbeſſerung der Lage der

Herzogthümer hätte ſein müſſen. Ich habe von Anfang an die

Annexion unverrückt im Auge behalten, ohne die andern Abſtufungen

aus dem Geſichtsfelde zu verlieren. Als die Situation, welche ich

abſolut glaubte vermeiden zu müſſen, betrachtete ich diejenige, welche

in der öffentlichen Meinung von unſern Gegnern als Programm

aufgeſtellt war, d. h. den Kampf und Krieg Preußens für die Errich¬

tung eines neuen Großherzogthums, durchzufechten an der Spitze der

Zeitungen, der Vereine, der Freiſchaaren und der Bundesſtaaten

außer Oeſtreich, und ohne die Sicherheit, daß die Bundesregirungen

die Sache auf jede Gefahr hin durchführen würden. Dabei hatte die

[10/0034]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

in dieſer Richtung entwickelte öffentliche Meinung, auch der Präſident

Ludwig von Gerlach, ein kindliches Vertrauen zu dem Beiſtande, den

England dem iſolirten Preußen leiſten würde. Viel leichter als

die engliſche wäre die franzöſiſche Genoſſenſchaft zu erlangen ge¬

weſen, wenn wir den Preis hätten zahlen wollen, den ſie uns

vorausſichtlich gekoſtet haben würde. Ich habe nie in der Ueber¬

zeugung geſchwankt, daß Preußen, geſtützt nur auf die Waffen und

Genoſſen von 1848, öffentliche Meinung, Landtage, Vereine, Frei¬

ſchaaren und die kleinen Contingente in ihrer damaligen Verfaſſung,

ſich auf ein hoffnungsloſes Beginnen eingelaſſen und unter den

großen Mächten nur Feinde gefunden hätte, auch in England. Ich

hätte den Miniſter als Schwindler und Landesverräther betrachtet,

der in die falſche Politik von 1848, 49, 50 zurückgefallen wäre,

die uns ein neues Olmütz bereiten mußte. Sobald aber Oeſtreich

mit uns war, ſchwand die Wahrſcheinlichkeit einer Coalition der

andern Mächte gegen uns.

Wenn auch durch Landtagsbeſchlüſſe, Zeitungen und Schützen¬

feſte die deutſche Einheit nicht hergeſtellt werden konnte, ſo übte

doch der Liberalismus einen Druck auf die Fürſten, der ſie zu

Conceſſionen für das Reich geneigter machte. Die Stimmung der

Höfe ſchwankte zwiſchen dem Wunſche, dem Andringen der Liberalen

gegenüber die fürſtliche Stellung in particulariſtiſcher und auto¬

kratiſcher Sonderpolitik zu befeſtigen, und der Sorge vor Friedens¬

ſtörungen durch äußere oder innere Gewalt. An ihrer deutſchen

Geſinnung ließ keine deutſche Regirung einen Zweifel, doch über

die Art, wie die deutſche Zukunft geſtaltet werden ſollte, ſtimmten

weder die Regirungen noch die Parteien überein. Es iſt nicht

wahrſcheinlich, daß Kaiſer Wilhelm als Regent und ſpäter als

König auf dem Wege, den er zuerſt unter dem Einfluſſe ſeiner

Gemalin mit der neuen Aera betreten hatte, je dahin gebracht

worden wäre, das zur Erreichung der Einheit Nothwendige zu thun,

indem er dem Bunde abſagte und die preußiſche Armee für die

deutſche Sache einſetzte. Auf der andern Seite aber iſt es auch

[11/0035]

Die öffentliche Meinung unter dem Einfluß des Liberalismus.

nicht wahrſcheinlich, daß er ohne ſeine vorhergehenden Verſuche und

Beſtrebungen in liberaler Richtung, ohne die Verbindlichkeiten, in

die er dadurch gerathen war, in die Wege zum däniſchen und damit

zum böhmiſchen Kriege hätte geleitet werden können. Vielleicht

wäre es nicht einmal gelungen, ihn von dem Frankfurter Fürſten¬

congreß 1863 fern zu halten, wenn die liberalen Antecedentien

nicht ein gewiſſes Popularitätsbedürfniß in liberaler Richtung auch

bei dem Herrn zurückgelaſſen hätten, das ihm vor Olmütz fremd

geweſen, ſeitdem aber die natürliche pſychologiſche Folge des Ver¬

langens geweſen war, für die ſeinem preußiſchen Ehrgefühl auf

dem Gebiete der deutſchen Politik geſchlagene Wunde auf demſelben

Gebiete Heilung und Genugthuung zu ſuchen. Die holſteiniſche

Frage, der däniſche Krieg, Düppel und Alſen, der Bruch mit Oeſt¬

reich und die Entſcheidung der deutſchen Frage auf dem Schlacht¬

felde, in dieſes ganze Wageſyſtem wäre er ohne die ſchwierige

Stellung, in die ihn die neue Aera gebracht hatte, vielleicht nicht

eingegangen.

Es koſtete freilich noch 1864 viel Mühe, die Fäden zu löſen,

durch welche der König unter Mitwirkung des liberaliſirenden Ein¬

fluſſes ſeiner Gemalin mit jenem Lager in Verbindung ſtand.

Ohne die verwickelten Rechtsfragen der Erbfolge unterſucht zu

haben, blieb er dabei: „Ich habe kein Recht auf Holſtein.“ Meine

Vorhaltung, daß die Auguſtenburger kein Recht hätten auf den

herzoglichen und den Schaumburgiſchen Antheil, nie ein ſolches

gehabt und auf den Königlichen Theil zweimal 1721 und 1852

entſagt hätten, daß Dänemark am Bundestage in der Regel mit

Preußen geſtimmt habe, der Herzog von Schleswig-Holſtein aus

Furcht vor preußiſchem Uebergewicht es mit Oeſtreich halten werde,

machte keinen Eindruck. Wenn auch die Erwerbung dieſer von

zwei Meeren umſpülten Provinzen und meine geſchichtliche Erinne¬

rung in der Conſeilſitzung vom December 1863 auf das dynaſtiſche

Gefühl des Herrn nicht ohne Wirkung war, ſo war auf der andern

Seite die Vergegenwärtigung der Mißbilligung wirkſam, die der

[12/0036]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

König, wenn er den Auguſtenburger aufgab, bei ſeiner Gemalin,

bei dem kronprinzlichen Paare, bei verſchiedenen Dynaſtien und bei

denen zu erwarten hatte, welche damals in ſeiner Auffaſſung die

öffentliche Meinung Deutſchlands bildeten.

Die öffentliche Meinung war in den gebildeten Mittelſtänden

Deutſchlands ohne Zweifel auguſtenburgiſch, in derſelben Urtheils¬

loſigkeit, welche ſich früher den Polonismus und ſpäter die künſtliche

Begeiſterung für die battenbergiſche Bulgarei als deutſches National¬

intereſſe unterſchieben ließ. Die Mache der Preſſe war in dieſen

beiden etwas analogen Lagen betrübend erfolgreich und die öffent¬

liche Dummheit für ihre Wirkung ſo empfänglich wie immer. Die

Neigung zur Kritik der Regirung war 1864 auf der Höhe des

Satzes: Nein, er gefällt mir nicht, der neue Bürgermeiſter. Ich

weiß nicht, ob es heut noch Jemanden gibt, der es für vernünftig

hielte, wenn nach Befreiung der Herzogthümer aus ihnen ein neues

Großherzogthum hergeſtellt worden wäre, mit Stimmberechtigung

am Bundestage und dem ſich von ſelbſt ergebenden Berufe, ſich

vor Preußen zu fürchten und es mit ſeinen Gegnern zu halten;

damals aber wurde die Erwerbung der Herzogthümer für Preußen

als eine Ruchloſigkeit von allen denen betrachtet, welche ſeit 1848

ſich als die Vertreter der nationalen Gedanken aufgeſpielt hatten.

Mein Reſpect vor der ſogenannten öffentlichen Meinung, das

heißt, vor dem Lärm der Redner und der Zeitungen, war niemals

groß geweſen, wurde aber in Betreff der auswärtigen Politik in

den beiden oben verglichenen Fällen noch erheblich herabgedrückt.

Wie ſtark die Anſchauungsweiſe des Königs bis dahin von dem

landläufigen Liberalismus durch den Einfluß der Gemalin und

der Bethmann-Hollwegſchen Streberfraction imprägnirt war, beweiſt

die Zähigkeit, mit der er an dem Widerſpruch feſthielt, in welchem

das Oeſtreichiſch-Frankfurter-Auguſtenburger Programm mit dem

preußiſchen Streben nach nationaler Einheit ſtand. Logiſch be¬

gründet konnte dieſe Politik dem König gegenüber unmöglich werden;

er hatte ſie, ohne eine chemiſche Analyſe ihres Inhalts vorzunehmen,

[13/0037]

Auguſtenburgiſche Sympathien. Schreiben Bethmann-Hollwegs.

als Zubehör des Altliberalismus vom Standpunkt der frühern

Thronfolgerkritik und der Rathgeber der Königin im Sinne von

Goltz, Pourtalès u. ſ. w. überkommen. Ich greife in der Zeit

vor, indem ich hier das letzte Lebenszeichen der Wochenblattspartei

einſchalte, das Schreiben des Herrn von Bethmann-Hollweg an

den König vom 15. Juni 1866, deſſen Hauptſätze lauten 1):

„Was Eure Majeſtät ſtets gefürchtet und vermieden, was alle Ein¬

ſichtigen vorausſahen, daß ein ernſtliches Zerwürfniß mit Oeſterreich

von Frankreich benutzt werden würde, um ſich auf Koſten Deutſchlands

zu vergrößern (wo?) 2), liegt jetzt in L. Napoleons ausgeſprochenem

Programm aller Welt vor Augen. ... Die ganzen Rheinlande für die

Herzogthümer wäre für ihn kein ſchlechter Tauſch, denn mit den

früher beanſpruchten petites rectifications des frontières wird er

ſich gewiß nicht begnügen. Und Er iſt der allmächtige Gebieter in

Europa! ... Gegen den Urheber dieſer (unſrer) Politik hege ich

keine feindliche Geſinnung. Ich erinnere mich gerne, daß ich 1848

Hand in Hand mit ihm ging, um den König zu ſtärken. Im März

1862 rieth ich Eurer Majeſtät, einen Steuermann von conſervativen

Antecedentien zu wählen, der Ehrgeiz, Kühnheit und Geſchick genug

beſitze, um das Staatsſchiff aus den Klippen, in die es gerathen,

herauszuführen, und ich würde Herrn von Bismarck genannt haben,

hätte ich geglaubt, daß er mit jenen Eigenſchaften die Beſonnenheit

und Folgerichtigkeit des Denkens und Handelns verbände, deren

Mangel der Jugend kaum verziehen wird, bei einem Manne aber

für den Staat, den er führt, lebensgefährlich iſt. In der That

war des Grafen Bismarck Thun von Anfang an voller Wider¬

ſprüche. ... Von jeher ein entſchiedener Vertreter der ruſſiſch-franzöſi¬

ſchen Allianz, knüpfte er an die im preußiſchen Intereſſe Rußland zu

leiſtende Hilfe gegen den polniſchen Aufſtand politiſche Projecte 3),

1) Vollſtändig veröffentlicht in L. Schneider, Aus dem Leben Kaiſer

Wilhelms I. I 334 ff., auch in Kohl, Bismarck-Regeſten I 287 f.

2) Randbemerkung von Bismarck's Hand.

3) Vergl. Bd. I 309 ff.

[14/0038]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

die ihm beide Staaten entfremden mußten. Als ihm 1863 mit

dem Tode des Königs von Dänemark eine Aufgabe in den Schooß

fiel, ſo glücklich, wie ſie nur je einem Staatsmanne zu Theil ge¬

worden, verſchmähte er es, Preußen an die Spitze der einmüthigen

Erhebung Deutſchlands (in Reſolutionen) *) zu ſtellen, deſſen Einigung

unter Preußens Führung ſein Ziel war, verband ſich vielmehr mit

Oeſterreich, dem principiellen Gegner dieſes Planes, um ſpäter ſich

mit ihm unverſöhnlich zu verfeinden. Den Prinzen von Auguſten¬

burg, dem Ew. M. wohlwollten, und von dem damals Alles zu

erhalten war, mißhandelte er **), um ihn bald darauf durch den

Grafen Bernſtorff auf der Londoner Conferenz für den Berechtigten

erklären zu laſſen. Dann verpflichtet er Preußen im Wiener Frieden,

nur im Einverſtändniß mit Oeſterreich definitiv über die befreiten

Herzogthümer zu disponiren 1), und läßt in denſelben Einrichtungen

treffen, welche die beabſichtigte ‚Annexion‘ deutlich verkündigen. ...

Viele betrachten dieſe und ähnliche Maßregeln, die ſtets, weil in

ſich widerſprechend, in das Gegentheil des Bezweckten umſchlugen,

als Fehler der Unbeſonnenheit. Andern erſcheinen ſie als Schritte

eines Mannes, der auf Abenteuer ausgeht, Alles durcheinander¬

wirft und es darauf ankommen läßt, was ihm zur Beute wird,

oder eines Spielers, der nach jedem Verluſt höher pointirt und

endlich va banque ſagt.

Dies Alles iſt ſchlimm, aber noch viel ſchlimmer in meinen

Augen, daß Graf Bismarck ſich in dieſer Handlungsweiſe mit der

Geſinnung und den Zielen ſeines Königs in Widerſpruch ſetzte

und ſein größtes Geſchick darin bewies, daß er ihn Schritt für

Schritt dem entgegengeſetzten Ziele näher führte, bis die Umkehr

unmöglich ſchien, während es nach meinem Dafürhalten die erſte

Pflicht eines Miniſters iſt, ſeinen Fürſten treu zu berathen, ihm die

*) Vergl. den Brief des Prinzen vom 11. December 1863, S. 26.

**) Warum nicht: Verpflichtete er Oeſtreich, nur im Einverſtändniß mit

Preußen u. ſ. w.?

1) Einſchaltung Bismarcks.

[15/0039]

Das Schreiben Bethmann-Hollwegs an den König.

Mittel zur Ausführung ſeiner Abſichten darzureichen und vor Allem

deſſen Bild vor der Welt rein zu erhalten. Eurer Majeſtät gerader,

gerechter und ritterlicher Sinn iſt weltbekannt und hat Allerhöchſt¬

demſelben das allgemeine Vertrauen, die allgemeine Verehrung zu¬

gewendet. Graf Bismarck aber hat es dahin gebracht, daß Eurer

Majeſtät edelſte Worte dem eigenen Lande gegenüber, weil nicht ge¬

glaubt, wirkungslos verhallen, und daß jede Verſtändigung mit andern

Mächten unmöglich geworden, weil die erſte Vorbedingung derſelben,

das Vertrauen, durch eine ränkevolle Politik zerſtört worden iſt. ...

Noch iſt kein Schuß gefallen, noch iſt Verſtändigung unter einer

Bedingung möglich. Nicht die Kriegsrüſtungen ſind einzuſtellen,

vielmehr, wenn es nöthig iſt, zu verdoppeln, um Gegnern, die

unſre Vernichtung wollen, ſiegreich entgegen zu treten oder mit

vollen Ehren aus dem verwickelten Handel herauszukommen. Aber

jede Verſtändigung iſt unmöglich, ſo lange der Mann an Eurer

Majeſtät Seite ſteht. Ihr entſchiedenes Vertrauen beſitzt, der dieſes

Eurer Majeſtät bei allen andern Mächten geraubt hat“ 1). ...

III.

Als der König dieſes Schreiben erhielt, war er ſchon aus der

Verſtrickung der darin wiederholten Argumente frei geworden durch

den Gaſteiner Vertrag vom 14./20. Auguſt 1865. Mit welchen

Schwierigkeiten ich bei den Verhandlungen über dieſen noch zu

kämpfen hatte, welche Vorſicht zu beachten war, zeigt mein nach¬

ſtehendes Schreiben an Se. Majeſtät:

„Gaſtein, 1. Auguſt 1865.

Eure Majeſtät wollen mir huldreich verzeihn, wenn eine viel¬

leicht zu weit getriebene Sorge für die Intereſſen des allerhöchſten

1) König Wilhelm eröffnete den Brief erſt Nikolsburg im Juli 1866;

ſeine Antwort begann: „In Nikolsburg eröffnete ich erſt Ihren Brief, und

Ort und Datum der Antwort wären Antwort genug! c.; vgl. Schneider

a. a. O. I 341.

[16/0040]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

Dienſtes mich veranlaßt, auf die Mittheilungen zurückzukommen, welche

Eure Majeſtät ſoeben die Gnade hatten mir zu machen. Der Gedanke

einer Theilung auch nur der Verwaltung der Herzogthümer würde,

wenn er im Auguſtenburgiſchen Lager ruchbar würde, einen heftigen

Sturm in Diplomatie und Preſſe erregen, weil man den Anfang

der definitiven Theilung darin erblicken und nicht zweifeln würde,

daß die Landestheile, welche der ausſchließlich preußiſchen Verwaltung

anheimfallen, für Auguſtenburg verloren ſind. Ich glaube mit Eurer

Majeſtät, daß I. M. die Königin die Mittheilungen geheim halten

werde; wenn aber von Coblenz im Vertrauen auf die verwand¬

ſchaftlichen Beziehungen eine Andeutung an die Königin Victoria,

an die kronprinzlichen Herrſchaften, nach Weimar oder nach Baden

gelangte, ſo könnte allein die Thatſache, daß von uns das Ge¬

heimniß, welches ich dem Grafen Blome auf ſein Verlangen zu¬

ſagte, nicht bewahrt worden iſt, das Mißtrauen des Kaiſers Franz

Joſeph wecken und die Unterhandlung zum Scheitern bringen.

Hinter dieſem Scheitern ſteht aber faſt unvermeidlich der Krieg mit

Oeſtreich; Eure Majeſtät wollen es nicht nur meinem Intereſſe für

den allerhöchſten Dienſt, ſondern meiner Anhänglichkeit an Allerhöchſt¬

dero Perſon zu Gute halten, wenn ich von dem Eindrucke beherrſcht

bin, daß Eure Majeſtät in einen Krieg mit einem andern Gefühle

und mit freierem Muthe hineingehn werden, wenn die Nothwendigkeit

dazu ſich aus der Natur der Dinge und aus den monarchiſchen

Pflichten ergiebt, als wenn der Hintergedanke Raum gewinnen kann,

daß eine vorzeitige Kundwerdung der beabſichtigten Löſung den

Kaiſer abgehalten habe, zu dem letzten für Eure Majeſtät annehm¬

baren Auskunftsmittel die Hand zu bieten. Vielleicht iſt meine Sorge

thöricht und ſelbſt wenn ſie begründet wäre und Eure Majeſtät darüber

hinweggehn wollten, ſo würde ich denken, daß Gott Eurer Majeſtät Herz

lenkt, und meinen Dienſt deshalb nicht minder freudig thun, aber

zur Wahrung des Gewiſſens doch ehrfurchtsvoll anheimgeben, ob

Eure Majeſtät mir nicht befehlen wollen, den Feldjäger telegraphiſch

von Salzburg zurückzurufen.†) Die äußere Veranlaſſung dazu könnte

[17/0041]

Gaſteiner Vertrag. Wandel in der Stimmung des Königs.

die miniſterielle Expedition bieten, und es könnte morgen ein andrer

an ſeiner Statt oder derſelbe rechtzeitig abgehn. Eine Abſchrift

deſſen, was ich an Werther über die Verhandlung mit Graf Blome

telegraphirt habe, lege ich allerunterthänigſt bei. Zu Eurer Majeſtät

bewährter Gnade habe ich das ehrfurchtsvolle Vertrauen, daß Aller¬

höchſtdieſelben, wenn Sie meine Bedenken nicht gutheißen, deren

Geltendmachung dem aufrichtigen Streben verzeihn wollen, Eurer

Majeſtät nicht nur pflichtmäßig, ſondern auch zu Allerhöchſtdero

perſönlicher Befriedigung zu dienen.“

An der mit †) bezeichneten Stelle dieſes Schreibens hat der

König an den Rand geſchrieben:

„Einverſtanden. — Ich that der Sache deshalb Erwähnung,

weil in den letzten 24 Stunden ihrer nicht mehr Erwähnung ge¬

ſchah, und ich ſie als ganz aus der Combination fallengelaſſen

anſah, nachdem die wirkliche Trennung und Beſitzergreifung an

die Stelle getreten war. Durch meine Mittheilung an die Königin

wollte ich den Uebergang dereinſt anbahnen zur Beſitzergreifung,

die ſich nach und nach aus der Administrations-Theilung entwickelt

hätte. Indeſſen dies kann ich auch ſpäter ſo darſtellen, wenn die

Eigenthumstheilung wirklich erfolgt, an die ich noch immer nicht

glaube, da Oeſterreich zu ſtark zurückſtecken muß, nachdem es ſich

für Auguſtenburg und gegen Beſitznahme, wenn freilich die ein¬

ſeitige, zu ſehr avancirte. W.“ 1)

Nach dem Gaſteiner Vertrage und der Beſitznahme von Lauen¬

burg, der erſten Mehrung des Reichs, unter König Wilhelm, fand

meiner Wahrnehmung nach ein pſychologiſcher Wandel in ſeiner

Stimmung, ein Geſchmackfinden an Eroberungen ſtatt, aber doch mit

vorwiegender Befriedigung darüber, daß dieſer Zuwachs, der Hafen

von Kiel, die militäriſche Stellung in Schleswig und das Recht,

1) Bismarck-Jahrbuch VI 202 f.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 2

[18/0042]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

einen Canal durch Holſtein zu bauen, in Friede und Freundſchaft

mit Oeſtreich gewonnen worden war.

Ich denke mir, daß das Verfügungsrecht über den Kieler Hafen

bei Sr. Majeſtät ſchwerer in das Gewicht gefallen iſt, als der

Eindruck der neuerworbenen freundlichen Landſchaft von Ratzeburg

mit ſeinem See. Die deutſche Flotte, und der Kieler Hafen als

Unterlage ihrer Errichtung, war ſeit 1848 einer der zündenden

Gedanken geweſen, an deren Feuer die deutſchen Einheitsbeſtrebungen

ſich zu erwärmen und zu verſammeln pflegten. Einſtweilen aber

war der Haß meiner parlamentariſchen Gegner ſtärker als das

Intereſſe für die deutſche Flotte, und es ſchien mir, daß die Fort¬

ſchrittspartei damals die neuerworbenen Rechte Preußens auf Kiel

und die damit begründete Ausſicht auf unſre maritime Zukunft

lieber in den Händen des Auctionators Hannibal Fiſcher, als in

denen des Miniſteriums Bismarck geſehn hätte 1). Das Recht zu

Klagen und Vorwürfen über die Vernichtung deutſcher Hoffnungen

durch dieſe Regirung hätte den Abgeordneten größere Befriedigung

gewährt als der gewonnene Fortſchritt auf dem Wege zu ihrer

Erfüllung. Ich ſchalte einige Stellen aus der Rede ein, welche

ich am 1. Juni 1865 für den außerordentlichen Geldbedarf der

Marine gehalten habe 2).

„Es hat wohl keine Frage die öffentliche Meinung in Deutſch¬

land in den letzten 20 Jahren ſo einſtimmig intereſſirt, wie

grade die Flottenfrage. Wir haben geſehn, daß die Vereine, die

Preſſe, die Landtage ihren Sympathien Ausdruck gaben, dieſe

Sympathien haben ſich in Sammlung von verhältnißmäßig recht

bedeutenden Beträgen bethätigt. Den Regirungen, der conſer¬

vativen Partei wurden Vorwürfe gemacht über die Langſamkeit

und über die Kargheit, mit der in dieſer Richtung vorgegangen

würde; es waren beſonders die liberalen Parteien, die dabei thätig

1) Vgl. die Rede vom 1. Juni 1865, Politiſche Reden II 356.

2) Politiſche Reden a. a. O. S. 355 ff.

[19/0043]

Ablehnende Haltung der Fortſchrittspartei.

waren. Wir glaubten deshalb, Ihnen eine rechte Freude mit dieſer

Vorlage zu machen. ...

Ich war nicht darauf gefaßt, in dem Bericht der Commiſſion

eine indirecte Apologie Hannibal Fiſchers zu finden, der die deutſche

Flotte unter den Hammer brachte. Auch dieſe deutſche Flotte

ſcheiterte daran, daß in den deutſchen Gebieten, ebenſo in den

höhern, regirenden Kreiſen, wie in den niedern die Parteileiden¬

ſchaft mächtiger war, als der Gemeinſinn. Ich hoffe, daß der

unſrigen daſſelbe nicht beſchieden ſein wird. Ich war einigermaßen

überraſcht ferner darüber, daß dem Gebiete der Technik ein ſo

großer Raum in dem Berichte angewieſen war. Ich zweifle nicht

daran, daß es viele unter Ihnen giebt, die vom Seeweſen mehr

verſtehn als ich, und mehr zur See geweſen ſind als ich, die Mehr¬

zahl unter Ihnen, meine Herrn, iſt es aber nicht, und doch muß

ich ſagen, ich würde mir nicht getrauen, über techniſche Details

der Marine ein Urtheil zu fällen, welches meine Abſtimmung

motiviren, welches mir Motive zur Verwerfung einer Marine¬

vorlage geben könnte. Ich kann mich deshalb auch mit der Wider¬

legung dieſes Theils Ihrer Einwendungen nicht beſchäftigen. ...

Ihre Zweifel, ob es mir gelingen wird, Kiel zu erwerben, berührt

mein Reſſort näher. Wir beſitzen in den Herzogthümern mehr als

Kiel, wir beſitzen die volle Souveränetät in den Herzogthümern in

Gemeinſchaft mit Oeſtreich, und ich wüßte nicht, wer uns dieſes

Pfand, das dem von uns erſtrebten Object an Werth ſo viel über¬

legen iſt, nehmen könnte anders, als durch einen für Preußen

unglücklichen Krieg. Faſſen wir aber dieſe Eventualität in's Auge,

ſo können wir jeden in unſerm Beſitz befindlichen Hafen ebenſo

gut verlieren. Unſer Beſitz iſt ein gemeinſamer, das iſt wahr, mit

Oeſtreich. Nichtsdeſtoweniger iſt er ein Beſitz, für deſſen Auf¬

gebung wir berechtigt ſein würden, unſre Bedingungen zu ſtellen.

Eine dieſer Bedingungen, und zwar eine der ganz unerläßlichen,

ohne deren Erfüllung wir dieſen Beſitz nicht aufgeben wollen, iſt

das künftige alleinige Eigenthum des Kieler Hafens für Preußen. ...

[20/0044]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

Angeſichts der Rechte, die ſich in unſern Händen und in

denen Oeſtreichs befinden und die unantaſtbar ſind, ſo lange nicht

einem der Herrn Prätendenten es gelingt, zu unſrer Ueberzeugung

ein beſſeres Recht als das auf uns übergegangene des Königs

Chriſtian IX. von Dänemark nachzuweiſen, angeſichts der Rechte,

welche in voller Souveränetät von uns und Oeſtreich beſeſſen

werden, ſehe ich nicht ein, wie uns die ſchließliche Erfüllung unſrer

Bedingungen entgehn ſollte, ſobald wir nur nicht die Geduld ver¬

lieren, ſondern ruhig abwarten, ob ſich Jemand findet, der es

unternimmt, Düppel zu belagern, wenn die Preußen darin ſind. ...

Zweifeln Sie dennoch an der Möglichkeit, unſre Abſichten

zu verwirklichen, ſo habe ich ſchon in der Commiſſion ein Aus¬

kunftsmittel empfohlen: limitiren Sie die Anleihe dahin, daß die

erforderlichen Beträge nur dann zahlbar ſind, wenn wir wirklich

Kiel beſitzen, und ſagen Sie: ,Kein Kiel, kein Geld!‘ Ich glaube,

daß Sie andern Miniſtern als denen, die jetzt die Ehre haben,

ſich des Vertrauens Sr. Majeſtät des Königs zu erfreuen, eine

ſolche Bedingung nicht abſchlagen würden. ...

Das Vertrauen der Bevölkerung zur Weisheit des Königs

iſt groß genug, daß ſie ſich ſagt, ſollte das Land dabei (durch

Einführung der zweijährigen Dienſtzeit) zu Grunde gehn oder in

Schaden kommen, ſo wird es ja der König nicht leiden. Die Leute

unterſchätzen eben die Bedeutung der Verfaſſung in Folge der

frühern Traditionen. Ich bin überzeugt, daß ihr in die Weisheit

des Königs geſetztes Vertrauen ſie nicht täuſchen wird; aber ich kann

doch nicht leugnen, daß es mir einen peinlichen Eindruck macht,

wenn ich ſehe, daß angeſichts einer großen nationalen Frage, die

ſeit 20 Jahren die öffentliche Meinung beſchäftigt hat, diejenige Ver¬

ſammlung, die in Europa für die Concentration der Intelligenz

und des Patriotismus in Preußen gilt, zu keiner andern Haltung,

als zu der einer impotenten Negative ſich erheben kann. Es iſt

dies, meine Herrn, nicht die Waffe, mit der Sie dem Königthum

das Scepter aus der Hand winden werden, es iſt auch nicht das

[21/0045]

Aus der Rede vom 1. Juni 1865. Stärke des Parteihaſſes.

Mittel, durch das es Ihnen gelingen wird, unſern conſtitutionellen

Einrichtungen diejenige Feſtigkeit und weitre Ausbildung zu geben,

deren ſie bedürfen.“ —

Die Forderung für die Marine wurde abgelehnt.

Es liegt im Rückblick auf dieſe Situation ein bedauerlicher

Beweis, bis zu welchem Maße von Unehrlichkeit und Vaterlands¬

loſigkeit die politiſchen Parteien bei uns auf dem Wege des

Parteihaſſes gelangen. Es mag Aehnliches anderswo vorgekommen

ſein, doch weiß ich kein Land, wo das allgemeine Nationalgefühl

und die Liebe zum Geſammtvaterlande den Ausſchreitungen der

Parteileidenſchaft ſo geringe Hinderniſſe bereitet wie bei uns. Die

für apokryph gehaltene Aeußerung, welche Plutarch dem Cäſar in

den Mund legt, lieber in einem elenden Gebirgsdorfe der Erſte,

als in Rom der Zweite ſein zu wollen, hat mir immer den Ein¬

druck eines ächt deutſchen Gedankens gemacht. Nur zu viele unter

uns deuten im öffentlichen Leben ſo und ſuchen das Dörfchen, und

wenn ſie es geographiſch nicht finden können, die Fraction, reſp.

Unterfraction und Coterie, wo ſie die Erſten ſein können. Dieſe

Sinnesrichtung, die man nach Belieben Egoismus oder Unabhängig¬

keit nennen kann, hat in der ganzen deutſchen Geſchichte von den

rebelliſchen Herzogen der erſten Kaiſerzeiten bis auf die unzähligen

reichsunmittelbaren Landesherrn, Reichs-Städte, Reichs-Dörfer,

-Abteien und -Ritter und die damit verbundene Schwäche und

Wehrloſigkeit des Reiches ihre Bethätigung gefunden. Einſtweilen

findet ſie im Parteiweſen, welches die Nation zerklüftet, ſtärkern

Ausdruck als in der rechtlichen oder dynaſtiſchen Zerriſſenheit. Die

Parteien ſcheiden ſich weniger durch Programme und Prinzipien

als durch die Perſonen, welche als Condottieri an der Spitze einer

jeden ſtehn und für ſich eine möglichſt große Gefolgſchaft von

Abgeordneten und publiciſtiſchen Strebern anzuwerben ſuchen, die

hoffen, mit dem Führer oder den Führern zur Macht zu gelangen.

Prinzipielle programmatiſche Unterſchiede, durch welche die Fractionen

zu Kampf und Feindſchaft gegen einander genöthigt würden, liegen

[22/0046]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

nicht in einer Stärke vor, die hinreichte, um die leidenſchaftlichen

Kämpfe zu motiviren, welche die Fractionen gegen einander glauben

ausfechten zu müſſen und Conſervative und Freiconſervative in

getrennte Lager verweiſen. Auch innerhalb der conſervativen Partei

haben wohl viele das Gefühl, daß ſie mit der Kreuzzeitung und

ihrem Zubehör nicht im Einverſtändniſſe ſind. Aber die prinzi¬

pielle Scheidelinie in einem Programme zu präciſiren und über¬

zeugend auszudrücken, würden auch die Führer und Unterführer

für eine ſchwere Aufgabe halten, grade ſo wie confeſſionelle Fana¬

tiker, und nicht blos Laien, in der Regel der Nothwendigkeit aus¬

weichen, oder die Auskunft ſchuldig bleiben, wenn man ſie nach

den unterſcheidenden Merkmalen der verſchiedenen Bekenntniſſe und

Glaubensrichtungen und nach dem Schaden fragt, welchen ſie für

ihr Seelenheil befürchten, wenn ſie eine der Abweichungen des

Andersgläubigen nicht angriffsweiſe bekämpfen. So weit die Par¬

teien ſich nicht lediglich nach wirthſchaftlichen Intereſſen gruppiren,

kämpfen ſie im Intereſſe der rivaliſirenden Führer der Fractionen

und nach deren perſönlichem Willen und Streberthum; nicht Ver¬

ſchiedenheit von Prinzipien, ſondern „Kephiſch oder Pauliniſch?“ iſt

die Frage.

Ein Andenken an den Gaſteiner Vertrag iſt das nachſtehende

Schreiben des Königs 1):

„Berlin, den 15. September 1865.

Mit dem heutigen Tage vollzieht ſich ein Act, die Beſitz¬

ergreifung des Herzogthums Lauenburg, als eine Folge meiner,

von Ihnen mit ſo großer und ausgezeichneter Umſicht und Einſicht

befolgten Regierung. Preußen hat in den vier Jahren, ſeit welchen

ich Sie an die Spitze der Staats-Regierung berief, eine Stellung

eingenommen, die ſeiner Geſchichte würdig iſt und demſelben auch

eine fernere glückliche und glorreiche Zukunft verheißt. Um Ihrem

1) Bismarck-Jahrbuch VI 203 f.

[23/0047]

Deutſcher Parteigeiſt. Erhebung in den Grafenſtand.

hohen Verdienſte, dem ich ſo oft Gelegenheit hatte, meinen Dank

auszuſprechen, auch einen öffentlichen Beweis deſſelben zu geben,

erhebe ich Sie hiermit mit Ihrer Deſcendenz in den Grafen Stand,

eine Auszeichnung, welche auch immerhin beweiſen wird, wie hoch

ich Ihre Leiſtungen um das Vaterland zu würdigen wußte.

Ihr

Wohlgeneigter König

Wilhelm.“

IV.

Die Verhandlungen zwiſchen Berlin und Wien, zwiſchen Preu¬

ßen und den übrigen deutſchen Staaten, welche die Zeit von dem

Gaſteiner Vertrage bis zum Ausbruch des Krieges ausfüllten, ſind

actenmäßig bekannt. In Süddeutſchland tritt Streit und Kampf

mit Preußen zum Theil hinter deutſch-patriotiſche Gefühle zurück;

in Schleswig-Holſtein beginnen diejenigen, deren Wünſche nicht in

Erfüllung gingen, ſich mit der neuen Ordnung der Dinge aus¬

zuſöhnen; nur die Welfen werden des Federkrieges über die Ereig¬

niſſe von 1866 nicht müde.

Die unvortheilhafte Geſtaltung, die Preußen auf dem

Wiener Congreß als Lohn ſeiner Anſtrengungen und Leiſtungen

davon getragen hatte, war nur haltbar, wenn wir mit den zwiſchen

beide Theile der Monarchie eingeſchobenen Staaten des alten Bünd¬

niſſes aus dem ſiebenjährigen Kriege ſicher waren. Ich bin lebhaft

bemüht geweſen, Hanover und den mir befreundeten Grafen Platen

dafür zu gewinnen, und es war alle Ausſicht vorhanden, daß wenig¬

ſtens ein Neutralitätsvertrag zu Stande kommen werde, als am

21. Januar 1866 Graf Platen in Berlin mit mir über die Ver¬

heirathung der hanöverſchen Prinzeſſin Friederike mit unſerm

jungen Prinzen Albrecht verhandelte, und wir das Einverſtändniß

beider Höfe ſo weit zu Stande brachten, daß nur noch eine per¬

ſönliche Begegnung der jungen Herrſchaften vorbehalten wurde, um

deren gegenſeitigen Eindruck feſtzuſtellen.

[24/0048]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

Aber ſchon im März oder April fing man in Hanover unter

fadenſcheinigen Vorwänden an, Reſerven einzuberufen. Es hatten

Einflüſſe auf den König Georg ſtattgefunden, namentlich durch

ſeinen Halbbruder, den öſtreichiſchen General Prinzen Solms,

der nach Hanover gekommen war und den König umgeſtimmt

hatte durch übertriebene Schilderung der öſtreichiſchen Heereskräfte,

von denen 800 000 Mann bereit ſeien, und wie ich aus intimen

hanöverſchen Quellen vernommen habe, auch durch ein Erbieten

von territorialer Vergrößerung, mindeſtens durch den Regirungs-

Bezirk Minden. Meine amtlichen Anfragen bezüglich der Rüſtungen

Hanovers wurden mit der faſt höhniſch klingenden Auskunft beant¬

wortet, daß die Herbſtübungen aus wirthſchaftlichen Gründen ſchon

im Frühjahr abgehalten werden ſollten 1).

Mit dem Thronfolger in Kur-Heſſen, Prinzen Friedrich Wil¬

helm, hatte ich in Berlin noch am 14. Juni eine Beſprechung 2), in

der ich ihm empfahl, mit einem Extrazuge nach Kaſſel zu fahren

und die Neutralität Kurheſſens oder doch der dortigen Truppen

ſicher zu ſtellen, ſei es durch Beeinfluſſung des Kurfürſten, ſei es

unabhängig von dieſem. Der Prinz weigerte ſich früher als

mit dem fahrplanmäßigen Zuge zu reiſen. Ich ſtellte ihm vor, er

würde dann zu ſpät kommen, um den Krieg zwiſchen Preußen und

Heſſen zu hindern und den Fortbeſtand des Kurſtaats zu ſichern.

Wenn die Oeſtreicher ſiegten, ſo würde er immer vis major gel¬

tend machen können, ſeine neutrale Haltung ihm ſogar vielleicht

preußiſche Landestheile einbringen; wenn wir aber ſiegten, nachdem

er ſich geweigert, neutral zu bleiben, ſo würde der Kurſtaat nicht

fortbeſtehn; der heſſiſche Thron ſei immer einen Extrazug werth.

Der Prinz machte der Unterredung ein Ende mit den Worten:

„Wir ſehn uns wohl noch einmal in dieſem Leben wieder, und

800 000 gute öſtreichiſche Truppen haben auch noch ein Wort

1) Vgl. Politiſche Reden IV 137.

2) Vgl. Sybel IV 439 Anm. 1.

[25/0049]

Hanover und Kurheſſen 1866. Verhandlungen mit dem Erbprinzen.

mitzureden.“ Hatte doch auch die von dem Könige noch aus Horſitz

am 6. und aus Pardubitz am 8. Juli in dem freundſchaftlichſten

Tone an den Kurfürſten gerichtete Aufforderung, ein Bündniß mit

Preußen zu ſchließen und ſeine Truppen aus dem feindlichen Lager

zurückzurufen, keinen Erfolg.

Auch der Erbprinz von Auguſtenburg hatte durch Ablehnung

der ſogenannten Februarbedingungen den günſtigen Moment ver¬

ſäumt. Von welfiſcher Seite 1) iſt neuerdings folgende Verſion

verbreitet worden: Der Verfaſſer behauptet, von dem Prinzen er¬

fahren zu haben, daß derſelbe ſich in einer Audienz bei dem Könige

Wilhelm zu den geforderten Zugeſtändniſſen verpflichtet, der König

ihm die Einſetzung als Herzog zugeſichert und die formelle Er¬

ledigung durch den Miniſterpräſidenten auf den nächſten Tag zu¬

geſagt habe. Ich hätte mich am folgenden Tage bei dem Prinzen

eingeſtellt, ihm aber geſagt, mein Wagen hielte vor der Thüre, ich

müſſe in dieſem Augenblicke nach Biarritz zum Kaiſer Napoleon

reiſen, der Prinz ſei aufgefordert worden, einen Bevollmächtigten

in Berlin zurückzulaſſen, und nicht wenig erſtaunt geweſen, am

nächſten Tage in den Berliner Zeitungen zu leſen, daß er die

preußiſchen Vorſchläge abgelehnt habe.

Es iſt das eine plumpe Erfindung, in der Hauptſache und in

allen Einzelheiten. Die Verhandlungen mit dem Erbprinzen ſind

von Sybel 2) nach den Acten dargeſtellt; ich habe dazu aus meiner

Erinnerung und meinen Papieren Einiges nachzutragen. Der König

iſt niemals mit dem Erbprinzen einig geweſen; ich war nie in des

Letztern Wohnung und habe ihm gegenüber nie die Namen Biarritz

und Napoleon ausgeſprochen; ich bin 1864 am 1. October nach

Baden, von dort am 5. nach Biarritz, 1865 am 30. September

direct dorthin gereiſt und 1863 garnicht in Biarritz geweſen. Eine

1) Erinnerungen und Erlebniſſe des Generalmajor Dammers (Hannover

1890) S. 94 f.

2) Bd. III 337 f.

[26/0050]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

Unterredung mit ihm habe ich zweimal gehabt; auf die erſte (am

18. November 1863) bezieht ſich ſein nachſtehender Brief 1):

„Ew. Excellenz wollen mir erlauben, daß ich mich in einigen

Zeilen an Sie wende, die veranlaßt ſind durch einen Artikel, den

No. 282 der Kreuzzeitung [vom 3. December] bringt, und von

welchem ich erſt nachträglich Kenntniß erhalten habe. In dieſem

Artikel wird u. A. von mir berichtet, ich habe einem Deputirten

gegenüber die Aeußerung gethan, ‚Herr von Bismarck ſei mein

Freund nicht‘. Den Wortlaut deſſen, was ich bei jener Gelegen¬

heit geſagt habe, vermag ich nicht anzugeben, da es ſich hier um

eine in der Converſation gefallene Aeußerung handelt. Es iſt recht

wohl möglich, daß ich mein Bedauern darüber ausgeſprochen habe,

daß Ew. Excellenz politiſche Anſchauungen über die gegenwärtige

Lage der ſchleswig-holſteinſchen Angelegenheit nicht mit den meinigen

übereinſtimmen, wie ich keinen Anſtand genommen habe, dies Ihnen

ſelbſt gegenüber bei meiner letzten Anweſenheit in Berlin offen

auszuſprechen. Ich bin mir jedoch vollkommen bewußt, daß ich die

in der Zeitung referirte Aeußerung nicht gethan habe, da ich mir

ſtets zur feſten Regel gemacht habe, das Politiſche von dem Per¬

ſönlichen zu trennen. Ich bedauere daher aufrichtig, daß eine

ſolche Nachricht ihren Weg in die Zeitungen gefunden hat.

Ich habe mich umſomehr verpflichtet gefühlt, mit dieſer Er¬

klärung nicht zurückzuhalten, je mehr ich die loyale Weiſe anerkennen

muß, in welcher Ew. Excellenz mir in Berlin offen ſagten, daß Sie

zwar perſönlich von meinem Rechte überzeugt ſeien und es billigten,

wenn ich ſuchte meinem Rechte Geltung zu verſchaffen, daß Sie je¬

doch in Berückſichtigung der von Preußen eingegangenen Verbind¬

lichkeiten, ſowie der allgemeinen Weltlage mir keine Verſprechungen

zu machen vermöchten.

Mit c. c.

Gotha, den 11. Dec. 63. Friedrich.“

1) Bismarck-Jahrbuch V 256.

[27/0051]

Verhandlungen mit dem Erbprinzen von Auguſtenburg.

Am 16. Januar 1864 ſchrieb mir Seine Majeſtät 1):

„Mein Sohn kam heute Abend noch zu mir, um mir die

Bitte des Erbprinzen von Auguſtenburg vorzutragen, aus den Händen

des Herrn Samwer ein Schreiben deſſelben entgegenzunehmen, und

ob ich nicht dieſerhalb ſeine Soirée beſuchen wolle, wo ich ganz

unbemerkt den pp. S. in einem abgelegenen Zimmer finden könne.

Ich lehnte dies ab, bis ich den Brief des Prinzen geleſen haben

würde, weshalb ich meinem Sohn aufgab, mir denſelben zuzu¬

ſenden. Dies iſt geſchehen und lege ich den Brief hier bei 2). Er

enthält nichts Verfängliches außer am Schluß, wo er mich fragt,

ob ich dem pp. S. nicht einige Hoffnung geben könne? Vielleicht

könnten Sie mir eine Antwort morgen noch fertigen laſſen, die ich

dem pp. S. mitgeben kann 3). Wenn ich ihn incognito bei meinem

Sohne doch noch ſehen wollte, ſo könnte ich ihm keine andere Hoff¬

nung geben, als die, welche in der Punctation 4) angedeutet ſind,

d. h., daß man nach dem Siege ſehen würde, welche neue Basen

für die Zukunft aufzuſtellen wären, und den Ausſpruch in F. a/M.

über die Succession abzuwarten. W.“

Und am 18. Januar 5):

„Ich berichte Ihnen, daß ich mich doch entſchloß, den Samwer

bei meinem Sohn zu ſehen ungefähr 6–10 Minuten in deſſen

Gegenwart 6). Ich ſprach ihm ganz im Sinne der projectirten Ant¬

wort 7), aber noch etwas kühler und ſehr ernſt. Vor Allem ſagte

1) Bismarck-Jahrbuch V 254 f.

2) Veröffentlicht in Janſen-Samwer, Schleswig-Holſteins Befreiung

S. 695 Beil. 11.

3) S. dieſes von Bismarck verfaßte Schreiben des Königs vom

18. Januar bei Janſen-Samwer S. 601 f. Beil. 13.

4) Am 16. Januar von Rechberg und Werther unterzeichnet.

5) Bismarck-Jahrbuch V 255.

6) Ueber den Verlauf der Unterredung berichtet die Aufzeichnung Samwer's

a. a. O. 696 ff. Beil. 12.

7) Des Schreibens vom 18., das im Entwurfe dem Könige am 17. vor¬

gelegt wurden iſt.

[28/0052]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

ich beſtimmt, daß der Prinz keinen Falls nach Schleswig ein¬

fallen dürfe. W.“

In einer Denkſchrift vom 26. Februar 1864 bezeichnete der

Kronprinz folgende Forderungen Preußens als ſachlich begründet 1):

Rendsburg Bundesfeſtung, Kiel eine preußiſche Marineſtation, Bei¬

tritt zum Zollverein, Bau eines Canals zwiſchen beiden Meeren

und eine Militär- und Marine-Convention mit Preußen; er hegte

die Hoffnung, daß der Erbprinz bereitwillig darauf eingehn werde.

Nachdem die preußiſchen Bevollmächtigten am 28. Mai 1864 auf

der Londoner Conferenz die Erklärung abgegeben hatten, daß die

deutſchen Mächte die Conſtituirung Schleswig-Holſteins als eines

ſelbſtändigen Staates unter der Souveränetät des Erbprinzen von

Auguſtenburg begehrten, hatte ich mit dem Letztern am 1. Juni

1864, Abends von 9 bis 12 Uhr, in meiner Wohnung eine Be¬

ſprechung, um feſtzuſtellen, ob ich dem Könige zur Vertretung

ſeiner Candidatur rathen könne. Die Unterredung drehte ſich haupt¬

ſächlich um die von dem Kronprinzen in der Denkſchrift vom

26. Februar bezeichneten Punkte. Die Erwartung Seiner König¬

lichen Hoheit, daß der Erbprinz bereitwillig darauf eingehn würde,

fand ich nicht beſtätigt. Die Subſtanz der Erklärungen des Letztern

iſt von Sybel nach den Acten gegeben 2). Am lebhafteſten widerſprach

er den Landabtretungen behufs der Anlage von Befeſtigungen; ſie

könnten ſich ja auf eine Quadratmeile belaufen, meinte er. Ich

mußte unſre Forderung als abgelehnt, eine weitre Verhandlung

als ausſichtslos betrachten, auf die der Prinz hinzudeuten ſchien,

indem er beim Abſchiede ſagte: „Wir ſehn uns wohl noch“ —

1) Sie fußt auf dem Schreiben des Erbprinzen Friedrich vom 19. Febr.

1864, bei Janſen-Samwer S. 705 ff.

2) Sybel III 337 ff.; zu vergleichen ſind der Bericht Bismarck's über

dieſe Unterredung im Staatsanzeiger vom 2. Juli 1865, ſowie die Aeuße¬

rungen in den Reden vom 13. Juni 1865 und 20. December 1866, Politiſche

Reden III 387. 389, IV 102 ff.; das Referat des Herzogs in Janſen-Samwer

S. 731 (vgl. S. 336 ff.).

[29/0053]

Verhandlungen mit dem Erbprinzen von Auguſtenburg.

nicht in dem drohenden Sinne, in welchem Prinz Friedrich von

Heſſen zwei Jahre ſpäter mir dieſelben Worte ſagte, ſondern als

Ausdruck ſeiner Unentſchiedenheit. Wiedergeſehn habe ich den Erb¬

prinzen erſt am Tage nach der Schlacht von Sedan in bairiſcher

Generalsuniform. Nachdem am 30. October 1864 der Friede mit

Dänemark geſchloſſen war, wurden die Bedingungen formulirt,

unter denen wir die Bildung eines neuen Staates Schleswig-Hol¬

ſtein nicht als eine Gefahr für die Intereſſen Preußens und Deutſch¬

lands anſehn würden. Unter dem 22. Februar. 1865 wurden ſie

nach Wien mitgetheilt. Sie deckten ſich mit den vom Kronprinzen

empfohlnen.

V.

Eine der Anlagen, zu denen ich die Berechtigung gefordert

hatte, iſt nach langem Zögern jetzt 1) in der Ausführung begriffen:

der Nord-Oſtſee-Canal. Im Intereſſe der deutſchen Seemacht, die

damals nur unter preußiſchem Namen entwicklungsfähig war, hatte

ich, und nicht ich allein, einen hohen Werth auf die Herſtellung des

Canals und den Beſitz und die Befeſtigung ſeiner beiden Mün¬

dungen gelegt. Das Verlangen, die Concentrirung der Streit¬

kräfte zur See vermittelſt Durchbrechung der Landſtrecke, die

beide Meere trennt, möglich zu machen, war in Nachwirkung des

beinahe krankhaften Flottenenthuſiasmus von 1848 noch ſehr leb¬

haft, ſchlief aber zeitweiſe ein, als wir freie Verfügung über das

Territorium erworben hatten. In meinem Bemühn, das Intereſſe

wieder zu erwecken, ſtieß ich auf Widerſpruch bei der Landes¬

vertheidigungs-Commiſſion, deren Vorſitzender der Kronprinz, deren

eigentliche Spitze der Graf Moltke war. Letztrer erklärte als Mit¬

glied des Reichstags am 23. Juni 1873 2), der Canal werde nur im

1) D. h. zur Zeit der Niederſchrift dieſer Erinnerungen 1891/92.

2) Moltke's Reden. Werke VII 25 ff.

[30/0054]

Neunzehntes Kapitel: Schleswig-Holſtein.

Sommer benützbar und von zweifelhaftem militäriſchen Werthe ſein;

für 40 bis 50 Millionen Thaler, die er koſten werde, baue man

beſſer eine zweite Flotte. Die Gründe, die mir in der Bewerbung

um die königliche Entſcheidung entgegen geſetzt wurden, hatten ihr

Gewicht mehr in dem großen Anſehn, das die militäriſchen

Kreiſe bei Sr. Majeſtät genoſſen, als in ihrem materiellen In¬

halt; ſie gipfelten in dem Argument, daß ein ſo koſtſpieliges Werk

wie der Canal zu ſeinem Schutze im Kriege eine Truppenmaſſe

erfordern würde, die wir der Landarmee nicht ohne Schaden

entziehn könnten. Es wurde die Ziffer von 60000 Mann an¬

gegeben, die im Falle eines däniſchen Anſchluſſes an feindliche

Landungen zum Schutze des Canals verfügbar gehalten werden

müßten. Ich wandte dagegen ein, daß wir Kiel mit ſeinen An¬

lagen, Hamburg und den Weg von dort nach Berlin immer

würden decken müſſen, auch wenn kein Canal vorhanden ſei. Unter

der Laſt des Uebermaßes andrer Geſchäfte und den mannich¬

fachen Kämpfen der ſiebziger Jahre konnte ich nicht die Kraft und

Zeit aufwenden, um den Widerſtand der genannten Behörde vor

dem Kaiſer zu überwinden; die Sache blieb in den Acten liegen.

Ich ſchreibe den Widerſtand mehr der militäriſchen Eiferſucht zu,

mit der ich 1866, 1870 und ſpäter Kämpfe zu beſtehn hatte, die

meinem Gemüthe peinlicher geweſen ſind als die meiſten andern.

Bei meinem Bemühn, die Zuſtimmung des Kaiſers zu ge¬

winnen, hatte ich weniger die handelspolitiſchen Vortheile, als die

ihm mehr eingänglichen militäriſchen Erwägungen in den Vorder¬

grund geſtellt. Die holländiſche Kriegsmarine hat den Vortheil,

Canäle im Binnenlande benutzen zu können, die den größten

Schiffen den Durchgang geſtatten. Unſer analoges Bedürfniß einer

Canalverbindung wird durch das Vorhandenſein der däniſchen Halb¬

inſel und die Vertheilung unſrer Flotte auf zwei getrennten Meeren

weſentlich geſteigert. Wenn unſre geſammte Flotte aus dem Kieler

Hafen, der Elbemündung und eventuell, bei Verlängerung des Canals,

der Jahde ausfallen kann, ohne daß ein blockirender Feind es vor¬

[31/0055]

Bedeutung des Nordoſtſee-Canals. Helgoland.

her weiß, ſo iſt der letztre genöthigt, in jedem der beiden Meere

ein unſrer ganzen Flotte äquivalentes Geſchwader zu unterhalten.

Aus dieſen und andern Gründen war ich der Meinung, daß die

Herſtellung des Canals unſrer Küſtenvertheidigung nützlicher ſein

würde, als die Verwendung der Canalkoſten auf Feſtungsbau und

Mehranſchaffung von Schiffen, für deren Bemannung wir nicht

über unbegrenzte Kräfte verfügen. Mein Wunſch war, den Canal

von der Niederelbe in weſtlicher Richtung ſo weit fortzuſetzen, daß

die Weſermündung, die Jahde und eventuell auch die Emsmündung

zu Ausfallpforten, welche der blockirende Feind zu beobachten hätte,

hergerichtet würden. Die weſtliche Fortſetzung des Canals wäre

verhältnißmäßig weniger koſtſpielig, als die Durchſchneidung des

holſteiniſchen Landrückens, da ſich Linien von gleichmäßigem Niveau

darbieten, auch zur Umgehung der hohen Geeſt an der Landſpitze

zwiſchen der Weſer und der Elbemündung.

Im Hinblick auf eine, vorausſichtlich franzöſiſche, Blockade war

bisher die Deckung Helgolands durch die engliſche Neutralität für

uns nützlich; ein franzöſiſches Geſchwader konnte daſelbſt kein

Kohlendepot haben, ſondern war genöthigt, zur Beſchaffung des

Kohlenbedarfs in beſtimmten, nicht zu langen Zeiträumen nach

franzöſiſchen Häfen zurückzukehren oder eine große Anzahl von

Frachtſchiffen hin- und hergehn zu laſſen. Jetzt haben wir den

Felſen mit eigner Kraft zu vertheidigen, wenn wir verhindern

wollen, daß die Franzoſen im Falle des Krieges ſich daſelbſt feſt¬

ſetzen. Welche Gründe um das Jahr 1885 den Widerſtand der

Landesvertheidigungs-Commiſſion abgeſchwächt haben, weiß ich nicht;

vielleicht hatte Graf Moltke ſich inzwiſchen überzeugt, daß der

Gedanke eines deutſch-däniſchen Bündniſſes, mit dem er ſich früher

getragen hatte, unausführbar ſei.

[[32]/0056]

Zwanzigſtes Kapitel.

Nikolsburg.

I.

Am 30. Juni 1866 Abends traf Seine Majeſtät mit dem

Hauptquartier in Reichenberg ein. Die Stadt von 28,000 Ein¬

wohnern beherbergte 1800 öſtreichiſche Gefangne und war nur von

500 preußiſchen Trainſoldaten mit alten Carabinern beſetzt; nur

einige Meilen davon lag die ſächſiſche Reiterei. Dieſe konnte in

einer Nacht Reichenberg erreichen und das ganze Hauptquartier mit

Sr. Majeſtät aufheben. Daß wir in Reichenberg Quartier hatten,

war telegraphiſch publicirt geworden. Ich erlaubte mir den König

hierauf aufmerkſam zu machen, und infolge dieſer Anregung wurde

befohlen, daß die Trainſoldaten ſich einzeln und unauffällig nach

dem Schloſſe begeben ſollten, wo der König Quartier genommen

hatte. Die Militärs waren über dieſe meine Einmiſchung empfind¬

lich, und um ihnen zu beweiſen, daß ich um meine Sicherheit

nicht beſorgt ſei, verließ ich das Schloß, wohin Seine Majeſtät

mich befohlen hatte, und behielt mein Quartier in der Stadt. Es

war damit ſchon der Keim zu einer der Reſſort-Eiferſucht ent¬

ſpringenden Verſtimmung der Militärs gegen mich wegen meiner

perſönlichen Stellung zu Sr. Majeſtät gelegt, die ſich im Laufe

des Feldzugs und des franzöſiſchen Krieges weiter entwickelte.

[33/0057]

Verſtimmung der Militärs. Franzöſiſche Einmiſchung.

Nach der Schlacht von Königgrätz war die Situation der¬

artig, daß ein Eingehn auf die erſte Annäherung Oeſtreichs zu

Friedensunterhandlungen nicht nur möglich, ſondern durch die Ein¬

miſchung Frankreichs geboten erſchien. Letztre datirte von dem in

der Nacht vom 4. zum 5. Juli in Hořricz *) eingetroffenen, an

Seine Majeſtät gerichteten Telegramm, in welchem Louis Napoleon

dem Könige mittheilte, daß der Kaiſer Franz Joſeph ihm Venetien

abgetreten und ſeine Vermittlung angerufen habe. Der glänzende

Erfolg der Waffen des Königs nöthige Napoleon aus ſeiner bis¬

herigen Zurückhaltung herauszutreten 1). Die Einmiſchung war her¬

vorgerufen durch unſern Sieg, nachdem Napoleon bis dahin auf

unſre Niederlage und Hülfsbedürftigkeit gerechnet hatte. Wenn

unſrerſeits der Sieg von Königgrätz durch Eingreifen des Generals

v. Etzel und durch energiſche Verfolgung des geſchlagnen Feindes

vermittelſt unſrer intacten Cavallerie vollſtändig ausgenutzt worden

wäre, ſo würde wahrſcheinlich die Sendung des Generals von Gab¬

lenz in das preußiſche Hauptquartier ſchon zu dem Abſchluß nicht

nur eines Waffenſtillſtandes, ſondern auch der Baſen des künftigen

Friedens geführt haben, bei der Mäßigung, welche unſrerſeits und

damals auch noch bei dem Könige in Bezug auf die Bedingungen

des Friedens vorwaltete, eine Mäßigung, die damals von Oeſtreich

doch ſchon mehr als nützlich beanſpruchte, und uns als künftige

Genoſſen alle bisherigen Bundesglieder, aber alle verkleinert und

verletzt, gelaſſen hätte. Auf meinen Antrag antwortete Seine Majeſtät

dem Kaiſer Napoleon dilatoriſch, aber doch mit Ablehnung jedes

Waffenſtillſtandes ohne Friedensbürgſchaften.

Ich fragte ſpäter in Nikolsburg den General von Moltke,

was er thun würde, wenn Frankreich militäriſch eingriffe. Seine

Antwort war: Eine defenſive Haltung gegen Oeſtreich, mit Be¬

*) So ſchreibt der Generalſtab, geſprochen wird es Horſitz.

1) S. den Text bei L. Schneider a. a. O. I 253 f.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 3

[34/0058]

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.

ſchränkung auf die Elblinie, inzwiſchen Führung des Krieges gegen

Frankreich.

Dieſes Gutachten befeſtigte mich noch mehr in meinem Ent¬

ſchluſſe, Seiner Majeſtät den Frieden auf der Baſis der terri¬

torialen Integrität Oeſtreichs anzurathen. Ich war der Anſicht,

daß wir im Falle der franzöſiſchen Einmiſchung entweder ſofort

unter mäßigen Bedingungen mit Oeſtreich Frieden und wo möglich

ein Bündniß ſchließen müßten, um Frankreich anzugreifen, oder daß

wir Oeſtreich durch raſchen Anlauf und durch Förderung des Con¬

flicts in Ungarn, vielleicht auch in Böhmen, ſchnell vollends lahm

zu legen, und bis dahin gegen Frankreich, nicht, wie Moltke wollte,

gegen Oeſtreich, uns nur defenſiv zu verhalten hätten. Ich war

des Glaubens, daß der Krieg gegen Frankreich, den Moltke, wie

er ſagte, zuerſt und ſchnell führen wollte, nicht ſo leicht ſein, daß

Frankreich zwar für die Offenſive wenig Kräfte übrig haben, aber

in der Defenſive nach geſchichtlicher Erfahrung im Lande ſelbſt bald

ſtark genug werden würde, um den Krieg in die Länge zu ziehn,

ſo daß wir dann vielleicht unſre Defenſive gegen Oeſtreich an der

Elbe nicht ſiegreich würden halten können, wenn wir einen In¬

vaſionskrieg in Frankreich, mit Oeſtreich und Süddeutſchland feind¬

lich im Rücken, zu führen hätten. Ich wurde durch dieſe Perſpec¬

tive zur lebhafteren Anſtrengung im Sinne des Friedens beſtimmt.

Eine Betheiligung Frankreichs am Kriege hätte damals viel¬

leicht nur 60 000 Mann franzöſiſcher Truppen ſofort nach Deutſch¬

land in das Gefecht geführt, vielleicht noch weniger; dieſe Zuthat

zu dem Beſtande der ſüddeutſchen Bundesarmee wäre jedoch aus¬

reichend geweſen, um für die letztre die einheitliche und energiſche

Führung, wahrſcheinlich unter franzöſiſchem Obercommando, herzu¬

ſtellen. Allein die bairiſche Armee ſoll zur Zeit des Waffenſtill¬

ſtandes 100 000 Köpfe ſtark geweſen ſein, und mit den übrigen ver¬

fügbaren deutſchen Truppen, an ſich guten und tapfern Soldaten, und

60 000 Franzoſen wäre uns von Südweſten her eine Armee von

200 000 Mann unter einheitlicher, kräftiger franzöſiſcher Leitung

[35/0059]

Bedenklichkeit der Lage. Der Appell an Ungarn.

anſtatt der frühern, ſchüchternen und zwieſpältigen entgegengetreten,

der wir vorwärts Berlin keine gleichwerthigen Streitkräfte gegen¬

überzuſtellen hatten, ohne Wien gegenüber zu ſchwach zu werden.

Mainz war von Bundestruppen unter dem Befehl des bairiſchen

Generals Grafen Rechberg beſetzt; wären die Franzoſen einmal

darin geweſen, ſo würde es harte Arbeit gekoſtet haben, ſie daraus

zu entfernen.

Unter dem Druck der franzöſiſchen Intervention und zu einer

Zeit, als es ſich noch nicht überſehn ließ, ob es gelingen werde, ſie auf

dem diplomatiſchen Gebiete feſtzuhalten, entſchloß ich mich, dem Könige

den Appell an die ungariſche Nationalität anzurathen. Wenn Napoleon

in der angedeuteten Weiſe in den Krieg eingriff, Rußlands Haltung

zweifelhaft blieb, namentlich aber die Cholera in unſrer Armee

weitre Fortſchritte machte, ſo konnte unſre Lage eine ſo ſchwierige

werden, daß wir zu jeder Waffe, die uns die entfeſſelte nationale

Bewegung nicht nur in Deutſchland, ſondern auch in Ungarn und

Böhmen darbieten konnte, greifen mußten, um nicht zu unterliegen *).

II.

Am 12. Juli fand in dem Marſchquartier Czernahora Kriegs¬

rath, oder, wie die Militärs die Sache genannt haben wollen,

Generalsvortrag Statt — ich behalte der Kürze und des allgemeinen

Verſtändniſſes wegen den erſtern auch von Roon 1) gebrauchten

Ausdruck bei, obwohl der Feldmarſchall Moltke in einem dem

Profeſſor von Treitſchke am 9. Mai 1881 übergebenen Aufſatze

bemerkt hat, daß in beiden Kriegen niemals Kriegsrath gehalten

worden ſei 2). Zu dieſen unter dem Vorſitz des Königs gehaltenen

*) In dem Briefe an ſeine Gemalin vom 7. Februar 1871 (Denkwürdig¬

keiten III4 297).

1) Vgl. die Aeußerung in der Rede vom 16. Januar 1874, Politiſche

Reden VI 140.

2) Vgl. Moltke, Geſammelte Schriften III 415 ff.

[36/0060]

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.

Berathungen, die anfangs regelmäßig, ſpäter in größern Abſtänden

Statt fanden, wurde ich 1866 zugezogen, wenn ich erreichbar war.

An jenem Tage handelte es ſich um die Richtung des weitern

Vorgehns gegen Wien; ich war verſpätet zur Beſprechung er¬

ſchienen, und der König orientirte mich, daß es ſich darum handle,

die Befeſtigungen der Floridsdorfer Linien zu überwältigen, um

nach Wien zu gelangen, daß dazu nach der Beſchaffenheit der

Werke ſchweres Geſchütz aus Magdeburg herbeigeführt werden müſſe *)

und daß dazu eine Transportzeit von 14 Tagen erforderlich ſei.

Nachdem Breſche gelegt, ſollten die Werke geſtürmt werden, wofür

ein muthmaßlicher Verluſt von 2000 Mann veranſchlagt wurde.

Der König verlangte meine Meinung über die Frage. Mein erſter

Eindruck war, daß wir 14 Tage nicht verlieren durften, ohne

die Gefahr mindeſtens der franzöſiſchen Einmiſchung ſehr viel

näher zu rücken, als ſie ohnehin lag **). Ich machte meine Beſorgniß

geltend und ſagte: „Vierzehn Tage abwartender Pauſe können wir nicht

verlieren, ohne das Schwergewicht des franzöſiſchen Arbitriums ge¬

fährlich zu verſtärken.“ Ich ſtellte die Frage, ob wir überhaupt die

Floridsdorfer Befeſtigungen ſtürmen müßten, ob wir ſie nicht um¬

gehn könnten. Mit einer Viertelſchwenkung links könnte die Richtung

auf Preßburg genommen und die Donau dort mit leichterer Mühe

überſchritten werden. Entweder würden die Oeſtreicher dann

den Kampf in ungünſtiger Lage mit Front nach Oſten ſüdlich der

Donau aufnehmen oder vorher auf Ungarn ausweichen; dann ſei

Wien ohne Schwertſtreich zu nehmen. Der König ließ ſich eine

*) In dem Werke des Generalſtabs heißt es S. 484 unter dem 14. Juli:

„Nach Dresden wurde an den Oberſten Mertens telegraphirt, 50 dorthin

dirigirte [alſo wohl noch nicht eingetroffene] ſchwere Geſchütze ſo bereit zu halten,

daß ſie, ſobald es befohlen würde, ohne Zeitverluſt auf der Eiſenbahn abge¬

ſandt werden könnten. Die Eiſenbahn jenſeits Lundenburg war zerſtört; der

General von Hinderſin wurde daher beauftragt, an dem genannten Orte einen

Park von Transportmitteln zuſammen zu bringen.“

**) Die Situation war ähnlich wie 1870 vor Paris.

[37/0061]

Die Digreſſion nach Preßburg. Diplomatiſche Erwägungen.

Karte reichen und ſprach ſich zu Gunſten dieſes Vorſchlags aus;

die Ausführung wurde, wie mir ſchien widerſtrebend, in Angriff

genommen, aber ſie geſchah.

Nach dem Generalſtabswerke, S. 522, erging erſt unter dem

19. Juli folgender Erlaß des Großen Hauptquartiers:

„Es iſt die Abſicht Sr. Majeſtät des Königs, die Armee in einer

Stellung hinter dem Rußbach zu concentriren. — In dieſer Stellung

ſoll die Armee zunächſt in der Lage ſein, einem Angriff entgegen

zu treten, welchen der Feind mit etwa 150 000 Mann von Florids¬

dorf aus zu unternehmen vermöchte; demnächſt ſoll ſie aus der¬

ſelben entweder die Floridsdorfer Verſchanzungen recognoſciren und

angreifen, oder aber, unter Zurücklaſſung eines Obſervationscorps

gegen Wien, möglichſt ſchnell nach Preßburg abmarſchiren können.

— Beide Armeen ſchieben ihre Vortruppen und Recognoſcirungen

an den Rußbach in der Richtung auf Wolkersdorf und Deutſch-

Wagram vor. Gleichzeitig mit dieſem Vorrücken ſoll der Verſuch

gemacht werden, Preßburg durch überraſchenden Angriff zu nehmen

und den eventuellen Donauübergang daſelbſt zu ſichern.“

Mir kam es für unſre ſpätern Beziehungen zu Oeſtreich

darauf an, kränkende Erinnerungen nach Möglichkeit zu verhüten,

wenn es ſich ohne Beeinträchtigung unſrer deutſchen Politik thun

ließ. Der ſiegreiche Einzug des preußiſchen Heeres in die feind¬

liche Hauptſtadt wäre für unſre Militärs natürlich eine be¬

friedigende Erinnerung geweſen, für unſre Politik war er kein

Bedürfniß; in dem öſtreichiſchen Selbſtgefühl hätte er gleich jeder

Abtretung alten Beſitzes an uns eine Verletzung hinterlaſſen,

die, ohne für uns ein zwingendes Bedürfniß zu ſein, die

Schwierigkeit unſrer künftigen gegenſeitigen Beziehungen unnöthig

geſteigert haben würde. Es war mir ſchon damals nicht zweifel¬

haft, daß wir die Errungenſchaften des Feldzugs in fernern Kriegen

zu vertheidigen haben würden, wie Friedrich der Große die Er¬

gebniſſe ſeiner beiden erſten ſchleſiſchen Kriege in dem ſchärfern

Feuer des ſiebenjährigen. Daß ein franzöſiſcher Krieg auf den

[38/0062]

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.

öſtreichiſchen folgen werde, lag in der hiſtoriſchen Conſequenz,

ſelbſt dann, wenn wir dem Kaiſer Napoleon die kleinen Speſen,

die er für ſeine Neutralität von uns erwartete, hätten bewilligen

können. Auch nach ruſſiſcher Seite hin konnte man zweifeln, welche

Wirkung eintreten werde, wenn man ſich dort klar machte, welche

Erſtarkung für uns in der nationalen Entwicklung Deutſchlands

lag. Wie ſich die ſpätern Kriege um die Behauptung des Gewon¬

nenen geſtalten würden, war nicht vorauszuſehn; in allen Fällen

aber war es von hoher Wichtigkeit, ob die Stimmung, die wir bei

unſern Gegnern hinterließen, unverſöhnlich, die Wunden, die wir

ihnen und ihrem Selbſtgefühl geſchlagen, unheilbar ſein würden.

In dieſer Erwägung lag für mich ein politiſcher Grund, einen

triumphirenden Einzug in Wien, nach Napoleoniſcher Art, eher zu

verhüten als herbeizuführen. In Lagen, wie die unſrige damals

war, iſt es politiſch geboten, ſich nach einem Siege nicht zu fragen,

wie viel man dem Gegner abdrücken kann, ſondern nur zu er¬

ſtreben, was politiſches Bedürfniß iſt. Die Verſtimmung, die

mein Verhalten mir in militäriſchen Kreiſen eintrug, habe ich als

die Wirkung einer militäriſchen Reſſortpolitik betrachtet, der ich

den entſcheidenden Einfluß auf die Staatspolitik und deren Zukunft

nicht einräumen konnte.

III.

Als es darauf ankam, zu dem Telegramm Napoleons vom

4. Juli Stellung zu nehmen, hatte der König die Friedens¬

bedingungen ſo ſkizzirt: Bundesreform unter preußiſcher Leitung,

Erwerb Schleswig-Holſteins, Oeſtreichiſch-Schleſiens, eines böhmi¬

ſchen Grenzſtrichs, Oſtfrieslands, Erſetzung der feindlichen Sou¬

veräne von Hanover, Kurheſſen, Meiningen, Naſſau durch ihre

Thronfolger. Später traten andre Wünſche hervor, die theils in

dem Könige ſelbſt entſtanden, theils durch äußere Einflüſſe erzeugt

[39/0063]

Diplomatie und militäriſche Reſſortpolitik. Wünſche des Königs.

waren. Der König wollte Theile von Sachſen, Hanover, Heſſen

annectiren, beſonders aber Ansbach und Bayreuth wieder an ſein

Haus bringen. Seinem ſtarken und berechtigten Familiengefühl

lag der Rückerwerb der fränkiſchen Fürſtenthümer nahe.

Ich erinnere mich, auf einem der erſten Hoffeſte, denen ich

in den 30er Jahren beiwohnte, einem Coſtümballe bei dem da¬

maligen Prinzen Wilhelm, dieſen in der Tracht des Kurfürſten

Friedrich I. geſehn zu haben. Die Wahl des Coſtüms außerhalb

der Richtung der übrigen, war der Ausdruck des Familiengefühls,

der Abſtammung, und ſelten wird dieſes Coſtüm natürlicher und

kleidſamer getragen worden ſein, als von dem damals etwa 37 Jahre

alten Prinzen Wilhelm, deſſen Bild darin mir ſtets gegenwärtig

geblieben iſt. Der ſtarke dynaſtiſche Familienſinn war vielleicht in

Kaiſer Friedrich III. noch ſchärfer ausgeprägt, aber gewiß iſt, daß

1866 der König auf Ansbach und Bayreuth noch ſchwerer ver¬

zichtete als auf Oeſtreichiſch-Schleſien, Deutſch-Böhmen und Theile

von Sachſen. Ich legte an Erwerbungen von Oeſtreich und Baiern

den Maßſtab der Frage, ob die Einwohner in etwaigen Kriegen

bei einem Rückzuge der preußiſchen Behörden und Truppen dem

Könige von Preußen noch treu bleiben, Befehle von ihm annehmen

würden, und ich hatte nicht den Eindruck, daß die Bevölkerung

dieſer Gebiete, die in die bairiſchen und öſtreichiſchen Verhältniſſe

eingelebt iſt, in ihrer Geſinnung den Hohenzollernſchen Neigungen

entgegenkommen würde.

Das alte Stammland der Brandenburger Markgrafen im Süden

und Oſten von Nürnberg etwa zu einer preußiſchen Provinz mit

Nürnberg als Hauptſtadt gemacht, wäre kaum ein Landestheil geweſen,

den Preußen in Kriegsfällen von Streitkräften entblößen und unter

den Schutz ſeiner dynaſtiſchen Anhänglichkeit hätte ſtellen können. Die

letztre hat während der kurzen Zeit des preußiſchen Beſitzes keine tiefen

Wurzeln geſchlagen, trotz der geſchickten Verwaltung durch Harden¬

berg, und war ſeither in der bairiſchen Zeit vergeſſen, ſo weit ſie

nicht durch confeſſionelle Vorgänge in Erinnerung gebracht wurde,

[40/0064]

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.

was ſelten und vorübergehend der Fall war. Wenn auch gelegentlich

das Gefühl der bairiſchen Proteſtanten verletzt wurde, ſo hat ſich

die Empfindlichkeit darüber niemals in Geſtalt einer Erinnerung

an Preußen geäußert. Uebrigens wäre auch nach einer ſolchen

Beſchneidung der bairiſche Stamm von den Alpen bis zur Ober¬

pfalz in der Verbitterung, in welche die Verſtümmelung des König¬

reichs ihn verſetzt haben würde, immer als ein ſchwer zu ver¬

ſöhnendes und nach der ihm innewohnenden Stärke gefährliches

Element für die zukünftige Einigkeit zu betrachten geweſen. Es

gelang mir jedoch in Nikolsburg nicht, dem Könige meine Anſichten

über den zu ſchließenden Frieden annehmbar zu machen. Ich mußte

daher Herrn von der Pfordten, der am 24. Juli dorthin gekommen

war, unverrichteter Sache abreiſen laſſen und mich mit einer Kritik

ſeines Verhaltens vor dem Kriege begnügen. Er war ängſtlich, die

öſtreichiſche Anlehnung vollſtändig aufzugeben, obgleich er ſich auch

dem Wiener Einfluß gern entzogen hätte, wenn es ohne Gefahr

möglich war; aber Rheinbunds-Velleitäten, Reminiſcenzen an die

Stellung, die die deutſchen Kleinſtaaten unter franzöſiſchem Schutze

von 1806 bis 1814 gehabt hatten, waren bei ihm nicht vorhanden

— ein ehrlicher und gelehrter, aber politiſch nicht geſchickter deutſcher

Profeſſor.

Dieſelbe Erwägung, wie in Betreff der fränkiſchen Fürſten¬

thümer, machte ich Sr. Majeſtät gegenüber geltend in Betreff

Oeſtreichiſch-Schleſiens, das eine der kaiſertreueſten Provinzen,

überdies vorwiegend ſlaviſch bevölkert iſt, und in Betreff der

böhmiſchen Gebiete, die der König auf Andringen des Prinzen

Friedrich Carl als Glacis vor den ſächſiſchen Bergen behalten

wollte, Reichenberg, das Egerthal, Karlsbad. Es kam ſpäter hinzu,

daß Karolyi jede Landabtretung kategoriſch ablehnte, ſelbſt die von

mir ihm gegenüber berührte des kleinen Gebiets von Braunau,

deſſen Beſitz für uns ein Eiſenbahnintereſſe hatte. Ich zog vor, auch

darauf zu verzichten, ſobald das Feſthalten den Abſchluß zu verſchlep¬

pen und die Gefahr franzöſiſcher Einmiſchung zu verſchärfen drohte.

[41/0065]

Umfang der Annexionen, König und Miniſter.

Der Wunſch des Königs, Weſtſachſen, Leipzig, Zwickau und

Chemnitz zur Herſtellung der Verbindung mit Bayreuth zu behalten,

ſtieß auf die Erklärung Karolyis, daß er die Integrität Sachſens

als conditio sine qua non der Friedensbedingungen feſthalten

müſſe. Dieſer Unterſchied in der Behandlung der Bundesgenoſſen

beruhte auf den perſönlichen Beziehungen zum Könige von Sachſen

und auf dem Verhalten der ſächſiſchen Truppen nach der Schlacht

bei Königgrätz, die bei dem Rückzuge den feſteſten und intacteſten

militäriſchen Körper gebildet hatten. Die andern deutſchen Truppen

hatten ſich tapfer geſchlagen, wo ſie in's Gefecht kamen, aber ſpät und

ohne praktiſche Erfolge, und es waltete in Wien der den Umſtänden

nach unberechtigte Eindruck vor, von den Bundesgenoſſen, namentlich

von Baiern und Würtemberg, unzulänglich unterſtützt zu ſein.

Das Generalſtabswerk ſagt unter dem 21. Juli:

„In Nikolsburg hatten ſeit mehreren Tagen Verhandlungen

Statt gefunden, deren nächſtes Ziel eine fünftägige Waffenruhe

war. Vor Allem galt es, für die Diplomatie Zeit zu gewinnen *).

Jetzt, wo das preußiſche Heer das Marchfeld betrat, ſtand eine

neue Kataſtrophe unmittelbar bevor.“

Ich fragte Moltke, ob er unſer Unternehmen bei Preßburg

für gefährlich oder für unbedenklich halte. Bis jetzt hätten wir

keinen Flecken auf der weißen Weſte. Sei mit Sicherheit auf einen

guten Ausgang zu rechnen, ſo müßten wir die Schlacht ſich voll¬

ziehn, die Waffenruhe einen halben Tag ſpäter beginnen laſſen;

der Sieg würde unſre Stellung in der Verhandlung natürlich

ſtärken. Im andern Fall wäre beſſer auf das Unternehmen zu

verzichten. Er gab mir die Antwort, daß er den Ausgang für

zweifelhaft und die Operation für eine gewagte halte; aber im

Kriege ſei alles gefährlich. Dies beſtimmte mich, die Verabredung

über die Waffenruhe Sr. Majeſtät in der Art zu empfehlen, daß

*) Die Diplomatie hatte aber Angeſichts der franzöſiſchen Einmiſchung

weniger Zeit zu verlieren als die Heeresleitung.

[42/0066]

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.

Sonntag den 22. Mittags die Feindſeligkeiten eingeſtellt und nicht

vor Mittag des 27. wieder aufgenommen werden ſollten. Der

General von Franſecky erhielt am 22. Morgens 7½ Uhr die Nach¬

richt von der an demſelben Tage eintretenden Waffenruhe und die

Weiſung, damit ſein Verhalten in Einklang zu bringen. Der

Kampf, in welchem er bei Blumenau ſtand, mußte daher um 12 Uhr

abgebrochen werden.

IV.

Inzwiſchen hatte ich in den Conferenzen mit Karolyi und mit

Benedetti, dem es Dank dem Ungeſchick unſrer militäriſchen Polizei

im Rücken des Heeres gelungen war, in der Nacht vom 11. zum

12. Juli nach Zwittau zu gelangen und dort plötzlich vor meinem

Bette zu erſcheinen, die Bedingungen ermittelt, unter denen der

Friede erreichbar war. Benedetti erklärte für die Grundlinie der

Napoleoniſchen Politik, daß eine Vergrößerung Preußens um

höchſtens 4 Millionen Seelen in Norddeutſchland, unter Feſthaltung

der Mainlinie als Südgrenze, keine franzöſiſche Einmiſchung nach

ſich ziehn werde. Er hoffte wohl, einen ſüddeutſchen Bund als

franzöſiſche Filiale auszubilden. Oeſtreich trat aus dem Deutſchen

Bunde aus und war bereit, alle Einrichtungen, die der König in

Norddeutſchland treffen werde, vorbehaltlich der Integrität Sachſens,

anzuerkennen. Dieſe Bedingungen enthielten Alles, deſſen wir be¬

durften: freie Bewegung in Deutſchland.

Ich war nach allen vorſtehenden Erwägungen feſt entſchloſſen,

die Annahme des von Oeſtreich gebotenen Friedens zur Cabinets¬

frage zu machen. Die Lage war eine ſchwierige; allen Generalen

war die Abneigung gemeinſam, den bisherigen Siegeslauf ab¬

zubrechen, und der König war militäriſchen Einflüſſen im Laufe

jener Tage öfter und bereitwilliger zugänglich als den meinigen;

ich war der Einzige im Hauptquartier, dem eine politiſche Verant¬

wortlichkeit als Miniſter oblag und der ſich nothwendig der Situation

[43/0067]

Verhandlungen über den Präliminarfrieden.

gegenüber eine Meinung bilden und einen Entſchluß faſſen mußte,

ohne ſich für den Ausfall auf irgend eine andre Autorität in Geſtalt

collegialiſchen Beſchluſſes oder höherer Befehle berufen zu können.

Ich konnte die Geſtaltung der Zukunft und das von ihr abhängige

Urtheil der Welt ebenſo wenig vorausſehn wie irgend ein Andrer,

aber ich war der einzige Anweſende, der geſetzlich verpflichtet war,

eine Meinung zu haben, zu äußern und zu vertreten. Ich hatte

ſie mir in ſorgſamer Ueberlegung der Zukunft unſrer Stellung in

Deutſchland und unſrer Beziehungen zu Oeſtreich gebildet, war

bereit, ſie zu verantworten und bei dem Könige zu vertreten. Es

war mir bekannt, daß man mich im Generalſtabe den „Queſten¬

berg im Lager“ nannte, und die Identificirung mit dem Wallen¬

ſteinſchen Hofkriegsrath war mir nicht ſchmeichelhaft.

Am 23. Juli fand unter dem Vorſitze des Königs ein Kriegs¬

rath Statt, in dem beſchloſſen werden ſollte, ob unter den gebotenen

Bedingungen Friede zu machen oder der Krieg fortzuſetzen ſei.

Eine ſchmerzhafte Krankheit, an der ich litt, machte es nothwendig,

die Berathung in meinem Zimmer zu halten. Ich war dabei der

einzige Civiliſt in Uniform. Ich trug meine Ueberzeugung dahin

vor, daß auf die öſtreichiſchen Bedingungen der Friede geſchloſſen

werden müſſe, blieb aber damit allein; der König trat der mili¬

täriſchen Mehrheit bei. Meine Nerven widerſtanden den mich Tag

und Nacht ergreifenden Eindrücken nicht, ich ſtand ſchweigend auf,

ging in mein anſtoßendes Schlafzimmer und wurde dort von einem

heftigen Weinkrampf befallen. Während deſſelben hörte ich, wie

im Nebenzimmer der Kriegsrath aufbrach. Ich machte mich nun

an die Arbeit, die Gründe zu Papier zu bringen, die m. E. für

den Friedensſchluß ſprachen, und bat den König, wenn er dieſen

meinen verantwortlichen Rath nicht annehmen wolle, mich meiner

Aemter als Miniſter bei Weiterführung des Krieges zu entheben.

Mit dieſem Schriftſtücke *) begab ich mich am folgenden Tage zum

*) Zum Theil abgedruckt in Sybel V 294 ff.

[44/0068]

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.

mündlichen Vortrag. Im Vorzimmer fand ich zwei Oberſten mit

Berichten über das Umſichgreifen der Cholera unter ihren Leuten,

von denen kaum die Hälfte dienſtfähig war *). Die erſchreckenden

Zahlen befeſtigten meinen Entſchluß, aus dem Eingehn auf die

öſtreichiſchen Bedingungen die Cabinetsfrage zu machen. Ich be¬

fürchtete neben politiſchen Sorgen, daß bei Verlegung der Opera¬

tionen nach Ungarn die mir bekannte Beſchaffenheit dieſes Landes

die Krankheit ſchnell übermächtig machen würde. Das Klima,

beſonders im Auguſt, iſt gefährlich, der Waſſermangel groß, die

ländlichen Ortſchaften mit Feldmarken von mehren Quadratmeilen

weit verſtreut, dazu Reichthum an Pflaumen und Melonen. Mir

ſchwebte als warnendes Beiſpiel unſer Feldzug von 1792 in der

Champagne vor, wo wir nicht durch die Franzoſen, ſondern durch

die Ruhr zum Rückzug gezwungen wurden.

Ich entwickelte dem Könige an der Hand meines Schriftſtücks

die politiſchen und militäriſchen Gründe, die gegen die Fort¬

ſetzung des Krieges ſprachen.

Oeſtreich ſchwer zu verwunden, dauernde Bitterkeit und

Revanchebedürfniß mehr als nöthig zu hinterlaſſen, mußten wir

vermeiden, vielmehr uns die Möglichkeit, uns mit dem heutigen

Gegner wieder zu befreunden, wahren und jedenfalls den öſt¬

reichiſchen Staat als einen Stein im europäiſchen Schachbrett und

die Erneuerung guter Beziehungen mit demſelben als einen für

uns offen zu haltenden Schachzug anſehn. Wenn Oeſtreich ſchwer

geſchädigt wäre, ſo würde es der Bundesgenoſſe Frankreichs und

jedes Gegners werden; es würde ſelbſt ſeine antiruſſiſchen Inter¬

eſſen der Revanche gegen Preußen opfern.

Auf der andern Seite könnte ich mir keine für uns annehm¬

bare Zukunft der Länder, welche die öſtreichiſche Monarchie bildeten,

denken, falls letztre durch ungariſche und ſlaviſche Aufſtände zer¬

ſtört oder in dauernde Abhängigkeit verſetzt werden ſollte. Was

*) Während des Feldzuges ſind 6427 Mann der Seuche erlegen.

[45/0069]

Schwierigkeit der Lage gegenüber den militäriſchen Einflüſſen.

ſollte an die Stelle Europas geſetzt werden, welche der öſtreichiſche

Staat von Tyrol bis zur Bukowina bisher ausfüllt? Neue

Bildungen auf dieſer Fläche könnten nur dauernd revolutionärer

Natur ſein. Deutſch-Oeſtreich könnten wir weder ganz, noch theil¬

weiſe brauchen, eine Stärkung des preußiſchen Staates durch Er¬

werbung von Provinzen wie Oeſtreichiſch-Schleſien und Stücken

von Böhmen nicht gewinnen, eine Verſchmelzung des deutſchen

Oeſtreichs mit Preußen würde nicht erfolgen, Wien als ein Zu¬

behör von Berlin aus nicht zu regiren ſein.

Wenn der Krieg fortgeſetzt würde, ſo wäre der wahrſcheinliche

Kampfplatz Ungarn. Die öſtreichiſche Armee, die, wenn wir bei

Preßburg über die Donau gegangen, Wien nicht würde halten

können, würde ſchwerlich nach Süden ausweichen, wo ſie zwiſchen

die preußiſche und die italieniſche Armee geriethe und durch ihre

Annäherung an Italien die geſunkene und durch Louis Napoleon

eingeſchränkte Kampfluſt der Italiener neu beleben würde; ſondern

ſie würde nach Oſten ausweichen und die Vertheidigung in Ungarn

fortſetzen, wenn auch nur in der Hoffnung auf die in Ausſicht

ſtehende Einmiſchung Frankreichs und die durch Frankreich vor¬

bereitete Desintereſſirung Italiens. Uebrigens hielte ich auch unter

dem rein militäriſchen Geſichtspunkte nach meiner Kenntniß des

ungariſchen Landes die Fortſetzung des Krieges dort für undankbar,

die dort zu erreichenden Erfolge für nicht im Verhältniß ſtehend

zu den bisher gewonnenen Siegen, alſo unſer Preſtige vermindernd

— ganz abgeſehn davon, daß die Verlängerung des Krieges der

franzöſiſchen Einmiſchung die Wege ebnen würde. Wir müßten

raſch abſchließen, ehe Frankreich Zeit zur Entwicklung weitrer diplo¬

matiſcher Action auf Oeſtreich gewönne.

Gegen alles dies erhob der König keine Einwendung; aber

die vorliegenden Bedingungen erklärte er für ungenügend, ohne

jedoch ſeine Forderungen beſtimmt zu formuliren. Nur ſo viel war

klar, daß ſeine Anſprüche ſeit dem 4. Juli gewachſen waren. Der

Hauptſchuldige könne doch nicht ungeſtraft ausgehn, die Verführten

[46/0070]

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.

könnten wir dann leichter davonkommen laſſen, ſagte er, und beſtand

auf den ſchon erwähnten Gebietsabtretungen von Oeſtreich. Ich

erwiderte: Wir hätten nicht eines Richteramts zu walten, ſondern

deutſche Politik zu treiben; Oeſtreichs Rivalitätskampf gegen uns

ſei nicht ſtrafbarer als der unſrige gegen Oeſtreich; unſre Auf¬

gabe ſei Herſtellung oder Anbahnung deutſch-nationaler

Einheit unter Leitung des Königs von Preußen.

Auf die deutſchen Staaten übergehend, ſprach er von verſchie¬

denen Erwerbungen durch Beſchneidung der Länder aller Gegner.

Ich wiederholte, daß wir nicht vergeltende Gerechtigkeit zu üben,

ſondern Politik zu treiben hätten, daß ich vermeiden wolle, in dem

künftigen deutſchen Bundesverhältniß verſtümmelte Beſitze zu ſehn,

in denen bei Dynaſtie und Bevölkerung der Wunſch nach Wieder¬

erlangung des frühern Beſitzes mit fremder Hülfe nach menſch¬

licher Schwäche leicht lebendig werden könnte; es würden das un¬

zuverläſſige Bundesgenoſſen werden. Daſſelbe würde der Fall ſein,

wenn man zur Entſchädigung Sachſens etwa Würzburg oder Nürn¬

berg von Baiern verlangen wollte, ein Plan, der außerdem mit

der dynaſtiſchen Vorliebe Sr. Majeſtät für Ansbach in Concurrenz

treten würde. Ebenſo hatte ich Pläne zu bekämpfen, die auf eine

Vergrößerung des Großherzogthums Baden hinausliefen, Annexion

der bairiſchen Pfalz, und eine Ausdehnung in der untern Main¬

gegend. Das Aſchaffenburger Gebiet Baierns wurde dabei als ge¬

eignet angeſehn, um Heſſen-Darmſtadt für den durch die Maingrenze

gebotenen Verluſt von Oberheſſen zu entſchädigen. Später in Berlin

ſtand von dieſen Plänen nur noch zur Verhandlung die Abtretung

des auf dem rechten Mainufer gelegenen bairiſchen Gebiets ein¬

ſchließlich der Stadt Bayreuth an Preußen, wobei die Frage zur Er¬

örterung kam, ob die Grenze auf dem nördlichen rothen oder ſüd¬

lichen weißen Main gehn ſollte. Vorwiegend ſchien mir bei Sr.

Majeſtät die von militäriſcher Seite gepflegte Abneigung gegen die

Unterbrechung des Siegeslaufes der Armee. Der Widerſtand, den ich

den Abſichten Sr. Majeſtät in Betreff der Ausnutzung der militäri¬

[47/0071]

König Wilhelms Widerſpruch und ſein Nachgeben.

ſchen Erfolge und ſeiner Neigung, den Siegeslauf fortzuſetzen, meiner

Ueberzeugung gemäß leiſten mußte, führte eine ſo lebhafte Erregung

des Königs herbei, daß eine Verlängerung der Erörterung unmög¬

lich war und ich mit dem Eindruck, meine Auffaſſung ſei abgelehnt,

das Zimmer verließ mit dem Gedanken, den König zu bitten, daß

er mir erlauben möge, in meiner Eigenſchaft als Offizier in mein

Regiment einzutreten. In mein Zimmer zurückgekehrt, war ich in

der Stimmung, daß mir der Gedanke nahe trat, ob es nicht beſſer

ſei, aus dem offenſtehenden, vier Stock hohen Fenſter zu fallen,

und ich ſah mich nicht um, als ich die Thür öffnen hörte, obwohl ich

vermuthete, daß der Eintretende der Kronprinz ſei, an deſſen Zim¬

mer ich auf dem Corridor vorübergegangen war. Ich fühlte ſeine

Hand auf meiner Schulter, während er ſagte: „Sie wiſſen, daß

ich gegen den Krieg geweſen bin, Sie haben ihn für nothwendig

gehalten und tragen die Verantwortlichkeit dafür. Wenn Sie

nun überzeugt ſind, daß der Zweck erreicht iſt und jetzt Friede

geſchloſſen werden muß, ſo bin ich bereit, Ihnen beizuſtehn und

Ihre Meinung bei meinem Vater zu vertreten.“ Er begab ſich

dann zum Könige, kam nach einer kleinen halben Stunde zurück in

derſelben ruhigen und freundlichen Stimmung, aber mit den Worten:

„Es hat ſehr ſchwer gehalten, aber mein Vater hat zugeſtimmt.“

Dieſe Zuſtimmung hatte ihren Ausdruck gefunden in einem mit

Bleiſtift an den Rand einer meiner letzten Eingaben geſchriebenen

Marginale ungefähr des Inhalts: „Nachdem mein Miniſterpräſident

mich vor dem Feinde im Stiche läßt und ich hier außer Stande

bin, ihn zu erſetzen, habe ich die Frage mit meinem Sohne erörtert,

und da ſich derſelbe der Auffaſſung des Miniſterpräſidenten an¬

geſchloſſen hat, ſehe ich mich zu meinem Schmerze gezwungen, nach

ſo glänzenden Siegen der Armee in dieſen ſauren Apfel zu

beißen und einen ſo ſchmachvollen Frieden anzunehmen.“ — Ich

glaube mich nicht im Wortlaut zu irren, obſchon mir das Acten¬

ſtück gegenwärtig nicht zugänglich iſt; der Sinn war jedenfalls

der angegebene und mir damals trotz der Schärfe der Ausdrücke

[48/0072]

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.

eine erfreuliche Löſung der für mich unerträglichen Spannung.

Ich nahm die Königliche Zuſtimmung zu dem von mir als

politiſch nothwendig Erkannten gern entgegen, ohne mich an

ihrer unverbindlichen Form zu ſtoßen. Im Geiſte des Königs

waren eben die militäriſchen Eindrücke damals die vorherrſchenden,

und das Bedürfniß, die bis dahin ſo glänzende Siegeslaufbahn

fortzuſetzen, war vielleicht ſtärker als die politiſchen und diplo¬

matiſchen Erwägungen.

Von dem erwähnten Marginale des Königs, das mir der

Kronprinz überbrachte, blieb mir als einziges Reſiduum die Erinne¬

rung an die heftige Gemüthsbewegung, in die ich meinen alten

Herrn hatte verſetzen müſſen, um zu erlangen, was ich im Intereſſe

des Vaterlandes für geboten hielt, wenn ich verantwortlich bleiben

ſollte. Noch heut haben dieſe und analoge Vorgänge bei mir keinen

andern Eindruck hinterlaſſen, als die ſchmerzliche Erinnerung, daß

ich einen Herrn, den ich perſönlich liebte wie dieſen, ſo habe ver¬

ſtimmen müſſen.

V.

Nachdem die Präliminarien mit Oeſtreich unterzeichnet waren,

fanden ſich Bevollmächtigte von Würtemberg, Baden und Darm¬

ſtadt ein. Den würtembergiſchen Miniſter von Varnbüler zu em¬

pfangen, lehnte ich zunächſt ab, weil die Verſtimmung gegen ihn

bei uns ſtärker war als gegen Pfordten. Er war politiſch ge¬

wandter als der Letztre, aber auch weniger durch deutſch-nationale

Skrupel behindert. Seine Stimmung beim Ausbruch des Krieges

hatte ſich in dem Vae victis! ausgedrückt und war zu erklären

aus den Stuttgarter Beziehungen zu Frankreich, die insbeſondre

durch die Vorliebe der Königin von Holland, einer würtembergiſchen

Prinzeſſin, getragen waren.

Dieſelbe hatte, ſo lange ich in Frankfurt war, viel für mich

übrig, ermuthigte mich in meinem Widerſtande gegen Oeſtreichs

[49/0073]

Marginal des Königs. Feindliche Haltung des Stuttgarter Hofes.

Politik und gab ihre antiöſtreichiſche Geſinnung dadurch zu er¬

kennen, daß ſie im Hauſe ihres Geſandten Herrn von Scherff mich,

nicht ohne Unhöflichkeit gegen den öſtreichiſchen Präſidial-Geſandten

Baron Prokeſch, tendenziös auszeichnete, zu einer Zeit, wo Louis

Napoleon noch Hoffnung auf ein preußiſches Bündniß gegen Oeſt¬

reich hegte und den italieniſchen Krieg bereits im Sinne hatte.

Ich laſſe unentſchieden, ob ſchon damals die Vorliebe für das

Napoleoniſche Frankreich allein die Politik der Königin von Holland

beſtimmte, oder ob nur das unruhige Bedürfniß, überhaupt Politik

zu treiben, ſie zu einer Parteinahme in dem preußiſch-öſtreichiſchen

Streit und zu einer auffällig ſchlechten Behandlung meines öſt¬

reichiſchen Collegen und Bevorzugung meiner bewog. Jedenfalls

habe ich nach 1866 die mir früher ſo gnädige Fürſtin unter den

ſchärfſten Gegnern meiner in Vorausſicht des Bruches von 1870

befolgten Politik gefunden. Im Jahre 1867 wurden wir zuerſt

durch amtliche franzöſiſche Kundgebungen verdächtigt, Abſichten auf

Holland zu haben, namentlich in der Aeußerung des Miniſters

Rouher in einer Rede gegen Thiers, 16. März 1867, daß Frank¬

reich unſer Vordringen an die „Zuider-See“ nicht dulden könne.

Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß die Zuider-See von dem Franzoſen

ſelbſtändig entdeckt worden und ſogar die Orthographie des Namens

in der franzöſiſchen Preſſe ohne fremde Hülfe richtig gegeben worden

iſt: man darf vermuthen, daß der Gedanke an dieſes Gewäſſer von

Holland aus dem franzöſiſchen Mißtrauen ſuppeditirt worden war.

Auch die niederländiſche Abſtammung des Herrn Drouyn de Lhuys

berechtigt mich nicht, eine ſo genaue Localkenntniß in der Geo¬

graphie außerhalb der franzöſiſchen Grenzen bei ſeinem Collegen

vorauszuſetzen.

Die Einſchätzung der würtembergiſchen Politik in die Rhein¬

bundkategorie beſtimmte mich, den Empfang des Herrn von Varn¬

büler in Nikolsburg zunächſt abzulehnen. Auch eine Unterredung

zwiſchen uns, die der Prinz Friedrich von Würtemberg, der

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 4

[50/0074]

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.

Bruder des Commandirenden unſers Gardecorps, und die uns ſehr

wohlwollende Großfürſtin Helene vermittelt hatten, verlief politiſch

fruchtlos. Erſt ſpäter in Berlin habe ich mit Herrn von Varn¬

büler verhandelt; und ſeine bewegliche Empfänglichkeit für die

politiſchen Eindrücke jeder Situation bethätigte ſich dort darin, daß

er der erſte unter den ſüddeutſchen Miniſtern war, mit dem ich

einen Bündniß-Vertrag der bekannten Art abſchließen konnte.

[[51]/0075]

Einundzwanzigſtes Kapitel.

Der Norddeutſche Bund.

I.

In Berlin war ich äußerlich mit dem Verhältniß Preußens

zu den neuerworbenen Provinzen und den übrigen norddeutſchen

Staaten, innerlich mit der Stimmung der auswärtigen Mächte und

Erwägung ihres wahrſcheinlichen Verhaltens beſchäftigt. Unſre

innere Lage hatte für mich und vielleicht für Jeden den Charakter

des Proviſoriums und der Unreife. Die Rückwirkung der Ver¬

größerung Preußens, der bevorſtehenden Verhandlungen über den

Norddeutſchen Bund und ſeine Verfaſſung ließen unſre innere Ent¬

wicklung ebenſo ſehr im Fluß begriffen erſcheinen wie unſre Be¬

ziehungen zum deutſchen und außerdeutſchen Auslande es waren

vermöge der europäiſchen Situation, in der der Krieg abgebrochen

wurde. Ich nahm als ſicher an, daß der Krieg mit Frankreich auf

dem Wege zu unſrer weitern nationalen Entwicklung, ſowohl der

intenſiven als der über den Main hinaus extenſiven, nothwendig

werde geführt werden müſſen, und daß wir dieſe Eventualität bei

allen unſern Verhältniſſen im Innern wie nach Außen im Auge

zu behalten hätten. Louis Napoleon ſah in einiger Vergrößerung

Preußens in Norddeutſchland nicht nur keine Gefahr für Frank¬

reich, ſondern ein Mittel gegen die Einigung und nationale Ent¬

wicklung Deutſchlands; er glaubte, daß deſſen außerpreußiſche

[52/0076]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

Glieder ſich dann des franzöſiſchen Schutzes um ſo bedürftiger

fühlen würden. Er hatte Rheinbundreminiſcenzen und wollte die

Entwicklung in der Richtung eines Geſammt-Deutſchlands hindern.

Er glaubte es zu können, weil er die nationale Stimmung des

Tages nicht kannte und die Situation nach ſeinen ſüddeutſchen

Schulerinnerungen und nach diplomatiſchen Berichten beurtheilte,

die nur auf miniſterielle und ſporadiſch dynaſtiſche Stimmungen

gegründet waren. Ich war überzeugt, daß ihr Gewicht ſchwinden

würde; ich nahm an, daß ein Geſammt-Deutſchland nur eine Frage

der Zeit, und daß zu deren Löſung der Norddeutſche Bund die erſte

Etappe ſei, daß aber die Feindſchaft Frankreichs und vielleicht Ru߬

lands, das Revanchebedürfniß Oeſtreichs für 1866 und der preußiſch-

dynaſtiſche Particularismus des Königs nicht zu früh in die Schranken

gerufen werden dürfe. Ich war nicht zweifelhaft, daß ein deutſch-

franzöſiſcher Krieg werde geführt werden müſſen, bevor die Geſammt-

Einrichtung Deutſchlands ſich verwirklichte. Dieſen Krieg hinauszu¬

ſchieben, bis unſre Streitkräfte durch Anwendung der preußiſchen

Wehrgeſetzgebung nicht blos auf Hanover, Heſſen und Holſtein, ſon¬

dern, wie ich damals ſchon nach der Fühlung mit den Süddeutſchen

hoffen durfte, auch auf dieſe, geſtärkt wären, war ein Gedanke, der

mich damals beherrſchte. Ich hielt einen Krieg mit Frankreich im

Hinblick auf die Erfolge der Franzoſen im Krimkriege und in Italien

für eine Gefahr, die ich damals überſchätzte, indem mir die für Frank¬

reich erreichbare Truppenziffer, die Ordnung und die Organiſation

und das Geſchick in der Führung als höher und beſſer vorſchwebten,

als ſich 1870 beſtätigt hat. Die Tapferkeit des franzöſiſchen Troupiers

und die Höhe des nationalen Gefühls und der verletzten Eitelkeit

haben ſich vollkommen in dem Maße bewährt, wie ich ſie für die Even¬

tualität einer deutſchen Invaſion in Frankreich eingeſchätzt hatte, in

Erinnerung an die Erlebniſſe von 1814, 1792, und zu Anfang des

vorigen Jahrhunderts im ſpaniſchen Erbfolgekriege, wo das Ein¬

dringen fremder Heere ſtets ähnliche Erſcheinungen wie das Stö¬

kern in einem Ameiſenhaufen hervorgerufen hat. Für leicht habe

[53/0077]

Diplomatiſche Sorgen und Erwägungen.

ich den franzöſiſchen Krieg niemals gehalten, ganz abgeſehn von

den Bundesgenoſſen, die Frankreich in dem öſtreichiſchen Revanche¬

gefühl und in dem ruſſiſchen Gleichgewichtsbedürfniß finden konnte.

Mein Beſtreben, dieſen Krieg hinauszuſchieben, bis die Wirkung

unſrer Wehrgeſetzgebung und militäriſchen Erziehung auf alle nicht

altpreußiſchen Landestheile ſich vollſtändig hätte entwickeln können,

war alſo natürlich, und dieſes mein Ziel war 1867 bei der

Luxemburger Frage nicht annähernd erreicht. Jedes Jahr Auf¬

ſchub des Krieges ſtärkte unſer Heer um mehr als 100000 gelernte

Soldaten. Bei der Indemnitätsfrage dem Könige gegenüber und

bei der Verfaſſungsfrage im preußiſchen Landtage aber ſtand ich

unter dem Druck des Bedürfniſſes, dem Auslande keine Spur von

vorhandenen oder bevorſtehenden Hemmniſſen durch unſre innre

Lage, ſondern nur die einige nationale Stimmung zur Anſchauung

zu bringen, um ſo mehr, als ſich nicht ermeſſen ließ, welche Bundes¬

genoſſen Frankreich im Kriege gegen uns haben werde. Die Ver¬

handlungen und Annäherungsverſuche zwiſchen Frankreich und Oeſt¬

reich in Salzburg und anderswo bald nach 1866, konnten unter

Leitung des Herrn von Beuſt erfolgreich ſein, und ſchon die Be¬

rufung dieſes verſtimmten ſächſiſchen Miniſters zur Leitung der

Wiener Politik ließ darauf ſchließen, daß ſie die Richtung der Re¬

vanche einſchlagen würde.

Die Haltung Italiens war nach der Fügſamkeit gegen Na¬

poleon, die wir 1866 kennen gelernt hatten, unberechenbar, ſobald

franzöſiſcher Druck ſtattfand. Der General Govone war, als ich

in Berlin im Frühjahr 1866 mit ihm verhandelte, erſchrocken,

als ich den Wunſch äußerte, er möge zu Haus anfragen, ob wir

auch gegen Napoleoniſche Verſtimmungen auf Italiens Vertrags¬

treue rechnen dürften. Er ſagte, daß eine ſolche Rückfrage an

demſelben Tage nach Paris telegraphirt werden würde, mit der

Anfrage, „was man antworten ſolle?“ In der öffentlichen Meinung

Italiens konnte ich auf ſichern Anhalt nicht rechnen, nach der

Haltung der italieniſchen Politik während des Krieges, nicht blos

[54/0078]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

auf Grund der perſönlichen Freundſchaft Victor Emanuels für

Louis Napoleon, ſondern auch nach Maßgabe der durch Garibaldi im

Namen der öffentlichen Meinung Italiens bekundeten Parteinahme.

Der Bund Italiens mit Frankreich und Oeſtreich lag nicht blos

nach meiner Befürchtung, ſondern nach der öffentlichen Meinung

in Europa nicht außerhalb der Wahrſcheinlichkeit.

Von Rußland war einer ſolchen Coalition gegenüber activer

Beiſtand ſchwerlich zu erwarten. Mir ſelbſt hatte der ruſſenfreund¬

liche Einfluß, den ich in der Zeit des Krimkrieges auf die Ent¬

ſchließungen Friedrich Wilhelms IV. auszuüben vermochte, das

Wohlwollen des Kaiſers Alexander erworben, und ſein Vertrauen

zu mir war in der Zeit meiner Geſandſchaft in Petersburg ge¬

wachſen. Inzwiſchen aber hatte in dem dortigen Cabinet unter

Gortſchakows Leitung der Zweifel an der Nützlichkeit einer ſo be¬

deutenden Kräftigung Preußens für Rußland die Wirkung der

kaiſerlichen Freundſchaft für den König Wilhelm und der Dank¬

barkeit für unſre Politik in der polniſchen Frage von 1863

aufzuwiegen angefangen. Wenn die Mittheilung richtig iſt, die

Drouyn de Lhuys dem Grafen Vitzthum von Eckſtädt *) gemacht

hat, ſo hat Gortſchakow im Juli 1866 den Kaiſer Napoleon zu

einem gemeinſamen Proteſte gegen die Beſeitigung des Deutſchen

Bundes aufgefordert und eine Ablehnung erfahren. Der Kaiſer

Alexander hatte in der erſten Ueberraſchung und nach der Sendung

Manteuffels nach Petersburg dem Ergebniß der Nikolsburger Prä¬

liminarien generell und obiter zugeſtimmt; der Haß gegen Oeſt¬

reich, der ſeit dem Krimkriege die öffentliche Meinung der ruſſi¬

ſchen „Geſellſchaft“ beherrſchte, hatte zunächſt ſeine Befriedigung

gefunden in den Niederlagen Oeſtreichs; dieſer Stimmung ſtanden

aber ruſſiſche Intereſſen gegenüber, die ſich an den zariſchen Ein¬

fluß in Deutſchland und an deſſen Bedrohung durch Frankreich

knüpften.

*) London, Gaſtein und Sadowa. Stuttgart 1890. S. 248.

[55/0079]

Haltung des Auslandes gegenüber dem Siege Preußens.

Ich nahm zwar an, daß wir gegen eine Coalition, die

Frankreich etwa gegen uns aufbringen würde, auf ruſſiſchen Bei¬

ſtand würden zählen können, aber doch erſt, wenn wir das Un¬

glück gehabt haben ſollten, Niederlagen zu erleiden, vermöge

deren die Frage näher gerückt wäre, ob Rußland die Nachbarſchaft

einer ſiegreichen franzöſiſch-öſtreichiſchen Coalition an ſeinen pol¬

niſchen Grenzen vertragen könne. Die Unbequemlichkeit einer ſolchen

Nachbarſchaft wäre vielleicht noch größer geworden, wenn ſtatt des

antipäpſtlichen Königreichs Italien das Papſtthum ſelbſt der Dritte

im Bunde der beiden katholiſchen Großmächte geworden wäre. Bis

zum Näherrücken ſolcher Gefährlichkeit infolge preußiſcher Nieder¬

lagen hielt ich aber für wahrſcheinlich, daß Rußland es nicht un¬

gern ſähe, wenigſtens es nicht hindern würde, wenn eine numeriſch

überlegne Coalition einiges Waſſer in unſern Wein von 1866 ge¬

goſſen hätte.

Von England durften wir einen activen Beiſtand gegen den

Kaiſer Napoleon nicht erwarten, obſchon die engliſche Politik einer

ſtarken befreundeten Continentalmacht mit vielen Bataillonen be¬

darf und dieſes Bedürfniß unter Pitt, Vater und Sohn, zu

Gunſten Preußens, ſpäter Oeſtreichs, und dann unter Palmerſton

bis zu den ſpaniſchen Heirathen, dann wieder unter Clarendon

zu Gunſten Frankreichs gepflegt hatte. Das Bedürfniß der eng¬

liſchen Politik war entweder entente cordiale mit Frankreich oder

Beſitz eines ſtarken Bundesgenoſſen gegen Frankreichs Feindſchaft.

England iſt wohl bereit, das ſtärkere Deutſch-Preußen als Erſatz

für Oeſtreich hinzunehmen, und in der Lage vom Herbſt 1866

konnten wir auf platoniſches Wohlwollen und belehrende Zeitungs¬

artikel dort allenfalls zählen; aber bis zum activen Beiſtande zu

Waſſer und zu Lande würde ſich die theoretiſche Sympathie ſchwer¬

lich verdichtet haben. Die Vorgänge von 1870 haben gezeigt, daß

ich in der Einſchätzung Englands Recht hatte. Mit einer für uns

jedenfalls verſtimmenden Bereitwilligkeit übernahm man in London

die Vertretung Frankreichs in Norddeutſchland, und während des

[56/0080]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

Krieges hat man ſich niemals zu unſern Gunſten ſo weit com¬

promittirt, daß nicht die franzöſiſche Freundſchaft gewahrt worden

wäre; im Gegentheil.

II.

Es geſchah hauptſächlich unter dem Einfluß dieſer Erwägungen

auf dem Gebiete der auswärtigen Politik, daß ich mich entſchloß,

jeden Schachzug im Innern danach einzurichten, ob der Eindruck

der Solidität unſrer Staatskraft dadurch gefördert oder geſchädigt

werden könne. Ich ſagte mir, daß das nächſte Hauptziel die Selb¬

ſtändigkeit und Sicherheit nach Außen ſei, daß zu dieſem Zwecke

nicht nur die thatſächliche Beſeitigung innern Zwieſpaltes, ſondern

auch jeder Schein davon nach dem Auslande und in Deutſchland

vermieden werden müſſe; daß, wenn wir erſt Unabhängigkeit von

dem Auslande hätten, wir auch in unſrer innern Entwicklung uns

frei bewegen könnten, wir uns dann ſo liberal oder ſo reactionär

einrichten könnten, wie es gerecht und zweckmäßig erſchiene; daß

wir alle innern Fragen vertagen könnten bis zur Sicherſtellung

unſrer nationalen Ziele nach Außen. Ich zweifelte nicht an der

Möglichkeit, der königlichen Macht die nöthige Stärke zu geben,

um unſre innere Uhr richtig zu ſtellen, wenn wir erſt nach Außen

die Freiheit erworben haben würden, als große Nation ſelb¬

ſtändig zu leben. Bis dahin war ich bereit, der Oppoſition nach

Bedürfniß black-mail zu zahlen, um zunächſt unſre volle Kraft

und in der Diplomatie den Schein dieſer einigen Kraft und die

Möglichkeit in die Wagſchale werfen zu können, im Falle der Noth

auch revolutionäre Nationalbewegungen gegen unſre Feinde ent¬

feſſeln zu können.

In einer Commiſſionsſitzung des Landtags wurde ich von

der Fortſchrittspartei, wohl nicht ohne Kenntniß von den Be¬

ſtrebungen der äußerſten Rechten, darüber interpellirt, ob die Re¬

girung bereit ſei, die preußiſche Verfaſſung in den neuen Pro¬

[57/0081]

Ergebniß der Erwägungen für die innere Politik.

vinzen einzuführen. Eine ausweichende Antwort würde das Mi߬

trauen der Verfaſſungsparteien hervorgerufen oder belebt haben.

Nach meiner Ueberzeugung war es überhaupt nothwendig, die Ent¬

wicklung der deutſchen Frage durch keinen Zweifel an der Verfaſſungs¬

treue der Regirung zu hemmen; durch jeden neuen Zwieſpalt zwiſchen

Regirung und Oppoſition wäre der vom Auslande zu erwartende

äußere Widerſtand gegen nationale Neubildungen geſtärkt worden.

Aber meine Bemühungen, die Oppoſition und ihre Redner zu über¬

zeugen, daß ſie wohlthäten, innere Verfaſſungsfragen gegenwärtig

zurücktreten zu laſſen, daß die deutſche Nation, wenn erſt geeinigt,

in der Lage ſein werde, ihre innern Verhältniſſe nach ihrem Er¬

meſſen zu ordnen; daß unſre gegenwärtige Aufgabe ſei, die Nation

in dieſe Lage zu verſetzen, alle dieſe Erwägungen waren der bor¬

nirten und kleinſtädtiſchen Parteipolitik der Oppoſitionsredner gegen¬

über erfolglos, und die durch ſie hervorgerufenen Erörterungen

ſtellten das nationale Ziel zu ſehr in den Vordergrund nicht nur

dem Auslande, ſondern auch dem Könige gegenüber, der damals

noch mehr die Macht und Größe Preußens als die verfaſſungs¬

mäßige Einheit Deutſchlands im Auge hatte. Ihm lag ehrgeizige

Berechnung nach deutſcher Richtung hin fern; den Kaiſertitel be¬

zeichnete er noch 1870 geringſchätzig als den „Charaktermajor“, wor¬

auf ich erwiderte, daß Se. Majeſtät die Competenzen der Stellung

allerdings ſchon verfaſſungsmäßig beſäßen und der „Kaiſer“ nur die

äußerliche Sanction enthalte, gewiſſermaßen als ob ein mit Füh¬

rung eines Regiments beauftragter Offizier definitiv zum Comman¬

deur ernannt werde. Für das dynaſtiſche Gefühl war es ſchmeichel¬

hafter, grade als geborner König von Preußen und nicht als er¬

wählter und durch ein Verfaſſungsgeſetz hergeſtellter Kaiſer die

betreffende Macht auszuüben, analog wie ein prinzlicher Regiments-

Commandeur es vorzieht, nicht Herr Oberſt, ſondern Königliche

Hoheit genannt zu werden und der gräfliche Lieutenant nicht Herr

Lieutenant, ſondern Herr Graf. Ich hatte mit dieſen Eigenthüm¬

lichkeiten meines Herrn zu rechnen, wenn ich mir ſein Vertrauen

[58/0082]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

erhalten wollte, und ohne ihn und ſein Vertrauen war mein Weg

in deutſcher Politik überhaupt nicht gangbar.

III.

Im Hinblick auf die Nothwendigkeit, im Kampfe gegen eine

Uebermacht des Auslandes im äußerſten Nothfall auch zu revo¬

lutionären Mitteln greifen zu können, hatte ich auch kein Bedenken

getragen, die damals ſtärkſte der freiheitlichen Künſte, das all¬

gemeine Wahlrecht, ſchon durch die Circulardepeſche vom 10. Juni

1866 mit in die Pfanne zu werfen, um das monarchiſche Ausland

abzuſchrecken von Verſuchen, die Finger in unſre nationale omelette

zu ſtecken. Ich habe nie gezweifelt, daß das deutſche Volk, ſobald

es einſieht, daß das beſtehende Wahlrecht eine ſchädliche Inſtitution

ſei, ſtark und klug genug ſein werde, ſich davon frei zu machen.

Kann es das nicht, ſo iſt meine Redensart, daß es reiten könne,

wenn es erſt im Sattel ſäße 1), ein Irrthum geweſen. Die Annahme

des allgemeinen Wahlrechts war eine Waffe im Kampfe gegen Oeſt¬

reich und weitres Ausland, im Kampfe für die deutſche Einheit, zugleich

eine Drohung mit letzten Mitteln im Kampfe gegen Coalitionen. In

einem Kampfe derart, wenn er auf Tod und Leben geht, ſieht man

die Waffen, zu denen man greift, und die Werthe, die man durch

ihre Benutzung zerſtört, nicht an: der einzige Rathgeber iſt zunächſt

der Erfolg des Kampfes, die Rettung der Unabhängigkeit nach

Außen; die Liquidation und Aufbeſſerung der dadurch angerichteten

Schäden hat nach dem Frieden ſtattzufinden. Außerdem halte ich

noch heut das allgemeine Wahlrecht nicht blos theoretiſch, ſondern

auch praktiſch für ein berechtigtes Prinzip, ſobald nur die Heimlich¬

keit beſeitigt wird, die außerdem einen Charakter hat, der mit den

beſten Eigenſchaften des germaniſchen Blutes in Widerſpruch ſteht.

1) Rede vom 11. März 1867, Politiſche Reden III 184.

[59/0083]

Das allgemeine Wahlrecht und ſein Gegengewicht.

Die Einflüſſe und Abhängigkeiten, die das praktiſche Leben der

Menſchen mit ſich bringt, ſind gottgegebene Realitäten, die man nicht

ignoriren kann und ſoll. Wenn man es ablehnt, ſie auf das

politiſche Leben zu übertragen, und im letztern den Glauben an

die geheime Einſicht Aller zum Grunde legt, ſo geräth man in

einen Widerſpruch des Staatsrechts mit den Realitäten des menſch¬

lichen Lebens, der praktiſch zu ſtehenden Frictionen und ſchließlich

zu Exploſionen führt und theoretiſch nur auf dem Wege ſocial¬

demokratiſcher Verrücktheiten lösbar iſt, deren Anklang auf der

Thatſache beruht, daß die Einſicht großer Maſſen hinreichend ſtumpf

und unentwickelt iſt, um ſich von der Rhetorik geſchickter und ehr¬

geiziger Führer unter Beihülfe eigner Begehrlichkeit ſtets einfangen

zu laſſen.

Das Gegengewicht dagegen liegt in dem Einfluſſe der Ge¬

bildeten, der ſich ſtärker geltend machen würde, wenn die Wahl

öffentlich wäre 1), wie für den preußiſchen Landtag. Die größere

Beſonnenheit der intelligenteren Claſſen mag immerhin den mate¬

riellen Untergrund der Erhaltung des Beſitzes haben; der andre

des Strebens nach Erwerb iſt nicht weniger berechtigt, aber für

die Sicherheit und Fortbildung des Staates iſt das Uebergewicht

derer, die den Beſitz vertreten, das nützlichere. Ein Staatsweſen,

deſſen Regiment in den Händen der Begehrlichen, der novarum

rerum cupidi, und der Redner liegt, welche die Fähigkeit, urtheils¬

loſe Maſſen zu belügen, in höherm Maße wie Andre beſitzen,

wird ſtets zu einer Unruhe der Entwicklung verurtheilt ſein, der

ſo gewichtige Maſſen, wie ſtaatliche Gemeinweſen ſind, nicht folgen

können, ohne in ihrem Organismus geſchädigt zu werden. Schwere

Maſſen, zu denen große Nationen in ihrem Leben und ihrer Ent¬

wicklung gehören, können ſich nur mit Vorſicht bewegen, da die

1) Die geheime Abſtimmung wurde bekanntlich erſt durch den Antrag

Fries in das Geſetz hineingebracht, während die Regirungsvorlage öffentliche

Abſtimmung forderte.

[60/0084]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

Bahnen, in denen ſie einer unbekannten Zukunft entgegenlaufen,

nicht geglättete Eiſenſchienen haben. Jedes große ſtaatliche Ge¬

meinweſen, in welchem der vorſichtige und hemmende Einfluß

der Beſitzenden, materiellen oder intelligenten Urſprungs, verloren

geht, wird immer in eine der Entwicklung der erſten franzöſiſchen

Revolution ähnliche, den Staatswagen zerbrechende Geſchwindigkeit

gerathen. Das begehrliche Element hat das auf die Dauer

durchſchlagende Uebergewicht der größern Maſſe. Es iſt im

Intereſſe dieſer Maſſe ſelbſt zu wünſchen, daß dieſer Durch¬

ſchlag ohne gefährliche Beſchleunigung und ohne Zertrümmerung

des Staatswagens erfolge. Geſchieht die letztre dennoch, ſo wird

der geſchichtliche Kreislauf immer in verhältnißmäßig kurzer

Zeit zur Dictatur, zur Gewaltherrſchaft, zum Abſolutismus zurück¬

führen, weil auch die Maſſen ſchließlich dem Ordnungsbedürfniß

unterliegen, und wenn ſie es a priori nicht erkennen, ſo ſehn ſie

es infolge mannigfaltiger Argumente ad hominem ſchließlich

immer wieder ein und erkaufen die Ordnung von Dictatur und

Cäſarismus durch bereitwilliges Aufopfern auch des berechtigten

und feſtzuhaltenden Maßes von Freiheit, das europäiſche ſtaatliche

Geſellſchaften vertragen, ohne zu erkranken.

Ich würde es für ein erhebliches Unglück und für eine weſent¬

liche Verminderung der Sicherheit der Zukunft anſehn, wenn wir

auch in Deutſchland in den Wirbel dieſes franzöſiſchen Kreislaufes

geriethen. Der Abſolutismus wäre die ideale Verfaſſung für

europäiſche Staatsgebilde, wenn der König und ſeine Beamten

nicht Menſchen blieben wie jeder Andre, denen es nicht gegeben

iſt, mit übermenſchlicher Sachkunde, Einſicht und Gerechtigkeit zu

regiren. Die einſichtigſten und wohlwollendſten abſoluten Regenten

unterliegen den menſchlichen Schwächen und Unvollkommenheiten,

wie der Ueberſchätzung der eignen Einſicht, dem Einfluß und der

Beredſamkeit von Günſtlingen, ohne von weiblichen, legitimen

und illegitimen Einflüſſen zu reden. Die Monarchie und der

idealſte Monarch, wenn er nicht in ſeinem Idealismus gemein¬

[61/0085]

Preſſe und Parlament als Corrective der Monarchie.

ſchädlich werden ſoll, bedarf der Kritik, an deren Stacheln er ſich

zurechtfindet, wenn er den Weg zu verlieren Gefahr läuft. Joſeph II.

iſt ein warnendes Beiſpiel.

Die Kritik kann nur geübt werden durch eine freie Preſſe

und durch Parlamente im modernen Sinne. Beide Corrective

können ihre Wirkung durch Mißbrauch abſtumpfen und ſchließlich

verlieren. Dies zu verhüten, iſt eine der Aufgaben erhaltender

Politik, die ſich ohne Bekämpfung von Parlament und Preſſe nicht

löſen läßt. Das Abmeſſen der Schranken, die in dieſem Kampfe

innegehalten werden müſſen, um die dem Lande unentbehrliche

Controlle der Regirung weder zu hindern, noch zur Herrſchaft

werden zu laſſen, iſt eine Sache des politiſchen Tactes und

Augenmaßes.

Wenn ein Monarch dafür das hinreichende Augenmaß beſitzt,

ſo iſt das ein Glück für ſein Land, freilich ein vergängliches, wie

alles menſchliche Glück. Die Möglichkeit, Miniſter an's Ruder zu

bringen, welche die entſprechenden Eigenſchaften beſitzen, muß in

dem Verfaſſungsleben gegeben werden, aber auch die Möglichkeit,

Miniſter, die dieſem Bedürfniß genügen, ſowohl gegen gelegent¬

liche Majoritäts-Abſtimmungen als auch gegen Hof- und Camarilla-

Einflüſſe zu halten. Dieſes Ziel war bis zu dem nach menſchlicher

Unvollkommenheit überhaupt erreichbaren Grade annähernd erreicht

unter der Regirung Wilhelms I.

IV.

Die Eröffnung des Landtags ſtand unmittelbar nach unſrer

Ankunft in Berlin bevor, und die Thronrede kam in Prag zur

Berathung. Dort trafen Abgeordnete der conſervativen Fraction

ein, die während des Conflicts zeitweiſe bis auf elf Mitglieder

herabgegangen war und durch die Wahlen am 3. Juli unter dem

Eindruck der erſten Siege vor Königgrätz ſich auf mehr als

[62/0086]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

hundert gehoben hatte. Das Ergebniß würde der Regirung noch

günſtiger geweſen ſein, wenn die Wahl einige Tage nach der

entſcheidenden Schlacht ſtattgefunden hätte; aber auch ſo war es

in Verbindung mit der ſchwunghaften Stimmung im Lande immer¬

hin geeignet, nicht blos conſervativen, ſondern auch reactionären

Beſtrebungen Hoffnung auf Gelingen zu geben. Für diejenigen,

welche nach der Rückbildung zum Abſolutismus oder doch nach

einer Reſtauration im ſtändiſchen Sinne ſtrebten, war durch die

Vergrößerung der Monarchie, durch die parlamentariſche Situation

beim Ausbruch des Krieges und den ungeſchickten und ehrgeizigen

Eigenſinn der Führer der Oppoſition ein Anknüpfungspunkt ge¬

geben, um die preußiſche Verfaſſung zu ſuſpendiren und zu revi¬

diren. Sie war auf das vergrößerte Preußen nicht zugeſchnitten,

noch weniger aber auf die Einſchichtung in die zukünftige Ver¬

faſſung Deutſchlands. Die Verfaſſungsurkunde ſelbſt enthielt einen

Artikel (118), welcher, entſtanden unter dem Eindruck der nationalen

Stimmung zur Zeit der Verfaſſungsbildung und aus dem Entwurf

von 1848 entnommen, zur Unterordnung der preußiſchen Verfaſſung

unter eine neu zu ſchaffende deutſche berechtigte. Es war alſo eine

Gelegenheit gegeben, mit dem formalen Anſtrich der Legalität die

Verfaſſung und die Beſtrebungen der Conflictsmajorität nach par¬

lamentariſcher Herrſchaft aus den Angeln zu heben, und dies lag

im Hintergrunde des Bemühns der äußerſten Rechten und ihrer

nach Prag abgeordneten Mitglieder.

Eine andre Gelegenheit, den innern Conflict zugleich mit der

deutſchen Frage zu erledigen, hatte ſich dem Könige dargeboten,

als der Kaiſer Alexander 1863 zur Zeit des polniſchen Aufſtandes

und des Ueberrumpelungsverſuchs für den Frankfurter Fürſten¬

congreß ein preußiſch-ruſſiſches Bündniß in eigenhändiger Cor¬

reſpondenz lebhaft befürwortet hatte. Auf mehren eng geſchriebenen

Bogen in der feinen Hand des Kaiſers, weit ausgeſponnen und

mit mehr Declamation, als in ſeiner Feder lag, konnte der Brief

an Hamlets Wort:

[63/0087]

Reactionäre Beſtrebungen. Ruſſiſche Anträge von 1863.

Whether 't is nobler in the mind, to suffer

The slings and arrows of outrageous fortune,

Or to take arms against a sea of troubles,

And by opposing end them? —

erinnern, wenn man es aus dem Zweifel in die Affirmative über¬

ſetzt: der Kaiſer iſt der weſtmächtlichen und öſtreichiſch-polniſchen

Chikanen müde und entſchloſſen den Degen zu ziehn, um ſich von

ihnen frei zu machen; an die Freundſchaft und die gleichen

Intereſſen des Königs appellirend, fordert er ihn zu gemeinſamem

Handeln auf, ſo zu ſagen in erweitertem Sinne der Alvensleben¬

ſchen Convention vom Februar deſſelben Jahres. Dem Könige

wurde es ſchwer, einerſeits dem nahen Verwandten und nächſten

Freunde eine ablehnende Antwort zu geben, andrerſeits ſich mit

dem Entſchluſſe vertraut zu machen, ſeinem Lande die Uebel

eines großen Krieges aufzuerlegen, dem Staate und der Dy¬

naſtie die Gefahren eines ſolchen zuzumuthen. Auch die Seite

ſeines Gemüthslebens, die ihn geneigt machte, die Frankfurter

Fürſtenverſammlung zu beſuchen, das Gefühl der Zuſammen¬

gehörigkeit mit allen alten Fürſtenhäuſern, trat in ihm der Ver¬

ſuchung entgegen, der Anrufung des befreundeten Neffen und den

preußiſch-ruſſiſchen Familientraditionen eine Folge zu geben, die

zu dem Bruch mit dem deutſchen Bundesverhältniß und der Ge¬

ſammtheit der deutſchen Fürſtenfamilien führen mußte. In meinem

mehre Tage dauernden Vortrage vermied ich es, die Seite der

Sache zu betonen, welche für unſre innere Politik von Gewicht

geweſen ſein würde, weil ich nicht der Meinung war, daß ein

Krieg grade im Bunde mit Rußland gegen Oeſtreich und alle

Gegner, mit denen wir es 1866 zu thun bekamen, uns der Er¬

füllung unſrer nationalen Aufgabe näher gebracht haben würde.

Es iſt ja ein namentlich in der franzöſiſchen Politik gebräuchliches

Mittel, innere Schwierigkeiten durch Kriege zu überwinden; in

Deutſchland aber würde dieſes Mittel nur dann wirkſam geweſen

ſein, wenn der betreffende Krieg in der Linie der nationalen Ent¬

[64/0088]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

wicklung gelegen hätte. Dazu wäre vor Allem erforderlich geweſen,

daß er nicht mit der, unklugerweiſe noch immer von der öffent¬

lichen Meinung verurtheilten ruſſiſchen Aſſiſtenz geführt wurde.

Die deutſche Einheit mußte ohne fremde Einflüſſe zu Stande

kommen, aus eigner nationaler Kraft. Ueberdies hatte der innere

Conflict, von dem der König bei meinem Eintritt in das Mini¬

ſterium bis zu dem Entſchluſſe zur Abdication beeindruckt war,

an Herrſchaft über ſeine Entſchließungen erheblich eingebüßt, ſeit¬

dem er Miniſter gefunden hatte, die bereit waren, ſeine Politik offen,

ohne Winkelzüge zu vertreten. Er hatte ſeitdem die Ueberzeugung

gewonnen, daß die Krone, wenn es zum revolutionären Bruche ge¬

kommen wäre, ſtärker geweſen ſein würde; die Einſchüchterungen der

Königin und der Miniſter der neuen Aera hatten ihre Kraft ver¬

loren. Dagegen hielt ich in meinen Vorträgen mit meiner Anſicht

von der militäriſchen Stärke, die ein deutſch-ruſſiſches Bündniß,

namentlich im erſten Anlauf haben würde, nicht zurück.

Die geographiſche Lage der drei großen Oſtmächte iſt der Art,

daß eine jede von ihnen, ſobald ſie von den beiden andern ange¬

griffen wird, ſich ſtrategiſch im Nachtheil befindet, auch wenn ſie in

Weſteuropa England oder Frankreich zum Verbündeten hat. Am

meiſten würde Oeſtreich, iſolirt, gegen einen ruſſiſch-deutſchen Angriff

im Nachtheil ſein, am wenigſten Rußland gegen Oeſtreich und Deutſch¬

land; aber auch Rußland würde bei einem concentriſchen Vorſtoß

der beiden deutſchen Mächte gegen den Bug zu Anfang des Krieges

in einer ſchwierigen Lage ſein. Bei ſeiner geographiſchen Lage

und ethnographiſchen Geſtaltung iſt Oeſtreich im Kampfe gegen

die beiden benachbarten Kaiſerreiche deshalb ſehr im Nachtheil,

weil die franzöſiſche Hülfe kaum rechtzeitig eintreffen würde, um

das Gleichgewicht herzuſtellen. Wäre aber Oeſtreich einer deutſch-

ruſſiſchen Coalition von Hauſe aus unterlegen, wäre durch einen

klugen Friedensſchluß der drei Kaiſer unter ſich das gegneriſche

Bündniß geſprengt oder auch nur durch eine Niederlage Oeſtreichs

geſchwächt, ſo wäre das deutſch-ruſſiſche Uebergewicht entſcheidend.

[65/0089]

Beurtheilung des ruſſiſch-preußiſchen Bündnißvorſchlags.

Gleich gute Führung und gleiche Tapferkeit bei den großen Heeren

vorausgeſetzt, liegt in der territorialen Geſtaltung der einzelnen

Machtgebiete eine große Stärke der deutſch-ruſſiſchen Combination,

wenn ſie von Hauſe aus ſicher zuſammenhält. Die Berechnung

militäriſchen Erfolges und der Glaube an einen ſolchen ſind aber

an ſich unſicher und werden noch unſichrer, wenn die veranſchlagte

diesſeitige Macht keine einheitliche iſt, ſondern auf Bündniſſen beruht.

In meinem Entwurf der Antwort, der noch länger ausfallen

mußte als der Brief des Kaiſers Alexander, war hervorgehoben,

daß ein gemeinſamer Krieg gegen die Weſtmächte in ſeiner ſchlie߬

lichen Entwicklung ſich wegen der geographiſchen Verhältniſſe und

wegen der franzöſiſchen Begehrlichkeit nach den Rheinlanden noth¬

wendig zu einem preußiſch-franzöſiſchen condenſiren müſſe, daß die

preußiſch-ruſſiſche Initiative zu dem Kriege unſre Stellung in

Deutſchland verſchlechtern werde, daß Rußland, entfernt von dem

Kriegsſchauplatze, von den Leiden des Krieges weniger betroffen

ſein, Preußen dagegen nicht nur die eignen, ſondern auch die

ruſſiſchen Heere materiell zu erhalten haben und daß die ruſſiſche

Politik dann — wenn mein Gedächtniß mich nicht täuſcht, habe

ich den Ausdruck gebraucht — an dem längern Arme des Hebels

ſitzen würde, und uns auch, wenn wir ſiegreich wären, ähnlich wie in

dem Wiener Congreß und mit noch mehr Gewicht werde vorſchreiben

können, wie unſer Friede beſchaffen ſein ſolle, ebenſo wie Oeſtreich

es 1859 bezüglich unſrer Friedensbedingungen mit Frankreich hätte

machen können, wenn wir damals in den Kampf gegen Frankreich und

Italien eingetreten wären. Ich habe den Text meiner Argumentation

nicht in der Erinnerung, obſchon ich ihn vor wenigen Jahren behufs

unſrer Auseinanderſetzung mit der ruſſiſchen Politik wieder unter

Augen gehabt und mich gefreut habe, daß ich damals die Arbeits¬

kraft beſeſſen hatte, ein ſo langes Concept eigenhändig in einer

für den König lesbaren Schrift herzuſtellen, eine Handarbeit, die

für den Erfolg meiner Gaſteiner Cur nicht förderlich geweſen ſein

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 5

[66/0090]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

wird. Obwohl der König die Frage nicht in demſelben Maße wie

ich unter den deutſch-nationalen Geſichtspunkt zog, ſo unterlag er

doch nicht der Verſuchung, der Ueberhebung der öſtreichiſchen Politik

und der Landtagsmajorität, der Geringſchätzung, die beide der

preußiſchen Krone bezeigten, im Bunde mit Rußland ein gewalt¬

thätiges Ende zu machen. Wenn er auf die ruſſiſche Zumuthung

einging, ſo würden wir bei der Schnelligkeit unſrer Mobiliſirung,

bei der Stärke der ruſſiſchen Armee in Polen und bei der damaligen

militäriſchen Schwäche Oeſtreichs wahrſcheinlich, mit oder ohne den

Beiſtand der damals noch unbefriedigten Begehrlichkeit Italiens,

Oeſtreich übergelaufen haben, bevor Frankreich ihm wirkſame Hülfe

leiſten konnte. Wenn man ſicher geweſen wäre, daß das Ergebniß

dieſes Ueberlaufens ein Dreikaiſerbündniß unter Schonung Oeſt¬

reichs geweſen wäre, ſo wäre meine Beurtheilung der Situation

vielleicht nicht zutreffend zu nennen geweſen. Aber dieſe Sicherheit

war Angeſichts der divergirenden Intereſſen Rußlands und Oeſt¬

reichs im Orient nicht vorhanden; es war kaum wahrſcheinlich und

auch der ruſſiſchen Politik nicht zuſagend, daß eine ſiegreiche preußiſch-

ruſſiſche Coalition Oeſtreich gegenüber auch nur mit dem Maße

von Schonung verführe, welches von preußiſcher Seite 1866 im

Intereſſe der Möglichkeit künftiger Wiederannäherung beobachtet

worden iſt. Ich fürchtete deshalb, daß wir im Falle unſres Sieges

über die Zukunft Oeſtreichs mit Rußland nicht einig ſein würden,

und daß Rußland ſelbſt bei weitern Erfolgen gegen Frankreich

nicht darauf werde verzichten wollen, Preußen in einer unter¬

ſtützungsbedürftigen Stellung an ſeiner Weſtgrenze zu erhalten; am

allerwenigſten wäre von Rußland eine Hülfe für eine nationale

Politik im Sinne der preußiſchen Hegemonie zu erwarten geweſen.

Tilſit, Erfurt, Olmütz und andre hiſtoriſche Erinnerungen ſagten:

vestigia terrent. Kurz, ich hatte nicht das Vertrauen zu der

Gortſchakowſchen Politik, daß wir auf dieſelbe Sicherheit rechnen

könnten, welche Alexander I. 1813 gewährte, bis die Zukunftsfragen,

was aus Polen und Sachſen werden und ob Deutſchland gegen

[67/0091]

Wahrſcheinliche Folgen eines preuß.-ruſſ. Siegs über Oeſtreich-Frankreich.

franzöſiſche Invaſionen eine von ruſſiſchen Entſchließungen unab¬

hängige Deckung haben, Straßburg Bundesfeſtung werden ſolle,

in Wien zur Verhandlung kamen. So mannigfache Erwägungen

hatte ich anzuſtellen, um zu einem Entſchluſſe über die Anträge,

welche ich dem Könige machen, und die Faſſung des Conceptes,

das ich ihm vorlegen wollte, zu gelangen. Ich zweifle nicht, daß

eine Zeit kommen wird, in der auch über dieſe Vorgänge unſre

Archive der Oeffentlichkeit zugänglich werden, es ſei denn, daß in¬

zwiſchen die angeregte Zerſtörung der Documente ſich vollzieht, die

von meiner politiſchen Thätigkeit Zeugniß geben.

Die Verſuchung war groß geweſen für einen Monarchen, deſſen

Stellung den maßloſen Angriffen der Fortſchrittspartei und dem

Druck der öſtreichiſchen Diplomatie nicht blos auf dem nationalen

Gebiete des Frankfurter Fürſtencongreſſes, ſondern auch auf dem

polniſchen von Seiten der drei großen verbündeten Mächte Eng¬

land, Frankreich und Oeſtreich ausgeſetzt war.

Daß der König 1863 ſeine ſchwer gekränkte Empfindung als

Monarch und als Preuße nicht über die politiſchen Erwägungen

Herr werden ließ, beweiſt, wie ſtark in ihm das nationale Ehr¬

gefühl und der geſunde Menſchenverſtand in der Politik waren.

V.

Im Jahre 1866 konnte der König über die Frage, ob er aus

eigner Kraft den parlamentariſchen Widerſtand brechen und einer

Wiederkehr deſſelben vorbeugen ſolle, nicht ſo ſchnell mit ſich in's

Reine kommen, ſo gewichtige Gründe auch dagegen ſprachen. Mit

der Suſpendirung und Reviſion der Verfaſſung, mit der Demüthi¬

gung der Landtagsoppoſition wäre allen mit den Erfolgen von 1866

Unzufriedenen in Deutſchland und Oeſtreich eine wirkſame Waffe

gegen Preußen für die vorauszuſehenden künftigen Kämpfe gegeben

worden. Man hätte ſich darauf gefaßt machen müſſen, einſtweilen

[68/0092]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

in Preußen gegen Parlament und Preſſe ein Regirungsſyſtem

durchzuführen, das von dem ganzen übrigen Deutſchland bekämpft

wurde. Maßregeln, die bei uns gegen die Preſſe zu ergreifen geweſen

ſein würden, würden in Deſſau keine Gültigkeit gehabt haben, und

Oeſtreich und Süddeutſchland würden ihre Revanche einſtweilen da¬

durch genommen haben, daß ſie die von Preußen verlaſſene Führung

auf liberalem und nationalem Gebiete übernahmen. Die nationale

Partei in Preußen ſelbſt würde mit den Gegnern der Regirung

ſympathiſirt haben; wir konnten dann innerhalb der verbeſſerten

preußiſchen Grenzen ſtaatsrechtlich eine Stärkung des Königthums

gewinnen, aber doch in Gegenwart ſtark diſſentirender einheimiſcher

Elemente, denen ſich die Oppoſition in den neuen Provinzen ange¬

ſchloſſen haben würde. Wir hätten dann einen preußiſchen Erobe¬

rungskrieg geführt, aber der nationalen Politik Preußens würden

die Sehnen durchſchnitten worden ſein. In dem Beſtreben, der

deutſchen Nation die Möglichkeit einer ihrer geſchichtlichen Bedeu¬

tung entſprechenden Exiſtenz durch Einheit zu verſchaffen, lag das

gewichtigſte Argument zur Rechtfertigung des geführten deutſchen

„Bruderkrieges“; die Erneuerung eines ſolchen wurde unabwend¬

bar, wenn der Kampf zwiſchen den deutſchen Stämmen lediglich im

Intereſſe der Stärkung des preußiſchen Sonderſtaates fortgeſetzt

wurde.

Ich halte den Abſolutismus für keine Form einer in Deutſch¬

land auf die Dauer haltbaren oder erfolgreichen Regirung. Die

preußiſche Verfaſſung iſt, wenn man von einigen, aus der belgiſchen

überſetzten Phraſenartikeln abſieht, in ihrem Hauptprinzip ver¬

nünftig; ſie hat drei Factoren, den König und zwei Kammern,

deren jeder durch ſein Votum willkürliche Aenderungen des geſetz¬

lichen status quo hindern kann. Darin liegt eine gerechte Ver¬

theilung der geſetzgebenden Gewalt. Wenn man letztre von der

öffentlichen Kritik der Preſſe und der parlamentariſchen Behandlung

emancipirt, ſo wird die Gefahr erhöht, daß ſie auf Abwege geriethe.

Abſolutismus der Krone iſt ebenſo wenig haltbar wie Abſolutismus

[69/0093]

Beurtheilung der reactionären Vorſchläge. Indemnität.

der parlamentariſchen Majoritäten, das Erforderniß der Verſtändi¬

gung beider für jede Aenderung des geſetzlichen status quo iſt ein

gerechtes, und wir hatten nicht nöthig, an der preußiſchen Ver¬

faſſung Erhebliches zu beſſern. Es läßt ſich mit derſelben regiren,

und die Bahn deutſcher Politik wäre verſchüttet worden, wenn wir

1866 daran änderten. Vor dem Siege würde ich nie von „Indemnität“

geſprochen haben; jetzt, nach dem Siege, war der König in der

Lage, ſie großmüthig zu gewähren und Frieden zu ſchließen, nicht

mit ſeinem Volke — der war nie unterbrochen worden, wie der

Verlauf des Krieges gezeigt hat, — ſondern mit dem Theile der

Oppoſition, welcher irre geworden war an der Regirung, mehr

aus nationalen, als aus parteipolitiſchen Gründen.

Dies waren ungefähr die Gedanken und Argumente, mit denen

ich während der viele Stunden langen Fahrt von Prag nach Berlin

(4. Auguſt) die Schwierigkeiten zu bekämpfen ſuchte, die die eignen

Anſichten, noch mehr aber andre Einflüſſe, namentlich auch der Ein¬

fluß der conſervativen Deputation, in dem Könige hinterlaſſen hatten.

Es kam dazu eine ſtaatsrechtliche Auffaſſung Sr. Majeſtät, die ihm ein

Verlangen nach Indemnität als ein Eingeſtändniß begangenen Un¬

rechts erſcheinen ließ *). Ich ſuchte vergeblich dieſen ſprachlichen

und rechtlichen Irrthum zu entkräften, indem ich geltend machte,

daß in Gewährung der Indemnität nichts weiter liege als die An¬

erkennung der Thatſache, daß die Regirung und ihr königlicher

Chef rebus sic stantibus richtig gehandelt hätten; die Forderung

der Indemnität ſei ein Verlangen nach dieſer Anerkennung. In

jedem conſtitutionellen Leben, in dem Spielraum, den es den

Regirungen geſtatte, liege es, daß der Regirung nicht für jede

Situation eine Zwangsroute in der Verfaſſung angewieſen ſein

könne. Der König blieb bei ſeiner Abneigung gegen Indemnität,

*) Die Angabe in Roon's Denkwürdigkeiten („Deutſche Revue“ 1891 Bd. I

S. 133, Ausgabe in Buchform II 4 482): „Für Bismarck's Zuſtimmung war es

jedenfalls entſcheidend, daß er die verſöhnlichen Anſchauungen ſeines Monarchen

genau kannte“, iſt irrthümlich.

[70/0094]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

während es mir nothwendig ſchien, den parlamentariſchen Gegnern,

von denen doch höchſtens diejenigen, die ſpäter die freiſinnige

Partei bildeten, böswillig, die Andern aber nur verrannt waren,

ſei es politiſch, ſei es ſprachlich, eine goldne Brücke zu bauen,

um den innern Frieden Preußens herzuſtellen und von dieſer feſten

preußiſchen Baſis aus die deutſche Politik des Königs fortzuſetzen.

Die viele Stunden lange und für mich ſehr angreifende Unter¬

redung, weil ſie meinerſeits ſtets in vorſichtigen Formen geführt

werden mußte, fand im Eiſenbahncoupé zu Dreien Statt, mit dem

Könige und dem Kronprinzen. Der Letztre aber unterſtützte mich

nicht, obſchon er in dem leichtbeweglichen Ausdruck ſeines Mienen¬

ſpiels mich wenigſtens durch Kundgebung ſeines vollen Einverſtänd¬

niſſes ſeinem Herrn Vater gegenüber ſtärkte.

Durch eine Correſpondenz, die ich von Nikolsburg aus mit

den übrigen Miniſtern geführt hatte, war der Entwurf der Thron¬

rede zu Stande gekommen und von Sr. Majeſtät genehmigt worden

mit Ausnahme des auf die Indemnität bezüglichen Satzes. Schlie߬

lich gab der König mit Widerſtreben auch dazu ſeine Einwilligung,

ſo daß der Landtag am 5. Auguſt mit einer Thronrede eröffnet

werden konnte, die ankündigte, daß die Landesvertretung in Be¬

zug auf die ohne Staatshaushaltsgeſetz geführte Verwaltung um

nachträgliche Verwilligung angegangen werden ſolle. In verbis

simus faciles!

VI.

Das nächſte Geſchäft war die Regelung unſres Verhältniſſes

zu den verſchiedenen deutſchen Staaten, mit denen wir im Kriege

geweſen waren. Wir hätten die Annexionen für Preußen ent¬

behren und Erſatz dafür in der Bundesverfaſſung ſuchen können.

Se. Majeſtät aber hatte an praktiſche Effecte von Verfaſſungs¬

paragraphen keinen beſſern Glauben wie an den alten Bundestag

und beſtand auf der territorialen Vergrößerung Preußens, um die

[71/0095]

Der König giebt nach. Die Annexionen: Hanover.

Kluft zwiſchen den Oſt- und den Weſtprovinzen auszufüllen und

Preußen ein haltbar abgerundetes Gebiet auch für den Fall des

frühern oder ſpätern Mißlingens der nationalen Neubildung zu

ſchaffen. Bei der Annexion von Hanover und Kurheſſen handelte

es ſich alſo um Herſtellung einer unter allen Eventualitäten

wirkſamen Verbindung zwiſchen den beiden Theilen der Monarchie.

Die Schwierigkeiten der Zollverbindung zwiſchen unſern beiden

Gebietstheilen und die Haltung Hanovers im letzten Kriege hatten

das Bedürfniß eines unbeſchränkt in einer Hand befindlichen terri¬

torialen Zuſammenhanges im Norden von Neuem anſchaulich ge¬

macht. Wir durften der Möglichkeit, bei künftigen öſtreichiſchen

oder andern Kriegen ein oder zwei feindliche Corps von guten

Truppen im Rücken zu haben, nicht von Neuem ausgeſetzt werden.

Die Beſorgniß, daß die Dinge ſich einmal ſo geſtalten könnten,

wurde verſchärft durch die überſchwängliche Auffaſſung, die der

König Georg V. von ſeiner und ſeiner Dynaſtie Miſſion hatte.

Man iſt nicht jeden Tag in der Lage, einer gefährlichen

Situation der Art abzuhelfen, und der Staatsmann, den die

Ereigniſſe in den Stand ſetzen, letztres zu thun, und der ſie

nicht benutzt, nimmt eine große Verantwortlichkeit auf ſich, da

die völkerrechtliche Politik und das Recht der deutſchen Nation,

ungetheilt als ſolche zu leben und zu athmen, nicht nach privat¬

rechtlichen Grundſätzen beurtheilt werden kann. Der König von

Hanover ſchickte durch einen Adjutanten nach Nikolsburg einen

Brief an den König, den ich Se. Majeſtät nicht anzunehmen bat,

weil wir nicht gemüthliche, ſondern politiſche Geſichtspunkte im

Auge zu halten hätten, und weil die Selbſtändigkeit Hanovers mit

der völkerrechtlichen Befugniß, ſeine Truppen nach dem jedesmaligen

Ermeſſen des Souveräns gegen oder für Preußen in's Feld führen

zu können, mit der Durchführung deutſcher Einheit unvereinbar war.

Die Haltbarkeit der Verträge allein ohne die Bürgſchaft einer hin¬

reichenden Hausmacht des leitenden Fürſten hat niemals hingereicht,

der deutſchen Nation Frieden und Einheit im Reiche zu ſichern.

[72/0096]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

Es gelang mir, den König von dem Gedanken abzubringen,

mit Hanover und Heſſen auf der Baſis der Zerſtückelung dieſer

Länder und des Bündniſſes mit den frühern Herrſchern als Theil¬

fürſten eines Reſtes zu verhandeln. Wenn der Kurfürſt Fulda und

Hanau, und Georg V. Kalenberg mit Lüneburg und der Ausſicht

auf die Erbfolge in Braunſchweig behalten hätte, ſo würden weder

die Hanoveraner und Heſſen, noch die beiden Fürſten zufriedene

Theilnehmer des Norddeutſchen Bundes geworden ſein. Dieſer Plan

würde uns unzufriedene und behufs Wiedererwerb des Verlornen

zur Rheinbündelei geneigte Bundesgenoſſen gegeben haben.

Auch eine ſo unbedingte Hingebung für Oeſtreich, wie ſie

Naſſau bewieſen hatte, in der unmittelbaren Nähe von Coblenz,

war eine gefährliche Erſcheinung, beſonders in der Eventualität

franzöſiſch-öſtreichiſcher Bündniſſe, wie ſie ſich während des Krim¬

krieges und der polniſchen Wirren von 1863 in bedrohliche Aus¬

ſicht geſtellt hatten. Die Abneigung Sr. Majeſtät gegen Naſſau

war ein väterliches Erbtheil. Friedrich Wilhelm III. pflegte durch

das Herzogthum zu reiſen, ohne den Herzog zu ſehn. Das Con¬

tingent des Herzogs hatte ſich in der Rheinbundzeit in Preußen

beſonders unangenehm gemacht, und König Wilhelm I. wurde

gegen Conceſſionen an den Herzog durch den leidenſchaftlichen

Widerſpruch der Deputationen früherer naſſauiſcher Unterthanen

eingenommen; die ſtehende Rede derſelben war: „Schütze Se uns

vor dem Fürſte und ſei' Jagdknechte.“

Es blieben Friedensverträge zu ſchließen mit Sachſen und

den ſüddeutſchen Staaten. Herr von Varnbüler bewies dieſelbe

Lebhaftigkeit des Temperaments wie bei den Vorbereitungen zum

Kriege und war der erſte, mit dem der Abſchluß gelang 1). Es

handelte ſich unter Anderm darum, ob wir, da Würtemberg das

preußiſche Hohenzollern in Beſitz genommen hatte, jetzt, wie der

König wollte, den Spieß umkehren und eine Vergrößerung Hohen¬

1) S. o. S. 48. 50.

[73/0097]

Die Annexionen: Kurheſſen, Naſſau. Friedensſchlüſſe.

zollerns auf Koſten Würtembergs fordern wollten. Ich konnte darin

weder für Preußen noch für die nationale Zukunft einen Nutzen

ſehn und hielt überhaupt das Vergeltungsprinzip nicht für eine

vernünftige Baſis unſrer Politik 1), die auch da, wo unſer Gefühl

verletzt war, nicht von der eignen Verſtimmung, ſondern von der

objectiven Erwägung geleitet werden ſollte. Grade weil Varnbüler

uns gegenüber einige diplomatiſche Sünden auf dem Conto hatte,

war er für mich ein nützlicher Unterhändler, und indem ich mich

dazu verſtand, die Vergangenheit zu vergeſſen, gewann ich durch

den Vorgang Würtembergs im Abſchluß des Bündniſſes (13. Auguſt)

den Weg zu den andern.

Ich weiß nicht, ob Roggenbach bei den Friedensſchlüſſen im Auf¬

trage des Großherzogs von Baden handelte, indem er mir vorſtellte,

daß Baiern durch ſeine Größe ein Hinderniß der deutſchen Einigung

ſei, ſich leichter in eine künftige Neugeſtaltung Deutſchlands ein¬

fügen werde, wenn es kleiner gemacht wäre, und daß es ſich des¬

halb empfehle, ein beſſeres Gleichgewicht in Süddeutſchland da¬

durch herzuſtellen, daß Baden vergrößert und durch Angliederung

der Pfalz in unmittelbare Grenznachbarſchaft mit Preußen ge¬

bracht würde, wobei auch weitre Verſchiebungen in Anlehnung an

preußiſche Wünſche, die dynaſtiſchen Stammlande Ansbach-Bayreuth

wiederzugewinnen, und mit Einbeziehung Würtembergs in Ausſicht

genommen waren. Ich ließ mich auf dieſe Anregung nicht ein,

ſondern lehnte ſie a limine ab. Auch wenn ich ſie ausſchließlich

unter dem Geſichtspunkte der Nützlichkeit hätte auffaſſen wollen,

ſo verrieth ſie einen Mangel an Augenmaß für die Zukunft und

eine Verdunklung des politiſchen Blickes durch badiſche Hauspolitik.

Die Schwierigkeit, Baiern gegen ſeinen Willen in eine ihm nicht

zuſagende Reichsverfaſſung hinein zu zwingen, wäre dieſelbe ge¬

blieben, auch wenn man die Pfalz an Baden gegeben hätte; und

ob die Pfälzer ihre bairiſche Angehörigkeit bereitwillig gegen die

1) S. o. S. 46.

[74/0098]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

badiſche vertauſcht haben würden, iſt fraglich. Als vorübergehend

davon die Rede war, Heſſen für ſein Gebiet nördlich des Mains

mit bairiſchem Lande in der Richtung von Aſchaffenburg zu ent¬

ſchädigen, gingen mir aus dem letztern Gebiete Proteſte zu, die,

obſchon aus ſtreng katholiſcher Bevölkerung kommend, darin gipfelten,

wenn die Unterzeichner nicht Baiern bleiben könnten, ſo wollten

ſie lieber Preußen werden, aber von Baiern zu Heſſen gemacht

zu werden, ſei ihnen unannehmbar. Sie ſchienen von der Er¬

wägung des Ranges der Landesherrn beherrſcht und von der

Stimmenordnung am Bundestage, wo Baiern vor Heſſen rangirte.

In derſelben Richtung iſt mir aus meiner Frankfurter Zeit die

Aeußerung eines preußiſchen Reſerviſten zu einem kleinſtaatlichen

erinnerlich: „Sei du ganz ſtille, du haſt ja nicht einmal einen

König.“ Ich hielt Aenderungen der Staatsgrenzen in Süddeutſch¬

land für keinen Fortſchritt zur Einigung des Ganzen.

Eine Verkleinerung Baierns im Norden wäre dem damaligen

Wunſche des Königs entgegengekommen, Ansbach und Bayreuth in

der alten Ausdehnung wiederzugewinnen. Mit meinen politiſchen

Auffaſſungen ſtimmte auch dieſer Plan, ſo ſehr er meinem ver¬

ehrten und geliebten Herrn am Herzen lag, ebenſo wenig wie der

badiſche überein, und ich habe ihm erfolgreich Widerſtand geleiſtet.

Im Herbſt 1866 war eine Vorausſicht über die zukünftige Haltung

Oeſtreichs noch nicht möglich. Die Eiferſucht Frankreichs uns gegen¬

über war gegeben, und niemandem war beſſer als mir die Ent¬

täuſchung Napoleons über unſre böhmiſchen Erfolge bekannt. Er

hatte mit Sicherheit darauf gerechnet, daß Oeſtreich uns ſchlagen

und wir in die Lage kommen würden, ſeine Vermittlung zu erkaufen.

Wenn nun Frankreichs Bemühungen, dieſen Irrthum und ſeine

Folgen wieder gut zu machen, bei der durch unſern Sieg noth¬

wendig hervorgerufenen Verſtimmung in Wien Erfolg hatten, ſo

wäre manchen deutſchen Höfen die Frage nahe getreten, ob ſie im

Anſchluß an Oeſtreich, gewiſſermaßen in einem zweiten ſchleſiſchen

Kriege, den Kampf gegen uns von Neuem aufnehmen wollten oder

[75/0099]

Ablehnung einer Verſtümmelung Baierns. Die Welfenlegion.

nicht. Daß Baiern und Sachſen dieſer Verſuchung unterliegen

würden, war möglich; daß ein im Roggenbachſchen Sinne ver¬

ſtümmeltes Baiern ſeine Revanche gegen uns im Anſchluſſe an

Oeſtreich geſucht haben würde, war aber wahrſcheinlich.

VII.

Ein ſolcher Anſchluß würde vielleicht einen größern Umfang

gewonnen haben als die Welfenlegion, welche demnächſt unter

franzöſiſchem Protectorate gegen uns Aufſtellung nahm. Daß

dieſe im Jahre 1870, abgeſehn von einzelnen verkommnen Per¬

ſönlichkeiten, nicht mehr auf der Bildfläche erſchienen iſt, iſt zum

großen Theile dem Umſtande zu verdanken, daß ſich Eingeweihte

der in Hanover vorbereiteten Verabredung fanden, die mich von den

getroffenen Vorbereitungen bis in's Einzelne benachrichtigten und ſich

erboten, die ganze Combination zu vereiteln, wenn ihnen die Bezüge

ihrer frühern hanöverſchen Stellung geſichert würden. Ich hatte

nach damals gerichtlich aufgefangenen Correſpondenzen die Beſorgnis,

daß wir in die Nothwendigkeit gerathen könnten, welfiſchen Unter¬

nehmungen gegenüber zu Repreſſalien zu ſchreiten, die Angeſichts

der Kriegsgefahr nicht anders als ſtreng ausfallen konnten. Man

darf nicht vergeſſen, daß wir damals des Sieges über Frankreich,

nach der großen Vergangenheit der franzöſiſchen Armee, nicht

ſo ſicher waren, um nicht jede Erſchwerung unſrer Lage ſorgſam

zu verhindern. Ich verabredete daher mit den Unterhändlern, die

mir näher traten, daß ihre Wünſche erfüllt werden ſollten, wenn

ſie ihre Zuſagen erfüllten, und bezeichnete als Kennzeichen dieſer

Bedingung die Frage, daß wir nicht genöthigt ſein würden, einen

hanöverſchen Landsmann wegen Kampfes gegen deutſches Militär

zu erſchießen. Es ſind denn auch im Lande keine Bewegungen

vorgekommen, und nach dem Ausbruch des Krieges beſchränkte ſich

die Abreiſe von Welfen nach Frankreich zu Waſſer und zu Lande

[76/0100]

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.

auf einzelne bereits Compromittirte. Nach der Haltung der hanöver¬

ſchen Truppentheile im Kriege iſt es nicht wahrſcheinlich, daß

ein welfiſcher Aufſtand in der Heimath einen erheblichen Umfang

hätte annehmen können, wenigſtens nicht, ſo lange unſer Vorgehn

in Frankreich ſiegreich war. Was geſchehn wäre, wenn wir ge¬

ſchlagen und verfolgt durch Hanover heimgekehrt wären, laſſe ich

unberührt. Eine prophylaktiſche Politik hat aber auch ſolche Möglich¬

keiten zu erwägen; jedenfalls war ich entſchloſſen, in der Zwangs¬

lage des Krieges dem Könige zu jedem Acte energiſcher Abwehr

zu rathen, den der Trieb der ſtaatlichen Selbſterhaltung ein¬

geben kann. Und ſelbſt wenn nur einzelne ſchwere und wahr¬

ſcheinlich blutige Beſtrafungen hätten ſtattfinden müſſen, ſo würden

die Gewaltthaten gegen deutſche Landsleute, wie ſehr ſie auch durch

die Kriegsgefahr gerechtfertigt ſein mochten, auf Menſchenalter hin

ein Hinderniß der Verſöhnung und einen Vorwand für Verhetzungen

abgegeben haben. Es war mir deshalb wichtig, ſolchen Eventuali¬

täten rechtzeitig vorzubeugen.

VIII.

Die Kämpfe während des vergangenen Winters mit dem

Könige, der den Krieg nicht wollte, während des Feldzuges mit

den Militärs, die nur Oeſtreich, nicht die übrigen Mächte

Europas vor ſich ſahn, und mit dem Könige über den Friedens¬

ſchluß und dann wieder über die Indemnität, hatten mich ſo

angegriffen, daß ich der Ruhe und Erholung bedurfte. Ich

ging zunächſt am 26. September zu meinem Vetter, dem Grafen

Bismarck-Bohlen in Karlsburg, und dann am 6. October nach

Putbus, wo ich im Gaſthofe ſchwer erkrankte. Der Fürſt und

die Fürſtin Putbus gewährten mir eine liebenswürdige Gaſtfreiheit

in einem Pavillon, der neben dem abgebrannten Schloſſe ſtehn

geblieben war. Nachdem der erſte heftige Anlauf der Krankheit

überſtanden war, konnte ich die Geſchäfte wieder in die Hand

[77/0101]

Die Welfenlegion. In Putbus. Friede mit Sachſen.

nehmen durch Correſpondenz mit Savigny. Als der letzte preußiſche

Geſandte am Bundestage war er der natürliche Erbe des De¬

cernates über die im Vordergrunde ſtehende deutſche Politik. Er

führte die Verhandlungen mit Sachſen zu Ende, was vor meiner

Abreiſe nicht gelungen war. Ihr Ergebniß iſt publici juris, und

ich kann mich einer Kritik derſelben enthalten. Die militäriſche

Selbſtändigkeit Sachſens wurde demnächſt unter Vermittlung des

Generals von Stoſch durch perſönliche Entſchließungen Sr. Maje¬

ſtät weiter entwickelt, als ſie nach dem Vertrage bemeſſen war.

Die geſchickte und ehrliche Politik der beiden letzten ſäch¬

ſiſchen Könige hat dieſe Conceſſionen gerechtfertigt, namentlich ſo

lange es gelingt, die beſtehende preußiſch-öſtreichiſche Freundſchaft

zu erhalten. Es iſt in den geſchichtlichen und confeſſionellen Tra¬

ditionen, in der menſchlichen Natur und ſpeciell in den fürſtlichen

Ueberlieferungen begründet, daß der enge Bund zwiſchen Preußen

und Oeſtreich, der 1879 geſchloſſen wurde, auf Baiern und Sachſen

einen concentrirenden Druck ausübt, um ſo ſtärker, je mehr das

deutſche Element in Oeſtreich, Vornehm und Gering, ſeine Be¬

ziehungen zur habsburgiſchen Dynaſtie zu pflegen weiß. Die parla¬

mentariſchen Exceſſe des deutſchen Elements in Oeſtreich und deren

ſchließliche Wirkung auf die dynaſtiſche Politik drohten nach dieſer

Richtung hin das Gewicht des deutſch-nationalen Elementes nicht

nur in Oeſtreich abzuſchwächen. Die doctrinären Mißgriffe der

parlamentariſchen Fractionen ſind den Beſtrebungen politiſirender

Frauen und Prieſter in der Regel günſtig.

[[78]/0102]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel.

Die Emſer Depeſche.

Am 2. Juli 1870 entſchied ſich das ſpaniſche Miniſterium für

die Thronbeſteigung des Erbprinzen Leopold von Hohenzollern.

Damit war die erſte völkerrechtliche Anregung zu der ſpätern

Kriegsfrage gegeben, aber doch nur in Geſtalt einer ſpecifiſch

ſpaniſchen Angelegenheit. Ein völkerrechtlicher Vorwand für Frank¬

reich, in die Freiheit der ſpaniſchen Königswahl einzugreifen, war

ſchwer zu finden; er wurde, ſeitdem man es in Paris auf den

Krieg mit Preußen abgeſehn hatte, künſtlich geſucht in dem Namen

Hohenzollern, welcher an ſich für Frankreich nichts Bedrohlicheres

hatte als jeder andre deutſche Name. Im Gegentheil konnte man

in Spanien ſowohl als in Deutſchland annehmen, daß der Prinz

Leopold wegen ſeiner perſönlichen und Familienbeziehungen in Paris

eher persona grata ſein werde als mancher andre deutſche Prinz.

Ich erinnere mich, daß ich in der Nacht nach der Schlacht von

Sedan in tiefer Finſterniß mit einer Anzahl unſrer Offiziere nach

der Rundfahrt des Königs um Sedan auf dem Wege nach Donchery

ritt und auf Befragen, ich weiß nicht welches Begleiters, die Vor¬

bereitung zu dieſem Kriege beſprach und dabei erwähnte, daß ich

geglaubt hätte, der Prinz Leopold werde dem Kaiſer Napoleon

kein unerwünſchter Nachbar in Spanien ſein und ſeinen Weg über

Paris nach Madrid nehmen, um dort die Fühlung mit der kaiſer¬

lich franzöſiſchen Politik zu gewinnen, die zu den Vorbedingungen

[79/0103]

Die hohenzollernſche Candidatur.

gehörte, unter denen er Spanien zu regiren gehabt haben würde.

Ich ſagte: wir wären viel mehr berechtigt geweſen zu der Beſorgniß

vor einem engern Verſtändniſſe zwiſchen der ſpaniſchen und der

franzöſiſchen Krone als zu der Hoffnung auf Herſtellung einer

ſpaniſch-deutſchen und antifranzöſiſchen Conſtellation nach Analogie

Karls V.; ein König von Spanien könne eben nur ſpaniſche Politik

treiben, und der Prinz wäre Spanier geworden durch Uebernahme

der Krone des Landes. Zu meiner Ueberraſchung erfolgte aus der

Finſterniß hinter mir eine lebhafte Erwiderung des Prinzen von

Hohenzollern, von deſſen Anweſenheit ich keine Ahnung gehabt

hatte; er proteſtirte lebhaft gegen die Möglichkeit, bei ihm fran¬

zöſiſche Sympathien vorauszuſetzen. Dieſer Proteſt inmitten des

Schlachtfeldes von Sedan war für einen deutſchen Offizier und

Hohenzollernſchen Prinzen natürlich, und ich konnte ihn nur

damit beantworten, daß der Prinz als König von Spanien ſich

nur von ſpaniſchen Intereſſen hätte leiten laſſen können, und daß

zu ſolchen namentlich behufs Befeſtigung des neuen Königthums

zunächſt eine ſchonende Behandlung des mächtigen Nachbarn an den

Pyrenäen gehört haben würde. Ich machte dem Prinzen meine

Entſchuldigung über die in ſeiner mir unbekannten Gegenwart ge¬

thane Aeußerung.

Dieſe anticipirte Epiſode legt Zeugniß ab über die Auf¬

faſſung, die ich von der ganzen Frage hatte. Ich betrachtete ſie

als eine ſpaniſche und nicht als eine deutſche, wenn es mir auch

erfreulich ſchien, den deutſchen Namen Hohenzollern in Vertretung

der Monarchie in Spanien thätig zu ſehn, und wenn ich auch nicht

verſäumte, alle möglichen Folgen unter dem Geſichtspunkte unſrer

Intereſſen zu erwägen, was bei jedem Vorgange von ähnlicher

Wichtigkeit in einem andern Staate zu thun die Pflicht eines aus¬

wärtigen Miniſters iſt. Ich dachte zunächſt mehr an wirthſchaft¬

liche wie an politiſche Beziehungen, denen ein König von Spanien

deutſcher Abſtammung förderlich ſein konnte. Für Spanien er¬

wartete ich von der Perſon des Prinzen und von ſeinen verwand¬

[80/0104]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.

ſchaftlichen Beziehungen beruhigende und conſolidirende Ergebniſſe,

die den Spaniern zu mißgönnen ich keinen Anlaß hatte. Spanien

gehört zu den wenigen Ländern, die nach ihrer geographiſchen Lage

und ihrem politiſchen Bedürfniß keinen Grund haben, antideutſche

Politik zu treiben; es iſt außerdem in wirthſchaftlicher Beziehung

nach Production und Bedarf für einen entwickelten Verkehr mit

Deutſchland wohl geeignet. Ein uns befreundetes Element in der

ſpaniſchen Regirung wäre ein Vortheil geweſen, den a limine ab¬

zuweiſen in den Aufgaben der deutſchen Politik kein Grund vor¬

handen war, es ſei denn, daß man die Beſorgniß, Frankreich

könne unzufrieden werden, als einen ſolchen gelten laſſen wollte.

Wenn Spanien ſich wieder kräftiger entwickelte, als ſeither geſchehn

iſt, konnte die Thatſache, daß die ſpaniſche Diplomatie uns be¬

freundet wäre, im Frieden für uns von Nutzen ſein; daß der

König von Spanien bei Eintritt des früher oder ſpäter voraus¬

zuſehenden deutſch-franzöſiſchen Krieges, auch wenn er den beſten

Willen gehabt hätte, ſeine deutſchen Sympathien durch einen

Angriff oder eine Aufſtellung gegen Frankreich zu bethätigen, im

Stande ſein werde, war mir nicht wahrſcheinlich, und das Ver¬

halten Spaniens nach Ausbruch des Krieges, den wir uns durch

die Gefälligkeit deutſcher Fürſten zugezogen hatten, bewies die

Richtigkeit meiner Zweifel. Der ritterliche Eid hätte Frankreich

wegen der Einmiſchung in die Freiheit der ſpaniſchen Königswahl

zur Rechenſchaft gezogen und die Wahrung der ſpaniſchen Unab¬

hängigkeit nicht Fremden überlaſſen. Die früher zu Waſſer und

Lande mächtige Nation kann heut nicht die ſtammverwandte Be¬

völkerung von Cuba im Zaume halten; wie ſollte man von ihr

erwarten, daß ſie eine Macht wie Frankreich aus Liebe zu uns

angriffe? Keine ſpaniſche Regirung und am wenigſten ein aus¬

ländiſcher König würde im Lande die Macht beſitzen, auch nur ein

Regiment aus Liebe zu Deutſchland an die Pyrenäen zu ſchicken.

Politiſch ſtand ich der ganzen Frage ziemlich gleichgültig gegen¬

über. Mehr als ich war Fürſt Anton geneigt, ſie friedlich zu dem

[81/0105]

Paſſivität Spaniens gegenüber der franzöſiſchen Einmiſchung.

erſtrebten Ziele zu führen. Die Memoiren Seiner Majeſtät des

Königs von Rumänien ſind über Einzelheiten der miniſteriellen Mit¬

wirkung in der Frage nicht genau unterrichtet. Das dort erwähnte

Miniſter-Conſeil im Schloſſe hat nicht ſtattgefunden. Fürſt Anton

wohnte als Gaſt des Königs im Schloſſe und hatte dort dieſen

Herrn und einige der Miniſter zum Diner eingeladen; ich glaube

kaum, daß im Tiſchgeſpräch die ſpaniſche Frage verhandelt wurde.

Wenn der Herzog von Gramont *) ſich bemüht, den Beweis zu

führen, daß ich der ſpaniſchen Anregung gegenüber mich nicht ab¬

lehnend verhalten hätte, ſo finde ich keinen Grund, dem zu wider¬

ſprechen. Des Wortlautes meines Briefes an den Marſchall Prim,

von dem der Herzog hat erzählen hören, erinnere ich mich nicht

mehr; wenn ich ſelbſt ihn redigirt habe, was ich auch nicht mehr

weiß, ſo werde ich die Hohenzollernſche Candidatur ſchwerlich „une

excellente chose“ genannt haben, der Ausdruck iſt mir nicht mund¬

recht. Daß ich ſie für „opportune“ hielt, nicht „à un moment

donné“, ſondern prinzipiell und im Frieden, iſt richtig. Ich hatte

dabei nicht den mindeſten Zweifel daran, daß der am franzöſiſchen

Hofe gern geſehne Enkel der Murats dem Lande Frankreichs Wohl¬

wollen ſichern werde.

Die Einmiſchung Frankreichs galt in ihren Anfängen ſpani¬

ſchen, nicht preußiſchen Angelegenheiten; die Fälſchung der Napoleo¬

niſchen Politik, vermöge deren die Frage zu einer preußiſchen werden

ſollte, war eine international unberechtigte und provocirende und

bewies mir, daß der Moment gekommen war, wo Frankreich Händel

mit uns ſuchte und bereit war, dafür jeden Vorwand zu ergreifen,

der brauchbar ſchien. Ich betrachtete die franzöſiſche Einmiſchung

zunächſt als eine Verletzung und deshalb als eine Beleidigung

Spaniens und erwartete, daß das ſpaniſche Ehrgefühl ſich dieſes

*) Gramont, La France et la Prusse avant la guerre. Paris 1872.

pag. 21.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 6

[82/0106]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.

Eingriffs erwehren würde. Nachdem ſpäter die Sache die Wendung

genommen hatte, daß Frankreich im Sinne ſeines Eingriffs in die

ſpaniſche Unabhängigkeit uns mit Krieg bedrohte, habe ich einige

Tage lang erwartet, daß die ſpaniſche Kriegserklärung gegen Frank¬

reich der franzöſiſchen gegen uns folgen werde. Ich war nicht

darauf gefaßt, daß eine ſelbſtbewußte Nation wie die ſpaniſche Ge¬

wehr beim Fuß hinter den Pyrenäen ruhig zuſehn werde, wie die

Deutſchen ſich auf Tod und Leben für Spaniens Unabhängigkeit

und freie Königswahl gegen Frankreich ſchlugen. Das ſpaniſche

Ehrgefühl, das ſich in der Karolinen-Frage ſo empfindlich anſtellte,

ließ uns 1870 einfach im Stich. Wahrſcheinlich ſind in beiden

Fällen die Sympathien und internationalen Verbindungen der

republikaniſchen Parteien entſcheidend geweſen.

Von Seiten unſres Auswärtigen Amtes waren die erſten ſchon

unberechtigten Anfragen Frankreichs über die ſpaniſche Thron¬

candidatur am 4. Juli der Wahrheit entſprechend in der aus¬

weichenden Art beantwortet worden, daß das Miniſterium nichts

von der Sache wiſſe. Es traf das inſofern zu, als die Frage der

Annahme der Wahl durch den Prinzen Leopold von Sr. Majeſtät

lediglich als Familienſache behandelt worden war, die weder

Preußen noch den Norddeutſchen Bund etwas anging, bei der es

ſich nur um die perſönliche Beziehung des Kriegsherrn zu einem

deutſchen Offizier und des Hauptes nicht der Kgl. Preußiſchen

ſondern der Hohenzollernſchen Geſammtfamilie zu den Trägern

des Namens Hohenzollern handelte.

In Frankreich aber ſuchte man nach einem Kriegsfalle gegen

Preußen, der möglichſt frei von national-deutſcher Färbung wäre,

und glaubte einen ſolchen auf dynaſtiſchem Gebiete in dem Auftreten

eines ſpaniſchen Thronprätendenten des Namens Hohenzollern ge¬

funden zu haben. Dabei war die Ueberſchätzung der militäriſchen

Ueberlegenheit Frankreichs und die Unterſchätzung des nationalen

Sinnes in Deutſchland wohl die Haupturſache, daß man die Halt¬

barkeit dieſes Kriegsvorwandes nicht mit Ehrlichkeit und nicht mit

[83/0107]

Die Candidatur eine Familienſache. Franzöſiſche Kriegstreiberei.

Sachkunde geprüft hatte. Der deutſch-nationale Aufſchwung, welcher

der franzöſiſchen Kriegserklärung folgte, vergleichbar einem Strome,

der die Schleuſen bricht, war für die franzöſiſchen Politiker eine

Ueberraſchung; ſie lebten, rechneten und handelten in Rheinbunds¬

erinnerungen, genährt durch die Haltung einzelner weſtdeutſcher

Miniſter und durch ultramontane Einflüſſe, welche hofften, daß

Frankreichs Siege, gesta Dei per Francos, die Ziehung weitrer

Conſequenzen des Vaticanums in Deutſchland, geſtützt auf Allianz

mit dem katholiſchen Oeſtreich, erleichtern würden. Ihre ultra¬

montanen Tendenzen waren der franzöſiſchen Politik in Deutſch¬

land förderlich, in Italien nachtheilig, da das Bündniß mit

letzterm ſchließlich an der Weigerung Frankreichs, Rom zu räumen,

ſcheiterte. In dem Glauben an die Ueberlegenheit der franzö¬

ſiſchen Waffen wurde der Kriegsvorwand, man kann ſagen, an

den Haaren herbeigezogen, und anſtatt Spanien für ſeine, wie

man annahm, antifranzöſiſche Königswahl verantwortlich zu machen,

hielt man ſich an den deutſchen Fürſten, der es nicht abgelehnt

hatte, dem Bedürfniß der Spanier auf deren Wunſch durch

Geſtellung eines brauchbaren und vorausſichtlich in Paris als

persona grata betrachteten Königs abzuhelfen, und an den König

von Preußen, den nichts als der Familienname und die deutſche

Landsmannſchaft zu dieſer ſpaniſchen Angelegenheit in Beziehung

brachte. Schon in der Thatſache, daß das franzöſiſche Cabinet

ſich erlaubte, die preußiſche Politik über die Annahme der Wahl

zur Rede zu ſtellen, und zwar in einer Form, die durch die

Interpretation der franzöſiſchen Blätter zu einer öffentlichen Be¬

drohung wurde, ſchon in dieſer Thatſache lag eine internationale

Unverſchämtheit, die für uns nach meiner Anſicht die Unmög¬

lichkeit involvirte, auch nur um einen Zoll breit zurückzuweichen.

Der beleidigende Charakter der franzöſiſchen Zumuthung wurde

verſchärft nicht nur durch die drohenden Herausforderungen der

franzöſiſchen Preſſe, ſondern auch durch die Parlamentsverhand¬

lungen und die Stellungnahme des Miniſteriums Gramont-Ollivier

[84/0108]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.

zu dieſen Manifeſtationen. Die Aeußerung Gramonts in der Sitzung

des geſetzgebenden Körpers vom 6. Juli:

„Wir glauben nicht, daß die Achtung vor den Rechten

eines Nachbarvolkes uns verpflichtet zu dulden, daß eine fremde

Macht einen ihrer Prinzen auf den Thron Karls V. ſetze ...

Dieſer Fall wird nicht eintreten, deſſen ſind wir ganz gewiß. ...

Sollte es anders kommen, ſo würden wir ... unſre Pflicht

ohne Zaudern und ohne Schwäche zu erfüllen wiſſen“

ſchon dieſe Aeußerung war eine amtliche internationale Bedrohung

mit der Hand am Degengriff. Die Phraſe: „La Prusse cane“ bil¬

dete in der Preſſe eine Erläuterung zu der Tragweite der Parla¬

mentsverhandlungen vom 6. und 7. Juli, die für unſer nationales

Ehrgefühl nach meiner Empfindung jede Nachgiebigkeit unmöglich

machte.

Ich entſchloß mich, am 12. Juli von Varzin nach Ems auf¬

zubrechen, um bei Sr. Majeſtät die Berufung des Reichstags behufs

der Mobilmachung zu befürworten. Als ich durch Wuſſow fuhr,

ſtand mein Freund, der alte Prediger Mulert, vor der Thür des

Pfarrhofes und grüßte mich freundlich; meine Antwort im offnen

Wagen war ein Lufthieb in Quart und Terz, und er verſtand, daß

ich glaubte in den Krieg zu gehn. In den Hof meiner Berliner

Wohnung einfahrend und bevor ich den Wagen verlaſſen hatte,

empfing ich Telegramme, aus denen hervorging, daß der König

nach den franzöſiſchen Bedrohungen und Beleidigungen im Parla¬

ment und in der Preſſe mit Benedetti zu verhandeln fortfuhr,

ohne ihn in kühler Zurückhaltung an ſeine Miniſter zu verweiſen.

Während des Eſſens, an dem Moltke und Roon Theil nahmen,

traf von der Botſchaft in Paris die Meldung ein, daß der Prinz

von Hohenzollern der Candidatur entſagt habe, um den Krieg ab¬

zuwenden, mit dem uns Frankreich bedrohte. Mein erſter Gedanke

war, aus dem Dienſte zu ſcheiden, weil ich nach allen beleidigenden

Provocationen, die vorhergegangen waren, in dieſem erpreßten Nach¬

[85/0109]

Franzöſiſche Unverſchämtheit. Rückkehr nach Berlin.

geben eine Demüthigung Deutſchlands ſah, die ich nicht amtlich ver¬

antworten wollte. Dieſer Eindruck der Verletzung des nationalen

Ehrgefühls durch den aufgezwungenen Rückzug war in mir ſo

vorherrſchend, daß ich ſchon entſchloſſen war, meinen Rücktritt aus

dem Dienſte nach Ems zu melden. Ich hielt dieſe Demüthigung

vor Frankreich und ſeinen renommiſtiſchen Kundgebungen für ſchlim¬

mer als die von Olmütz, zu deren Entſchuldigung die gemeinſame

Vorgeſchichte und unſer damaliger Mangel an Kriegsbereitſchaft

immer dienen werden. Ich nahm an, Frankreich werde die Ent¬

ſagung des Prinzen als einen befriedigenden Erfolg escomptiren

in dem Gefühl, daß eine kriegeriſche Drohung, auch wenn ſie in

den Formen internationaler Beleidigung und Verhöhnung geſchehn

und der Kriegsvorwand gegen Preußen vom Zaune gebrochen wäre,

genüge, um Preußen zum Rückzuge auch in einer gerechten Sache

zu nöthigen, und daß auch der Norddeutſche Bund in ſich nicht das

hinreichende Machtgefühl trage, um die nationale Ehre und Unab¬

hängigkeit gegen franzöſiſche Anmaßung zu ſchützen. Ich war ſehr

niedergeſchlagen, denn ich ſah kein Mittel, den freſſenden Schaden,

den ich von einer ſchüchternen Politik für unſre nationale Stellung

befürchtete, wieder gut zu machen, ohne Händel ungeſchickt vom

Zaune zu brechen und künſtlich zu ſuchen. Den Krieg ſah ich ſchon

damals als eine Nothwendigkeit an, der wir mit Ehren nicht mehr

ausweichen konnten. Ich telegraphirte an die Meinigen nach Varzin,

man ſollte nicht packen, nicht abreiſen, ich würde in wenig Tagen

wieder dort ſein. Ich glaubte nunmehr an Frieden; da ich aber

die Haltung nicht vertreten wollte, durch welche dieſer Friede erkauft

geweſen wäre, ſo gab ich die Reiſe nach Ems auf und bat Graf

Eulenburg, dorthin zu reiſen und Sr. Majeſtät meine Auffaſſung

vorzutragen. In gleichem Sinne ſprach ich auch mit dem Kriegs¬

miniſter von Roon: wir hätten die franzöſiſche Ohrfeige weg, und

wären durch die Nachgiebigkeit in die Lage gebracht, als Händelſucher

zu erſcheinen, wenn wir zum Kriege ſchritten, durch den allein wir den

Flecken abwaſchen könnten. Meine Stellung ſei jetzt unhaltbar und

[86/0110]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.

das eigentlich ſchon dadurch geworden, daß der König den fran¬

zöſiſchen Botſchafter unter dem Drucke von Drohungen während

ſeiner Badecur vier Tage hintereinander in Audienz empfangen

und ſeine monarchiſche Perſon der unverſchämten Bearbeitung

durch dieſen fremden Agenten ohne geſchäftlichen Beiſtand exponirt

habe. Durch dieſe Neigung, die Staatsgeſchäfte perſönlich und

allein auf ſich zu nehmen, war der König in eine Lage gedrängt

worden, die ich nicht vertreten konnte; meines Erachtens hätte

Se. Majeſtät in Ems jede geſchäftliche Zumuthung des ihm

nicht gleichſtehenden franzöſiſchen Unterhändlers ablehnen und ihn

nach Berlin an die amtliche Stelle verweiſen müſſen, die dann

durch Vortrag in Ems oder, wenn man dilatoriſche Behandlung

nützlich gefunden, durch ſchriftlichen Bericht die Entſcheidung des

Königs einzuholen gehabt haben wurde. Aber bei dem hohen Herrn,

ſo correct er in der Regel die Reſſortverhältniſſe reſpectirte, war

die Neigung, wichtige Fragen perſönlich zwar nicht zu entſcheiden,

aber doch zu verhandeln, zu ſtark, um ihm eine richtige Benutzung

der Deckung zu ermöglichen, mit der die Majeſtät gegen Zu¬

dringlichkeiten, unbequeme Frageſtellung und Zumuthung zweck¬

mäßiger Weiſe umgeben iſt. Daß der König ſich nicht mit dem

ihm in ſo großem Maße eignen Gefühle ſeiner hoheitvollen Würde

der Benedettiſchen Aufdringlichkeit von Hauſe aus entzogen hatte,

davon lag die Schuld zum großen Theile in dem Einfluſſe, den

die Königin von dem benachbarten Coblenz her auf ihn ausübte.

Er war 73 Jahr alt, friedliebend und abgeneigt, die Lorbeeren

von 1866 in einem neuen Kampfe auf das Spiel zu ſetzen; aber

wenn er vom weiblichen Einfluſſe frei war, ſo blieb das Ehrgefühl

des Erben Friedrichs des Großen und des preußiſchen Offiziers in

ihm ſtets leitend. Gegen die Concurrenz, welche ſeine Gemalin

mit ihrer weiblich berechtigten Furchtſamkeit und ihrem Mangel an

Nationalgefühl machte, wurde die Widerſtandsfähigkeit des Königs

abgeſchwächt durch ſein ritterliches Gefühl der Frau und durch ſein

monarchiſches Gefühl einer Königin und beſonders der ſeinigen

[87/0111]

Unterredung mit Roon und Moltke. Die Emſer Depeſche.

gegenüber. Man hat mir erzählt, daß die Königin Auguſta ihren

Gemal vor ſeiner Abreiſe von Ems nach Berlin in Thränen be¬

ſchworen habe, den Krieg zu verhüten im Andenken an Jena und

Tilſit. Ich halte die Angabe für glaubwürdig bis auf die Thränen.

Zum Rücktritt entſchloſſen trotz der Vorwürfe, die mir Roon

darüber machte, lud ich ihn und Moltke zum 13. ein, mit mir zu

Drei zu ſpeiſen, und theilte ihnen bei Tiſche meine An- und Ab¬

ſichten mit. Beide waren ſehr niedergeſchlagen und machten mir

indirect Vorwürfe, daß ich die im Vergleiche mit ihnen größere

Leichtigkeit des Rückzuges aus dem Dienſte egoiſtiſch benutzte. Ich

vertrat die Meinung, daß ich mein Ehrgefühl nicht der Politik opfern

könne, daß ſie Beide als Berufsſoldaten wegen der Unfreiheit ihrer

Entſchließung nicht dieſelben Geſichtspunkte zu nehmen brauchten

wie ein verantwortlicher auswärtiger Miniſter. Während der Unter¬

haltung wurde mir gemeldet, daß ein Ziffertelegramm, wenn ich

mich recht erinnere, von ungefähr 200 Gruppen, aus Ems, von dem

Geheimrath Abeken unterzeichnet, in der Ueberſetzung begriffen

ſei. Nachdem mir die Entzifferung überbracht war, welche ergab,

daß Abeken das Telegramm auf Befehl Sr. Majeſtät redigirt

und unterzeichnet hatte, las ich daſſelbe meinen Gäſten vor 1), deren

1) Die am 13. Juli 1870 3h 50m Nachm. in Ems aufgegebene, 6h 9m

in Berlin eingetroffene Depeſche lautete in der Entzifferung:

„Se. Majeſtät ſchreibt mir: ,Graf Benedetti fing mich auf der Prome¬

nade ab, um auf zuletzt ſehr zudringliche Art von mir zu verlangen, ich ſollte

ihn autoriſiren, ſofort zu telegraphiren, daß ich für alle Zukunft mich ver¬

pflichtete, niemals wieder meine Zuſtimmung zu geben, wenn die Hohenzollern

auf ihre Candidatur zurückkämen. Ich wies ihn zuletzt etwas ernſt zurück, da

man à tout jamais dergleichen Engagements nicht nehmen dürfe noch könne.

Natürlich ſagte ich ihm, daß ich noch nichts erhalten hätte und, da er über

Paris und Madrid früher benachrichtigt ſei als ich, er wohl einſähe, daß mein

Gouvernement wiederum außer Spiel ſei.‘ Seine Majeſtät hat ſeitdem ein

Schreiben des Fürſten bekommen. Da Seine Majeſtät dem Grafen Benedetti

geſagt, daß er Nachricht vom Fürſten erwarte, hat Allerhöchſtderſelbe, mit Rück¬

ſicht auf die obige Zumuthung, auf des Grafen Eulenburg und meinen Vor¬

trag beſchloſſen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu empfangen, ſondern ihm

[88/0112]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.

Niedergeſchlagenheit ſo tief wurde, daß ſie Speiſe und Trank ver¬

ſchmähten. Bei wiederholter Prüfung des Actenſtücks verweilte ich

bei der einen Auftrag involvirenden Ermächtigung Seiner Maje¬

ſtät, die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweiſung ſo¬

gleich ſowohl unſern Geſandten als in der Preſſe mitzutheilen.

Ich ſtellte an Moltke einige Fragen in Bezug auf das Maß ſeines

Vertrauens auf den Stand unſrer Rüſtungen, reſpective auf die

Zeit, deren dieſelben bei der überraſchend aufgetauchten Kriegsgefahr

noch bedürfen würden. Er antwortete, daß er, wenn Krieg werden

ſollte, von einem Aufſchub des Ausbruchs keinen Vortheil für uns

erwarte; ſelbſt wenn wir zunächſt nicht ſtark genug ſein ſollten,

ſofort alle linksrheiniſchen Landestheile gegen franzöſiſche Invaſion

zu decken, ſo würde unſre Kriegsbereitſchaft die franzöſiſche ſehr

bald überholen, während in einer ſpätern Periode dieſer Vortheil

ſich abſchwächen würde; er halte den ſchnellen Ausbruch im Ganzen

für uns vortheilhafter als eine Verſchleppung.

Der Haltung Frankreichs gegenüber zwang uns nach meiner

Anſicht das nationale Ehrgefühl zum Kriege, und wenn wir den

Forderungen dieſes Gefühls nicht gerecht wurden, ſo verloren wir

auf dem Wege zur Vollendung unſrer nationalen Entwicklung den

ganzen 1866 gewonnenen Vorſprung, und das 1866 durch unſre

militäriſchen Erfolge geſteigerte deutſche Nationalgefühl ſüdlich des

Mains, wie es ſich in der Bereitwilligkeit der Südſtaaten zu den

Bündniſſen ausgeſprochen hatte, mußte wieder erkalten. Das in den

ſüddeutſchen Staaten neben dem particulariſtiſchen und dynaſtiſchen

Staatsgefühle lebendige Deutſchthum hatte bis 1866 das politiſche Be¬

wußtſein gewiſſermaßen mit der geſammtdeutſchen Fiction unter Oeſt¬

1)

1) nur durch einen Adjutanten ſagen zu laſſen: daß Seine Majeſtät jetzt vom

Fürſten die Beſtätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris ſchon

gehabt, und dem Botſchafter nichts weiter zu ſagen habe. Seine Majeſtät

ſtellt Eurer Excellenz anheim, ob nicht die neue Forderung Benedetti's und ihre

Zurückweiſung ſogleich ſowohl unſern Geſandten als in der Preſſe mitgetheilt

werden ſollte.“

[89/0113]

Der Krieg eine nationale Nothwendigkeit.

reichs Leitung beſchwichtigt, theils aus ſüddeutſcher Vorliebe für

den alten Kaiſerſtaat, theils in dem Glauben an die militäriſche

Ueberlegenheit deſſelben über Preußen. Nachdem die Ereigniſſe

den Irrthum der Schätzung feſtgeſtellt hatten, war grade die

Hülfloſigkeit der ſüddeutſchen Staaten, in der Oeſtreich ſie bei dem

Friedensſchluſſe gelaſſen hatte, ein Motiv für das politiſche Da¬

mascus, das zwiſchen Varnbülers „Vae Victis“ zu dem bereit¬

willigen Abſchluſſe des Schutz- und Trutzbündniſſes mit Preußen

lag. Es war das Vertrauen auf die durch Preußen entwickelte

germaniſche Kraft und die Anziehung, welche einer entſchloſſenen und

tapfern Politik innewohnt, wenn ſie Erfolg hat und dann ſich in

vernünftigen und ehrlichen Grenzen bewegt. Dieſen Nimbus hatte

Preußen gewonnen; er ging unwiderruflich oder doch auf lange Zeit

verloren, wenn in einer nationalen Ehrenfrage die Meinung im

Volke Platz griff, daß die franzöſiſche Inſulte „La Prusse cane“

einen thatſächlichen Hintergrund habe.

In derſelben pſychologiſchen Auffaſſung, in welcher ich 1864

im däniſchen Kriege aus politiſchen Gründen gewünſcht hatte, daß

nicht den altpreußiſchen, ſondern den weſtfäliſchen Bataillonen, die

bis dahin keine Gelegenheit gehabt hatten, unter preußiſcher Füh¬

rung ihre Tapferkeit zu bewähren, der Vortritt gelaſſen werde,

und bedauerte, daß der Prinz Friedrich Carl meinem Wunſche

entgegen gehandelt hatte, in derſelben Auffaſſung war ich über¬

zeugt, daß die Kluft, die die Verſchiedenheit des dynaſtiſchen und

Stammesgefühls und der Lebensgewohnheiten zwiſchen dem Süden

und dem Norden des Vaterlandes im Laufe der Geſchichte geſchaffen

hatte, nicht wirkſamer überbrückt werden könne als durch einen

gemeinſamen nationalen Krieg gegen den ſeit Jahrhunderten

aggreſſiven Nachbar. Ich erinnerte mich, daß ſchon in dem kurzen

Zeitraume von 1813 bis 1815, von Leipzig und Hanau bis Belle

Alliance, der gemeinſame und ſiegreiche Kampf gegen Frankreich

die Beſeitigung des Gegenſatzes ermöglicht hatte zwiſchen einer

hingebenden Rheinbundspolitik und dem nationaldeutſchen Auf¬

[90/0114]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.

ſchwung der Zeit von dem Wiener Congreſſe bis zu der Mainzer

Unterſuchungscommiſſion, unter der Signatur Stein, Görres, Jahn,

Wartburg bis zu dem Exceß von Sand. Das gemeinſam ver¬

goſſene Blut von dem Uebergange der Sachſen bei Leipzig bis zu

der Betheiligung unter engliſchem Commando bei Belle Alliance

hatte ein Bewußtſein gekittet, vor dem die Rheinbundserinne¬

rungen erloſchen. Die Entwicklung der Geſchichte in dieſer Rich¬

tung wurde unterbrochen durch die Beſorgniß, welche die Ueber¬

eilung des nationalen Dranges für den Beſtand ſtaatlicher Ein¬

richtungen erweckte.

Dieſer Rückblick beſtärkte mich in meiner Ueberzeugung, und

die politiſchen Erwägungen in Betreff der ſüddeutſchen Staaten

fanden mutatis mutandis auch auf unſre Beziehungen zu der Be¬

völkerung von Hanover, Heſſen, Schleswig-Holſtein Anwendung.

Daß dieſe Auffaſſung richtig war, beweiſt die Genugthuung, mit

der heut, nach zwanzig Jahren, nicht nur die Holſteiner, ſondern

auch die Hanſeaten der 1870er Heldenthaten ihrer Söhne gedenken.

Alle dieſe Erwägungen, bewußt und unbewußt, verſtärkten in mir

die Empfindung, daß der Krieg nur auf Koſten unſrer preußiſchen

Ehre und des nationalen Vertrauens auf dieſelbe vermieden werden

könne.

In dieſer Ueberzeugung machte ich von der mir durch Abeken

übermittelten königlichen Ermächtigung Gebrauch, den Inhalt des

Telegramms zu veröffentlichen, und reducirte in Gegenwart meiner

beiden Tiſchgäſte das Telegramm durch Streichungen, ohne ein Wort

hinzuzuſetzen oder zu ändern, auf die nachſtehende Faſſung:

„Nachdem die Nachrichten von der Entſagung des Erbprinzen

von Hohenzollern der kaiſerlich franzöſiſchen Regirung von der

königlich ſpaniſchen amtlich mitgetheilt worden ſind, hat der

franzöſiſche Botſchafter in Ems an Seine Majeſtät den König

noch die Forderung geſtellt, ihn zu autoriſiren, daß er nach Paris

telegraphire, daß Seine Majeſtät der König ſich für alle Zukunft

verpflichte, niemals wieder ſeine Zuſtimmung zu geben, wenn die

[91/0115]

Redaction der Depeſche. Urſache ihrer Wirkung.

Hohenzollern auf ihre Candidatur wieder zurückkommen ſollten.

Seine Majeſtät der König hat es darauf abgelehnt, den franzöſi¬

ſchen Botſchafter nochmals zu empfangen, und demſelben durch den

Adjutanten vom Dienſt ſagen laſſen, daß Seine Majeſtät dem Bot¬

ſchafter nichts weiter mitzutheilen habe.“ Der Unterſchied in der

Wirkung des gekürzten Textes der Emſer Depeſche im Vergleich mit

der, welche das Original hervorgerufen hätte, war kein Ergebniß

ſtärkerer Worte, ſondern der Form, welche dieſe Kundgebung als

eine abſchließende erſcheinen ließ, während die Redaction Abekens

nur als ein Bruchſtück einer ſchwebenden und in Berlin fortzu¬

ſetzenden Verhandlung erſchienen ſein würde.

Nachdem ich meinen beiden Gäſten die concentrirte Redaction

vorgeleſen hatte, bemerkte Moltke: „So hat das einen andern

Klang, vorher klang es wie Chamade, jetzt wie eine Fanfare in

Antwort auf eine Herausforderung.“ Ich erläuterte: „Wenn ich

dieſen Text, welcher keine Aenderungen und keinen Zuſatz des Tele¬

gramms enthält, in Ausführung des Allerhöchſten Auftrags ſofort

nicht nur an die Zeitungen, ſondern auch telegraphiſch an alle

unſre Geſandſchaften mittheile, ſo wird er vor Mitternacht in

Paris bekannt ſein und dort nicht nur wegen des Inhaltes, ſondern

auch wegen der Art der Verbreitung den Eindruck des rothen Tuches

auf den galliſchen Stier machen. Schlagen müſſen wir, wenn wir

nicht die Rolle des Geſchlagenen ohne Kampf auf uns nehmen wollen.

Der Erfolg hängt aber doch weſentlich von den Eindrücken bei

uns und Andern ab, die der Urſprung des Krieges hervorruft; es

iſt wichtig, daß wir die Angegriffenen ſeien, und die galliſche Ueber¬

hebung und Reizbarkeit wird uns dazu machen, wenn wir mit

europäiſcher Oeffentlichkeit, ſo weit es uns ohne das Sprach¬

rohr des Reichstags möglich iſt, verkünden, daß wir den öffentlichen

Drohungen Frankreichs furchtlos entgegentreten.“

Dieſe meine Auseinanderſetzung erzeugte bei den beiden Gene¬

ralen einen Umſchlag zu freudiger Stimmung, deſſen Lebhaftigkeit

mich überraſchte. Sie hatten plötzlich die Luſt zu eſſen und zu

[92/0116]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.

trinken wiedergefunden und ſprachen in heiterer Laune. Roon

ſagte: „Der alte Gott lebt noch und wird uns nicht in Schande

verkommen laſſen.“ Moltke trat ſo weit aus ſeiner gleichmüthigen

Paſſivität heraus, daß er ſich, mit freudigem Blick gegen die Zimmer¬

decke und mit Verzicht auf ſeine ſonſtige Gemeſſenheit in Worten,

mit der Hand vor die Bruſt ſchlug und ſagte: „Wenn ich das noch

erlebe, in ſolchem Kriege unſre Heere zu führen, ſo mag gleich

nachher ‚die alte Carcaſſe‘ der Teufel holen.“ Er war damals

hinfälliger als ſpäter und hatte Zweifel, ob er die Strapazen des

Feldzugs überleben werde.

Wie lebhaft ſein Bedürfniß war, ſeine militäriſch-ſtrategiſche

Neigung und Befähigung praktiſch zu bethätigen, habe ich nicht nur

bei dieſer Gelegenheit, ſondern auch in den Tagen vor dem Aus¬

bruche des böhmiſchen Krieges beobachtet. In beiden Fällen fand

ich meinen militäriſchen Mitarbeiter im Dienſte des Königs ab¬

weichend von ſeiner ſonſtigen trocknen und ſchweigſamen Gewohn¬

heit heiter, belebt, ich kann ſagen, luſtig. In der Juninacht 1866,

in der ich ihn zu mir eingeladen hatte, um mich zu vergewiſſern,

ob der Aufbruch des Heeres nicht um 24 Stunden verfrüht werden

könnte, bejahte er die Frage und war durch die Beſchleunigung

des Kampfes angenehm erregt. Indem er elaſtiſchen Schrittes

den Salon meiner Frau verließ, wandte er ſich an der Thür noch

einmal um und richtete im ernſthaften Tone die Frage an mich:

„Wiſſen Sie, daß die Sachſen die Dresdner Brücke geſprengt

haben?“ Auf meinen Ausdruck des Erſtaunens und Bedauerns

erwiderte er: „Aber mit Waſſer, wegen Staub.“ Eine Neigung

zu harmloſen Scherzen kam bei ihm in dienſtlichen Beziehungen

wie den unſrigen ſehr ſelten zum Durchbruch. In beiden Fällen

war mir, gegenüber der erklärlichen und berechtigten Abneigung

an maßgebender Stelle, ſeine Kampfluſt, ſeine Schlachtenfreudigkeit

für die Durchführung der von mir für nothwendig erkannten Politik

ein ſtarker Beiſtand. Unbequem wurde ſie mir 1867 in der Luxem¬

burger Frage, 1875 und ſpäter Angeſichts der Erwägung, ob es

[93/0117]

Moltke als Humoriſt. Diplomat und Soldat.

ſich empfehle, einen Krieg, der uns früher oder ſpäter wahrſcheinlich

bevorſtand, anticipando herbeizuführen, bevor der Gegner zu beſſerer

Rüſtung gelange. Ich bin der bejahenden Theorie nicht blos zur

Luxemburger Zeit, ſondern auch ſpäter, zwanzig Jahre lang, ſtets

entgegengetreten in der Ueberzeugung, daß auch ſiegreiche Kriege

nur dann, wenn ſie aufgezwungen ſind, verantwortet werden können,

und daß man der Vorſehung nicht ſo in die Karten ſehn kann,

um der geſchichtlichen Entwicklung nach eigner Berechnung vor¬

zugreifen. Es iſt natürlich, daß in dem Generalſtabe der Armee

nicht nur jüngere ſtrebſame Offiziere, ſondern auch erfahrne Stra¬

tegen das Bedürfniß haben, die Tüchtigkeit der von ihnen geleiteten

Truppen und die eigne Befähigung zu dieſer Leitung zu verwerthen

und in der Geſchichte zur Anſchauung zu bringen. Es wäre zu

bedauern, wenn dieſe Wirkung kriegeriſchen Geiſtes in der Armee

nicht ſtattfände; die Aufgabe, das Ergebniß derſelben in den Schran¬

ken zu halten, auf welche das Friedensbedürfniß der Völker berech¬

tigten Anſpruch hat, liegt den politiſchen, nicht den militäriſchen

Spitzen des Staates ob. Daß ſich der Generalſtab und ſeine Chefs

zur Zeit der Luxemburger Frage, während der von Gortſchakow und

Frankreich fingirten Kriſis von 1875 und bis in die neuſte Zeit

hinein zur Gefährdung des Friedens haben verleiten laſſen, liegt

in dem nothwendigen Geiſte der Inſtitution, den ich nicht miſſen

möchte, und wird gefährlich nur unter einem Monarchen, deſſen

Politik das Augenmaß und die Widerſtandsfähigkeit gegen einſeitige

und verfaſſungsmäßig unberechtigte Einflüſſe fehlt.

[[94]/0118]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel.

Versailles.

I.

Die Verſtimmung gegen mich, welche die höhern militäriſchen

Kreiſe aus dem öſtreichiſchen Kriege mitgebracht hatten, dauerte

während des franzöſiſchen fort, gepflegt nicht von Moltke und Roon,

aber von den „Halbgöttern“, wie man damals die höhern General¬

ſtabsoffiziere nannte. Sie machte ſich im Feldzuge für mich und

meine Beamten bis in das Gebiet der Naturalverpflegung und

Einquartirung fühlbar 1). Sie würde noch weiter gegangen ſein,

wenn ſie nicht in der ſich immer gleichbleibenden, weltmänniſchen

Höflichkeit des Grafen Moltke ein Correctiv gefunden hätte. Roon

war im Felde nicht in der Lage, mir als Freund und College

Beiſtand zu leiſten; er bedurfte im Gegentheil ſchließlich in Ver¬

ſailles meines Beiſtandes, um im Kreiſe des Königs ſeine mili¬

täriſchen Ueberzeugungen geltend zu machen.

Schon bei der Abreiſe nach Köln erfuhr ich durch einen Zufall,

daß beim Ausbruch des Krieges der Plan feſtgeſtellt war, mich von

den militäriſchen Berathungen auszuſchließen. Ich konnte das aus

einem Geſpräch des Generals von Podbielski mit Roon entnehmen,

1) Vgl. das amtliche Schreiben Bismarck's an Roon vom 10. Auguſt 1870

bei Poſchinger, Bismarck-Portefeuille II 189 f.

[95/0119]

Verſtimmung der „Halbgötter“. Reſſortrivalitäten.

deſſen unfreiwilliger Ohrenzeuge ich dadurch wurde, daß es in

einem Nebencoupé ſtattfand, deſſen Scheidewand von einer breiten

Oeffnung über mir durchbrochen war. Der Erſtre äußerte laut

ſeine Befriedigung, etwa in dem Sinne: „Diesmal iſt alſo dafür

geſorgt, daß uns dergleichen nicht wieder paſſirt.“ Bevor der

Zug ſich in Bewegung ſetzte, hörte ich genug, um zu verſtehn,

welches „damals“ im Gegenſatz gegen diesmal der General im

Sinne hatte, nämlich meine Betheiligung an militäriſchen Be¬

rathungen in dem böhmiſchen Feldzuge und beſonders die Aenderung

der Marſchrichtung auf Preßburg anſtatt auf Wien.

Die durch dieſe Reden gekennzeichnete Verabredung wurde

mir praktiſch wahrnehmbar; ich wurde nicht nur zu den militäri¬

ſchen Berathungen nicht zugezogen, wie 1866 geſchehn war, ſondern

es galt mir gegenüber ſtrenge Geheimhaltung aller militäriſchen

Maßregeln und Abſichten als Regel. Dieſes Ergebniß der unſern

amtlichen Kreiſen innewohnenden Rivalität der Reſſorts war ein

ſo augenfälliger Schaden für die Geſchäftsführung, daß der in An¬

gelegenheiten des Rothen Kreuzes im Hauptquartier anweſende Graf

Eberhard Stolberg bei der freundſchaftlichen Intimität, in der ich

mit dieſem, leider zu früh verſtorbenen Patrioten ſtand, den König

auf die Unzuträglichkeiten der Ausſchließung ſeines verantwortlichen

politiſchen Rathgebers aufmerkſam machte. Nach dem Zeugniſſe des

Grafen hatte Se. Majeſtät darauf erwidert: „Ich ſei in dem böhmi¬

ſchen Kriege in der Regel zu dem Kriegsrathe zugezogen worden,

und es ſei dabei vorgekommen, daß ich im Widerſpruche mit der

Majorität den Nagel auf den Kopf getroffen hätte; daß das den

andern Generalen ärgerlich ſei und ſie ihr Reſſort allein berathen

wollten, ſei nicht zu verwundern“ — ipsissima verba regis, nach

dem Zeugniſſe des Grafen Stolberg nicht nur mir, ſondern auch

Andern gegenüber. Das Maß von Einfluß, welches der König mir

1866 verſtattet hatte, ſtand allerdings im Widerſpruche mit mili¬

täriſchen Traditionen, ſobald der Miniſterpräſident allein nach den

Abzeichen der Uniform claſſificirt wurde, die er im Felde trug,

[96/0120]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

als Stabsoffizier eines Cavallerie-Regiments; und es blieb 1870

mir gegenüber bei dem militäriſchen Boycott, wie man heut ſagen

würde.

Wenn man die Theorie, welche der Generalſtab mir gegen¬

über zur Anwendung brachte und die auch kriegswiſſenſchaftlich ge¬

lehrt werden ſoll, ſo ausdrücken kann: der Miniſter der Aus¬

wärtigen Angelegenheiten kommt erſt wieder zum Wort, wenn die

Heeresleitung die Zeit gekommen findet, den Janustempel zu ſchließen,

ſo liegt ſchon in dem doppelten Geſicht des Janus die Mahnung,

daß die Regirung eines kriegführenden Staates auch nach andern

Richtungen zu ſehn hat, als nach dem Kriegsſchauplatze. Aufgabe

der Heeresleitung iſt die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte;

Zweck des Krieges die Erkämpfung des Friedens unter Bedingun¬

gen, die der von dem Staate verfolgten Politik entſprechen. Die

Feſtſtellung und Begrenzung der Ziele, die durch den Krieg er¬

reicht werden ſollen, die Berathung des Monarchen in Betreff

derſelben iſt und bleibt während des Krieges wie vor demſelben

eine politiſche Aufgabe, und die Art ihrer Löſung kann nicht ohne

Einfluß auf die Art der Kriegführung ſein. Die Wege und Mittel

der letztern werden immer davon abhängig ſein, ob man das

ſchließlich gewonnene Reſultat oder mehr oder weniger hat erreichen

wollen, ob man Landabtretungen fordern oder auf ſolche verzichten,

ob man Pfandbeſitz und auf wie lange gewinnen will.

Noch ſchwerer wirkt in gleicher Richtung die Frage, ob und

aus welchen Motiven andre Mächte geneigt ſein könnten, dem

Gegner zunächſt diplomatiſch, eventuell militäriſch beizuſtehn, welche

Ausſicht die Vertreter einer ſolchen Einmiſchung haben, an fremden

Höfen ihren Zweck zu erreichen, wie die Parteien ſich gruppiren

würden, wenn es zu Conferenzen oder zu einem Congreſſe käme,

ob Gefahr vorhanden, daß aus der Einmiſchung der Neutralen ſich

weitre Kriege entwickeln. Namentlich aber zu beurtheilen, wann

der richtige Moment eingetreten ſei, den Uebergang vom Kriege

zum Frieden einzuleiten, dazu ſind Kenntniſſe der europäiſchen Lage

[97/0121]

Wechſelbeziehung zwiſchen Heeresleitung und Diplomatie.

erforderlich, die dem Militär nicht geläufig zu ſein brauchen, In¬

formationen, die ihm nicht zugänglich ſein können. Die Verhand¬

lungen in Nikolsburg 1866 beweiſen, daß die Frage von Krieg

und Frieden auch im Kriege ſtets zur Competenz des verantwort¬

lichen politiſchen Miniſters gehört und nicht von der techniſchen

Armeeleitung entſchieden werden kann; der competente Miniſter

aber kann dem Könige nur dann ſachkundigen Rath ertheilen, wenn

er Kenntniß von der jeweiligen Lage und den Intentionen der

Kriegführung hat.

Im fünften Kapitel iſt der Plan zur Zerſtückelung Ru߬

lands erwähnt, den die Wochenblattspartei hegte und Bunſen in

einer dem Miniſter von Manteuffel eingereichten Denkſchrift in

aller kindlichen Nacktheit entwickelt hatte 1). Den damals unmög¬

lichen Fall angenommen, daß der König für dieſe Utopie ge¬

wonnen wurde, angenommen ferner, daß die preußiſchen Heere und

ihre etwaigen Verbündeten in ſiegreichem Vorſchreiten waren, ſo

würde ſich doch eine artige Reihe von Fragen aufgedrängt haben:

ob uns der weitre Erwerb polniſcher Landſtriche und Bevölke¬

rungen wünſchenswerth ſei, ob es nothwendig, die vorſpringende

Grenze Congreßpolens, den Ausgangspunkt ruſſiſcher Heere weiter

nach Oſten, weiter ab von Berlin zu rücken, analog dem Be¬

dürfniſſe, im Weſten den Druck zu beſeitigen, den Straßburg

und die Weißenburger Linien auf Süddeutſchland ausübten, ob

Warſchau in polniſchen Händen für uns unbequemer werden

könnte als in ruſſiſchen. Das alles ſind rein politiſche Fragen,

und wer wird leugnen wollen, daß ihre Entſcheidung einen voll¬

berechtigten Einfluß auf die Richtung, die Art, den Umfang der

Kriegführung hätte fordern, daß zwiſchen Diplomatie und Strategie

eine Wechſelwirkung in Berathung des Monarchen hätte beſtehn

müſſen?

1) S. Bd. I 110 ff.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 7

[98/0122]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

Wenn ich mich auch in Verſailles beſchied, in militäriſchen

Dingen zu einem Votum nicht berufen zu ſein, ſo lag mir doch

als dem leitenden Miniſter die Verantwortlichkeit für die richtige

politiſche Ausnutzung der militäriſchen, wie der auswärtigen Situation

ob, und ich war verfaſſungsmäßig der verantwortliche Rathgeber des

Königs in der Frage, ob die militäriſche Situation irgend welche

politiſche Schritte oder die Ablehnung irgend welcher Zumuthung

andrer Mächte rathſam machte. Ich habe damals die Nachrichten

über die militäriſche Lage, deren ich für die Beurtheilung der poli¬

tiſchen bedurfte, ſo weit als möglich mir dadurch zu verſchaffen ge¬

ſucht, daß ich mich mit einigen der unbeſchäftigten hohen Herrn, welche

die „zweite Staffel“ des Hauptquartiers bildeten und im Hôtel

des Réservoirs zuſammenkamen, in vertraulichen Beziehungen hielt,

denn dieſe fürſtlichen Herrn erfuhren über die militäriſchen Vor¬

gänge und Abſichten erheblich mehr als der verantwortliche Miniſter

des Auswärtigen und machten mir manche für mich ſehr werthvolle

Mittheilung, von der ſie annahmen, daß ſie für mich natürlich

kein Geheimniß ſei. Auch der engliſche Correſpondent im Haupt¬

quartier, Ruſſell, war in der Regel über die Abſichten und Vor¬

gänge in demſelben beſſer wie ich unterrichtet und eine nützliche

Quelle für meine Informationen.

II.

Im Kriegsrathe war Roon der einzige Vertreter meiner Anſicht,

daß wir mit Abſchluß des Krieges Eile hätten, wenn wir die Einmiſchung

der Neutralen und ihres Congreſſes ſicher hintanhalten wollten; er

befürwortete die Nothwendigkeit, aggreſſiv mit ſchwerem Geſchütz

gegen Paris vorzugehn, gegenüber dem in den Kreiſen hoher Frauen

für humaner geltenden Syſteme der Aushungerung. Die Zeit,

die das letztre in Anſpruch nehmen würde, ließ ſich bei der

[99/0123]

Lage vor Paris. Sorge vor der Einmiſchung der Neutralen.

Unbekanntſchaft mit dem Pariſer Verpflegungs-Etat nicht über¬

ſehn *). Die Belagerung machte territorial keine Fortſchritte, mit¬

unter ſogar Rückſchritte und die Vorgänge in den Provinzen waren

nicht mit Sicherheit zu berechnen, namentlich ſo lange man ohne

Nachricht war über das Verbleiben der Südarmee und Bourbakis.

Man wußte eine Zeit lang nicht, ob dieſelbe gegen unſre Ver¬

bindungslinie mit Deutſchland operire oder auf dem Seewege an

der untern Seine erſcheinen werde. Wir verloren monatlich etwa

zweitauſend Mann vor Paris, gewannen den Belagerten kein Terrain

ab und verlängerten in unberechenbarer Weiſe die Periode, während

welcher unſre Truppen den Wandlungen des Geſchickes ausgeſetzt

blieben, die durch unvorhergeſehne Unfälle im Kampfe und

durch Krankheiten, wie die Cholera 1866 vor Wien, eintreten

konnten. Für mich lagen ſtärkere Beunruhigungen, die mir die

Verſchleppung der Entſcheidung verurſachten, auf dem politiſchen

Gebiete, in der Beſorgniß vor Einmiſchung der Neutralen. Je

länger der Kampf dauerte, deſto mehr mußte man mit der

Möglichkeit rechnen, daß die latente Mißgunſt und die ſchwanken¬

den Sympathien eine der übrigen Mächte, in der Beunruhigung

über unſre Erfolge, zu der Initiative für eine diplomatiſche

Einmiſchung bereit finden laſſen würden und dieſe dann den

Anſchluß andrer oder aller andern herbeiführte. Wenn auch

zur Zeit der Rundreiſe des Herrn Thiers im October „Europa

nicht zu finden war“, ſo konnte die Entdeckung dieſer Potenz

doch an jedem der neutralen Höfe, ſogar auf dem Wege repu¬

blikaniſcher Sympathien in Amerika, durch den geringſten Anſtoß

herbeigeführt werden, den ein Cabinet dem andern gegeben hätte,

indem es ſondirende Fragen über die Zukunft des europäiſchen

Gleichgewichts oder die menſchenfreundliche Heuchelei, durch welche

*) Am 22. September hatte Moltke an ſeinen Bruder Adolf geſchrieben,

er hege im Stillen die Hoffnung, Ende October in Creiſau Haſen zu ſchießen

(Moltke, Geſammelte Werke IV 198).

[100/0124]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

die Feſtung Paris gegen ernſte Belagerung gedeckt wurde, zur

Unterlage ſeiner Initiative nahm. Gelang im Laufe der Monate

und Angeſichts der ſchwankenden Ausſichten vor Paris in der Zeit,

welche die Signatur trug: „Vor Paris nichts Neues“, gelang es

damals den feindlichen Elementen und den mißgünſtigen, unehr¬

lichen Freunden, die uns an keinem Hofe fehlten, eine Verſtändi¬

gung zwiſchen den übrigen Mächten oder auch nur zwiſchen zweien

von ihnen herbeizuführen, um eine Warnung, eine ſcheinbar von

der Menſchenliebe eingegebene Frage an uns zu richten, ſo konnte

niemand wiſſen, wie ſchnell ſich ein ſolcher erſter Anſatz zu einer

gemeinſamen, zunächſt diplomatiſchen Haltung der Neutralen ent¬

wickeln würde. Nationalliberale Parlamentarier haben einander

im Auguſt 1870 geſchrieben, „daß jede fremde Friedensvermittlung

unbedingt abzuweiſen ſei“, haben mich aber nicht wiſſen laſſen,

wie dem vorzubeugen ſei, wenn nicht durch ſchnelle Einnahme von

Paris.

Graf Beuſt hat ſelbſt es ſich angelegen ſein laſſen, nach¬

zuweiſen, wie „redlich, wenn auch erfolglos“ er ſich bemüht habe,

eine „collective Mediation der Neutralen“ zu Stande zu bringen *).

Er erinnert daran, daß er ſchon unter dem 28. September nach

London und unter dem 12. October nach Petersburg an die öſt¬

reichiſchen Botſchafter die Weiſung gegeben hat, die Auffaſſung zu

vertreten, ein collectiver Schritt allein werde Ausſicht auf Erfolg

haben; daß er zwei Monate ſpäter dem Fürſten Gortſchakow ſagen

ließ: „Le moment d'intervenir est peut-être venu.“ Er repro¬

ducirt eine am 13. October, in der für uns kritiſchen Zeit 14 Tage

vor der Capitulation von Metz, von ihm an den Grafen Wimpffen

in Berlin gerichtete und von dieſem dort verleſene Depeſche **).

*) Aus drei Viertel-Jahrhunderten. Stuttgart 1887. Theil II S. 361,

395 ff.

**) Es iſt auffallend, daß Graf Wimpffen dieſe Inſtruction verleſen

hat; ſie weiſt ihn nur an, ſich in einem bezeichneten Falle im Sinne derſelben

auszuſprechen.

[101/0125]

Beuſtſche Machinationen zu Gunſten Frankreichs.

In derſelben knüpft er an ein Memorandum an, durch das ich

zu Anfang October 1) auf die Folgen aufmerkſam gemacht hatte, die

ſich an einen bis zu eintretendem Mangel an Lebensmitteln fort¬

geſetzten Widerſtand des von zwei Millionen Menſchen bewohnten

Paris knüpfen müßten, und bezeichnet es, ganz richtig, als meinen

Zweck, die Verantwortlichkeit dafür von der preußiſchen Regirung

abzulehnen.

„Dies vorausgeſchickt,“ fährt er fort, „kann ich den Ausdruck

meiner Beſorgniß nicht unterdrücken, daß dereinſt vor dem Urtheil

der Geſchichte ein Theil dieſer Verantwortlichkeit auf die Neutralen

fallen würde, wenn ſie ſich die Gefahr unerhörten Unheils in

ſtummer Gleichgültigkeit vor Augen ſtellen ließen. Ich muß daher

Eure Excellenz auffordern, wenn der Gegenſtand gegen Sie be¬

rührt wird, offen unſer Bedauern darüber auszuſprechen, daß in

einer Lage, in welcher die königlich preußiſche Regierung Kata¬

ſtrophen, wie die in jenem Memorandum angedeutete, vorherſieht,

dennoch das entſchiedenſte Beſtreben ſich kundgibt, jede perſönliche

Einwirkung dritter Mächte fernzuhalten. ... Rückſichten auf eigne

Intereſſen ſind es nicht, welche die Regierung Oeſterreich-Ungarns

beklagen laſſen, daß auf dem Punkte, zu welchem die Dinge ge¬

diehen ſind, jede friedliche Einflußnahme der neutralen Mächte

fehlt. Aber es iſt ihr unmöglich, in der Weiſe, wie es neuerlich

von Seiten des St. Petersburger Cabinets geſchieht, die abſolute

Enthaltung des unbetheiligten Europas zu billigen und zu empfehlen.

Sie hält es vielmehr für Pflicht, auszuſprechen, daß ſie noch an

allgemein europäiſche Intereſſen glaubt, und daß ſie einen durch

unparteiiſche Einwirkung der Neutralen herbeigeführten Frieden der

Vernichtung weiterer Hunderttauſende vorziehen würde.“

Darüber, welcher Art die „unparteiiſche Vermittlung“ geweſen

ſein würde, läßt der Graf Beuſt keinen Zweifel: mitiger les

exigences du vainqueur, adoucir l'amertume des sentiments qui

1) Am 4. October.

[102/0126]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

doivent accabler le vaincu 1). Daß die Gefühle der Franzoſen

über die erlittene Niederlage heut uns gegenüber weniger bitter

ſein würden, wenn die Neutralen uns genöthigt hätten, uns mit

weniger zu begnügen, das wird ein ſo guter Kenner der franzöſi¬

ſchen Geſchichte und des franzöſiſchen Nationalcharakters, wie der

Graf Beuſt, ſchwerlich geglaubt haben.

Eine Einmiſchung konnte nur die Tendenz haben, uns Deutſchen

den Siegespreis vermittelſt eines Congreſſes zu beſchneiden. Dieſe

mich Tag und Nacht beunruhigende Gefahr erzeugte in mir das

Bedürfniß, den Friedensſchluß zu beſchleunigen, um ihn ohne Ein¬

miſchung der Neutralen herſtellen zu können. Daß dies vor der

Eroberung von Paris nicht thunlich ſein würde, ließ ſich nach dem

herkömmlichen Vorgewicht der Hauptſtadt in Frankreich voraus¬

ſehn. So lange Paris ſich hielt, war auch von den leitenden

Kreiſen in Tours und Bordeaux und von den Provinzen nicht

anzunehmen, daß ſie die Hoffnung auf einen Umſchwung aufgeben

würden, mochte derſelbe von neuen levées en masse, wie ſie in

der Schlacht an der Liſaine zur Geltung kamen, oder von der

endlichen „Auffindung Europas“, oder von dem Glanznebel er¬

wartet werden, der die engliſchen reſp. weſtmächtlichen Schlag¬

worte: „Humanität, Civiliſation“ in deutſchen, namentlich weib¬

lichen Gemüthern an großen Höfen umgab — ſo lange bot ſich

an den auswärtigen Höfen, die über die Situation in Frank¬

reich doch mehr durch franzöſiſche als durch deutſche Berichte

orientirt waren, die Möglichkeit, den Franzoſen in ihrem Friedens¬

ſchluſſe beiſtändig zu ſein. Für mich ſpitzte ſich daher meine Auf¬

gabe dahin zu, mit Frankreich abzuſchließen, bevor eine Verſtändi¬

gung der neutralen Mächte über ihre Einflußnahme auf den Frieden

zu Stande gekommen wäre, grade ſo, wie es 1866 unſer Be¬

dürfniß war, mit Oeſtreich abzuſchließen, bevor franzöſiſche Ein¬

miſchung in Süddeutſchland wirkſam werden konnte.

1) Depeſche an Graf Chotek vom 12. October, Beuſt a. a. O. II 397.

[103/0127]

Aufgabe der deutſchen Diplomatie. Haltung Italiens.

Es ließ ſich nicht mit Beſtimmtheit ſagen, zu welchen Ent¬

ſchließungen man in Wien und Florenz gelangt ſein würde, wenn

bei Wörth, Spichern, Mars la Tour der Erfolg auf Seite der

Franzoſen oder für uns weniger eclatant geweſen wäre. Ich habe

zur Zeit der genannten Schlachten Beſuche von republikaniſchen

Italienern gehabt, die überzeugt waren, daß der König Victor

Emanuel mit der Abſicht umginge, dem Kaiſer Napoleon beizu¬

ſtehn, und dieſe Tendenz zu bekämpfen geneigt waren, weil ſie

von der Ausführung der dem Könige zugeſchriebenen Abſichten eine

Verſtärkung der ihrem Nationalgefühl empfindlichen Abhängigkeit

Italiens von Frankreich befürchteten. Schon in den Jahren 1868

und 1869 waren mir ähnliche antifranzöſiſche Anregungen von

italieniſcher und nicht blos republikaniſcher Seite vorgekommen, in

denen die Unzufriedenheit mit der franzöſiſchen Suprematie über

Italien ſcharf hervortrat. Ich habe damals wie ſpäter auf dem

Marſche nach Frankreich in Homburg (Pfalz) den italieniſchen Herrn

geantwortet: wir hätten bisher keine Beweiſe davon, daß der König

von Italien ſeine Freundſchaft für Napoleon bis zum Angriffe

auf Preußen bethätigen werde; es ſei gegen mein politiſches Ge¬

wiſſen, eine Initiative zum Bruch zu ergreifen, welche Italien

Vorwand und Rechtfertigung feindlicher Haltung gegeben hätte.

Wenn Victor Emanuel die Initiative zu dem Bruche ergriffe, ſo

würde die republikaniſche Tendenz derjenigen Italiener, welche eine

ſolche Politik mißbilligten, mich nicht abhalten, dem Könige, meinem

Herrn, zur Unterſtützung der Unzufriedenen in Italien durch Geld

und Waffen, welche ſie zu haben wünſchten, zu rathen.

Ich fand den Krieg, wie er lag, zu ernſt und zu gefährlich,

um in einem Kampfe, in dem nicht nur unſre nationale Zu¬

kunft, ſondern auch unſre ſtaatliche Exiſtenz auf dem Spiele ſtand,

mich zur Ablehnung irgend eines Beiſtandes bei bedenklichen Wen¬

dungen der Dinge für berechtigt zu halten. Ebenſo wie ich 1866

nach und infolge der Einmiſchung durch Napoleons Telegramm vom

4. Juli vor dem Beiſtande einer ungariſchen Inſurrection nicht

[104/0128]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

zurückgeſchreckt war, würde ich auch den der italieniſchen Republi¬

kaner für annehmbar gehalten haben, wenn es ſich um Verhütung

der Niederlage und um Vertheidigung unſrer nationalen Selb¬

ſtändigkeit gehandelt hätte. Die Velleitäten des Königs von Italien

und des Grafen Beuſt, die durch unſre erſten glänzenden Erfolge

zurückgedrängt waren, konnten bei der Stagnation vor Paris um

ſo leichter wieder aufleben, als wir in den maßgebenden Kreiſen

eines ſo gewichtigen Factors wie England über zuverläſſige Sym¬

pathien und namentlich über ſolche, welche bereit geweſen wären,

ſich auch nur diplomatiſch zu bethätigen, keineswegs verfügen

konnten.

In Rußland gewährten die perſönlichen Gefühle Alexanders II.,

nicht nur die freundſchaftlichen für ſeinen Oheim, ſondern auch

die antifranzöſiſchen, uns eine Bürgſchaft, die freilich durch die

franzöſirende Eitelkeit des Fürſten Gortſchakow und durch ſeine

Rivalität mir gegenüber abgeſchwächt werden konnte. Es war

deshalb eine Gunſt des Schickſals, daß die Situation eine Möglich¬

keit bot, Rußland eine Gefälligkeit in Betreff des Schwarzen

Meeres zu erweiſen. Aehnlich wie die Empfindlichkeiten des ruſſi¬

ſchen Hofes, die ſich vermöge der ruſſiſchen Verwandſchaft der

Königin Marie an den Verluſt der hanöverſchen Krone knüpften,

ihr Gegengewicht in den Conceſſionen fanden, die dem olden¬

burgiſchen Verwandten der ruſſiſchen Dynaſtie auf territorialem

und finanziellem Gebiete 1866 gemacht worden waren, bot ſich

1870 die Möglichkeit, nicht nur der Dynaſtie, ſondern auch dem

ruſſiſchen Reiche einen Dienſt zu erweiſen in Betreff der politiſch

unvernünftigen und deshalb auf die Dauer unmöglichen Stipu¬

lationen, die dem ruſſiſchen Reiche die Unabhängigkeit ſeiner

Küſten des Schwarzen Meeres beſchränkten. Es waren die un¬

geſchickteſten Beſtimmungen des Pariſer Friedens; einer Nation

von hundert Millionen kann man die Ausübung der natürlichen

Rechte der Sonveränetät an ihren Küſten nicht dauernd unterſagen.

Die Servitut der Art, welche fremden Mächten auf ruſſiſchem

[105/0129]

Haltung Rußlands. Uebelwollen Gortſchakows. Seine Eitelkeit.

Gebiete eingeräumt war, war für eine große Nation eine auf die

Dauer nicht erträgliche Demüthigung. Wir hatten hierin eine

Handhabe, um unſre Beziehungen zu Rußland zu pflegen.

Fürſt Gortſchakow iſt auf die Initiative, mit der ich ihn in

dieſer Richtung ſondirte, nur widerſtrebend eingegangen. Sein

perſönliches Uebelwollen war ſtärker als ſein ruſſiſches Pflicht¬

gefühl. Er wollte keine Gefälligkeit von uns, ſondern Entfrem¬

dung gegen Deutſchland und Dank bei Frankreich. Um unſer

Anerbieten in Petersburg wirkſam zu machen, habe ich der durch¬

aus ehrlichen und ſtets wohlwollenden Mitwirkung des damaligen

ruſſiſchen Militärbevollmächtigten Grafen Kutuſoff bedurft. Ich

werde dem Fürſten Gortſchakow kaum Unrecht thun, wenn ich nach

meinen mehre Jahrzehnte dauernden Beziehungen zu ihm annehme,

daß die perſönliche Rivalität mit mir bei ihm ſchwerer wog, als

die Intereſſen Rußlands: ſeine Eitelkeit, ſeine Eiferſucht gegen mich

waren größer als ſein Patriotismus.

Bezeichnend für die krankhafte Eitelkeit Gortſchakows waren

einige gelegentliche Aeußerungen mir gegenüber, gelegentlich ſeiner

Berliner Anweſenheit im Mai 1876. Er ſprach von ſeiner Er¬

müdung und ſeiner Neigung, abzuſcheiden, und ſagte dabei:

„Je ne puis cependant me présenter devant Saint-Pierre au

ciel sans avoir présidé la moindre chose en Europe.“ Ich bat

ihn in Folge deſſen, das Präſidium in der damaligen Diplomaten¬

conferenz, die aber nur eine officiöſe war, zu übernehmen, was

er that. In der Muße des Zuhörens bei ſeiner längeren Präſidial¬

rede ſchrieb ich mit Bleiſtift: pompons, pompo, pomp, pom, po.

Mein Nachbar, Lord Odo Ruſſell, entriß mir das Blatt und be¬

hielt es.

Eine andre Aeußerung bei dieſer Gelegenheit lautete dahin:

„Si je me retire, je ne veux pas m'éteindre comme une lampe

qui file, je veux me coucher comme un astre.“ Es iſt nach

dieſen Auffaſſungen nicht verwunderlich, daß ihm ſein letztes

Auftreten im Berliner Congreß 1878 nicht genügte, zu dem der

[106/0130]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

Kaiſer nicht ihn, ſondern den Grafen Schuwalow als Haupt¬

bevollmächtigten ernannt hatte, ſo daß nur dieſer und nicht Gor¬

tſchakow über die ruſſiſche Stimme verfügte. Gortſchakow hatte

ſeine Mitgliedſchaft des Congreſſes dem Kaiſer gegenüber gewiſſer¬

maßen erzwungen, was in Folge der rückſichtsvollen Behandlung,

die im ruſſiſchen höhern Dienſte verdienten Staatsmännern gegen¬

über Tradition iſt, gelingen konnte. Er ſuchte noch auf dem

Congreſſe ſeine ruſſiſche Popularität im Sinne der Moskauer

Zeitung nach Möglichkeit frei zu halten von den Rückwirkungen

ruſſiſcher Conceſſionen, und bei Congreßſitzungen, wo ſolche in

Ausſicht ſtanden, blieb er aus, unter dem Vorwande des Unwohl¬

ſeins, trug aber Sorge, ſich am Parterrefenſter ſeiner Wohnung,

unter den Linden, als geſund ſehn zu laſſen. Er wollte ſich die

Möglichkeit wahren, vor der ruſſiſchen „Geſellſchaft“ in Zukunft

zu behaupten, daß er an den ruſſiſchen Conceſſionen unſchuldig

wäre: ein unwürdiger Egoismus auf Koſten ſeines Landes.

Außerdem blieb der ruſſiſche Abſchluß auch nach dem Congreſſe

immer noch einer der günſtigſten, wo nicht der günſtigſte, den Ru߬

land jemals nach türkiſchen Kriegen gemacht hat. Directe Erobe¬

rungen für Rußland waren die in Kleinaſien, Batum, Kars u. ſ. w.

Aber wenn Rußland wirklich es in ſeinen Intereſſen gefunden hat,

die Balkanſtaaten griechiſcher Confeſſion von der türkiſchen Herr¬

ſchaft zu emancipiren, ſo war doch auch in dieſer Richtung ein

ganz gewaltiger Fortſchritt des griechiſch-chriſtlichen Elements, und

noch mehr ein erheblicher Rückzug der Türkenherrſchaft das Er¬

gebniß. Zwiſchen den urſprünglichen, Ignatieffſchen Friedens¬

bedingungen von San Stefano und dem Congreßergebniſſe war

der Unterſchied politiſch bedeutungslos, wie die Leichtigkeit des Ab¬

falls Südbulgariens und deſſen Anſchluß an das nördliche beweiſt.

Und ſelbſt wenn er nicht ſtattgefunden hätte, blieb die ruſſiſche

Geſammterrungenſchaft nach dem Kriege auch in Folge der Con¬

greßbeſchlüſſe eine glänzendere als die frühern.

Daß Rußland Bulgarien durch Verleihung an den Neffen der

[107/0131]

Gortſchakows Haltung auf dem Berliner Congreß.

damaligen ruſſiſchen Kaiſerin, den Prinzen von Battenberg, in un¬

ſichre Hände gab, war eine Entwicklung, die auf dem Berliner

Congreſſe nicht vorausgeſehn werden konnte. Der Prinz von Batten¬

berg war der ruſſiſche Candidat für Bulgarien, und bei ſeiner nahen

Verwandſchaft mit dem Kaiſerhauſe war auch anzunehmen, daß

dieſe Beziehungen dauerhaft und haltbar ſein würden. Der Kaiſer

Alexander III. erklärte ſich den Abfall ſeines Vetters einfach mit

deſſen polniſcher Abſtammung: „Polskaja mat“ war ſein erſter

Ausruf bei der Enttäuſchung über das Verhalten ſeines Vetters.

Die ruſſiſche Entrüſtung über das Ergebniß des Berliner

Congreſſes war eine der Erſcheinungen, die bei einer dem Volk ſo

wenig verſtändlichen Preſſe, wie es die ruſſiſche in auswärtigen

Beziehungen iſt, und bei dem Zwange, der auf ſie mit Leichtigkeit

geübt wird, ſich im Widerſpruche mit aller Wahrheit und Vernunft

ermöglichen ließ. Die ganzen Gortſchakowſchen Einflüſſe, die er,

angeſpornt durch Aerger und Neid über ſeinen frühern Mitarbeiter,

den deutſchen Reichskanzler, in Rußland übte, unterſtützt von fran¬

zöſiſchen Geſinnungsgenoſſen und ihren franzöſiſchen Verſchwäge¬

rungen (Wannowſki, Obrutſchew) waren ſtark genug, um in der

Preſſe, die Moskauer Wedomoſti an der Spitze, einen Schein von

Entrüſtung herzuſtellen über die Schädigung, welche Rußland auf

dem Berliner Congreſſe durch deutſche Untreue erlitten hätte. Nun

iſt auf dem Berliner Congreſſe kein ruſſiſcher Wunſch ausgeſprochen

worden, den Deutſchland nicht zur Annahme gebracht hätte, unter

Umſtänden durch energiſches Auftreten bei dem engliſchen Premier¬

miniſter, obſchon letztrer krank und bettlägerig war. Anſtatt hier¬

für dankbar zu ſein, fand man es der ruſſiſchen Politik entſprechend,

unter Führung des lebensmüden, aber immer noch krankhaft eitlen

Fürſten Gortſchakow und der Moskauer Blätter, an der weitern

Entfremdung zwiſchen Rußland und Deutſchland fortzuarbeiten, für

die weder im Intereſſe des einen noch des andern dieſer großen

Nachbarreiche das mindeſte Bedürfniß vorliegt. Wir beneiden uns

nichts und haben nichts von einander zu gewinnen, was wir brauchen

[108/0132]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

könnten. Unſre gegenſeitigen Beziehungen ſind nur gefährdet durch

perſönliche Stimmungen, wie die von Gortſchakow waren, und wie

es die von hochſtehenden ruſſiſchen Militärs bei ihren franzöſiſchen

Verſchwägerungen ſind, und durch monarchiſche Verſtimmungen,

wie ſie ſchon vor dem ſiebenjährigen Kriege durch ſarkaſtiſche Be¬

merkungen Friedrichs des Großen über die ruſſiſche Kaiſerin ent¬

ſtanden. Deshalb iſt die perſönliche Beziehung der Monarchen

beider Länder zu einander von hoher Bedeutung für den Frieden

der beiden Nachbarreiche, für deſſen Störung keine Intereſſen¬

divergenz, ſondern nur perſönliche Empfindlichkeiten maßgebender

Staatsmänner einen Anlaß bieten konnten.

Von Gortſchakow ſagten ſeine Untergebnen im Miniſterium:

„Il se mire dans son encrier,“ wie analog Bettina über ihren

Schwager, den berühmten Savigny, äußerte: „Er kann keine

Goſſen überſchreiten, ohne ſich darin zu ſpiegeln,“ Ein großer

Theil der Gortſchakowſchen Depeſchen und namentlich die ſach¬

lichſten ſind nicht von ihm, ſondern von Jomini, einem ſehr ge¬

ſchickten Redacteur und Sohn eines ſchweizer Generals, den Kaiſer

Alexander für ruſſiſchen Dienſt anwarb. Wenn Gortſchakow dic¬

tirte, ſo war mehr rhetoriſcher Schwung in den Depeſchen, aber

praktiſcher waren die von Jomini. Wenn er dictirte, ſo pflegte er

eine beſtimmte Poſe anzunehmen, die er einleitete mit dem Worte:

„écrivez!“, und wenn der Schreiber dann ſeine Stellung richtig

auffaßte, ſo mußte er bei beſonders wohlgerundeten Phraſen einen

bewundernden Aufblick auf den Chef richten, der dafür ſehr em¬

pfänglich war. Gortſchakow beherrſchte die ruſſiſche, die deutſche

und die franzöſiſche Sprache mit gleicher Vollkommenheit.

Graf Kutuſoff war ein ehrlicher Soldat ohne perſönliche

Eitelkeit. Er war urſprünglich nach der Bedeutung ſeines Namens

in hervorragender Stellung in Petersburg als Offizier der Garde-

Kavallerie, hatte aber nicht das Wohlwollen des Kaiſers Nico¬

laus; und als dieſer, wie mir in Petersburg erzählt worden iſt,

vor der Front ihm zurief: „Kutuſoff, du kannſt nicht reiten, ich

[109/0133]

Graf Kutuſoff. Stagnation der Belagerung von Paris.

werde dich zur Infanterie verſetzen,“ nahm er ſeinen Abſchied

und trat erſt im Krimkriege in geringer Stellung wieder ein,

blieb unter Alexander II. in der Armee und wurde endlich Militär¬

bevollmächtigter in Berlin, wo ſeine ehrliche Bonhomie ihm

viele Freunde erwarb. Er begleitete uns als ruſſiſcher Flügel¬

adjutant des preußiſchen Königs im franzöſiſchen Kriege, und es

war vielleicht ein Effect der ungerechten Beurtheilung ſeiner Reit¬

fähigkeit, die ihm vom Kaiſer Nicolaus zu Theil geworden war,

daß er alle Marſchetappen, auf denen der König und ſein Gefolge

gefahren wurden, nicht ſelten 50 bis 70 Werſt im Tage, zu Pferde

zurücklegte. Für ſeine Bonhomie und die Tonart auf den Jagden

in Wuſterhauſen iſt es bezeichnend, daß er gelegentlich vor dem

Könige erzählte, ſeine Familie ſtamme aus Preußiſch-Litthauen und

ſei unter dem Namen Kutu nach Rußland gekommen, worauf Graf

Fritz Eulenburg in ſeiner witzigen Art bemerkte: „Den ſchließlichen

,Soff‘ haben Sie alſo erſt in Rußland ſich angeeignet“ — all¬

gemeine Heiterkeit, in welche Kutuſoff herzlich einſtimmte.

Neben der Gewiſſenhaftigkeit der Meldungen dieſes alten Sol¬

daten bot die regelmäßige eigenhändige Correſpondenz des Gro߬

herzogs von Sachſen mit dem Kaiſer Alexander einen Weg,

unverfälſchte Mittheilungen direct an dieſen gelangen zu laſſen.

Der Großherzog, der ſtets wohlwollend für mich war und geblieben

iſt, war in Petersburg ein Anwalt der guten Beziehungen zwiſchen

beiden Cabineten.

Die Möglichkeit einer europäiſchen Intervention war für mich

eine Urſache der Beunruhigung und der Ungeduld angeſichts der

Stagnation der Belagerung. Kriegeriſche Wechſelfälle ſind in

Situationen, wie die unſrige vor Paris war, bei der beſten

Leitung und der größten Tapferkeit nicht ausgeſchloſſen; ſie können

durch Zufälligkeiten aller Art herbeigeführt werden, und für ſolche

bot unſre Stellung zwiſchen der numeriſch reichlich ſtarken be¬

lagerten Armee und den nach Zahl und Oertlichkeit ſchwer zu

controllirenden Streitkräften der Provinzen ein reiches Feld, auch

[110/0134]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

wenn unſre Truppen vor Paris, im Weſten, Norden und Oſten

Frankreichs vor Seuchen bewahrt blieben. Die Frage, wie der

Geſundheitszuſtand des deutſchen Heeres ſich in den Beſchwerden

eines ſo ungewöhnlich harten Winters bewähren werde, entzog ſich

jeder Berechnung. Es war unter dieſen Umſtänden keine über¬

triebene Aengſtlichkeit, wenn ich in ſchlafloſen Nächten von der Sorge

gequält wurde, daß unſre politiſchen Intereſſen nach ſo großen

Erfolgen durch das zögernde Hinhalten des weitern Vorgehns gegen

Paris ſchwer geſchädigt werden könnten. Eine weltgeſchichtliche Ent¬

ſcheidung in dem Jahrhunderte alten Kampfe zwiſchen den beiden

Nachbarvölkern ſtand auf dem Spiele und in Gefahr, durch per¬

ſönliche und vorwiegend weibliche Einflüſſe ohne hiſtoriſche Be¬

rechtigung gefälſcht zu werden, durch Einflüſſe, die ihre Wirkſam¬

keit nicht politiſchen Erwägungen verdankten, ſondern Gemüths¬

eindrücken, welche die Redensarten von Humanität und Civiliſation,

die aus England bei uns importirt werden, auf deutſche Gemüther

noch immer haben; war uns doch während des Krimkrieges von

England aus nicht ohne Wirkung auf die Stimmung gepredigt

worden, daß wir „zur Rettung der Civiliſation“ die Waffen für

die Türken ergreifen müßten. Die entſcheidenden Fragen konnten,

wenn man wollte, als ausſchließlich militäriſche behandelt werden,

und man konnte das als Vorwand nehmen, um mir das Recht

der Betheiligung an der Entſcheidung zu verſagen; ſie waren aber

doch ſolche, von deren Löſung die diplomatiſche Möglichkeit in

letzter Inſtanz abhing, und wenn der Abſchluß des franzöſiſchen

Krieges ein weniger günſtiger für Deutſchland geweſen wäre, ſo

blieb auch dieſer gewaltige Krieg mit ſeinen Siegen und ſeiner

Begeiſterung ohne die Wirkung, die er für unſre nationale Eini¬

gung haben konnte. Es war mir niemals zweifelhaft, daß der

Herſtellung des Deutſchen Reiches der Sieg über Frankreich vor¬

hergehn mußte, und wenn es uns nicht gelang, ihn diesmal zum

vollen Abſchluß zu bringen, ſo waren weitre Kriege ohne vor¬

gängige Sicherſtellung unſrer vollen Einigung in Sicht.

[111/0135]

Sorgen und Erwägungen. Bedrohte Stellung vor Paris.

III.

Es iſt nicht anzunehmen, daß die übrigen Generale von rein

militäriſchem Standpunkte andrer Meinung als Roon ſein

konnten; unſre Stellung zwiſchen der uns an Zahl überlegnen ein¬

geſchloſſenen Armee und den franzöſiſchen Streitkräften in den Pro¬

vinzen war ſtrategiſch eine bedrohte und ihr Feſthalten nicht er¬

folgverſprechend, wenn man ſie nicht als Baſis angriffsweiſen Fort¬

ſchreitens benutzte. Das Bedürfniß, ihr bald ein Ende zu machen,

war in militäriſchen Kreiſen in Verſailles ebenſo lebhaft wie die

Beunruhigung in der Heimath über die Stagnation. Man brauchte

noch garnicht mit der Möglichkeit von Krankheiten und unvor¬

hergeſehnen Rückſchlägen infolge von Unglück oder Ungeſchick zu

rechnen, um von ſelbſt auf den Gedankengang zu gerathen, der

mich beunruhigte, und ſich zu fragen, ob das Anſehn und der

politiſche Eindruck, die das Ergebniß unſrer erſten raſchen und

großen Siege an den neutralen Höfen geweſen waren, nicht vor

der ſcheinbaren Thatloſigkeit und Schwäche unſrer Haltung vor

Paris verblaſſen würden und ob die Begeiſterung anhalten würde,

in deren Feuer ſich eine haltbare Einheit ſchmieden ließ.

Die Kämpfe in den Provinzen bei Orleans und Dijon blieben

Dank der heldenmüthigen Tapferkeit der Truppen, wie ſie in dem

Maße nicht immer als Unterlage ſtrategiſcher Berechnung voraus¬

geſetzt werden kann, für uns ſiegreich. In dem Gedanken, daß

der geiſtige Schwung, mit dem unſre Minderheiten dort trotz

Froſt, Schnee und Mangel an Lebensmitteln und Kriegsmaterial

die numeriſch ſtärkern franzöſiſchen Maſſen überwunden hatten,

durch irgend welche Zufälligkeiten gelähmt werden könnte, mußte

jeder Heerführer, der nicht ausſchließlich mit optimiſtiſchen Con¬

jecturen rechnete, zu der Ueberzeugung kommen, daß wir beſtrebt

ſein müßten, durch Förderung unſres Angriffs auf Paris unſrer

ungewiſſen Situation ſo bald als möglich ein Ende zu machen.

[112/0136]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

Es fehlte uns aber, um den Angriff zu activiren, an dem

Befehl und an ſchwerem Belagerungsgeſchütz, wie im Juli 1866

vor den Floridsdorfer Linien. Die Beförderung deſſelben hatte

mit den Fortſchritten unſres Heeres nicht Schritt gehalten: um

ſie zu bewirken, verſagten unſre Eiſenbahnmittel an den Stellen,

wo die Bahnen unterbrochen waren oder wie bei Lagny ganz auf¬

hörten.

Die ſchleunige Anfuhr von ſchwerem Geſchütz und von der

Maſſe ſchwerer Munition, ohne welche die Beſchießung nicht begonnen

werden durfte, hätte durch den vorhandenen Eiſenbahnpark jedenfalls

ſchneller, als der Fall war, bewirkt werden können. Es waren aber,

wie Beamte mir meldeten, circa 1500 Axen mit Lebensmitteln für

die Pariſer beladen, um ihnen ſchnell zu helfen, wenn ſie ſich er¬

geben würden, und dieſe 1500 Axen waren deshalb für Munitions¬

transport nicht verfügbar. Der auf ihnen lagernde Speck wurde

ſpäter von den Pariſern abgelehnt und nach meinem Abgange aus

Frankreich, infolge der durch General v. Stoſch in Ferrières bei

Sr. Majeſtät veranlaßten Aenderung unſres Staatsvertrages über

die Verpflegung deutſcher Truppen, dieſen überwieſen und mit

Widerſtreben verbraucht wegen zu langer Lagerung.

Da die Beſchießung nicht begonnen werden konnte, bevor das

für wirkſame Durchführung ohne Unterbrechung erforderliche Quan¬

tum Munition zur Hand war, ſo wurde in Ermangelung von Bahn-

Material nun eine erhebliche Anſpannung von Pferden und für dieſe

ein Aufwand von Millionen erforderlich. Mir ſind die Zweifel

nicht verſtändlich, die darüber obwalten konnten, ob dieſe Millionen

verfügbar wären, ſobald das Bedürfniß für kriegeriſche Zwecke vor¬

lag. Es erſchien mir als ein erheblicher Fortſchritt, als Roon, ſchon

nervös aufgerieben und erſchöpft, mir eines Tages mittheilte, daß

man jetzt ihm perſönlich die Verantwortlichkeit mit der Frage zu¬

geſchoben habe, ob er bereit ſei, die Geſchütze in abſehbarer Zeit

heranzuſchaffen; er ſei in Zweifel in Betreff der Möglichkeit. Ich

bat ihn, die ihm geſtellte Aufgabe ſofort zu übernehmen, und

[113/0137]

Mangel an ſchwerem Geſchütz. Conſtitutionelle u. humanitäre Bedenken.

erklärte mich bereit, jede dazu erforderliche Summe auf die Bundes¬

kaſſe anzuweiſen, wenn er die vielleicht 4000 Pferde, die er als

ungefähren Bedarf angab, ankaufen und zur Beförderung der Ge¬

ſchütze verwenden wolle. Er gab die entſprechenden Aufträge, und

die in unſerm Lager lange mit ſchmerzlicher Ungeduld erwartete und

mit Jubel begrüßte Beſchießung des Mont Avron war das Ergebniß

dieſer weſentlich Roon zu dankenden Wendung. Eine bereitwillige

Unterſtützung fand er für das Heranſchaffen und die Verwendung

der Geſchütze bei dem Prinzen Krafft Hohenlohe.

Wenn man ſich fragt, was andre Generale beſtimmt

haben kann, die Anſicht Roons zu bekämpfen, ſo wird es ſchwer,

ſachliche Gründe für die Verzögerung der gegen die Jahreswende

ergriffenen Maßregeln aufzufinden. Von dem militäriſchen wie

von dem politiſchen Standpunkte erſcheint das zögernde Vorgehn

widerſinnig und gefährlich, und daß die Gründe nicht in der Un¬

entſchloſſenheit unſrer Heeresleitung zu ſuchen waren, darf man

aus der raſchen und entſchloſſenen Führung des Krieges bis vor

Paris ſchließen. Die Vorſtellung, daß Paris, obwohl es befeſtigt

und das ſtärkſte Bollwerk der Gegner war, nicht wie jede andre

Feſtung angegriffen werden dürfe, war aus England auf dem Um¬

wege über Berlin in unſer Lager gekommen, mit der Redensart

von dem „Mekka der Civiliſation“ und andern in dem cant der

öffentlichen Meinung in England üblichen und wirkſamen Wen¬

dungen der Humanitätsgefühle, deren Bethätigung England von

allen andern Mächten erwartet, aber ſeinen eignen Gegnern nicht

immer zu Gute kommen läßt. Von London wurde bei unſern ma߬

gebenden Kreiſen der Gedanke vertreten, daß die Uebergabe von Paris

nicht durch Geſchütze, ſondern nur durch Hunger herbeigeführt werden

dürfe. Ob der letztre Weg der menſchlichere war, darüber kann

man ſtreiten, auch darüber, ob die Greuel der Commune zum Aus¬

bruch gekommen ſein würden, wenn nicht die Hungerzeit das Frei¬

werden der anarchiſchen Wildheit vorbereitet hätte. Es mag dahin¬

geſtellt bleiben, ob bei der engliſchen Einwirkung zu Gunſten der

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II 8

[114/0138]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

Humanität des Aushungerns nur Empfindſamkeit und nicht auch

politiſche Berechnung im Spiele war. England hatte kein

praktiſches Bedürfniß, weder uns noch Frankreich vor Schädigung

und Schwächung durch den Krieg zu behüten, weder wirth¬

ſchaftlich noch politiſch. Jedenfalls vermehrte die Verſchleppung

der Ueberwältigung von Paris und des Abſchluſſes der kriegeriſchen

Vorgänge für uns die Gefahr, daß die Früchte unſrer Siege uns

verkümmert werden könnten. Vertrauliche Nachrichten aus Berlin

ließen erkennen, daß in den ſachkundigen Kreiſen der Stillſtand

unſrer Thätigkeit Beſorgniß und Unzufriedenheit erregte, und

daß man der Königin Auguſta einen brieflichen Einfluß auf

ihren hohen Gemal im Sinne der Humanität zuſchrieb. Eine An¬

deutung, die ich dem Könige über Nachrichten derart machte, hatte

einen lebhaften Zornesausbruch zur Folge, nicht in dem Sinne,

daß die Gerüchte unbegründet ſeien, ſondern in einer ſcharfen

Bedrohung jeder Aeußerung einer derartigen Verſtimmung gegen

die Königin.

Die Initiative zu irgend einer Wendung in der Kriegführung

ging in der Regel nicht von dem Könige aus, ſondern von

dem Generalſtabe der Armee oder des Höchſtcommandirenden am

Orte, des Kronprinzen. Daß dieſe Kreiſe engliſchen Auffaſſungen,

wenn ſie ſich in befreundeter Form geltend machten, zugänglich

waren, war menſchlich natürlich: die Kronprinzeſſin, die verſtorbene

Frau Moltkes, die Frau des Generalſtabschefs, ſpätern Feldmar¬

ſchalls, Grafen Blumenthal, und die Frau des demnächſt ma߬

gebenden Generalſtabsoffiziers von Gottberg waren ſämmtlich Eng¬

länderinnen.

Die Gründe der Verzögerung des Angriffs auf Paris, über

die die Wiſſenden Schweigen beobachtet hatten, ſind durch die

in der „Deutſchen Revue“ von 1891 erfolgten Veröffentlichungen

aus den Papieren des Grafen Roon 1) Gegenſtand publiciſtiſcher Er¬

1) Ausgabe in Buchform III 4 243 ff.

[115/0139]

Weibliche Einwirkungen. Werth des Kaiſertitels.

örterung geworden. Alle gegen die Darſtellung Roons gerichteten

Ausführungen umgehn die Berliner Einflüſſe und die engliſchen,

auch die Thatſache, daß 800, nach Andern 1500 Axen mit

Lebensmitteln für die Pariſer wochenlang feſtlagen; und alle,

mit Ausnahme eines anonymen Zeitungsartikels, umgehn ebenſo

die Frage, ob die Heeresleitung rechtzeitig für die Herbeiſchaffung

von Belagerungsgeſchütz Sorge getragen habe. Ich habe keinen

Anlaß gefunden, an meinen vorſtehenden, vor dem Erſcheinen der

betreffenden Nummern der „Deutſchen Revue“ gemachten Aufzeich¬

nungen irgend etwas zu ändern.

IV.

Die Annahme des Kaiſertitels durch den König bei Erweiterung

des Norddeutſchen Bundes war ein politiſches Bedürfniß, weil er

in den Erinnerungen aus Zeiten, da er rechtlich mehr, factiſch

weniger als heut zu bedeuten hatte, ein werbendes Element für

Einheit und Centraliſation bildete; und ich war überzeugt, daß der

feſtigende Druck auf unſre Reichsinſtitutionen um ſo nachhaltiger

ſein müßte, je mehr der preußiſche Träger deſſelben das gefähr¬

liche, aber der deutſchen Vorgeſchichte innelebende Beſtreben ver¬

miede, den andern Dynaſtien die Ueberlegenheit der eignen

unter die Augen zu rücken. König Wilhelm I. war nicht frei

von der Neigung dazu, und ſein Widerſtreben gegen den Titel

war nicht ohne Zuſammenhang mit dem Bedürfniſſe, grade

das überlegne Anſehn der angeſtammten preußiſchen Krone mehr

als das des Kaiſertitels zur Anerkennung zu bringen. Die

Kaiſerkrone erſchien ihm im Lichte eines übertragenen modernen

Amtes, deſſen Autorität von Friedrich dem Großen bekämpft

war, den Großen Kurfürſten bedrückt hatte. Bei den erſten

Erörterungen ſagte er: „Was ſoll mir der Charakter-Major?“

worauf ich u. A. erwiderte: „Ew. Majeſtät wollen doch nicht ewig

[116/0140]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

ein Neutrum bleiben, ‚das Präſidium‘? In dem Ausdrucke ‚Präſi¬

dium‘ liegt eine Abſtraction, in dem Worte ‚Kaiſer‘ eine große

Schwungkraft“ 1).

Auch bei dem Kronprinzen habe ich für mein Streben, den

Kaiſertitel herzuſtellen, welches nicht einer preußiſch-dynaſtiſchen

Eitelkeit, ſondern allein dem Glauben an ſeine Nützlichkeit für

Förderung der nationalen Einheit entſprang, im Anfange der gün¬

ſtigen Wendung des Krieges nicht immer Anklang gefunden. Seine

Königliche Hoheit hatte von irgend einem der politiſchen Phantaſten,

denen er ſein Ohr lieh, den Gedanken aufgenommen, die Erbſchaft

des von Karl dem Großen wiedererweckten „römiſchen“ Kaiſer¬

thums ſei das Unglück Deutſchlands geweſen, ein ausländiſcher, für

die Nation ungeſunder Gedanke. So nachweisbar letztres auch

geſchichtlich ſein mag, ſo unpraktiſch war die Bürgſchaft gegen

analoge Gefahren, welche des Prinzen Rathgeber in dem Titel

„König“ der Deutſchen ſahen. Es lag heut zu Tage keine Gefahr

vor, daß der Titel, welcher allein in der Erinnerung des Volkes

lebt, dazu beitragen würde, die Kräfte Deutſchlands den eignen

Intereſſen zu entfremden und dem transalpinen Ehrgeize bis nach

Apulien hin dienſtbar zu machen. Das aus einer irrigen Vor¬

ſtellung entſpringende Verlangen, das der Prinz gegen mich aus¬

ſprach, war nach meinem Eindrucke ein völlig ernſtes und ge¬

ſchäftliches, deſſen Inangriffnahme durch mich gewünſcht wurde.

Mein Einwand, anknüpfend an die Coexiſtenz der Könige von

Bayern, Sachſen, Würtemberg mit dem intendirten Könige in

Germanien oder Könige der Deutſchen führte zu meiner Ueber¬

raſchung auf die weitre Conſequenz, daß die genannten Dynaſtien

aufhören müßten, den Königstitel zu führen, um wieder den

herzoglichen anzunehmen. Ich ſprach die Ueberzeugung aus, daß

ſie ſich dazu gutwillig nicht verſtehn würden. Wollte man da¬

gegen Gewalt anwenden, ſo würde dergleichen Jahrhunderte hin¬

1) S. o. S. 57.

[117/0141]

Bedenken des Kronprinzen. Graf Holnſtein.

durch nicht vergeſſen und eine Saat von Mißtrauen und Haß

ausſtreuen.

In dem Geffckenſchen Tagebuche findet ſich die Andeutung,

daß wir unſre Stärke nicht gekannt hätten; die Anwendung dieſer

Stärke in damaliger Gegenwart wäre die Schwäche der Zukunft

Deutſchlands geworden. Das Tagebuch iſt wohl nicht damals auf

den Tag geſchrieben, ſondern ſpäter mit Wendungen vervollſtändigt

worden, durch die höfiſche Streber den Inhalt glaublich zu machen

ſuchten. Ich habe meiner Ueberzeugung, daß es gefälſcht ſei, und

meiner Entrüſtung über die Intriganten und Ohrenbläſer, die

ſich einer argloſen und edlen Natur wie Kaiſer Friedrich auf¬

drängten, in dem veröffentlichten Immediatberichte 1) Ausdruck ge¬

geben. Als ich dieſen ſchrieb, hatte ich keine Ahnung davon, daß

der Fälſcher in der Richtung von Geffcken, dem hanſeatiſchen Welfen,

zu ſuchen ſei, den ſeine Preußenfeindſchaft ſeit Jahren nicht ge¬

hindert hatte, ſich um die Gunſt des preußiſchen Kronprinzen zu

bewerben, um dieſen, ſein Haus und ſeinen Staat mit mehr Erfolg

ſchädigen, ſelbſt aber eine Rolle ſpielen zu können. Geffcken gehörte

zu den Strebern, die ſeit 1866 verbittert waren, weil ſie ſich und

ihre Bedeutung verkannt fanden.

Außer den bairiſchen Unterhändlern befand ſich in Verſailles

als beſondrer Vertrauensmann des Königs Ludwig der ihm als

Oberſtſtallmeiſter perſönlich naheſtehende Graf Holnſtein. Derſelbe

übernahm auf meine Bitte in dem Augenblick, wo die Kaiſerfrage

kritiſch war und an dem Schweigen Baierns und der Abneigung

König Wilhelms zu ſcheitern drohte, die Ueberbringung eines

Schreibens von mir an ſeinen Herrn, das ich, um die Beförde¬

rung nicht zu verzögern, ſofort an einem abgedeckten Eßtiſche auf

durchſchlagendem Papiere und mit widerſtrebender Tinte ſchrieb 2).

Ich entwickelte darin den Gedanken, daß die bairiſche Krone die

1) Vom 23. Sept. 1888.

2) S. Bd. I 353.

[118/0142]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

Präſidialrechte, für die die bairiſche Zuſtimmung geſchäftlich be¬

reits vorlag, dem Könige von Preußen ohne Verſtimmung des

bairiſchen Selbſtgefühls nicht werde einräumen können; der König

von Preußen ſei ein Nachbar des Königs von Baiern, und bei

der Verſchiedenheit der Stammesbeziehungen werde die Kritik über

die Conceſſionen, welche Baiern mache und gemacht habe, ſchärfer

und für die Rivalitäten der deutſchen Stämme empfindlicher werden.

Preußiſche Autorität innerhalb der Grenzen Baierns ausgeübt,

ſei neu und werde die bairiſche Empfindung verletzen, ein deut¬

ſcher Kaiſer aber ſei nicht der im Stamme verſchiedene Nachbar

Baierns, ſondern der Landsmann; meines Erachtens könne der

König Ludwig die von ihm der Autorität des Präſidiums bereits

gemachten Conceſſionen ſchicklicher Weiſe nur einem deutſchen Kaiſer,

nicht einem Könige von Preußen machen. Dieſer Hauptlinie meiner

Argumentation hatte ich noch perſönliche Argumente hinzugefügt,

in Erinnerung an das beſondre Wohlwollen, welches die bairiſche

Dynaſtie zu der Zeit, wo ſie in der Mark Brandenburg regirte

(Kaiſer Ludwig), während mehr als einer Generation meinen Vor¬

fahren bethätigt habe. Ich hielt dieſes argumentum ad hominem

einem Monarchen von der Richtung des Königs gegenüber für nütz¬

lich, glaube aber, daß die politiſche und dynaſtiſche Würdigung des

Unterſchieds zwiſchen kaiſerlich deutſchen und königlich preußiſchen

Präſidialrechten entſcheidend in's Gewicht gefallen iſt. Der Graf

trat ſeine Reiſe nach Hohenſchwangau binnen zwei Stunden, am

27. November, an und legte ſie unter großen Schwierigkeiten und

mit häufiger Unterbrechung in vier Tagen zurück. Der König war

wegen eines Zahnleidens bettlägrig, lehnte zuerſt ab, ihn zu em¬

pfangen, nahm ihn aber an, nachdem er vernommen hatte, daß

der Graf in meinem Auftrage und mit einem Briefe von mir

komme. Er hat darauf im Bette mein Schreiben in Gegenwart

des Grafen zweimal ſorgfältig durchgeleſen, Schreibzeug gefordert

und das von mir erbetene und im Concept entworfene Schreiben

an den König Wilhelm zu Papier gebracht. Darin war das

[119/0143]

Ludwigs II. Brief. Formulirung des Kaiſertitels.

Hauptargument für den Kaiſertitel mit der coercitiven Andeutung

wiedergegeben, daß Baiern die zugeſagten, aber noch nicht rati¬

ficirten Conceſſionen nur dem deutſchen Kaiſer, aber nicht dem

Könige von Preußen machen könne. Ich hatte dieſe Wendung aus¬

drücklich gewählt, um einen Druck auf die Abneigung meines

hohen Herrn gegen den Kaiſertitel auszuüben. Am ſiebenten Tage

nach ſeiner Abreiſe, am 3. December, war Graf Holnſtein mit

dieſem Schreiben des Königs wieder in Verſailles; es wurde noch

an demſelben Tage durch den Prinzen Luitpold, jetzigen Regenten,

unſerm Könige officiell überreicht und bildete ein gewichtiges Mo¬

ment für das Gelingen der ſchwierigen und vielfach in ihren

Ausſichten ſchwankenden Arbeiten, die durch das Widerſtreben des

Königs Wilhelm und durch die bis dahin mangelnde Feſtſtellung

der bairiſchen Erwägungen veranlaßt waren. Der Graf Holn¬

ſtein hat ſich durch dieſe in einer ſchlafloſen Woche zurückgelegte

doppelte Reiſe und durch die geſchickte Durchführung ſeines Auf¬

trags in Hohenſchwangau ein erhebliches Verdienſt um den Ab¬

ſchluß unſrer nationalen Einigung durch Beſeitigung der äußern

Hinderniſſe der Kaiſerfrage erworben.

Eine neue Schwierigkeit erhob Se. Majeſtät bei der Formu¬

lirung des Kaiſertitels, indem er, wenn ſchon Kaiſer, Kaiſer von

Deutſchland heißen wollte. In dieſer Phaſe haben der Kronprinz,

der ſeinen Gedanken an einen König der Deutſchen längſt fallen

gelaſſen hatte, und der Großherzog von Baden mich, jeder in ſeiner

Weiſe, unterſtützt, wenn auch keiner von Beiden der zornigen Ab¬

neigung des alten Herrn gegen den „Charakter-Major“ 1) offen

widerſprach. Der Kronprinz unterſtützte mich durch paſſive Aſſiſtenz

in Gegenwart ſeines Herrn Vaters und durch gelegentliche kurze

Aeußerungen ſeiner Anſicht, die aber meine Gefechtſpoſition dem

Könige gegenüber nicht ſtärkten, ſondern eher eine verſchärfte Reiz¬

barkeit des hohen Herrn zur Folge hatten. Denn der König war noch

1) S. o. S. 57. 115 f.

[120/0144]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

leichter geneigt, dem Miniſter, als ſeinem Herrn Sohne Conceſſionen

zu machen, in gewiſſenhafter Erinnerung an Verfaſſungseid und

Miniſterverantwortlichkeit. Meinungsverſchiedenheiten mit dem Kron¬

prinzen faßte er von dem Standpunkte des pater familias auf.

In der Schlußberathung am 17. Januar 1871 lehnte er die

Bezeichnung Deutſcher Kaiſer ab und erklärte, er wolle Kaiſer von

Deutſchland oder garnicht Kaiſer ſein. Ich hob hervor, wie die

adjectiviſche Form Deutſcher Kaiſer und die genitiviſche Kaiſer von

Deutſchland ſprachlich und zeitlich verſchieden ſeien. Man hätte

Römiſcher Kaiſer, nicht Kaiſer von Rom geſagt; der Zar nenne

ſich nicht Kaiſer von Rußland, ſondern Ruſſiſcher, auch „geſammt¬

ruſſiſcher“ (wserossiski) Kaiſer. Das Letztre beſtritt der König mit

Schärfe, ſich darauf berufend, daß die Rapporte ſeines ruſſiſchen

Regiments Kaluga ſtets „pruskomu“ adreſſirt ſeien, was er irr¬

thümlich überſetzte. Meiner Verſicherung, daß die Form der Dativ

des Adjectivums ſei, ſchenkte er keinen Glauben und hat ſich erſt

nachher von ſeiner gewohnten Autorität für ruſſiſche Sprache, dem

Hofrath Schneider, überzeugen laſſen. Ich machte ferner geltend,

daß unter Friedrich dem Großen und Friedrich Wilhelm II. auf

den Thalern Borussorum, nicht Borussiae rex erſcheine, daß der

Titel Kaiſer von Deutſchland einen landesherrlichen Anſpruch auf

die nichtpreußiſchen Gebiete involvire, den die Fürſten zu bewilligen

nicht gemeint wären; daß in dem Schreiben des Königs von Baiern

in Anregung gebracht ſei, daß „die Ausübung der Präſidialrechte

mit Führung des Titels eines Deutſchen Kaiſers verbunden werde“;

endlich daß derſelbe Titel auf Vorſchlag des Bundesrathes in die

neue Faſſung des Artikel 11 der Verfaſſung aufgenommen ſei.

Die Erörterung ging über auf den Rang zwiſchen Kaiſern

und Königen, zwiſchen Erzherzogen, Großfürſten und preußiſchen

Prinzen. Meine Darlegung, daß den Kaiſern im Prinzip ein

Vorrang vor Königen nicht eingeräumt werde, fand keinen Glauben,

obwohl ich mich darauf berufen konnte, daß Friedrich Wilhelm I.

bei einer Zuſammenkunft mit Karl VI., der doch dem Kurfürſten

[121/0145]

Kaiſer von Deutſchland oder Deutſcher Kaiſer?

von Brandenburg gegenüber die Stellung des Lehnsherrn hatte,

als König von Preußen die Gleichheit beanſpruchte und durchſetzte,

indem man einen Pavillon erbauen ließ, in den die beiden Mon¬

archen von den entgegengeſetzten Seiten gleichzeitig eintraten, um

einander in der Mitte zu begegnen.

Die Zuſtimmung, die der Kronprinz zu meiner Ausführung

zu erkennen gab, reizte den alten Herrn noch mehr, ſo daß er auf

den Tiſch ſchlagend ſagte: „Und wenn es ſo geweſen wäre, ſo

befehle ich jetzt, wie es ſein ſoll. Die Erzherzoge und Großfürſten

haben ſtets den Vorrang vor den preußiſchen Prinzen gehabt, und

ſo ſoll es ferner ſein.“ Damit ſtand er auf, trat an das Fenſter, den

um den Tiſch Sitzenden den Rücken zuwendend. Die Erörterung der

Titelfrage kam zu keinem klaren Abſchluß; indeſſen konnte man ſich

doch für berechtigt halten, die Ceremonie der Kaiſerproclamation anzu¬

beraumen, aber der König hatte befohlen, daß nicht von dem Deutſchen

Kaiſer, ſondern von dem Kaiſer von Deutſchland dabei die Rede ſei.

Dieſe Sachlage veranlaßte mich, am folgenden Morgen, vor

der Feierlichkeit im Spiegelſaale, den Großherzog von Baden auf¬

zuſuchen, als den erſten der anweſenden Fürſten, der vorausſichtlich

nach Verleſung der Proclamation das Wort nehmen würde, und

ihn zu fragen, wie er den neuen Kaiſer zu bezeichnen denke. Der

Großherzog antwortete: „Als Kaiſer von Deutſchland, nach Befehl

Sr. Majeſtät.“ Unter den Argumenten, die ich dem Großherzoge

dafür geltend machte, daß das abſchließende Hoch auf den Kaiſer

nicht in dieſer Form ausgebracht werden könne, war das durch¬

ſchlagendſte meine Berufung auf die Thatſache, daß der künftige

Text der Reichsverfaſſung bereits durch einen Beſchluß des Reichs¬

tags in Berlin präjudicirt ſei. Die in ſeinen conſtitutionellen Ge¬

dankenkreis fallende Hinweiſung auf den Reichstagsbeſchluß bewog

ihn, den König noch einmal aufzuſuchen. Die Unterredung der

beiden Herrn blieb mir unbekannt, und ich war bei Verleſung der

Proclamation in Spannung. Der Großherzog wich dadurch aus,

daß er ein Hoch weder auf den Deutſchen Kaiſer, noch auf den

[122/0146]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.

Kaiſer von Deutſchland, ſondern auf den Kaiſer Wilhelm aus¬

brachte. Se. Majeſtät hatte mir dieſen Verlauf ſo übel genommen,

daß er beim Herabtreten von dem erhöhten Stande der Fürſten mich,

der ich allein auf dem freien Platze davor ſtand, ignorirte, an mir

vorüberging, um den hinter mir ſtehenden Generalen die Hand zu

bieten, und in dieſer Haltung mehre Tage verharrte, bis allmälig

die gegenſeitigen Beziehungen wieder in das alte Geleiſe kamen.

[[123]/0147]

Vierundzwanzigſtes Kapitel.

Culturkampf.

I.

In Verſailles hatte ich vom 5. bis 9. November mit dem

Grafen Ledochowſki, Erzbiſchofe von Poſen und Gneſen, Verhand¬

lungen gehabt, die ſich vorwiegend auf die territorialen Intereſſen

des Papſtes bezogen. Gemäß dem Sprichwort „Eine Hand wäſcht

die andre“ machte ich ihm den Vorſchlag, die Gegenſeitigkeit der

Beziehungen zwiſchen dem Papſte und uns zu bethätigen durch päpſt¬

liche Einwirkung auf die franzöſiſche Geiſtlichkeit im Sinne des

Friedensſchluſſes, immer in Sorge, wie ich war, daß eine Einmiſchung

der neutralen Mächte uns die Früchte der Siege verkümmern könne.

Ledochowſki und in engern Grenzen Bonnechoſe, Cardinal-Erz¬

biſchof von Rouen, machten bei verſchiedenen Mitgliedern des

hohen Clerus den Verſuch, ſie zu einer Einwirkung in dem be¬

zeichneten Sinne zu beſtimmen, hatten mir aber nur von einer

kühlen, ablehnenden Aufnahme ihrer Schritte zu berichten, woraus

ich entnahm, daß es der päpſtlichen Macht entweder an Stärke oder

an gutem Willen fehlen müſſe, uns im Sinne des Friedens eine

Hülfe zu gewähren, werthvoll genug, um die Verſtimmung der

deutſchen Proteſtanten und der italieniſchen Nationalpartei und der

letztern Rückwirkung auf die zukünftigen Beziehungen beider Völker

[124/0148]

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.

in den Kauf zu nehmen, die das Ergebniß eines öffentlichen Ein¬

tretens für die päpſtlichen Intereſſen bezüglich Roms ſein mußte.

In den Wechſelfällen des Krieges iſt unter den ſtreitenden

italieniſchen Elementen Anfangs der König als der für uns mög¬

licherweiſe gefährliche Gegner erſchienen. Später iſt uns die republi¬

kaniſche Partei unter Garibaldi, die uns bei Ausbruch des Krieges

ihre Unterſtützung gegen Napoleoniſche Velleitäten des Königs in

Ausſicht geſtellt hatte, auf dem Schlachtfelde in einer mehr thea¬

traliſchen als praktiſchen Erregtheit und in militäriſchen Leiſtungen

entgegengetreten, deren Formen unſre ſoldatiſchen Auffaſſungen

verletzten. Zwiſchen dieſen beiden Elementen lag die Sympathie,

welche die öffentliche Meinung der Gebildeten in Italien für das in

der Geſchichte und in der Gegenwart parallele Streben des deutſchen

Volkes hegen und dauernd bewahren konnte, lag der nationale

Inſtinct, der denn auch ſchließlich ſtark und praktiſch genug ge¬

weſen iſt, mit dem frühern Gegner Oeſtreich in den Dreibund

zu treten. Mit dieſer nationalen Richtung Italiens würden wir

durch oſtenſible Parteinahme für den Papſt und ſeine territorialen

Anſprüche gebrochen haben. Ob und in wie weit wir dafür den

Beiſtand des Papſtes in unſern innern Angelegenheiten gewonnen

haben würden, iſt zweifelhaft. Der Gallicanismus erſchien mir

ſtärker, als ich ihn 1870 der Infallibilität gegenüber einſchätzen

konnte, und der Papſt ſchwächer, als ich ihn wegen ſeiner über¬

raſchenden Erfolge über alle deutſchen, franzöſiſchen, ungariſchen

Biſchöfe gehalten hatte. Bei uns im Lande war das jeſuitiſche

Centrum demnächſt ſtärker als der Papſt, wenigſtens unabhängig

von ihm; der germaniſche Fractions- und Parteigeiſt unſrer katho¬

liſchen Landsleute iſt ein Element, dem gegenüber auch der päpſt¬

liche Wille nicht durchſchlägt.

Desgleichen laſſe ich dahingeſtellt, ob die am 16. deſſelben

Monats vor ſich gegangenen Wahlen zum preußiſchen Landtage

durch das Fehlſchlagen der Ledochowſkiſchen Verhandlungen beein¬

flußt worden ſind. Die letztern wurden in etwas andrer Rich¬

[125/0149]

Streitende Richtungen in Italien. Verhandlung mit Ketteler.

tung aufgenommen von dem Biſchof von Mainz, Freiherrn von

Ketteler, zu welchem Zweck er mich bei Beginn des Reichstags,

1871, mehrmals aufſuchte. Ich war 1865 mit ihm in Ver¬

bindung getreten, indem ich ihn befragte, ob er das Erzbisthum

Poſen annehmen würde, wobei mich die Abſicht leitete, zu zeigen,

daß wir nicht antikatholiſch, ſondern nur antipolniſch wären.

Ketteler hatte, vielleicht auf Anfrage in Rom, abgelehnt wegen

Unkenntniß der polniſchen Sprache. 1871 ſtellte er mir im Großen

und Ganzen das Verlangen, in die Reichsverfaſſung die Artikel

der preußiſchen aufzunehmen, welche das Verhältniß der katholi¬

ſchen Kirche im Staate regelten und von denen drei (15, 16, 18)

durch das Geſetz vom 18. Juni 1875 aufgehoben worden ſind.

Für mich war die Richtung unſrer Politik nicht durch ein con¬

feſſionelles Ziel beſtimmt, ſondern lediglich durch das Beſtreben,

die auf dem Schlachtfelde gewonnene Einheit möglichſt dauerhaft

zu feſtigen. Ich bin in confeſſioneller Beziehung jeder Zeit tolerant

geweſen bis zu den Grenzen, die die Nothwendigkeit des Zu¬

ſammenlebens verſchiedener Bekenntniſſe in demſelben ſtaatlichen

Organismus den Anſprüchen eines jeden Sonderglaubens zieht.

Die therapeutiſche Behandlung der katholiſchen Kirche in einem

weltlichen Staate iſt aber dadurch erſchwert, daß die katholiſche

Geiſtlichkeit, wenn ſie ihren theoretiſchen Beruf voll erfüllen will,

über das kirchliche Gebiet hinaus den Anſpruch auf Betheiligung

an weltlicher Herrſchaft zu erheben hat, unter kirchlichen Formen

eine politiſche Inſtitution iſt und auf ihre Mitarbeiter die eigne

Ueberzeugung überträgt, daß ihre Freiheit in ihrer Herrſchaft

beſteht, und daß die Kirche überall, wo ſie nicht herrſcht, berechtigt

iſt, über Diocletianiſche Verfolgung zu klagen.

In dieſem Sinne hatte ich einige Auseinanderſetzungen mit

Herrn von Ketteler bezüglich ſeines genauer accentuirten Anſpruchs

auf ein verfaſſungsmäßiges Recht ſeiner Kirche, das heißt der Geiſt¬

lichkeit, auf Verfügung über den weltlichen Arm. Er verwandte

in ſeinen politiſchen Argumenten auch das mehr ad hominem

[126/0150]

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.

gehende, daß bezüglich unſres Schickſals nach dem irdiſchen Tode

die Bürgſchaften für die Katholiken ſtärker ſeien, als für andre,

weil, angenommen, daß die katholiſchen Dogmen irrthümlich ſeien,

das Schickſal der katholiſchen Seele nicht ſchlimmer ausfalle, wenn

der evangeliſche Glaube ſich als der richtige erweiſen ſollte, im

umgekehrten Falle aber die Zukunft der ketzeriſchen Seele eine ent¬

ſetzliche ſei. Er knüpfte daran die Frage: „Glauben Sie etwa,

daß ein Katholik nicht ſelig werden könne?“ Ich antwortete: „Ein

katholiſcher Laie unbedenklich; ob ein Geiſtlicher, iſt mir zweifel¬

haft; in ihm ſteckt ,die Sünde wider den heiligen Geiſt', und der

Wortlaut der Schrift ſteht ihm entgegen.“ Der Biſchof beantwortete

dieſe in ſcherzhaftem Tone gegebene Erwiderung lächelnd durch eine

höflich ironiſche Verbeugung.

Nachdem unſre Verhandlungen reſultatlos abgelaufen waren,

wurde die Neubildung der 1860 gegründeten, jetzt Centrum ge¬

nannten katholiſchen Fraction mit ſteigendem Eifer beſonders von

Savigny und Mallinckrodt betrieben. An dieſer Fraction habe ich

die Beobachtung zu machen gehabt, daß, wie in Frankreich ſo auch

in Deutſchland, der Papſt ſchwächer iſt, als er erſcheint, jedenfalls

nicht ſo ſtark iſt, daß wir ſeinen Beiſtand in unſern Angelegen¬

heiten durch den Bruch mit den Sympathien andrer mächtiger Ele¬

mente erkaufen durften. Von dem désaveu des Cardinals Antonelli

in dem Briefe an den Biſchof Ketteler vom 5. Juni 1871, von der

Centrumsmiſſion des Fürſten Löwenſtein-Wertheim, von der Unbot¬

mäßigkeit des Centrums bei Gelegenheit des Septennats habe ich

den Eindruck erhalten, daß der Partei- und Fractionsgeiſt, den

die Vorſehung dem Centrum an Stelle des Nationalſinnes andrer

Völker verliehn hat, ſtärker iſt als der Papſt, nicht auf einem

Concil, ohne Laien, aber auf dem Schlachtfelde parlamentariſcher

und publiciſtiſcher Kämpfe innerhalb Deutſchlands. Ob das auch

der Fall ſein würde, wenn der päpſtliche Einfluß ſich ohne Rückſicht

auf concurrirende Kräfte, namentlich den Jeſuitenorden, geltend

zu machen vermöchte, laſſe ich, ohne an den plötzlichen Tod des

[127/0151]

Bildung des Centrums. Polniſche Seite des Culturkampfs.

Cardinal-Staatsſekretärs Franchi zu denken, dahingeſtellt ſein. Von

Rußland hat man geſagt: gouvernement absolu tempéré par le

régicide. Iſt ein Papſt, der in der Nichtachtung der in der Kirchen¬

politik concurrirenden Organe zu weit ginge, vor kirchlichen „Nihi¬

liſten“ ſichrer als der Zar? Gegenüber Biſchöfen, die im Vatican

verſammelt ſind, iſt der Papſt ſtark; und wenn er mit dem

Jeſuitenorden geht, ſtärker, als wenn er außerhalb ſeiner Reſidenz

verſucht, den Widerſtand der weltlichen Jeſuiten zu brechen, die

die Träger des parlamentariſchen Katholicismus zu ſein pflegen.

II.

Der Beginn des Culturkampfes war für mich überwiegend

beſtimmt durch ſeine polniſche Seite. Seit dem Verzicht auf die

Politik der Flottwell und Grolman, ſeit der Conſolidirung des

Radziwill'ſchen Einfluſſes auf den König und der Einrichtung der

„katholiſchen Abtheilung“ im geiſtlichen Miniſterium, ſtellten die

ſtatiſtiſchen Data einen ſchnellen Fortſchritt der polniſchen Natio¬

nalität auf Koſten der Deutſchen in Poſen und Weſtpreußen

außer Zweifel, und in Oberſchleſien wurde das bis dahin ſtramm

preußiſche Element der „Waſſerpolacken“ poloniſirt; Schaffranek

wurde dort in den Landtag gewählt, der uns das Sprichwort von

der Unmöglichkeit der Verbrüderung der Deutſchen und der Polen

in polniſcher Sprache als Parlamentsredner entgegenhielt. Der¬

gleichen war in Schleſien nur möglich auf Grund der amtlichen

Autorität der katholiſchen Abtheilung. Auf Klage bei dem Fürſt¬

biſchof wurde dem Schaffranek unterſagt, bei Wiederwahl auf der

Linken zu „ſitzen“; in Folge deſſen ſtand dieſer kräftig gebaute

Prieſter 5 und 6 Stunden und bei Doppelſitzungen 10 Stunden

am Tage vor den Bänken der Linken, ſtramm wie eine Schild¬

wache, und brauchte nicht erſt aufzuſtehn, wenn er zu antideutſcher

[128/0152]

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.

Rede das Wort ergriff 1). In Poſen und Weſtpreußen waren

nach Ausweis amtlicher Berichte Tauſende von Deutſchen und

ganze Ortſchaften, die in der vorigen Generation amtlich deutſch

waren, durch die Einwirkung der katholiſchen Abtheilung polniſch

erzogen und amtlich „Polen“ genannt worden. Nach der Com¬

petenz, welche der Abtheilung verliehn worden war, ließ ſich ohne

Aushebung derſelben hierin nicht abhelfen. Dieſe Aufhebung war

alſo nach meiner Ueberzeugung als nächſtes Ziel zu erſtreben. Da¬

gegen war natürlich der Radziwill'ſche Einfluß am Hof, nicht

natürlich mein Cultus-College, deſſen Frau und Ihre Majeſtät

die Königin. Der Chef der katholiſchen Abtheilung war damals

Krätzig, der früher Radziwill'ſcher Privatbeamter geweſen und dies

im Staatsdienſt auch wohl geblieben war. Der Träger des Radzi¬

will'ſchen Einfluſſes war der jüngere beider Brüder Fürſt Boguslav,

auch Stadtverordneter von Einfluß in Berlin. Der ältere, Wil¬

helm, und ſein Sohn Anton, waren zu ehrliche Soldaten, um ſich

auf polniſche Intrigen gegen den König und deſſen Staat ein¬

zulaſſen. Die katholiſche Abtheilung des Cultusminiſteriums, ur¬

ſprünglich gedacht als eine Einrichtung, vermöge deren katholiſche

Preußen die Rechte ihres Staates in den Beziehungen zu Rom

vertreten ſollten, war durch den Wechſel der Mitglieder nach

und nach zu einer Behörde geworden, die inmitten der preußi¬

ſchen Bürokratie die römiſchen und polniſchen Intereſſen gegen

Preußen vertrat. Ich habe mehr als einmal dem Könige ausein¬

ander geſetzt, daß dieſe Abtheilung ſchlimmer ſei als ein Nuntius in

Berlin. Sie handle nach Anweiſungen, die ſie aus Rom empfinge,

vielleicht nicht immer vom Papſte, und ſei neuerdings hauptſächlich

polniſchen Einflüſſen zugänglich geworden. In dem Radziwill'ſchen

Hauſe ſeien die Damen deutſchfreundlich, der ältere Bruder Wil¬

helm durch das Ehrgefühl des preußiſchen Offiziers in derſelben

1) Vgl. die Aeußerung in der Rede vom 28. Januar 1886, Politiſche

Reden XI 438.

[129/0153]

Die katholiſche Abtheilung und ihre Aufhebung.

Richtung gehalten, ebenſo deſſen Sohn Anton, bei dem die perſön¬

liche Anhänglichkeit an Se. Majeſtät hinzukomme. Aber in dem

treibenden Elemente des Hauſes, den Geiſtlichen und dem Fürſten

Boguslaw und deſſen Sohn, ſei das polniſche Nationalgefühl ſtärker

als jedes andre und werde gepflegt auf der Baſis des Zuſammen¬

gehns der polniſchen mit den römiſch-clericalen Intereſſen, auf der

einzigen im Frieden gangbaren, aber auch ſehr geläufig gangbaren

Baſis. Nun ſei der Chef der katholiſchen Abtheilung, Krätzig, ſo gut

wie ein Radziwillſcher Leibeigner. Ein Nuntius würde die Intereſſen

der katholiſchen Kirche, aber nicht die der Polen zu vertreten als

ſeine Hauptaufgabe anſehn, werde nicht die intimen Verbindungen

mit der Bürokratie beſitzen wie die Mitglieder der katholiſchen Ab¬

theilung, die in der Garniſon der miniſteriellen Citadelle unſres

Vertheidigungsſyſtems gegen revolutionäre Anläufe als ſtaatsfeind¬

liche Parteigänger ſäßen; ein Nuntius endlich werde als Mitglied

des diplomatiſchen Corps an der Erhaltung guter Beziehungen zu

ſeinem Souverain und an der Pflege des Verhältniſſes zu dem

Hofe, an dem er beglaubigt, perſönlich intereſſirt ſein.

Wenn es mir auch nicht gelang, die übrigens mehr äußer¬

liche und formelle Abneigung des Kaiſers gegen einen Nuntius in

Berlin zu überwinden, ſo überzeugte er ſich doch von der Ge¬

fährlichkeit der katholiſchen Abtheilung und gab ſeine Genehmi¬

gung zu ihrer Abſchaffung trotz des Widerſtandes ſeiner Gemalin.

Unter ehelichem Einfluß wehrte ſich Mühler gegen die Abſchaffung,

über die alle übrigen Miniſter einverſtanden waren. Zur decora¬

tiven Platirung ſeines Abganges wurde eine Differenz über eine

die Verwaltung der Muſeen betreffende Perſonalfrage benutzt; in

der That fiel er über Krätzig und den Polonismus, trotz des

Rückhaltes, den er und ſeine Frau durch Damenverbindungen am

Hofe hatten.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 9

[130/0154]

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.

III.

Auf die juriſtiſche Detailarbeit der Maigeſetze würde ich nie

verfallen ſein; ſie lag mir reſſortmäßig fern, und weder in meiner

Abſicht, noch in meiner Befähigung lag es, Falk als Juriſten zu con¬

trolliren oder zu corrigiren. Ich konnte als Miniſterpräſident über¬

haupt nicht gleichzeitig den Dienſt des Cultusminiſters thun, auch

wenn ich vollkommen geſund geweſen wäre. Erſt durch die Praxis

überzeugte ich mich, daß die juriſtiſchen Einzelheiten pſychologiſch

nicht richtig gegriffen waren. Der Mißgriff wurde mir klar an

dem Bilde ehrlicher, aber ungeſchickter preußiſcher Gendarmen, die

mit Sporen und Schleppſäbel hinter gewandten und leichtfüßigen

Prieſtern durch Hinterthüren und Schlafzimmer nachſetzten. Wer

annimmt, daß ſolche in mir auftauchende kritiſche Erwägungen

ſofort in Geſtalt einer Cabinetskriſis zwiſchen Falk und mir ſich

hätten verkörpern laſſen, dem fehlt das richtige, nur durch Erfah¬

rung zu gewinnende Urtheil über die Lenkbarkeit der Staatsmaſchine

in ſich und in ihrem Zuſammenhange mit dem Monarchen und

den Parlamentswahlen. Dieſe Maſchine iſt zu plötzlichen Evolu¬

tionen nicht im Stande, und Miniſter von der Begabung Falks

wachſen bei uns nicht wild. Es war richtiger, einen Kampfgenoſſen

von dieſer Befähigung und Tapferkeit in dem Miniſterium zu haben,

als durch Eingriffe in die verfaſſungsmäßige Unabhängigkeit ſeines

Reſſorts die Verantwortlichkeit für die Verwaltung oder Neubeſetzung

des Cultusminiſteriums auf mich zu nehmen. Ich bin in dieſer Auf¬

faſſung verharrt, ſo lange ich Falk zum Bleiben zu bewegen vermochte.

Erſt nachdem er gegen meinen Wunſch durch weibliche Hofeinflüſſe

und ungnädige königliche Handſchreiben derartig verſtimmt worden

war, daß er ſich nicht halten ließ, bin ich an eine Reviſion ſeiner

Hinterlaſſenſchaft gegangen, der ich nicht näher treten wollte, ſo

lange das nur durch Bruch mit ihm möglich war.

[131/0155]

Die Maigeſetze. Urſachen von Falks Rücktritt.

Falk unterlag derſelben Tactik, die am Hofe gegen mich nicht

mit demſelben Erfolge, aber mit gleichen Mitteln in Anwendung

gebracht worden war; er unterlag ihr, theils weil er für Hof¬

eindrücke empfindlicher war als ich, theils weil ihm die Sympathie

des Kaiſers nicht in gleichem Maße zur Seite ſtand wie mir. Die

antiminiſterielle Thätigkeit der Kaiſerin fand ihre urſprüngliche

Quelle in der Unabhängigkeit des Charakters, welche es ihr er¬

ſchwerte, mit einer Regirung zu gehn, die nicht in ihren eignen

Händen lag, und welche ihr ein Menſchenalter hindurch den Weg

der Oppoſition gegen die jedesmalige Regirung anziehend machte.

Sie war nicht leicht der Meinung eines Andern. Zur Zeit des

Culturkampfes wurde dieſe Neigung gefördert durch die katholiſche

Umgebung Ihrer Majeſtät, welche aus dem ultramontanen Lager

Information und Anweiſung erhielt. Dieſe Einflüſſe nutzten mit Ge¬

ſchick und Menſchenkenntniß die alte Neigung der Kaiſerin aus, auf

die jedesmalige Staatsregirung verbeſſernd einzuwirken. Ich habe

Falk wiederholt ſeine beabſichtigten Abſchiedsgeſuche ausgeredet, die

ſich an Kaiſerliche Handſchreiben ungnädigen Inhalts, welche wohl

nicht der eignen Initiative des hohen Herrn entſprungen waren,

und an verletzendes Benehmen gegen ſeine Frau am Hofe knüpften.

Ich empfahl ihm, ſich den ungnädigen, aber auch uncontraſignirten

Allerhöchſten Erlaſſen gegenüber, die weniger an den Culturkampf

als an die Beziehungen des Cultusminiſters zum Oberkirchenrath

und zur evangeliſchen Kirche anknüpften, paſſiv zu verhalten, allen¬

falls ſeine Beſchwerden an das Staatsminiſterium zu bringen, deſſen

Anträge, wenn ſie einhellig waren, der König zu berückſichtigen pflegte.

Endlich aber wurde er dadurch, daß er Kränkungen ausgeſetzt war,

die ſeinem Ehrgefühl empfindlich waren, doch beſtimmt, ſeinen

Abſchied zu nehmen. Alle Erzählungen, nach denen ich ihn aus

dem Miniſterium verdrängt haben ſoll, beruhn auf Erfindung, und

ich habe mich gewundert, daß er ſelbſt ihnen niemals in der Oeffent¬

lichkeit widerſprochen hat, obſchon er mit mir ſtets in befreundeten

Beziehungen geblieben iſt. Aus den Vorgängen, die für ſeinen

[132/0156]

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.

Rücktritt entſcheidend wurden, iſt mir erinnerlich, daß es die

Streitigkeiten mit dem Oberkirchenrath und den ihm nahe ſtehenden

Geiſtlichen waren, welche den Bruch mit Sr. Majeſtät herbeiführten,

nicht ohne daß aus der Zuſpitzung der Entwicklung des vorhandenen

Streitmaterials gegen Falk ſich die Mitwirkung geſchickterer Hände

und feinerer Arbeit erkennen ließ, als den formellen Rathgebern

des Kaiſers in ſeiner Eigenſchaft als ſummus episcopus eigen war.

IV.

Nach ſeinem Abgange war ich vor die Frage geſtellt, ob und

wie weit ich bei der Wahl eines neuen Cultuscollegen die mehr

juriſtiſche als politiſche Linie Falks im Auge behalten, oder meinen

mehr gegen Polonismus als gegen Katholicismus gerichteten

Auffaſſungen ausſchließlich folgen ſollte. In dem Culturkampfe

war die parlamentariſche Regirungspolitik durch den Abfall der

Fortſchrittspartei und ihren Uebergang zum Centrum gelähmt,

indem ſie im Reichstage einer durch gemeinſame Feindſchaft zu¬

ſammengehaltnen Majorität von Demokraten aller Schattirungen,

im Bunde mit Polen, Welfen, Franzoſenfreunden und Ultramon¬

tanen, ohne Unterſtützung durch die Conſervativen gegenüberſtand.

Die Conſolidirung unſrer neuen Reichseinheit wurde durch dieſe

Zuſtände gehemmt und, wenn ſie dauerten oder ſich verſchärften,

gefährdet. Der nationale Schaden konnte auf dieſem Wege größer

werden, als auf dem eines Verzichtes auf den meiner Anſicht nach

entbehrlichen Theil der Falkſchen Geſetzgebung. Für nicht

entbehrlich hielt ich die Beſeitigung der Verfaſſungsartikel,

die Kampfmittel gegen den Polonismus und vor allen die Herr¬

ſchaft des Staates über die Schule. Wahrten wir die, ſo be¬

hielten wir aus dem Culturkampfe beim Frieden immer einen

werthvollen Siegespreis im Vergleich mit den Zuſtänden vor Aus¬

bruch des Kampfes. Ueber die Grenze, bis zu der wir der Curie

[133/0157]

Entbehrliches und Unentbehrliches der Maigeſetze. Puttkamer.

entgegenkommen konnten, hatte ich mich alſo mit meinen Collegen

zu verſtändigen. Der Widerſtand der Geſammtheit der im Kampfe

betheiligt geweſenen Miniſterialräthe war dabei nachhaltiger als

der meiner unmittelbaren Collegen, zunächſt des Nachfolgers Falks,

als welchen ich dem Könige Herrn v. Puttkamer vorſchlug. Aber auch

nach dieſem Perſonenwechſel konnte es mir nicht ſobald gelingen, die

Kirchenpolitik zu ändern, wenn ich nicht neue, dem Könige unwill¬

kommne und mir unerwünſchte Cabinetskriſen herbeiführen wollte.

Die Erinnerungen an die Zeiten der Anwerbung neuer Collegen

gehören zu den unerquicklichſten meiner amtlichen Laufbahn. Um

mich mit Herrn v. Puttkamer zu einigen, hätte ich die Unterſtützung

der culturkampfgewöhnten Räthe ſeines Miniſteriums gewinnen

müſſen, und das überſtieg meine Kräfte. Die Erklärung der Falk¬

ſchen Kirchenpolitik iſt nicht ausſchließlich auf dem Gebiete des

katholiſchen Kirchenſtreits zu ſuchen; ſie wurde gelegentlich auch

durch die evangeliſche Kirchenfrage gekreuzt und beeinflußt. In

dieſer ſtand Herr von Puttkamer den am Hofe wirkſamen Auf¬

faſſungen näher als Falk, und mein Wunſch, den Kampf mit Rom

auf ein engeres Gebiet einzuſchränken, hätte bei meinem neuen

Collegen perſönlich wohl keinen Widerſtand gefunden. Die Hemm¬

niſſe lagen aber theils in dem Schwergewicht der vom Zorne des

Culturkampfs erregten Räthe, denen Herr von Puttkamer auch

die natürliche und herkömmliche Entwicklung unſrer Orthographie

zum Opfer zu bringen ſich genöthigt glaubte, theils in dem Wider¬

ſtreben meiner übrigen Collegen gegen jeden Anſchein von Nach¬

giebigkeit dem Papſte gegenüber.

Meine erſten Verſuche zur Anbahnung des kirchlichen Friedens

fanden auch bei Sr. Majeſtät keinen Anklang. Der Einfluß der

höchſten evangeliſchen Geiſtlichkeit war damals ſtärker als der

katholiſirende der Kaiſerin und letztre vom Centrum her ohne

Anregung, weil dort die Anfänge des Einlenkens ungenügend

befunden wurden, und es auch dort wie am Hofe immer noch

wichtiger ſchien, mich zu bekämpfen, als verſöhnliche Beſtrebungen,

[134/0158]

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.

die von mir ausgingen, zu unterſtützen. Die aus der Situ¬

ation hervorgehenden Kämpfe wiederholten ſich, allmälig ſchwerer

werdend.

Es bedurfte noch jahrelanger Arbeit, um ohne neue Cabinets¬

kriſen an die Reviſion der Maigeſetze gehn zu können, für deren

Vertretung in parlamentariſchen Kämpfen nach der Deſertion der

freiſinnigen Partei in das ultramontane Oppoſitionslager die Majo¬

rität fehlte. Ich war zufrieden, wenn es gelang, dem Polonismus

gegenüber die im Culturkampf gewonnenen Beziehungen der Schule

zum Staate und die eingetretene Aenderung der einſchlagenden Ver¬

faſſungsartikel als definitive Errungenſchaften feſtzuhalten. Beide ſind

in meinen Augen werthvoller als die maigeſetzlichen Verbote geiſt¬

licher Thätigkeit und der juriſtiſche Fangapparat für widerſtrebende

Prieſter, und als einen wichtigen Gewinn durfte ich ſchon die Be¬

ſeitigung der katholiſchen Abtheilung und ihrer ſtaatsgefährlichen

Thätigkeit in Schleſien, Poſen und Preußen betrachten. Nachdem

die Freiſinnigen den von ihnen mehr wie von mir betriebenen

„Culturkampf“, deſſen Vorkämpfer Virchow und Genoſſen geweſen

waren, nicht nur aufgegeben hatten, ſondern im Parlament wie in

den Wahlen das Centrum unterſtützten, war letzterm gegenüber

die Regirung in der Minorität. Der aus Centrum, Fortſchritt,

Socialdemokraten, Polen, Elſäſſern, Welfen beſtehenden compacten

Mehrheit gegenüber war die Politik Falks im Reichstage ohne

Ausſicht. Ich hielt um ſo mehr für angezeigt, den Frieden an¬

zubahnen, wenn die Schule gedeckt, die Verfaſſung von den auf¬

gehobenen Artikeln und der Staat von der katholiſchen Abtheilung

befreit blieb.

Nachdem ich den Kaiſer ſchließlich gewonnen hatte, war bei Ab¬

ſchätzung des Feſtzuhaltenden und des Aufzugebenden die neue

Stellung der Fortſchrittspartei und der Seceſſioniſten ein entſchei¬

dendes Moment; anſtatt die Regirung zu unterſtützen, ſchloſſen ſie

bei Wahlen und Abſtimmungen Bündniſſe mit dem Centrum und

hatten Hoffnungen gefaßt, die in dem ſog. Miniſterium Gladſtone

[135/0159]

Deſertion der Fortſchrittspartei. Definitives Ergebniß.

(Stoſch, Rickert u. ſ. w.), das heißt in liberal-katholiſcher Coalition,

ihren Ausdruck fanden.

Im Jahre 1886 gelang es, die von mir theils erſtrebte, theils

als zuläſſig erkannte Gegenreformation zum Abſchluß zu bringen,

den modus vivendi zu erreichen, der immer noch, verglichen mit

dem status quo vor 1871 ein für den Staat günſtiges Ergebniß

des ganzen Culturkampfes aufweiſt.

Inwieweit derſelbe von Dauer ſein wird und die confeſſionellen

Kämpfe nun ruhn werden, kann nur die Zeit lehren. Es hängt

das von kirchlichen Stimmungen ab und von dem Grade der

Streitbarkeit nicht blos des jedesmaligen Papſtes und ſeiner leiten¬

den Rathgeber, ſondern auch der deutſchen Biſchöfe und der mehr

oder weniger hochkirchlichen Richtung, welche im Wechſel der Zeit

in der katholiſchen Bevölkerung herrſcht. Eine feſte Grenze der

römiſchen Anſprüche an die paritätiſchen Staaten mit evangeliſcher

Dynaſtie läßt ſich nicht herſtellen. Nicht einmal in rein katholiſchen

Staaten. Der uralte Kampf zwiſchen Prieſtern und Königen wird

nicht heut zum Abſchluß gelangen, namentlich nicht in Deutſchland.

Wir haben vor 1870 Zuſtände gehabt, auf Grund deren die Lage

der katholiſchen Kirche grade in Preußen als muſtergültig und

günſtiger als in den meiſten rein katholiſchen Ländern auch von

der Curie anerkannt wurde. In unſrer innern Politik, nament¬

lich der parlamentariſchen, haben wir aber keine Wirkung dieſer

confeſſionellen Befriedigung geſpürt. Die Fraction der beiden

Reichenſperger gehörte ſchon lange vor 1871, ohne daß deshalb die

Führer perſönlich in den Ruf des Händelmachens verfielen, dauernd

der Oppoſition gegen die Regirung des evangeliſchen Königshauſes

an. Bei jedem modus vivendi wird Rom eine evangeliſche Dynaſtie

und Kirche als eine Unregelmäßigkeit und Krankheit betrachten,

deren Heilung die Aufgabe ſeiner Kirche ſei. Die Ueberzeugung,

daß dem ſo iſt, nöthigt den Staat noch nicht, ſeinerſeits den Kampf

zu ſuchen und die Defenſive der römiſchen Kirche gegenüber auf¬

zugeben, denn alle Friedensſchlüſſe in dieſer Welt ſind Proviſorien,

[136/0160]

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.

gelten nur bis auf Weitres; die politiſchen Beziehungen zwiſchen

unabhängigen Mächten bilden ſich in ununterbrochnem Fluſſe, ent¬

weder durch Kampf oder durch die Abneigung der einen oder der

andern Seite vor Erneuerung des Kampfes. Eine Verſuchung zur

Erneuerung des Streites in Deutſchland wird für die Curie ſtets

in der Entzündlichkeit der Polen, in der Herrſchſucht des dortigen

Adels und in dem durch die Prieſter genährten Aberglauben der

untern Volksſchichten liegen. Ich habe im Kiſſinger Lande deutſche

und ſchulgebildete Bauern gefunden, die feſt daran glaubten, daß

der am Sterbebette im ſündigen Fleiſche ſtehende Prieſter den

Sterbenden durch Verweigerung oder Gewährung der Abſolution

direct in die Hölle oder den Himmel ſchicken könne, man ihn alſo

auch politiſch zum Freunde haben müſſe. In Polen wird es

mindeſtens ebenſo ſein oder ſchlimmer, weil dem ungebildeten

Manne eingeredet iſt, daß deutſch und lutheriſch ebenſo wie pol¬

niſch und katholiſch identiſche Begriffe ſeien. Ein ewiger Friede

mit der römiſchen Curie liegt nach den gegebenen Lebensbedingungen

ebenſo außerhalb der Möglichkeit, wie ein ſolcher zwiſchen Frank¬

reich und deſſen Nachbarn. Wenn das menſchliche Leben überhaupt

aus einer Reihe von Kämpfen beſteht, ſo trifft das vor Allem bei

den gegenſeitigen Beziehungen unabhängiger politiſcher Mächte zu,

für deren Regelung ein berufenes und vollzugsfähiges Gericht nicht

vorhanden iſt. Die römiſche Curie aber iſt eine unabhängige poli¬

tiſche Macht, zu deren unabänderlichen Eigenſchaften derſelbe Trieb

zum Umſichgreifen gehört, der unſern franzöſiſchen Nachbarn inne¬

wohnt. Für den Proteſtantismus bleibt ihr das durch kein Con¬

cordat zu beruhigende aggreſſive Streben des Proſelytismus und

der Herrſchſucht; ſie duldet keine Götter neben ihr.

[137/0161]

Der Friede ein Proviſorium. Die Doſe mit Brillanten.

V.

In die Hitze des Culturkampfes fiel ein Beſuch des Königs

Victor Emanuel in Berlin, (22.–26.) September 1873. Ich hatte

durch Herrn von Keudell erfahren, daß der König eine Doſe mit

Brillanten, deren Werth auf 50–60000 Franken, ungefähr auf das

ſechs- bis achtfache des bei ſolchen Gelegenheiten üblichen, angegeben

wurde, hatte anfertigen und dem Grafen Launay zur Ueberreichung

an mich zuſtellen laſſen. Gleichzeitig kam es zu meiner Kenntniß, daß

Launay die Doſe mit Angabe des Werthes ſeinem Hausnachbarn,

dem bairiſchen Geſandten Baron Pergler von Perglas, gezeigt hatte,

der unſern Gegnern in dem Culturkampfe perſönlich nahe ſtand.

Der hohe Werth des mir zugedachten Geſchenkes konnte alſo An¬

laß geben, es in Verbindung zu bringen mit der Anlehnung, die

der König von Italien bei dem Deutſchen Reiche damals erſtrebte

und erlangte. Als ich dem Kaiſer meine Bedenken gegen die

Annahme des Geſchenkes vortrug, hatte er zunächſt den Ein¬

druck, als ob ich es überhaupt unter meiner Würde fände, eine

Portraitdoſe anzunehmen, und ſah darin eine Verſchiebung der Tra¬

ditionen, an die er gewöhnt war. Ich ſagte: „Gegenüber einem

ſolchen Geſchenke von durchſchnittlichem Werthe würde ich auf den

Gedanken der Ablehnung nicht gekommen ſein. In dieſem Falle

aber hätte nicht das fürſtliche Bildniß, ſondern hätten die verkäuf¬

lichen Diamanten das für die Beurtheilung des Vorgangs ent¬

ſcheidende Gewicht; mit Rückſicht auf die Lage des Culturkampfes

müßte ich Anknüpfungspunkte für Verdächtigungen vermeiden, nach¬

dem der den Umſtänden nach übertriebene Werth der Doſe durch

die nachbarlichen Beziehungen von Perglas conſtatirt und in der

Geſellſchaft hervorgehoben worden ſei.“ Der Kaiſer wurde ſchlie߬

lich meiner Auseinanderſetzung zugänglich und ſchloß den Vortrag

mit den Worten: „Sie haben Recht, nehmen Sie die Doſe nicht

[138/0162]

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.

an“ *). Nachdem ich meine Auffaſſung durch Herrn von Keudell zur

Kenntniß des Grafen Launay gebracht hatte, wurde der Doſe ein

ſehr hübſches und ähnliches Portrait des Königs ſubſtituirt mit

folgender an meinen Annunziatenorden erinnernden eigenhändigen

Unterſchrift:

Al Principe Bismarck. Berlino 26. Settembre 1873.

Affezionatissimo cugino

Vittorio Emanuele.

Der König behielt jedoch das Bedürfniß, mir einen verſtärkten

Ausdruck ſeines Wohlwollens zu geben durch ein dem urſprünglich

beabſichtigten im Werthe analoges, aber nicht verkäufliches Geſchenk,

und ich erhielt als Zugabe zu der ſchmeichelhaften Unterſchrift des

Portraits eine Alabaſtervaſe von ungewöhnlicher Größe und Schön¬

heit, deren ſichre Verpackung und Beförderung bei der überſtürzten

Räumung meiner Amtswohnung, zu der mein Nachfolger mich

nöthigte, nicht ohne Schwierigkeit war.

VI.

Die „Germania“ vom 6. December 1891 deducirt aus dem

Briefwechſel zwiſchen dem Grafen von Roon und Moritz von

*) Andrer Anſicht über die Annahme einer mit Brillanten gefüllten

Doſe war Fürſt Gortſchakow. Bei unſerm Beſuch in Petersburg (1872) fragte

mich Seine Majeſtät: „Was kann ich nur dem Fürſten Gortſchakow geben?

er hat ſchon alles, auch Portrait; vielleicht eine Büſte oder eine Doſe mit

Brillanten?“ Ich erhob gegen eine theure Doſe Einwendungen, die ich aus

der Stellung und dem Reichthum des Fürſten Gortſchakow herleitete, und der

Kaiſer gab mir Recht. Ich ſondirte darauf den Fürſten vertraulich und erhielt

ſofort die Antwort: „Laß Er mir (Ruſſicismus) eine tüchtige Doſe geben mit

guten Steinen (avec de grosses bonnes pierres).“ Ich meldete dies Sr. Maje¬

ſtät etwas beſchämt über meine Menſchenkenntniß; wir lachten beide, und

Gortſchakow bekam ſeine Doſe.

[139/0163]

Das Geſchenk Victor Emanuels. M. v. Blanckenburg.

Blanckenburg, veröffentlicht in der „Deutſchen Revue“, daß ich den

Widerſtand des Kaiſers gegen die Civilehe gebrochen hätte.

Blanckenburg war ein Kampfgenoſſe, deſſen Hauptwerth für

mich in unſrer aus den Kinderjahren datirenden und bis zu ſeinem

Tode fortdauernden Freundſchaft beſtand. Dieſelbe war aber auf

ſeiner Seite nicht identiſch mit Vertrauen oder Hingebung auf

dem politiſchen Gebiete; auf dieſem hatte ich die Concurrenz

ſeiner politiſchen und confeſſionellen Beichtväter zu beſtehn, und

bei dieſen war nicht die Abſicht, bei Blanckenburg nicht die Befähi¬

gung vorhanden, das hiſtoriſche Fortſchreiten deutſcher und euro¬

päiſcher Politik in breitem Ueberblick zu beurtheilen. Er ſelbſt war

ohne Ehrgeiz und frei von der Krankheit vieler altpreußiſcher

Standesgenoſſen, dem Neide gegen mich; aber ſein politiſches Urtheil

konnte ſich ſchwer losreißen von dem preußiſch-particulariſtiſchen, ja

pommeriſch-lutheriſchen Standpunkte. Sein hausbackner geſunder

Menſchenverſtand und ſeine Ehrlichkeit machten ihn unabhängig von

conſervativen Partei-Strömungen, denen beides fehlte; von dieſer

Unabhängigkeit war jedoch die vorſichtige Beſcheidenheit in Ab¬

rechnung zu bringen, mit der ihn die Fremdartigkeit erfüllte,

die das politiſche Gebiet für ihn behielt. Er war weich und gegen

Beredſamkeit nicht gepanzert, keine unerſchütterliche Säule, auf

die ich mich hätte ſtützen können. Der Kampf zwiſchen ſeinem

Wohlwollen für mich und ſeinem Mangel an Energie andern Ein¬

flüſſen gegenüber bewog ihn ſchließlich, ſich von der Politik über¬

haupt zurückzuziehn. Als ich ihn das erſte Mal zum landwirth¬

ſchaftlichen Miniſter vorgeſchlagen hatte, ſcheiterte die Ausführung

an dem Widerſtande derſelben Collegen, die vorher meine an

Blanckenburg gerichtete Anfrage gebilligt hatten. Ich laſſe dahin¬

geſtellt ſein, ob die Abneigung meines Freundes, unter übelwollen¬

der Aufſicht dauernd auf dem Präſentirteller der Oeffentlichkeit zu

ſtehn, bei dem Mißlingen meiner Abſicht, dieſe conſervative Kraft

in das Miniſterium zu ziehn, mitgewirkt hat; bei ſeiner zweiten

und definitiven Ablehnung unter dem 10. November 1873 war

[140/0164]

Vierundzwanzigſtes Kapitel: Culturkampf.

dies zweifellos der Fall 1). Mangel an Klarheit zeigt ſich in ſeinem

Briefe an Roon vom April 1874 2), in welchem er gleichzeitig von

ſeiner Ablehnung und von meinem Fallenlaſſen Falk gegenüber ſpricht.

Wenn die conſervative Partei in der Perſon ihrer damaligen Haupt¬

redner und Führer Blanckenburg und Kleiſt-Retzow bereitwillig mit

mir gegangen wäre, ſo würde die Miſchung des Miniſteriums eine

andre und das, was in dem Briefe die Falkſche Sackgaſſe genannt

iſt, vielleicht nicht nothwendig geworden ſein. Die Ablehnung der

Miniſterſtellung iſt aber, wie der Brief documentirt, von Blancken¬

burg ſelbſt ausgegangen, vielleicht nicht unbeeinflußt durch die Re¬

ſiduen der Kämpfe der „armen Lutheraner“, der „Alt-Lutheraner“,

zu denen Blanckenburg ſich hielt, in den dreißiger Jahren. Als

er ſich von der Politik zurückzog, hatte ich die Empfindung, daß

er mich im Stiche ließ.

Daß ich den Widerſtand des Kaiſers Wilhelm gegen die

Civilehe gebrochen hätte, iſt eine der Erfindungen des demokrati¬

ſchen Jeſuitismus, den die „Germania“ 3) vertritt. Die Abneigung

des Kaiſers wurde überwunden durch den Druck, den die Majo¬

rität der ohne mich und unter Roons formalem Präſidium in

Berlin anweſenden Miniſter auf Se. Majeſtät ausübte, und der ſo

weit ging, daß der Kaiſer zwiſchen Annahme des Geſetzentwurfs

und Neubildung des Miniſteriums zu wählen hatte. In meinem

damaligen Geſundheitszuſtande wäre ich der Aufgabe nicht ge¬

wachſen geweſen, aus den mir und ſich unter einander feindlichen

Fractionen ein neues Cabinet behufs Fortſetzung der Kämpfe nach

allen Seiten hin zu recrutiren. Wenn der Kaiſer in dem Briefe

vom 8. Mai 1874 retroſpectiv ſagt, daß er trotz ſeiner Hinfällig¬

keit noch zwei Mal dagegen geſchrieben habe, ſo waren dieſe

1) Deutſche Revue October 1891 S. 140, Roon's Denkwürdigkeiten

III 4 370 ff.

2) Deutſche Revue December 1891 S. 270, Roon's Denkwürdigkeiten

III 4 406.

3) 1891. Nro. 281.

[141/0165]

Die Civilehe.

Schreiben nicht an mich, ſondern an das Miniſterium in Berlin

gerichtet, und ich habe ihm nur gerathen, zwiſchen der obligatori¬

ſchen Civilehe und einem Miniſterwechſel für erſtre zu optiren.

Unzweifelhaft war ſeine Abneigung gegen die Civilehe noch größer

als die meinige; ich hielt mit Luther die Eheſchließung für eine

bürgerliche Angelegenheit, und mein Widerſtand gegen Anerkennung

dieſes Grundſatzes beruhte mehr auf Achtung vor der beſtehenden

Sitte und der Ueberzeugung der Maſſen als auf eignen chriſtlichen

Bedenken.

[[142]/0166]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel.

Bruch mit den Conſervativen.

I.

Der Bruch der Conſervativen mit mir, der 1872 mit Geräuſch

vollzogen wurde, hatte zuerſt 1868 vorgeſpukt in den Debatten

über den hanöverſchen Provinzialfonds. Nachdem der Geſetzent¬

wurf, den die Regirung in Erfüllung einer den Hanoveranern im

Jahr zuvor gemachten Zuſage dem Landtage vorgelegt hatte, ſchon

in der Commiſſion von den conſervativen Mitgliedern lebhaft be¬

kämpft worden war, brachten die Abgeordneten von Brauchitſch und

von Dieſt im Plenum einen Antrag ein, der die Vorlage weſent¬

lich einſchränkte. Der erſtre entwickelte als Wortführer die Gründe,

aus denen die conſervative Partei nicht für das Geſetz ſtimmen

könne. Meine eingehende Widerlegung habe ich damals mit den

Worten geſchloſſen: „Es iſt eine conſtitutionelle Regirung nicht

möglich, wenn die Regirung nicht auf eine der größern Parteien

mit voller Sicherheit zählen kann, auch in ſolchen Einzelheiten, die

der Partei vielleicht nicht durchweg gefallen, — wenn nicht dieſe

Partei das Facit ihrer Rechnung dahin zieht: wir gehn im

Großen und Ganzen mit der Regirung; wir finden zwar, daß ſie

ab und zu eine Thorheit begeht, aber doch bisher noch weniger

Thorheiten brachte, als annehmbare Maßregeln; um deswillen

wollen wir ihr die Einzelheiten zu Gute halten. Hat eine Regi¬

rung nicht wenigſtens Eine Partei im Lande, die auf ihre Auf¬

faſſungen und Richtungen in dieſer Art eingeht, dann iſt ihr das

[143/0167]

Der hanöverſche Provinzialfonds. Conſervative Oppoſition.

conſtitutionelle Regiment unmöglich, dann muß ſie gegen die Con¬

ſtitution manövriren und pactiſiren; ſie muß ſich eine Majorität

künſtlich ſchaffen oder vorübergehend zu erwerben ſuchen. Sie ver¬

fällt dann in die Schwäche der Coalitions-Miniſterien, und ihre

Politik geräth in Fluctuationen, die für das Staatsweſen und

namentlich für das conſervative Prinzip von höchſt nachtheiliger

Wirkung ſind“ 1).

Ungeachtet dieſer Warnung gelangte das Geſetz mit einer von

der Regirung zugeſtandenen Abſchwächung am 7. Februar nur mit

einer Mehrheit von 32 Stimmen zur Annahme, weil die meiſten

Conſervativen dagegen ſtimmten. Auch in der Commiſſion des

Herrenhauſes wiederholte ſich der Angriff von conſervativer Seite.

Mit welchen Mitteln damals operirt wurde, zeigt folgender Vor¬

gang. Karl von Bodelſchwingh, während des Conflicts Finanz¬

miniſter, der 1866 die Beſchaffung der für den Krieg erforder¬

lichen Geldmittel abgelehnt hatte und deshalb durch den Freiherrn

von der Heydt erſetzt worden war, hatte in der conſervativen Fraction

verbreitet, daß mir die Ablehnung der Vorlage eigentlich recht ſein

würde, und erbot ſich, dafür einen Beweis zu erbringen. Er trat

in dem Sitzungsſaale beim Beginn der Verhandlungen an mich

heran, leitete ein gleichgültiges Geſpräch mit der Frage nach dem

Befinden meiner Frau ein und kehrte in die Mitte ſeiner Fractions¬

genoſſen zurück mit der Erklärung, er ſei nach Rückſprache mit mir

ſeiner Sache ſicher.

Wenn man die ſehr ſachkundigen Berichte lieſt, welche Roon,

damals in Bordighera, im Februar 1868 von Mitgliedern der con¬

ſervativen Partei empfing, abgedruckt in der „Deutſchen Revue“ vom

April 1891 2), ſo ſieht man, daß die Conſervativen von mir ver¬

langten, in ihre Fraction einzutreten. Ich hatte wenig Zeit übrig,

war präoccupirt durch das, was wir von Frankreich zu erwarten

1) Politiſche Reden III 456.

2) Vgl. Denkwürdigkeiten III 4 62 ff.

[144/0168]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.

hatten, durch die Möglichkeit, ja Wahrſcheinlichkeit, daß Oeſtreich

unter Beuſt auf franzöſiſche Kriegspläne eingehn werde, um 1866

ungeſchehn zu machen, durch die Frage, welche Stellung Rußland,

Baiern, Sachſen zu ſolchen Conjuncturen nehmen würden, endlich

durch das Beſtehn einer hanöverſchen Legion. Dieſe Sorgen und

die Arbeit, zu denen ſie nöthigten, erſchöpften mich vollſtändig, und

dabei verlangten die Herrn, ich ſollte jeden einzelnen Privatpolitiker

ihrer Fraction aufſuchen, bekehren. Ich that das ſogar, ſo weit ich

konnte, aber meine Verſuche wurden durch die Intrigen von Bodel¬

ſchwingh und die Leidenſchaftlichkeit von Vincke, Dieſt, Kleiſt-Retzow

und andern verſtimmten und eiferſüchtigen Standes- und frühern

Fractions-Genoſſen vereitelt.

Wie Roon ſelbſt über die ihm berichteten Zuſtände dachte, er¬

gibt ſich aus ſeinem Briefe an mich vom 19. Februar 1868, aus

Bordighera, deſſen einſchlagende Stellen lauten *):

„Wie es nach den Zeitungen ſcheint, ſo haben Sie ſich und

Andre wieder weidlich geärgert. Mich wundert das nicht, aber es

wurmt mich, daß Diſſonanzen ſo ernſter Art nicht vermieden werden

konnten, Diſſonanzen, welche die Liberalen von Profeſſion in einen

lauten Freudenrauſch verſetzen und die Conſervativen von Metier

noch confuſer zu machen ſcheinen, als ſie es leider ohnehin ſchon

ſind. Was ſollen Sie nach Galignani 1) nicht alles geſagt haben!

Man hat mir die bezüglichen ſtenographiſchen Berichte verheißen;

leider ſind ſie noch nicht in meinen Händen. Ohnehin bin ich in

der Hauptſache — in der Ihres gedrohten Rücktritts — vollkommen

ruhig, denn ich halte einen ſolchen, den Fall der phyſiſchen Un¬

möglichkeit ausgenommen, für abſolut unmöglich. Beunruhigt aber

bin ich dennoch über die immer drohendere Zerſetzung der conſer¬

vativen Partei, welche, falls ſie ſich in der von den Liberalen ge¬

hofften Weiſe vollziehen ſollte, von mir für eine ſehr ernſte und

*) Galignani's Messenger, ein in Paris erſcheinendes engliſches Blatt.

1) Bismarck-Jahrbuch VI 198 f.

[145/0169]

Zerſetzung der conſervativen Partei.

bedeutungsſchwere Sache gehalten werden würde, für einen Vor¬

gang, der Sie und die Regierung zu einem gehorſamen Werkzeug

der liberalen Partei herabwürdigen müßte. Zwar verſtehe ich, daß

es für unſre Politik nützlich, wenn die Liberalen die Hoffnung be¬

halten, die Hand mit an's Ruder legen zu können. Aber ebenſo

begreife ich, daß es ſchädlich ſein würde, wenn die Situation ſich

ſo geſtaltete, daß ihre Theilnahme am Regiment eine unvermeid¬

liche Nothwendigkeit wäre. Sie werden dagegen vielleicht bemerken,

daß die Verworrenheit, Rath- und Kopfloſigkeit der Conſervativen

— ganz abgeſehen von der neidiſchen und boshaften Ueberhebung

Einzelner — von ſelbſt dahin führen werde, und daß Sie dagegen

nichts thun können. Aber iſt denn das ganz richtig? Hätten Sie

Ihre bedeutenden Reſſourcen ernſtlich dazu verwandt, die conſervative

Partei, die leider noch immer nicht klar erkennt, daß ihre heutige

Aufgabe eine andre ſein muß, als 1862 und in den folgenden

Jahren, zu endoctriniren und zu organiſiren, und wollen Sie das

heute noch verſuchen, ſo wird nicht nur die Mesalliance mit den

Liberalen vermieden werden können, ſondern auch aus der refor¬

mirten conſervativen Partei der dauerhafteſte und ſicherſte Stab

für die Wanderung auf dem ſchwierigen aber unvermeidlichen Wege

conſervativen Fortſchritts in innerer reformatoriſcher Erneuerung

gemacht werden können. — Wohl kann Ein Menſch, wie bedeutend

er auch von Gott ausgeſtattet worden, nicht Alles ſelbſt thun, was

gethan werden muß. Indem ich dies ausſpreche, ſchließe ich jeden

Vorwurf aus, der für Sie in Vorſtehendem gefunden werden könnte.

Ich erkenne vielmehr gern und wiederholt an, daß Ihre amtlichen

Helfer Ihnen und Ihren Zielen nicht die entſprechende Unterſtützung

gewähren. Und wenn ich von der Reform der conſervativen Partei

ſprach, ſo erkenne ich an, daß dieſe Aufgabe zunächſt die des

Miniſters des Innern ſein ſollte. Aber beſitzt Graf E. das zu der

Löſung derſelben unentbehrliche Vertrauen? (und Pflichtgefühl!) 1)

1) Zuſatz Bismarcks.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 10

[146/0170]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.

Wo ſollen Sie andre Collegen hernehmen, namentlich einen andern

Miniſter des Innern? Aus der Reihe der Nationalliberalen? Der

Gedanke iſt mir unerträglich. Aus den Conſervativen? Wen aber?

Die organiſatoriſch ſchöpferiſchen Geiſter unter ihnen ſind unbe¬

kannte Größen, und ſo ſehr ich unſrem bureaukratiſchen Unweſen

abhold bin, das ſehe ich ein, der Betreffende müßte es kennen, um

es reformiren zu können.“

Einige Tage ſpäter, am 25. Februar, ſchrieb Roon an ſeinen

älteſten Sohn 1):

„... Ueber Politik und Conflict möchte ich am liebſten gar

nichts ſchreiben, nachdem ich auf Grund des am 9. mir geſandten

vertraulichen Berichtes am 19. an Graf Bismarck geſchrieben, um

ihm mein Bedauern auszuſprechen, daß die Dinge ſo verlaufen

ſind u. ſ. w. Die ſtenographiſchen Berichte, welche mir verheißen

ſind, können wahrſcheinlich an meiner Auffaſſung der Dinge nichts

ändern: Bismarck kann unmöglich Alles ſelbſt thun. Die noth¬

wendig gewordene Organiſation oder Reorganiſation der conſer¬

vativen Partei iſt rite Sache des Miniſters des Innern, und weder

Bismarck, noch ich, noch Blanckenburg oder ſonſt Jemand hat dazu

den amtlichen Beruf. Iſt der dazu allein Berufene dazu nicht ge¬

neigt oder geeignet, ſo fehlt ihm etwas Unentbehrliches für ſein

Amt, und die daraus ſich ergebende Folgerung mag man ziehen und

darnach verfahren. Was durch Bismarcks Verhalten gegen die

Conſervativen, durch meine oder Blanckenburgs Abweſenheit an

heilſamer Einwirkung etwa unterblieben iſt: daraus kann man auch

für Bismarck kaum einen wohlbegründeten Vorwurf ableiten. Wenn

man, wie ich, ganz ſicher weiß, wie Ungeheures B. zu leiſten hat

und auch leiſtet, ſo kann man ihn billigerweiſe nicht ſchelten, daß

er nicht auch noch mehr leiſtet und für ſeines Collegen Verſäum¬

niß oder Unfähigkeit eintritt. Der allein gegen ihn zu begründende

Vorwurf würde vielmehr nur darin beſtehen, wenn man mit Grund

1) Denkwürdigkeiten III 4 70 ff.

[147/0171]

Zerſetzung der conſervativen Partei. Motive der Gegnerſchaft.

behaupten könnte, daß er nicht Alles was möglich gethan, um ſich

wirkſamere Gehülfen zu verſchaffen, und vielleicht kann man dies;

aber ich, der ich die betreffenden perſönlichen Beziehungen, trotz

meiner Entfernung, vielleicht beſſer und richtiger beurtheilen kann,

als ſonſt Jemand, vermag doch kaum eine ſolche Behauptung mit

voller Beſtimmtheit auszuſprechen. Uebrigens wird der Bruch heilen,

denn er muß heilen; wir können uns auf keine andre Partei in

der Hauptſache ſtützen, aber die Partei muß endlich begreifen,

daß ihre heutigen Auffaſſungen und Aufgaben weſentlich andre

ſein müſſen, als zur Zeit des Conflicts; ſie muß eine Partei

des conſervativen Fortſchritts ſein und werden und die

Rolle des Hemmſchuhs aufgeben, ſo weſentlich und nothwendig

ſolche zur Zeit der Uebermacht des demokratiſchen Fortſchritts und

der damit angedrohten demagogiſchen Ueberſtürzung auch ſein mochte

und in der That geweſen iſt. Dies ſind in nuce meine Gedanken

über die neueſte Situation; natürlich ſind ſie nur für die aller¬

vertrauteſten Kreiſe zur Mittheilung geeignet. ...“

II.

Roons Erwartung erfüllte ſich nicht; die conſervative Partei

blieb, was ſie war; der Conflict, in den ſie ſich mit mir ver¬

ſetzt hatte, dauerte mehr oder weniger latent fort. Ich begreife,

daß meiner Politik die mit dem vulgären Namen Kreuzzeitung

bezeichnete conſervative Richtung feindlich war, in manchen Mit¬

gliedern aus achtbaren prinzipiellen Gründen, die in dem Ein¬

zelnen eine ſtärkere Triebkraft ausübten, als ihr mehr preußiſches

wie deutſches Nationalgefühl. In andern, ich möchte ſagen in

meinen Gegnern zweiter Claſſe, lag das Motiv der Oppoſition im

Streberthum — ôte-toi, que je m'y mette — deren Prototyp

Harry Arnim, Robert Goltz und Andre waren. Als dritte Claſſe

möchte ich meine Standesgenoſſen im Landadel bezeichnen, die ſich

[148/0172]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.

ärgerten, weil ich in meinem exceptionellen Lebenslauf aus dem

mehr polniſchen als deutſchen Begriff der traditionellen Landadels¬

gleichheit herausgewachſen war. Daß ich vom Landjunker zum

Miniſter wurde, hätte man mir verziehn, aber die Dotationen

und vielleicht auch den mir ſehr gegen meinen Willen verliehenen

Fürſtentitel verzieh man mir nicht. Die „Excellenz“ lag innerhalb

des gewohnheitsmäßig Erreichbaren und Geſchätzten; die „Durch¬

laucht“ reizte die Kritik. Ich kann das nachempfinden, denn dieſer

Kritik entſprach meine eigne. Als mir am Morgen des 21. März

1871 ein eigenhändiges Handſchreiben des Kaiſers die Erhebung in

den Fürſtenſtand anzeigte, war ich entſchloſſen, Se. Majeſtät um

Verzicht auf ſeine Abſicht zu bitten, weil dieſe Standeserhöhung in

die Baſis meines Vermögens und in meine ganzen Lebensverhält¬

niſſe eine mir unſympathiſche Aenderung bringe. So gern ich mir

meine Söhne als bequem ſituirte Landedelleute dachte, ſo unwill¬

kommen war mir der Gedanke an Fürſten mit unzulänglichem Ein¬

kommen nach dem Beiſpiel von Hardenberg und Blücher, deren Söhne

die Erbſchaft des Titels nicht antraten — der Blücherſche wurde

Jahrzehnte ſpäter (1861) erſt infolge einer reichen und katholiſchen

Heirath erneuert. In Erwägung aller Gründe gegen eine Standes¬

erhöhung, die ganz außerhalb des Bereichs meines Ehrgeizes lag,

langte ich auf den obern Stufen der Schloßtreppe an und fand

dort zu meiner Ueberraſchung den Kaiſer an der Spitze der könig¬

lichen Familie, der mich herzlich und mit Thränen in ſeine Arme

ſchloß, indem er mich als Fürſten begrüßte, und ſeine Freude, mir

dieſe Auszeichnung gewähren zu können, laut äußerte. Dem gegen¬

über und unter den lebhaften Glückwünſchen der königlichen Familie

blieb mir keine Möglichkeit, meine Bedenken anzubringen. Das

Gefühl, daß man als Graf wohlhabend ſein kann, ohne unan¬

genehm aufzufallen, als Fürſt aber, wenn man letztres vermeiden

will, reich ſein muß, hat mich ſeitdem nie wieder verlaſſen. Ich

würde die Mißgunſt meiner frühern Freunde und Standesgenoſſen

noch bequemer ertragen haben, wenn ſie in meiner Geſinnung

[149/0173]

Der Neid der Standesgenoſſen. Schulaufſichtsgeſetz.

begründet geweſen wäre. Sie fand ihren Ausdruck und ihre Vorwände

in der verurtheilenden Kritik, welcher meine Politik von Seiten der

preußiſchen Conſervativen unter der Führung des mir verwandten

Herrn von Kleiſt-Retzow bei Gelegenheit des Schulaufſichtsgeſetzes

1872 und bei einigen andern Anläſſen unterzogen wurde.

Die Oppoſition der Conſervativen gegen das noch von Mühler

vorgelegte Schulaufſichtsgeſetz begann ſchon im Abgeordnetenhauſe

und ging darauf aus, die Localinſpection über die Volksſchule ge¬

ſetzlich dem Ortsgeiſtlichen zu vindiciren, auch in Polen, während

die Vorlage den Behörden freie Hand in der Wahl des Schul¬

inſpectors ließ. In der erregten Debatte, an die manche alte

Mitglieder des Landtags ſich 1892 erinnert haben werden, ſagte

ich am 13. Februar 1872:

„Der Vorredner (Lasker) hat geſagt, es ſei ihm und den

Seinigen undenkbar geweſen, daß in einer prinzipiellen und von

uns für die Sicherheit des Staates für wichtig erklärten Frage, in

einer Frage von der Bedeutung die bisherige conſervative Partei

der Regirung offen den Krieg erklärte. Ich will mir dieſen letztern

Ausdruck nicht aneignen, aber ich darf das wohl beſtätigen, daß es

auch mir undenkbar geweſen iſt, daß dieſe Partei die Regirung in

einer Frage im Stiche laſſen werde, in welcher die Regirung ihrer¬

ſeits entſchloſſen iſt, jedes conſtitutionelle Mittel zur Anwendung zu

bringen, um ſie durchzuführen“ 1).

Nachdem das Geſetz in der von der Regirung genehmigten

Faſſung mit 207 Stimmen gegen 155 Stimmen von Clericalen,

Conſervativen und Polen angenommen war, gelangte es am

6. März in dem Herrenhauſe zur Berathung. Aus meiner Rede

will ich eine Stelle anführen:

„Die Frage iſt nach der evangeliſchen Seite hin zu einer

Wichtigkeit aufgebläht worden, als wollten wir jetzt ſämmtliche Geiſt¬

liche abſetzen, eine tabula rasa ſchaffen und mit dieſen 20000 Tha¬

1) Politiſche Reden V 283.

[150/0174]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.

lern, die wir fordern, den evangeliſchen Staat auf den Kopf ſtellen.

Wären dieſe Uebertreibungen nicht geſchehn, ſo wären die bedauer¬

lichen Streitigkeiten und Reibungen bei dieſem Geſetz vollſtändig über¬

flüſſig geweſen; das Geſetz hat ſeine übertriebene Wichtigkeit erſt durch

den uns ganz unerwarteten Widerſtand der conſervativen Partei evan¬

geliſcher Confeſſion erhalten, einen Widerſtand, in deſſen Geneſis ich

hier nicht näher eingehn will — ich könnte es nicht, ohne perſönlich

zu werden — der aber für die Staatsregirung eine tief ſchmerzliche

und für die Zukunft entmuthigende Erfahrung bildet. Nachdem

ich Ihnen mit einer Offenheit, zu der conſervative Leute die Staats¬

regirung niemals zwingen ſollten, die Geneſis und Tendenz dieſes

Geſetzes dargelegt habe, ſollten Sie die Nothwendigkeit, daß unſre

bisher nicht deutſch ſprechenden Landsleute Deutſch lernen, aner¬

kennen. Das iſt für mich der Hauptpunkt dieſes Geſetzes“ 1).

In einem Hauſe von 202 ſtimmten 76 gegen das Geſetz.

Ich hatte noch am Abend vorher mit großer Anſtrengung verſucht,

Herrn von Kleiſt die muthmaßlichen Folgen der Politik darzuſtellen,

zu der er ſeine Freunde verleitete, fand mich aber einem parti

pris gegenüber, bezüglich deſſen Unterlage ich keine Conjectur

machen will. Der Bruch mit mir wurde von jener Seite mit

einer Schärfe äußerlich vollzogen, aus der ebenſo viel perſönliche

als politiſche Leidenſchaft hervorleuchtete. Die Ueberzeugung, daß

dieſer mir perſönlich naheſtehende Parteimann das Land und die

conſervative Sache ſchwer geſchädigt hat, währt bis auf den heutigen

Tag. Wenn die conſervative Partei, anſtatt mit mir zu brechen

und mich mit einer Bitterkeit und einem Fanatismus zu bekämpfen,

worin ſie keiner ſtaatsfeindlichen Partei etwas nachgab, der Re¬

girung des Kaiſers geholfen hätte, in ehrlicher gemeinſamer Arbeit

die Reichsgeſetzgebung auszubauen, ſo würde der Ausbau nicht ohne

tiefe Spuren ſolcher conſervativen Mitarbeit geblieben ſein. Aus¬

gebaut mußte werden, wenn die politiſchen und militäriſchen Er¬

1) Politiſche Reden V 304 f.

[151/0175]

Schroffe Ablehnung der Conſervativen.

rungenſchaften vor Zerbröckelung und centrifugaler Rückbildung

geſchützt werden ſollten.

Ich weiß nicht, wie weit ich conſervativer Mitwirkung hätte

entgegenkommen können, jedenfalls weiter, als es in den durch den

Bruch entſtandenen Verhältniſſen geſchehn iſt. Ich hielt für die

damalige Zeit bei den Gefahren, die unſre Kriege geſchaffen

hatten, die Unterſchiede der Parteidoctrinen für untergeordnet im

Vergleiche mit der Nothwendigkeit der politiſchen Deckung nach Außen

durch möglichſt geſchloſſene Einheit der Nation in ſich. Als erſte

Bedingung galt mir die Unabhängigkeit Deutſchlands auf Grund

einer zum Selbſtſchutz hinreichend ſtarken Einheit, und ich hatte

und habe zu der Einſicht und Beſonnenheit der Nation das Ver¬

trauen, daß ſie Auswüchſe und Fehler der nationalen Einrichtungen

heilen und ausmerzen wird, wenn ſie daran nicht durch die Ab¬

hängigkeit von dem übrigen Europa und von innern Fractions-

und Sonderintereſſen verhindert wird, wie es bis 1866 der Fall

war. In dieſer Auffaſſung kam es mir auf die Frage, ob liberal,

ob conſervativ, in der damaligen Kriegs- und Coalitionsgefahr ſo

wenig wie heut in erſter Linie an, ſondern auf die freie Selbſt¬

beſtimmung der Nation und ihrer Fürſten. Ich gebe auch heut

dieſe Hoffnung nicht auf, wenn auch ohne die Gewißheit, daß unſre

politiſche Zukunft nicht noch durch Mißgriffe und Unfälle im wei¬

tern Ausbau geſchädigt werden wird.

III.

Die excluſivere Fühlung mit den Nationalliberalen, zu welcher

der Abfall der Conſervativen mich nothwendig führte, wurde in

Kreiſen der letztern Grund oder Vorwand zu geſteigerter Animoſität

gegen mich. In der Zeit, während deren ich, durch Krankheit ge¬

nöthigt, dem Grafen Roon den Vorſitz im Staatsminiſterium ab¬

[152/0176]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.

getreten hatte, von Neujahr bis November 1873, fanden bei ihm

in kleinen und größern Kreiſen abendliche Begegnungen mir feind¬

licher Politiker der rechten Seite ſtatt. An dieſen nahm Graf

Harry Arnim, der Herrngeſellſchaften ohne politiſchen Zweck nicht

zu beſuchen pflegte, wenn er ſich auf Urlaub in Berlin befand, in

der Rolle Theil, daß er auf die Anweſenden den Eindruck machte,

den mir Roon ſelbſt mit den Worten wiedergab: „In dem ſteckt

doch ein tüchtiger Junker!“ Die geſprächliche Verbindung, in welcher

dieſes Urtheil ausgeſprochen wurde, und die öftere ſcharf accen¬

tuirte Wiederholung deſſelben im Munde meines Freundes und

Collegen hatte die Tragweite eines Vorwurfs für mich wegen

Mangels gleicher Eigenſchaften, und einer Andeutung, als ob Arnim

die innere Politik ſchneidiger und conſervativer behandeln würde,

wenn er an meiner Stelle wäre. In den Unterredungen, in

denen dieſes Thema des Arnimſchen Junkerthums breit entwickelt

wurde, gewann ich den Eindruck, daß auch mein alter Freund

Roon unter der Einwirkung der bei ihm ſtattfindenden Conventikel

in dem Vertrauen zu meiner Politik einigermaßen erſchüttert war.

Zu den betreffenden Kreiſen gehörte auch Oberſt von Caprivi,

damals Abtheilungschef im Kriegsminiſterium. Ich will nicht ent¬

ſcheiden, zu welchen der S. 147 aufgeführten Kategorien meiner

Gegner er damals gehörte; bekannt iſt mir nur ſeine perſönliche

Beziehung zu Mitarbeitern an der „Reichsglocke“, wie dem Geheim¬

rath von Lebbin, Perſonalrath im Miniſterium des Innern, der auch

in ſeinem Reſſort einen mir feindlichen Einfluß ausübte. Der Feld¬

marſchall von Manteuffel hat mir geſagt, daß Caprivi ſeinen, Man¬

teuffels, Einfluß bei dem Kaiſer gegen mich anzuſpannen verſucht und

meine „Feindſchaft gegen die Armee“ *) als Grund zur Klage und

als eine Gefahr bezeichnet habe. Es iſt erſtaunlich, daß Caprivi

ſich dabei nicht erinnert hat, wie die Armee vor und zur Zeit meines

*) Vergl. zu dieſem Vorwurf den Brief des Kaiſers Friedrich vom

25. März 1888 in Kapitel 33, S. 311

[153/0177]

Conventikel bei Roon. Kreuzzeitungs-Verleumdungen.

Eintritts ins Amt, 1862, civiliſtiſch bekämpft, kritiſirt und ſtief¬

mütterlich verkürzt wurde, und wie ſie unter meiner Amtsführung

aus der Alltäglichkeit des Garniſonlebens über Düppel, Sadowa und

Sedan von 1864–1871 dreimal zum Einzuge in Berlin gelangte.

Ich darf ohne Ueberhebung annehmen, daß König Wilhelm 1862 ab¬

dicirt hätte, daß die Politik, die den Ruhm der Armee gründete,

vielleicht nicht oder nicht ſo, wie geſchah, in's Leben getreten wäre,

wenn ich ihre Leitung nicht übernommen hätte. Würde die Armee

zu ihren Heldenthaten und Graf Moltke auch nur den Degen zu

ziehn Gelegenheit erhalten haben, wenn König Wilhelm I. anders

und durch Andre berathen worden wäre? Wohl ſicher nicht, wenn

er 1862 abdicirt hätte, weil er niemand fand, der die Gefahren

ſeiner Stellung zu theilen und zu beſtehn bereit war.

IV.

Als die Kreuzzeitung, weil ich Parlamentsherrſchaft und

Atheismus proclamirt hätte, ſchon am 11. Februar 1872 Fehde

angeſagt und unter Nathuſius Ludom 1875 mit den ſogenannten

Aeraartikeln Perrots *) den Verleumdungsfeldzug gegen mich eröffnet

hatte, wandte ich mich brieflich an Amsberg, eine unſrer höchſten

juriſtiſchen Autoritäten, und an den Juſtizminiſter mit der Frage,

ob, wenn ich einen Strafantrag ſtellte, eine Verurtheilung des

Verfaſſers mit Sicherheit zu erwarten ſei; andernfalls würde ich

von einem ſolchen abſtehn, weil ein freiſprechendes Erkenntniß

meinen Gegnern neue Vorwände zu Verdächtigungen geben könnte.

Die Antwort Beider und meines gleichfalls befragten Rechtsanwalts

fiel dahin aus, daß die Verurtheilung wahrſcheinlich, aber bei

der vorſichtigen Faſſung der Artikel nicht ſicher ſei. Ich hatte mir

*) Dr. Perrot, Hauptmann a. D., geb. in Trier, geſt. 1891, Verfaſſer

national-ökonomiſcher Brochüren, zuletzt Kaufmann.

[154/0178]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.

damals über die Stellung von Strafanträgen noch keine beſtimmten

Grundſätze gebildet, und die Erfahrungen, welche ich in der Con¬

flictszeit gemacht hatte, waren nicht grade ermuthigend; ich erinnere

mich, daß ein Ortsgericht, ich glaube in Stendal, in den Gründen

ſeines Erkenntniſſes die Schwere der öffentlich gegen mich gerich¬

teten Beleidigungen zwar reichlich zugab, aber die Feſtſetzung einer

Minimalſtrafe von 10 Thalern damit motivirte, daß ich wirklich

ein übler Miniſter ſei.

Als die Perrotſchen Artikel erſchienen, ſah ich auch noch nicht

voraus, welchen Umfang der Verleumdungsfeldzug gegen mich von

Seiten meiner frühern Parteigenoſſen und namentlich in den

Kreiſen meiner Standesgenoſſen annehmen ſollte.

V.

Jeder, der heutiger Zeit in politiſchen Kämpfen geſtanden hat,

wird die Wahrnehmung gemacht haben, daß Parteimänner, über

deren Wohlerzogenheit und Rechtlichkeit im Privatleben nie Zweifel

aufgekommen ſind, ſobald ſie in Kämpfe der Art gerathen, ſich

von den Regeln des Ehrgefühls und der Schicklichkeit, deren

Autorität ſie ſonſt anerkennen, für entbunden halten und aus einer

karikirenden Uebertreibung des Satzes salus publica suprema lex

die Rechtfertigung für Gemeinheiten und Rohheiten in Sprache

und Handlungen ableiten, durch die ſie ſich außerhalb der poli¬

tiſchen und religiöſen Streitigkeiten ſelbſt angewidert fühlen würden.

Dieſe Losſagung von Allem, was ſchicklich und ehrlich iſt, hängt

undeutlich mit dem Gefühle zuſammen, daß man im Intereſſe der

Partei, das man dem des Vaterlandes unterſchiebt, mit anderm

Maße zu meſſen habe als im Privatleben, und daß die Gebote

der Ehre und Erziehung in Parteikämpfen anders und loſer aus¬

zulegen ſeien, als ſelbſt im Kriegsgebrauch gegen ausländiſche Feinde.

Die Reizbarkeit, die zur Ueberſchreitung der ſonſt üblichen Formen

[155/0179]

Die Aera-Artikel. Rohheit des Parteikampfes.

und Grenzen führt, wird unbewußt dadurch verſchärft, daß in der

Politik und in der Religion Keiner dem Andersgläubigen die Richtig¬

keit der eignen Ueberzeugung, des eignen Glaubens concludent

nachweiſen kann, und daß kein Gerichtshof vorhanden iſt, der die

Meinungsverſchiedenheiten durch Erkenntniß zur Ruhe verweiſen

könnte.

In der Politik wie auf dem Gebiete des religiöſen Glaubens

kann der Conſervative dem Liberalen, der Royaliſt dem Republi¬

kaner, der Gläubige dem Ungläubigen niemals ein andres Argu¬

ment entgegenhalten, als das in tauſend Variationen der Beredſam¬

keit breitgetretene Thema: meine politiſchen Ueberzeugungen ſind

richtig und die deinigen falſch; mein Glaube iſt Gott wohlgefällig,

dein Unglaube führt zur Verdammniß. Es iſt daher erklärlich,

daß aus kirchlichen Meinungsverſchiedenheiten Religionskriege ent¬

ſtehn und durch politiſche Parteikämpfe, ſo lange nicht ihre Erledi¬

gung durch Bürgerkrieg ſtattfindet, doch ein Umſturz der Schran¬

ken herbeigeführt wird, die durch Anſtand und Ehrgefühl wohl¬

erzogner Leute im außerpolitiſchen Lebensverkehr aufrecht erhalten

werden. Welcher gebildete und wohlerzogne Deutſche würde ver¬

ſuchen, im gewöhnlichen Verkehr auch nur einen geringen Theil

der Grobheiten und Bosheiten zur Verwendung zu bringen, die

er nicht anſteht, von der Rednertribüne vor hundert Zeugen ſeinem

bürgerlich gleich achtbaren Gegner in einer ſchreienden, in keiner

anſtändigen Geſellſchaft üblichen Tonart in's Geſicht zu werfen?

Wer würde es außerhalb des politiſchen Parteitreibens mit der

von ihm ſelbſt beanſpruchten Stellung eines Edelmannes von gutem

Hauſe verträglich halten, ſich in den Geſellſchaften, wo er verkehrt,

gewerbsmäßig zum Colporteur von Lügen und Verleumdungen

gegen andre Genoſſen ſeiner Geſellſchaft und ſeines Standes zu

machen? Wer würde ſich nicht ſchämen, auf dieſe Weiſe un¬

beſcholtene Leute unehrlicher Handlungen zu beſchuldigen, ohne ſie

beweiſen zu können? Kurz, wer würde anderswo als auf dem

Gebiete politiſcher Parteikämpfe die Rolle eines gewiſſenloſen Ver¬

[156/0180]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.

leumders bereitwillig übernehmen? Sobald man aber vor dem

eignen Gewiſſen und vor der Fraction ſich damit decken kann, daß

man im Parteiintereſſe auftritt, ſo gilt jede Gemeinheit für erlaubt

oder doch für entſchuldbar.

Gegen mich begannen die Verleumdungen in dem Blatte,

das unter dem chriſtlichen Symbol des Kreuzes und mit dem

Motto „Mit Gott für König und Vaterland“ ſeit Jahren nicht

mehr die conſervative Fraction und noch weniger das Chriſtenthum,

ſondern nur den Ehrgeiz und die gehäſſige Verbiſſenheit einzelner

Redacteure vertritt. Als ich über die Giftmiſchereien des Blattes

am 9. Februar 1876 in öffentlicher Rede Klage geführt hatte 1), ant¬

wortete mir die Kundgebung der ſogenannten Declaranten, deren

wiſſenſchaftliches Contingent aus einigen Hundert evangeliſchen Geiſt¬

lichen beſtand, die in ihrem amtlichen Charakter mir in dieſer Form

als Eideshelfer der Kreuzzeitungslügen entgegentraten und ihre

Miſſion als Diener der chriſtlichen Kirche und ihres Friedens da¬

durch bethätigten, daß ſie die Verleumdungen des Blattes öffentlich

contraſignirten. Ich habe gegen Politiker in langen Kleidern,

weiblichen und prieſterlichen, immer Mißtrauen gehegt, und dieſes

Pronunciamiento einiger Hundert evangeliſcher Pfarrer zu Gunſten

einer der frivolſten, gegen den erſten Beamten des Landes gerich¬

teten Verleumdung war nicht geeignet, mein Vertrauen grade zu

Politikern, die im Prieſterrock, auch in einem evangeliſchen, ſtecken,

zu ſtärken. Zwiſchen mir und allen Declaranten, von denen viele

bis dahin zu meinen Bekannten, ſogar zu meinen Freunden gehört

hatten, war, nachdem ſie ſich die ehrenrührigen Beſchimpfungen

aus der Feder Perrots angeeignet hatten, die Möglichkeit eines

perſönlichen Verkehrs vollſtändig abgeſchnitten.

Für die Nerven eines Mannes in reifen Jahren iſt es eine

harte Probe, plötzlich mit allen oder faſt allen Freunden und Be¬

kannten den bisherigen Umgang abzubrechen. Meine Geſundheit

1) Politiſche Reden VI 351.

[157/0181]

Die Declaranten als Eideshelfer. Bruch mit Freunden.

war damals längſt geſchwächt, nicht durch die Arbeiten, welche mir

oblagen, aber durch das ununterbrochene Bewußtſein der Verant¬

wortlichkeit für große Ereigniſſe, bei denen die Zukunft des Vater¬

landes auf dem Spiele ſtand. Ich habe natürlich während der

bewegten und gelegentlich ſtürmiſchen Entwicklung unſrer Politik

nicht immer mit Sicherheit vorausſehn können, ob der Weg,

den ich einſchlug, der richtige war, und doch war ich gezwungen,

ſo zu handeln, als ob ich die kommenden Ereigniſſe und die Wir¬

kung der eignen Entſchließungen auf dieſelben mit voller Klarheit

vorausſehe. Die Frage, ob das eigne Augenmaß, der politiſche

Inſtinct, ihn richtig leitet, iſt ziemlich gleichgültig für einen Miniſter,

dem alle Zweifel gelöſt ſind, ſobald er durch die königliche Unter¬

ſchrift oder durch eine parlamentariſche Mehrheit ſich gedeckt fühlt,

man könnte ſagen, einen Miniſter katholiſcher Politik, der im Beſitz

der Abſolution iſt, und den die mehr proteſtantiſche Frage, ob er

ſeine eigne Abſolution hat, nicht kümmert. Für einen Miniſter

aber, der ſeine Ehre mit der des Landes vollſtändig identificirt, iſt

die Ungewißheit des Erfolges einer jeden politiſchen Entſchließung

von aufreibender Wirkung. Man kann die politiſche Geſtaltung

in der Zeit, welche die Durchführung einer Maßregel bedarf, ſo

wenig mit Sicherheit vorherſehn, wie das Wetter der nächſten

Tage in unſerm Klima, und muß doch ſeine Entſchließung faſſen,

als ob man es könnte, nicht ſelten im Kampfe gegen alle Einflüſſe,

denen Gewicht beizulegen man gewöhnt iſt, wie z. B. in Nikols¬

burg zur Zeit der Friedensverhandlungen, wo ich die einzige Perſon

war und blieb, die ſchließlich für das, was geſchah, und für den

Erfolg verantwortlich gemacht wurde und nach unſern Inſtitutionen

und Gewöhnungen auch verantwortlich war, und wo ich meine

Entſchließung im Widerſpruch nicht nur mit allen Militärs, alſo

mit allen Anweſenden, ſondern auch mit dem Könige faſſen und

in ſchwerem Kampfe aufrecht halten mußte. Die Erwägung der

Frage, ob eine Entſchließung richtig ſei, und ob das Feſthalten und

Durchführen des auf Grund ſchwacher Prämiſſen für richtig Er¬

[158/0182]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.

kannten richtig ſei, hat für jeden gewiſſenhaften und ehrliebenden

Menſchen etwas Aufreibendes; es wird verſtärkt durch die Thatſache,

daß lange Zeit vergeht, oft viele Jahre, bevor man in der Politik

ſich ſelbſt überzeugt, ob das Gewollte und Geſchehene das Richtige

war oder nicht. Nicht die Arbeit iſt das Aufreibende, die Zweifel

und Sorgen ſind es und das Ehrgefühl, die Verantwortlichkeit, ohne

daß man zur Unterſtützung der letztern etwas andres als die

eigne Ueberzeugung und den eignen Willen anführen kann, wie

das grade in den wichtigſten Kriſen am ſchärfſten Platz greift.

Der Verkehr mit Andern, die man für gleichgeſtellt hält, er¬

leichtert die Ueberwindung ſolcher Kriſen, und wenn er plötzlich

aufhört und aus Motiven, die mehr perſönlich als ſachlich, mehr

mißgünſtig als ehrlich, und ſo weit ſie ehrlich, ganz banau¬

ſiſcher Natur ſind, der betheiligte verantwortliche Miniſter plötzlich

von allen bisherigen Freunden boycottirt, als Feind behandelt, alſo

mit ſich und ſeinen Erwägungen vereinſamt wird, ſo muß das den

Eingriff ſeiner amtlichen Sorgen in ſeine Nerven und ſeine Ge¬

ſundheit verſchärfen.

VI.

Man hätte glauben ſollen, daß die nationalliberale Partei,

durch deren Begünſtigung ich mir das Uebelwollen meiner frühern

conſervativen Parteigenoſſen zugezogen hatte, durch die rohen und

unwürdigen Angriffe auf meine perſönliche Ehrenhaftigkeit bewogen

worden wäre, mir in der Abwehr irgendwie beizuſtehn, oder doch

zu erkennen zu geben, daß ſie die Angriffe nicht billigte und die

Anſicht meiner Verleumder über mich nicht theilte; ich erinnere

mich aber nicht, in jener Zeit irgend einen nationalliberalen

Verſuch, mir zur Hülfe zu kommen, in der Preſſe oder ſonſt

im öffentlichen Leben, wahrgenommen zu haben. Es ſchien im

Gegentheil, als ob im nationalliberalen Lager eine gewiſſe Genug¬

thuung darüber herrſchte, daß die conſervative Partei mich angriff

[159/0183]

Haltung der Nationalliberalen. Fractionsbeſchränktheit.

und mit mir brach, und als ob man bemüht wäre, den Bruch zu

erweitern und bei mir den Stachel tiefer einzudrücken. Liberale

und Conſervative waren darüber einig, je nach dem Fractions¬

intereſſe mich zu verbrauchen, fallen zu laſſen und anzugreifen. Die

Frage, ob es dem Lande, dem allgemeinen Intereſſe nützlich ſei,

wird theoretiſch natürlich von jeder Fraction als die dominirende

bezeichnet, und jede behauptet, daß ſie eben auf dem Fractions¬

wege das Wohl der Geſammtheit ſuche und finde. In der That

aber iſt mir der Eindruck verblieben, daß jede unſrer Fractionen

ihre Politik betreibt, als ob ſie allein da ſei, ohne Rückſicht auf

das Ganze und auf das Ausland ſich auf ihrer Fractionsinſel

iſolirt. Dabei kann man nicht einmal ſagen, daß die verſchiedenen

Wege der Fractionen auf dem politiſchen Kampfplatz durch Ver¬

ſchiedenheit der politiſchen Grundſätze und Ueberzeugungen in jedem

Einzelnen zu einer Gewiſſensfrage und Nothwendigkeit würden; es

geht den meiſten Fractionsmitgliedern wie den meiſten Bekennern

verſchiedener Confeſſionen; ſie gerathen in Verlegenheit, wenn man

ſie bittet, die unterſcheidenden Merkmale der eignen Ueberzeugung

den andern concurrirenden gegenüber anzuführen. In unſern

Fractionen iſt der eigentliche Kryſtalliſationspunkt nicht ein Pro¬

gramm, ſondern eine Perſon, ein parlamentariſcher Condottiere.

Auch die Beſchlüſſe entſpringen nicht aus den Anſichten der

Mitglieder, ſondern aus dem Willen des Führers oder eines her¬

vorragenden Redners, was in der Regel zuſammenfällt. Der

Verſuch einzelner Mitglieder, gegen die Fractionsleitung, gegen den

ſchlagfertigern Redner aufzukommen, iſt mit ſo viel Unannehm¬

lichkeiten, mit Niederlage in der Abſtimmung, mit Störungen in

dem täglichen, gewohnten Privatverkehr verbunden, daß ſchon ein

recht ſelbſtändiger Charakter dazu gehört, eine von der Fractions¬

leitung abweichende Meinung zu vertreten; und Charakter genügt

nicht, wenn nicht ein ausreichendes Maß von Wiſſen und Arbeits¬

kraft hinzukommt. Die letztre aber nimmt zu in der Richtung

nach links. Die erhaltenden Parteien ſetzen ſich im Ganzen zu¬

[160/0184]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel: Bruch mit den Conſervativen.

ſammen aus den zufriedenen Staatsbürgern, die den ſtatus quo

angreifenden recrutiren ſich naturgemäß mehr aus den mit den

beſtehenden Einrichtungen unzufriedenen; und unter den Elementen,

auf denen die Zufriedenheit beruht, nimmt die Wohlhabenheit nicht

die letzte Stelle ein. Nun iſt es eine Eigenthümlichkeit, wenn nicht

der Menſchen im Allgemeinen, ſo doch der Deutſchen, daß der Un¬

zufriedene arbeitſamer und rühriger iſt als der Zufriedene, der Be¬

gehrliche ſtrebſamer als der Satte. Die geiſtig und körperlich

ſatten Deutſchen ſind gewiß zuweilen aus Pflichtgefühl arbeitſam,

aber in der Mehrheit nicht, und unter den gegen das Beſtehende

Ankämpfenden findet ſich der Wohlhabende bei uns ſeltener aus

Ueberzeugung, öfter von einem Ehrgeiz getrieben, der auf dieſem Wege

ſchnellere Befriedigung hofft oder durch Verſtimmung über politiſche

oder confeſſionelle Widerwärtigkeiten auf ihn gedrängt worden iſt.

Das Ergebniß im Ganzen iſt immer eine größere Arbeitſamkeit unter

den Kräften, die das Beſtehende angreifen, als unter denen, die

es vertheidigen, alſo den Conſervativen. Dieſer Mangel an Arbeit¬

ſamkeit der Mehrheit erleichtert wiederum die Leitung einer conſer¬

vativen Fraction in höherm Maße, als dieſelbe durch individuelle

Selbſtändigkeit und ſtärkern Eigenſinn der Einzelnen erſchwert

werden könnte. Nach meinen Erfahrungen iſt die Abhängigkeit der

conſervativen Fractionen von dem Gebote ihrer Leitung mindeſtens

ebenſo ſtark, vielleicht ſtärker als auf der äußerſten Linken. Die

Scheu vor dem Bruch iſt auf der rechten Seite vielleicht größer

als auf der linken, und der damals auf jeden Einzelnen ſtark

wirkende Vorwurf, „miniſteriell zu ſein“, war der objectiven Be¬

urtheilung auf der rechten Seite oft hinderlicher als auf der linken.

Dieſer Vorwurf hörte ſofort auf, den Conſervativen und andern

Fractionen empfindlich zu ſein, als durch meine Entlaſſung die

regirende Stelle vacant geworden war, und jeder Parteiführer in

der Hoffnung, bei ihrer Wiederbeſetzung betheiligt zu werden, bis

zur unehrlichen Verleugnung und Boycottirung des frühern Kanzlers

und ſeiner Politik ſervil und miniſteriell wurde.

[161/0185]

Herrſchaft der Fractionsführer. Die „Reichsglocke“ am Hofe.

In der Zeit der Declaranten wurde die antiminiſterielle Strö¬

mung, das heißt die Mißgunſt, mit der ich von vielen meiner

Standesgenoſſen betrachtet und behandelt wurde, lebhaft gefördert

durch ſtarke Einflüſſe am Hofe. Der Kaiſer hat mir ſeine Gnade

und ſeine Unterſtützung in Geſchäften niemals verſagt; das hinderte

den Herrn aber nicht, die „Reichsglocke“ täglich zu leſen. Dieſes

nur von der Verleumdung gegen mich lebende Blatt wurde im

Königlichen Hausminiſterium für unſern und andre Höfe in 13 Exem¬

plaren colportirt und hatte ſeine Mitarbeiter nicht nur im katholiſchen,

ſondern auch im evangeliſchen Hof- und Landesadel. Die Kaiſerin

Auguſta ließ mich ihre Ungnade andauernd fühlen, und ihre un¬

mittelbaren Untergebenen, die höchſten Beamten des Hofes, gingen

in ihrem Mangel an Formen ſo weit, daß ich zu ſchriftlichen Be¬

ſchwerden bei Sr. Majeſtät ſelbſt veranlaßt wurde. Dieſe hatten

den Erfolg, daß wenigſtens die äußern Formen mir gegenüber

nicht mehr vernachläſſigt wurden. — Miniſter Falk wurde dem¬

nächſt durch dergleichen höfiſche Unfreundlichkeiten gegen ihn und

ſeine Frau mehr als durch ſachliche Schwierigkeiten ſeiner Stellung

überdrüſſig 1).

1) S. o. S. 131 f.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 11

[[162]/0186]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel.

Intrigen.

I.

Graf Harry Arnim vertrug wenig Wein und ſagte mir ein¬

mal nach einem Frühſtücksglaſe: „In jedem Vordermanne in der

Carrière ſehe ich einen perſönlichen Feind und behandle ihn dem¬

entſprechend. Nur darf er es nicht merken, ſo lange er mein Vor¬

geſetzter iſt.“ Es war dies in der Zeit, als er nach dem Tode

ſeiner erſten Frau aus Rom zurückgekommen, durch eine italieniſche

Amme ſeines Sohnes in roth und gold Aufſehn auf den Pro¬

menaden erregte und in politiſchen Geſprächen gern Macchiavell

und die Werke italieniſcher Jeſuiten und Biographen citirte. Er

poſirte damals in der Rolle eines Ehrgeizigen, der keine Scrupel

kannte, ſpielte hinreißend Klavier und war vermöge ſeiner Schön¬

heit und Gewandheit gefährlich für die Damen, denen er den

Hof machte. Dieſe Gewandheit auszubilden, hatte er frühzeitig

begonnen, indem er als Schüler des Neuſtettiner Gymnaſiums

von den Damen einer wandernden Schauſpielertruppe ſich in die

Lehre nehmen ließ und das mangelnde Orcheſter am Clavier

erſetzte.

Unter den Perſönlichkeiten, die neben ausländiſchen Ein¬

flüſſen, neben der „Reichsglocke“ und ihren Mitarbeitern in ariſto¬

[163/0187]

Graf Harry Arnim.

kratiſchen und Hofkreiſen und in den Miniſterien meiner Collegen,

neben dem verſtimmten Junkerthume und deſſen Aera-Artikeln

in der Kreuzzeitung, daran arbeiteten, mir das Vertrauen des

Kaiſers zu entziehn, ſpielte Graf Harry Arnim eine hervorragende

Rolle.

Am 23. Auguſt 1871 wurde er auf meinen Antrag zum Ge¬

ſandten, demnächſt zum Botſchafter in Paris ernannt, wo ich ſeine

hohe Begabung trotz ſeiner Fehler im Intereſſe des Dienſtes nütz¬

lich zu verwerthen hoffte; er ſah in ſeiner Stellung dort aber nur

eine Stufe, von der aus er mit mehr Erfolg daran arbeiten konnte,

mich zu beſeitigen und mein Nachfolger zu werden. Er machte in

Privatbriefen an den Kaiſer geltend, daß das preußiſche Königs¬

haus gegenwärtig das älteſte in Europa ſei, das ſich in ununter¬

brochner Regirung erhalten habe, und daß dem Kaiſer, als dem

doyen der Monarchen, durch dieſe Gnade Gottes eine Verpflichtung

erwachſe, die Legitimität und Continuität andrer alter Dynaſtien zu

überwachen und zu ſchützen. Die Berührung dieſer Saite im Ge¬

müthe des Kaiſers war pſychologiſch richtig berechnet, und wenn

Arnim allein ihn zu berathen gehabt hätte, ſo wäre es ihm viel¬

leicht gelungen, das klare und nüchterne Urtheil dieſes Herrn durch

ein künſtlich geſteigertes Gefühl von angeſtammter Fürſtenpflicht zu

trüben. Aber er wußte nicht, daß Se. Majeſtät mir in ſeiner

graden und ehrlichen Weiſe die Briefe mittheilte und dadurch Ge¬

legenheit gab, der politiſchen Einſicht, man könnte ſagen, dem ge¬

ſunden Verſtande des Herrn die Schäden und Gefahren der Rath¬

ſchläge darzulegen, denen wir auf dem von Arnim empfohlenen

Wege der Herſtellung der Legitimität in Frankreich entgegengehn

würden.

Meine ſchriftlichen Auslaſſungen in dieſem Sinne erlaubte der

Kaiſer ſpäter Arnimſchen Schmähſchriften gegenüber zu veröffent¬

lichen. In einer derſelben iſt Bezug darauf genommen, daß dem

Könige bekannt ſei, daß Arnims Aufrichtigkeit in maßgebenden

Kreiſen angezweifelt werde, und daß man ihn am engliſchen Hofe

[164/0188]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

als Botſchafter nicht gewünſcht habe, „weil man ihm kein Wort

glauben würde“ 1). Graf Arnim hat wiederholt Verſuche gemacht,

ein Zeugniß des engliſchen Cabinets gegen dieſe meine Andeutung

zu erlangen, und von den ihm mehr als mir wohlwollenden eng¬

liſchen Staatsmännern die Verſicherung erhalten, daß ihnen nichts

derart bekannt ſei. Doch war die von mir angedeutete präventive

Zurückweiſung Arnims in einer Geſtalt an den Kaiſer gelangt,

daß ich mich öffentlich auf Sr. Majeſtät Zeugniß über die That¬

ſache berufen konnte.

Nachdem Arnim ſich 1873 in Berlin überzeugt hatte, daß ſeine

Ausſichten, an meine Stelle zu treten, noch nicht ſo reif waren,

wie er angenommen hatte, verſuchte er einſtweilen das frühere gute

Verhältniß herzuſtellen, ſuchte mich auf, bedauerte, daß wir durch Mi߬

verſtändniſſe und Intrigen Andrer auseinander gekommen wären,

und erinnerte an Beziehungen, die er einſt mit mir gehabt und

geſucht hatte. Zu gut von ſeinem Treiben und von dem Ernſt

ſeines Angriffes auf mich unterrichtet, um mich täuſchen zu laſſen,

ſprach ich ganz offen mit ihm, hielt ihm vor, daß er mit allen mir

feindlichen Elementen in Verbindung getreten ſei, um meine poli¬

tiſche Stellung zu erſchüttern, in der irrigen Annahme, er werde

mein Nachfolger werden, und daß ich an ſeine verſöhnliche Ge¬

ſinnung nicht glaube. Er verließ mich, indem er mit der ihm

eignen Leichtigkeit des Weinens eine Thräne im Auge zerdrückte.

Ich kannte ihn von ſeiner Kindheit an.

Mein amtliches Verfahren gegen Arnim war von ihm pro¬

vocirt durch ſeine Weigerung, amtlichen Inſtructionen Folge zu

leiſten. Ich habe die Thatſache, daß er Gelder, die er zur Ver¬

tretung unſrer Politik in der franzöſiſchen Preſſe erhielt, 6000 bis

7000 Thaler, dazu verwandte, in der deutſchen Preſſe unſre Politik

und meine Stellung anzugreifen, in den Gerichtsverhandlungen nie¬

mals berühren laſſen. Sein Hauptorgan, in welchem er mich und

1) Schreiben an den Kaiſer vom 14. April 1873.

[165/0189]

Graf Harry Arnim.

mit ſteigender Siegeszuverſicht angriff, war damals die „Spener'ſche

Zeitung“, die, im Abſterben begriffen, ihm käuflich war. In der¬

ſelben ließ er Andeutungen machen, als ob er allein ein Mittel

wiſſe, den Kampf mit Rom ſiegreich zu Ende zu führen, und daß

nur mein unberechtigter Ehrgeiz einen überlegnen Staatsmann

wie er ſei, nicht an's Ruder kommen laſſe. Gegen mich hat er ſich

über dieſes Arcanum nicht ausgeſprochen. Daſſelbe beſtand in dem

von einzelnen Canoniſten vertretenen Gedanken, daß die römiſch-

katholiſche Kirche durch die Beſchlüſſe des Vaticanums ihre Natur

verändert habe, ein andres Rechtsſubject geworden ſei und die in

ihrem frühern Daſein erworbenen Eigenthums- und Vertragsrechte

verloren habe. Ich habe dieſes Mittel früher als er erwogen, glaube

aber nicht, daß es eine ſtärkere Wirkung auf den Austrag des

Streites geübt haben würde, als die Gründung der altkatholiſchen

Kirche es vermochte, deren Berechtigung logiſch und juriſtiſch noch

einleuchtender und gerechtfertigter war, als es die angerathne Los¬

ſagung der Preußiſchen Regirung von ihren Beziehungen zur

römiſchen Kirche geweſen ſein würde. Die Zahl der Altkatholiken

giebt das Maß für die Wirkung, welche dieſer Schachzug auf den

Beſtand der Anhänger des Papſtes und des Neokatholicismus

geübt haben würde. Noch weniger verſprach ich mir von dem

Vorſchlage, den Graf Arnim in einem der veröffentlichten Berichte

gemacht hat, die preußiſche Regirung möge „Oratores“ zur Erörte¬

rung der dogmatiſchen Fragen in das Concil ſchicken. Ich ver¬

muthe, daß er darauf durch den Titelkopf der von Paolo Sarpi

verfaßten Geſchichte des Tridentiner Concils gekommen iſt, auf dem

die Verſammlung abgebildet iſt und zwei, an einem beſondern

Tiſche ſitzende Perſonen als Oratores Caesareae Majestatis be¬

zeichnet ſind. Iſt meine Vermuthung richtig, ſo hat Graf Arnim

wiſſen müſſen, daß „orator“ in der clericalen Latinität jener Zeit

der Ausdruck für Geſandter iſt.

In dem Gerichtsverfahren gegen ihn verfolgte ich nur den

Zweck, die von mir dienſtlich geſtellte, von Arnim definitiv

[166/0190]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

abgelehnte Forderung der Herausgabe beſtimmter, zweifellos

amtlicher Beſtandtheile der Botſchaftsacten durchzuſetzen. Mir kam

es nur darauf an, als Vorgeſetzter die amtliche Autorität zu

wahren; ein Straferkenntniß gegen Arnim habe ich weder er¬

ſtrebt noch erwartet, im Gegentheile würde ich, nachdem ein

ſolches erfolgt war, ſeine Begnadigung wirkſam befürwortet

haben, wenn dieſelbe in der durch das Contumacial-Erkennt¬

niß geſchaffenen Lage juriſtiſch zuläſſig geweſen wäre. Mich trieb

keine perſönliche Rachſucht, ſondern, wenn man eine tadelnde

Bezeichnung finden will, eher bürokratiſche Rechthaberei eines in

ſeiner Autorität mißachteten Vorgeſetzten. War ſchon das Erkennt¬

niß in dem erſten Proceß auf neun Monat Gefängniß ein meiner

Anſicht nach übertrieben ſtrenges, ſo war die Verurtheilung in dem

zweiten Proceſſe zu fünf Jahren Zuchthaus doch nur, wie der Ver¬

urtheilte ſelbſt richtig bemerkt hat, dadurch möglich geworden, daß

der regelmäßige Strafrichter nicht in der Lage iſt, die Sünden der

Diplomatie in internationalen Verhandlungen mit vollem Verſtänd¬

niſſe zu beurtheilen. Dieſes Erkenntniß würde ich nur dann für

adäquat gehalten haben, wenn der Verdacht erwieſen geweſen wäre,

daß der Verurtheilte ſeine Verbindungen mit dem Baron Hirſch

benutzt hätte, um die Verzögerung der Ausführung ſeiner Inſtruc¬

tionen Börſenſpeculationen dienſtbar zu machen. Ein Beweis

dafür iſt in dem Gerichtsverfahren weder geführt, noch verſucht

worden. Die Annahme, daß er lediglich aus geſchäftlichen Gründen

die Ausführung einer präciſen Weiſung unterlaſſen habe, blieb

immerhin zu ſeinen Gunſten möglich, obſchon ich mir den Ge¬

dankengang, dem er dabei gefolgt ſein müßte, nicht klar machen

kann. Der erwähnte Verdacht iſt aber meinerſeits nicht aus¬

geſprochen worden, obſchon er dem Auswärtigen Amte und der

Hofgeſellſchaft durch Pariſer Correſpondenzen und Reiſende mit¬

getheilt worden war und in dieſen Kreiſen colportirt wurde.

Es war ein Verluſt für den diplomatiſchen Dienſt bei uns,

daß die ungewöhnliche Begabung Arnims für dieſen Dienſt nicht

[167/0191]

Graf Harry Arnim.

mit einem gleichen Maße von Zuverläſſigkeit und Glaubwürdigkeit

gepaart war.

Welche Eindrücke die diplomatiſchen Kreiſe empfingen, zeigt

u. A. der nachſtehende Brief des Staatsſekretärs von Bülow vom

23. October 1874:

„Die Kreuzzeitung enthält heut eine perfide Einſendung, offen¬

bar von Graf Arnim ſelbſt auf die Melodie: Was habe ich denn

Böſes gethan? Nichts, als ganz perſönliche Actenſtücke vor der

Indiscretion von Botſchaftern und Kanzliſten gerettet; ich würde

ſie längſt herausgegeben haben, wenn das Auswärtige Amt nicht

ſo rückſichtslos und grob geweſen wäre. Es iſt ſchwer, während

der Unterſuchung auf ſolche Lügen und Verdrehungen zu antworten:

Einſtweilen bringt die Weſerzeitung geſtern die ſehr nützliche Notiz

über den Inhalt mehrerer der vermißten Actenſtücke. Geſtern war

Feldmarſchall von Manteuffel bei mir, zumeiſt um ſich nach der causa

Arnim zu erkundigen. Er ſprach in ſehr paſſender Weiſe ſeine Ueber¬

zeugung aus, daß man nicht anders habe handeln können, und daß

er den Reichskanzler und die Diplomatie bedaure, mit ſolchen Er¬

fahrungen die Geſchäfte leiten zu müſſen. Da er übrigens Arnim

von Jugend auf kenne, und unter oder neben ihm in Nancy genug

habe leiden müſſen, ſo überraſche die Kataſtrophe ihn nicht; Arnim

ſei ein Mann, der bei jeder Sache nur gefragt habe: Was nützt oder

ſchadet ſie mir perſönlich? Wörtlich daſſelbe ſagten mir Lord Odo

Ruſſell als Ergebniß ſeiner römiſchen Erfahrungen und Nothomb

als Erinnerung aus Brüſſel. Am merkwürdigſten war mir, daß der

Feldmarſchall wiederholt darauf zurückkam, daß Arnim im Sommer 72

angefangen habe, gegen E. D. zu conſpiriren, ihn, Manteuffel, in

dieſer Beziehung im Sommer 73 habe ſondiren wollen und durch ſeine

Haltung gegen Thiers deſſen Sturz mit allen üblen politiſchen Folgen

hauptſächlich mit verſchuldet habe. Ueber letzteres Kapitel ſprach er mit

großer Sach- und Perſonalkenntniß und nicht ohne Hindeutung auf

den Einfluß, den damals Arnim ſich allerhöchſten Orts zu verſchaffen ge¬

wußt, durch Schüren gegen Republik und für legitime Ueberlieferung.

[168/0192]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

Am Tage von Thiers' Sturz habe er mit mehreren hervorragenden

Orleaniſten dinirt; die Bulletins aus Verſailles ſeien ihm während

des Diners zugegangen und mit Jubel begrüßt worden — ein

Rückhalt für die Partei, ohne den ſie vielleicht nicht den moraliſchen

Muth zu dem coup d'état vom 24. Mai gehabt. Im gleichen

Sinne ſagte nur Nothomb, Thiers habe ihm im vorigen Winter

von Arnim geſagt: cet homme m'a fait beaucoup de mal, beau¬

coup plus même que ne sait ni pense Monsieur de Bismarck.“

In dem Verleumdungsproceß gegen den Redacteur der „Reichs¬

glocke“, Januar 1877, ſagte der Staatsanwalt:

„Ich mache für dieſe verbrecheriſche Tendenz alle Mitarbeiter

des Blattes, auch alle diejenigen, die das Blatt durch Rath und

durch That unterſtützen, moraliſch verantwortlich, zunächſt ins¬

beſondre den Herrn von Loë, ſodann aber auch den Grafen Harry

von Arnim. Es iſt garnicht zu bezweifeln, daß alle die Artikel

‚Arnim contra Bismarck‘ die es ſich zur Aufgabe gemacht haben,

ſeit Jahr und Tag die Perſon des Fürſten Bismarck anzugreifen,

herabzuſetzen, im Intereſſe des Grafen Arnim geſchrieben werden.“

II.

Meiner Ueberzeugung nach hat die römiſche Curie den Krieg

zwiſchen Frankreich und Deutſchland ebenſo wie die meiſten Politiker

ſeit 1866 als wahrſcheinlich betrachtet, als ebenſo wahrſcheinlich

auch, daß Preußen unterliegen würde. Den Krieg vorausgeſetzt,

mußte der damalige Papſt darauf rechnen, daß der Sieg Frank¬

reichs über das evangeliſche Preußen die Möglichkeit bieten werde,

den Vorſtoß, den er ſelbſt mit dem Concil und der Unfehlbarkeit

gegen die akatholiſche Welt und gegen nervenſchwache Katholiken

gemacht hatte, zu weitern Conſequenzen zu treiben. Wie das

kaiſerliche Frankreich und beſonders die Kaiſerin Eugenie damals

zu dem Papſte ſtanden, ließ ſich ohne zu gewagte Berechnung an¬

nehmen, daß Frankreich, wenn ſeine Heere ſiegreich in Berlin ſtänden,

[169/0193]

Graf Harry Arnim. Römiſche Hoffnungen.

bei dem Friedensſchluſſe die Intereſſen der katholiſchen Kirche in

Preußen nicht unberückſichtigt laſſen würde, wie der Kaiſer von

Rußland Friedensſchlüſſe zu benutzen pflegte, um ſich ſeiner Glaubens¬

genoſſen im Oriente anzunehmen. Es würden ſich die gesta Dei

per Francos vielleicht um einige neue Fortſchritte der päpſtlichen

Macht bereichert haben, und die Entſcheidung der confeſſionellen

Kämpfe, die nach der Meinung katholiſcher Schriftſteller (Donoſo

Cortes de Valdegamas) ſchließlich „auf dem Sande der Mark

Brandenburg“ auszufechten ſind, würde durch eine übermächtige

Stellung Frankreichs in Deutſchland nach verſchiedenen Richtungen

hin gefördert worden ſein. Die Parteinahme der Kaiſerin Eugenie

für die kriegeriſche Richtung der franzöſiſchen Politik wird ſchwer¬

lich ohne Zuſammenhang mit ihrer Hingebung für die katholiſche

Kirche und den Papſt geweſen ſein; und wenn die franzöſiſche

Politik und die perſönlichen Beziehungen Louis Napoleons zur

italieniſchen Bewegung es unmöglich machten, daß Kaiſer und

Kaiſerin dem Papſte in Italien in befriedigender Weiſe gefällig

waren, ſo würde die Kaiſerin ihre Ergebenheit für den Papſt im

Falle des Sieges in Deutſchland bethätigt und auf dieſem Gebiete

eine allerdings unzulängliche fiche de consolation für die Schäden

gewährt haben, die der päpſtliche Stuhl in Italien unter und

durch Napoleons Mitwirkung erlitten hatte.

Wenn nach dem Frankfurter Frieden eine katholiſirende Partei,

ſei es royaliſtiſcher, ſei es republikaniſcher Form, in Frankreich am

Ruder geblieben wäre, ſo würde es ſchwerlich gelungen ſein, die

Erneuerung des Krieges ſo lange, wie geſchehn, hinauszuſchieben.

Es war alsdann zu befürchten, daß die beiden von uns bekämpften

Nachbarmächte, Oeſtreich und Frankreich, auf dem Boden der

gemeinſamen Katholicität ſich einander nähern und uns entgegen¬

treten würden, und die Thatſache, daß es in Deutſchland ſo wenig

wie in Italien an Elementen fehlte, deren confeſſionelles Gefühl

ſtärker war als das nationale, hätte zur Verſtärkung und Er¬

muthigung einer ſolchen katholiſchen Allianz gedient. Ob wir ihr

[170/0194]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

gegenüber Bundesgenoſſen finden würden, ließ ſich nicht ſicher vor¬

ausſehn; jedenfalls hätte es in der Willkür Rußlands geſtanden,

die öſtreichiſch-franzöſiſche Freundſchaft durch ſeinen Zutritt zu

einer übermächtigen Coalition auszubilden, wie im ſiebenjährigen

Kriege, oder uns doch unter dem diplomatiſchen Drucke dieſer Mög¬

lichkeit in Abhängigkeit zu erhalten.

Mit der Herſtellung einer katholiſirenden Monarchie in Frank¬

reich wäre die Verſuchung, gemeinſchaftlich mit Oeſtreich Revanche

zu nehmen, erheblich näher getreten. Ich hielt es deshalb dem

Intereſſe Deutſchlands und des Friedens widerſprechend, die Reſtau¬

ration des Königthums in Frankreich zu fördern, und gerieth in

Gegnerſchaft zu den Vertretern dieſer Idee. Dieſer Gegenſatz ſpitzte

ſich perſönlich zu gegenüber dem damaligen franzöſiſchen Botſchafter

Gontaut-Biron und unſerm damaligen Botſchafter in Paris, Grafen

Harry Arnim. Der Erſtre war im Sinne der Partei thätig, der

er von Natur angehörte, der legitimiſtiſch-katholiſchen; der Letztre

aber ſpeculirte auf die legitimiſtiſchen Sympathien des Kaiſers, um

meine Politik zu discreditiren und mein Nachfolger zu werden.

Gontaut, ein geſchickter und liebenswürdiger Diplomat aus alter

Familie, fand bei der Kaiſerin Auguſta Anknüpfungspunkte einer¬

ſeits in deren Vorliebe für katholiſche Elemente in und neben dem

Centrum, mit denen die Regirung im Kampfe ſtand, andrerſeits

in ſeiner Eigenſchaft als Franzoſe, die in den Jugenderinnerungen

der Kaiſerin aus der Zeit ohne Eiſenbahnen an deutſchen Höfen

faſt in gleichem Maße wie die Eigenſchaft des Engländers zur Em¬

pfehlung diente 1). Ihre Majeſtät hatte franzöſiſch ſprechende Diener,

ihr franzöſiſcher Vorleſer Gérard *) fand Eingang in die Kaiſerliche

1) S. Bd. I 121 f.

*) Derſelbe, wahrſcheinlich von Gontaut an Ihre Majeſtät empfohlen,

unterhielt einen lebhaften Briefwechſel mit Gambetta, der nach des Letztern

Tode in die Hände von Madame Adám gerieth und als hauptſächliches Material

für die Schrift La Société de Berlin gedient hat. Nach Paris zurückgekehrt,

wurde Gérard eine Zeit lang Leiter der officiöſen Preſſe, dann Legationsſekretär

in Madrid, Geſchäftsträger in Rom und 1890 Geſandter in Montenegro.

[171/0195]

Arnim und Gontaut-Biron. Katholiſche Hofſtrömungen.

Familie und Correſpondenz. Alles Ausländiſche mit Ausnahme des

Ruſſiſchen hatte für die Kaiſerin dieſelbe Anziehungskraft, wie

für ſo viele deutſchen Kleinſtädter. Bei den alten langſamen Ver¬

kehrsmitteln war früher an den deutſchen Höfen ein Ausländer, be¬

ſonders ein Engländer oder Franzoſe faſt immer ein intereſſanter

Beſuch, nach deſſen Stellung in der Heimath nicht ängſtlich gefragt

wurde; um ihn hoffähig zu machen, genügte es, daß er „weit her“

und eben kein Landsmann war.

Auf demſelben Boden erwuchs in ausſchließlich evangeliſchen

Kreiſen das Intereſſe, welches die fremdartige Erſcheinung eines

Katholiken und, am Hofe, eines Würdenträgers der katholiſchen

Kirche, damals einflößte. Es war zur Zeit Friedrich Wilhelms III.

eine intereſſante Unterbrechung der Einförmigkeit, wenn Jemand

katholiſch war. Ein katholiſcher Mitſchüler wurde ohne jedes con¬

feſſionelle Uebelwollen mit einer Art von Verwunderung wie eine

exotiſche Erſcheinung und nicht ohne Befriedigung darüber betrachtet,

daß ihm von der Bartholomäusnacht, von Scheiterhaufen und dem

dreißigjährigen Kriege nichts anzumerken war. Im Hauſe des

Profeſſors von Savigny, deſſen Frau katholiſch war, wurde den

Kindern, wenn ſie 14 Jahre alt waren, die Wahl der Confeſſion

freigeſtellt; ſie folgten der evangeliſchen Confeſſion des Vaters

mit Ausnahme meines Altersgenoſſen, des nachmaligen Bundestags¬

geſandten und Mitbegründers des Centrums. In der Zeit, als

wir Beide Primaner oder Studenten waren, ſprach er ohne pole¬

miſche Färbung über die Motive der getroffenen Wahl und führte

dabei die imponirende Würde des katholiſchen Gottesdienſtes, dann

aber auch den Grund an, katholiſch ſei doch im Ganzen vor¬

nehmer, „proteſtantiſch iſt ja jeder dumme Junge“.

Dieſe Verhältniſſe und Stimmungen haben ſich geändert in

dem halben Jahrhundert, in dem die politiſche und wirthſchaft¬

liche Entwicklung alle Varietäten der Bevölkerung nicht blos Europas

mit einander in nähere Berührung gebracht hat. Heut zu Tage

kann man durch die Kundgebung, katholiſch zu ſein, in keinem Ver¬

[172/0196]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

liner Kreiſe mehr Aufſehn erregen oder auch nur einen Eindruck

machen. Nur die Kaiſerin Auguſta iſt von ihren Jugendeindrücken

nicht frei geworden. Ein katholiſcher Geiſtlicher erſchien ihr vor¬

nehmer als ein evangeliſcher von gleichem Range und von gleicher

Bedeutung. Die Aufgabe, einen Franzoſen oder Engländer zu ge¬

winnen, hatte für ſie mehr Anziehung als dieſelbe Aufgabe einem

Landsmanne gegenüber, und der Beifall der Katholiken wirkte be¬

friedigender als der der Glaubensgenoſſen. Gontaut-Biron, dazu

aus vornehmer Familie, hatte keine Schwierigkeit, ſich in den Hof¬

kreiſen eine Stellung zu ſchaffen, deren Verbindungen auf mehr als

einem Wege an die Perſon des Kaiſers heranreichten.

Daß die Kaiſerin in der Perſon Gérards einen franzöſiſchen

geheimen Agenten zu ihrem Vorleſer nahm, iſt eine Abnormität,

deren Möglichkeit ohne das Vertrauen, welches Gontaut durch

ſeine Geſchicklichkeit und durch die Mitwirkung eines Theils der

katholiſchen Umgebung Ihrer Majeſtät genoß, nicht verſtändlich

iſt. Für die franzöſiſche Politik und die Stellung des franzöſiſchen

Botſchafters in Berlin war es natürlich ein erheblicher Vortheil, einen

Mann wie Gérard in dem kaiſerlichen Haushalte zu ſehn. Der¬

ſelbe war gewandt bis auf die Unfähigkeit, ſeine Eitelkeit im Aeußern

zu unterdrücken. Er liebte es, als Muſter der neuſten Pariſer

Mode zu erſcheinen, in einer für Berlin auffälligen Uebertreibung,

ein Mißgriff, durch welchen er ſich indeſſen in dem Palais nicht

ſchadete. Das Intereſſe für exotiſche und beſonders Pariſer Typen

war mächtiger als der Sinn für einfachen Geſchmack.

Gontauts Thätigkeit im Dienſte Frankreichs beſchränkte ſich

nicht auf das Berliner Terrain. Er reiſte 1875 nach Petersburg,

um dort mit dem Fürſten Gortſchakow den Theatercoup einzuleiten,

welcher bei dem bevorſtehenden Beſuche des Kaiſers Alexander in

Berlin die Welt glauben machen ſollte, daß er allein das wehrloſe

Frankreich vor einem deutſchen Ueberfall bewahrt habe, indem er

uns mit einem Quos ego! in den Arm gegriffen und zu dem

Zweck den Kaiſer nach Berlin begleitet habe.

[173/0197]

Franzöſiſche Sympathien der Kaiſerin. Die Komödie von 1875.

Von wem der Gedanke ausgegangen iſt, weiß ich nicht; wenn

von Gontaut, ſo wird er bei Gortſchakow einen empfänglichen Boden

gefunden haben bei deſſen eitler Natur, ſeiner Eiferſucht auf mich

und dem Widerſtande, den ich ſeinen Anſprüchen auf Präpotenz zu

leiſten gehabt hatte. Ich hatte ihm in vertraulichem Geſpräch ſagen

müſſen: „Sie behandeln uns nicht wie eine befreundete Macht,

ſondern comme un domestique, qui ne monte pas assez vite,

quand on a sonné.“ Gortſchakow beutete es aus, daß er dem

Geſandten Grafen Redern und den auf ihn folgenden Geſchäfts¬

trägern an Autorität überlegen war, und benutzte mit Vorliebe zu

Verhandlungen den Weg der Mittheilung ſeinerſeits an unſre Ver¬

tretung in Petersburg unter Vermeidung der Inſtruirung des ruſſi¬

ſchen Botſchafters in Berlin behufs Beſprechung mit mir. Ich

halte es für Verleumdung, was Ruſſen mir geſagt haben, das

Motiv dieſes Verfahrens ſei geweſen, daß in dem Etat des aus¬

wärtigen Miniſters ein Pauſchquantum für Telegramme ausgeworfen

ſei und Gortſchakow deshalb ſeine Mittheilungen lieber auf deutſche

Koſten durch unſern Geſchäftsträger als auf ruſſiſche beſorgt habe.

Ich ſuche, obſchon er ſicher geizig war, das Motiv auf politiſchem

Gebiete. Gortſchakow war ein geiſtreicher und glänzender Redner

und liebte es, ſich als ſolchen namentlich den fremden, in Peters¬

burg beglaubigten Diplomaten gegenüber zu zeigen. Er ſprach

franzöſiſch und deutſch mit gleicher Beredſamkeit, und ich habe ſeinen

docirenden Vorträgen oft ſtundenlang gern zugehört als Geſandter

und ſpäter als College. Mit Vorliebe hatte er als Zuhörer fremde

Diplomaten und namentlich jüngere Geſchäftsträger von Intelli¬

genz, denen gegenüber die vornehme Stellung des auswärtigen

Miniſters, bei dem ſie beglaubigt waren, dem oratoriſchen Eindrucke

zu Hülfe kam. Auf dieſem Wege gingen mir die Gortſchakowſchen

Willensmeinungen in Formen zu, die an das Roma locuta est

erinnerten. Ich beſchwerte mich in Privatbriefen bei ihm direct

über dieſe Form des Geſchäftsbetriebes und über die Tonart ſeiner

Eröffnungen und bat ihn, in mir nicht mehr den diplomatiſchen

[174/0198]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

Schüler zu ſehn, der ich in Petersburg ihm gegenüber bereitwillig

geweſen wäre, ſondern jetzt mit der Thatſache zu rechnen, daß ich

ein für die Politik meines Kaiſers und eines großen Reiches ver¬

antwortlicher College ſei.

Als 1875 während der Vacanz des Botſchafterpoſtens ein

Legationsſekretär als Geſchäftsträger fungirte, wurde Herr von Rado¬

witz, damals Geſandter in Athen, en mission extraordinaire nach

Petersburg geſchickt, um die Geſchäftsführung auch äußerlich auf

den Fuß der Gleichheit zu bringen. Er hatte dadurch Gelegenheit,

ſich durch entſchloſſene Emancipation von Gortſchakows präpotenter

Beeinfluſſung deſſen Abneigung in einem ſo hohen Grade zuzuziehn,

daß die Abneigung des ruſſiſchen Cabinets gegen ihn ungeachtet

ſeiner ruſſiſchen Heirath vielleicht noch heut nicht erloſchen iſt.

Die Rolle des Friedensengels, ſehr geeignet, Gortſchakows

Selbſtgefühl durch den ihm über alles theuern Eindruck in Paris

zu befriedigen, war von Gontaut in Berlin vorbereitet worden; es

läßt ſich annehmen, daß ſeine Geſpräche mit dem Grafen Moltke

und mit Radowitz, die ſpäter als Beweismittel für unſre krie¬

geriſchen Abſichten angeführt wurden, von ihm mit Geſchick herbei¬

geführt waren, um vor Europa das Bild eines von uns bedrohten,

von Rußland beſchützten Frankreich zur Anſchauung zu bringen.

In Berlin am 10. Mai 1875 angekommen, erließ Gortſchakow

unter dem Datum dieſes Ortes ein zur Mittheilung beſtimmtes

telegraphiſches Circular, welches mit den Worten anfing: „Main¬

tenant, alſo unter ruſſiſchem Druck, la paix est assurée,“ als ob

das vorher nicht der Fall geweſen wäre. Einer der dadurch avi¬

ſirten außerdeutſchen Monarchen hat mir gelegentlich den Text gezeigt.

Ich machte dem Fürſten Gortſchakow lebhafte Vorwürfe und

ſagte, es ſei kein freundſchaftliches Verhalten, wenn man einem ver¬

trauenden und nichts ahnenden Freunde plötzlich und hinterrücks auf

die Schulter ſpringe, um dort eine Circus-Vorſtellung auf ſeine

Koſten in Scene zu ſetzen, und daß dergleichen Vorgänge zwiſchen

uns leitenden Miniſtern den beiden Monarchien und Staaten zum

[175/0199]

„Maintenant la paix est assurée.“ Gortſchakow als Friedensengel.

Schaden gereichten. Wenn ihm daran liege, in Paris gerühmt zu

werden, ſo brauchte er deshalb unſre ruſſiſchen Beziehungen noch

nicht zu verderben, ich ſei gern bereit, ihm beizuſtehn und in

Berlin Fünffrankenſtücke ſchlagen zu laſſen mit der Umſchrift:

Gortchakoff protège la France; wir könnten auch in der deutſchen

Botſchaft ein Theater herſtellen, wo er der franzöſiſchen Geſellſchaft

mit derſelben Umſchrift als Schutzengel im weißen Kleide und mit

Flügeln in bengaliſchem Feuer vorgeführt würde.

Er wurde unter meinen bittern Invectiven ziemlich kleinlaut,

beſtritt die für mich beweiskräftig feſtſtehenden Thatſachen und

zeigte nicht die ihm ſonſt eigne Sicherheit und Beredſamkeit,

woraus ich ſchließen durfte, daß er Zweifel hatte, ob ſein kaiſer¬

licher Herr ſein Verhalten billigen werde. Der Beweis wurde

vervollſtändigt, als ich mich bei dem Kaiſer Alexander mit derſelben

Offenheit über Gortſchakows unehrliches Verfahren beſchwerte; der

Kaiſer gab den ganzen Thatbeſtand zu und beſchränkte ſich rauchend

und lachend darauf, zu ſagen, ich möge dieſe vanité ſénile nicht

zu ernſthaft nehmen. Die dadurch allerdings ausgeſprochene Mi߬

billigung hat aber niemals einen hinreichend authentiſchen Ausdruck

gefunden, um die Legende von unſrer Abſicht, 1875 Frankreich zu

überfallen, aus der Welt zu ſchaffen.

Mir lag eine ſolche damals und ſpäter ſo fern, daß ich eher

zurückgetreten ſein würde, als zu einem vom Zaune zu brechen¬

den Kriege die Hand zu bieten, der kein andres Motiv gehabt

haben würde, als Frankreich nicht wieder zu Athem und zu Kräften

kommen zu laſſen. Ein ſolcher Krieg hätte meiner Anſicht nach

nicht zu haltbaren Zuſtänden in Europa auf die Dauer geführt,

wohl aber eine Uebereinſtimmung von Rußland, Oeſtreich und

England in Mißtrauen und eventuell in activem Vorgehn einleiten

können gegen das neue und noch nicht conſolidirte Reich, das

damit die Wege betreten haben würde, auf denen das erſte und

das zweite franzöſiſche Kaiſerreich in einer fortgeſetzten Kriegs- und

Preſtige-Politik ihrem Untergange entgegengingen. Europa würde

[176/0200]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

in unſerm Verfahren einen Mißbrauch der gewonnenen Stärke er¬

blickt haben, und Jedermanns Hand, einſchließlich der centrifugalen

Kräfte im Reiche ſelbſt, würde dauernd gegen Deutſchland erhoben

oder am Degen geweſen ſein. Grade der friedliche Charakter der

deutſchen Politik nach den überraſchenden Beweiſen der militäriſchen

Kraft der Nation hat weſentlich dazu beigetragen, die fremden

Mächte und die innern Gegner früher, als wir erwarteten, wenig¬

ſtens bis zu einem tolerari posse mit der neudeutſchen Kraftent¬

wicklung zu verſöhnen und das Reich zum Theil mit Wohlwollen,

zum Theil als einſtweilen annehmbaren Friedenswächter ſich ent¬

wickeln und feſtigen zu ſehn.

Es war für unſre Begriffe merkwürdig, daß der Kaiſer von

Rußland bei der Geringſchätzung, mit der er ſich über ſeinen

leitenden Miniſter äußerte, ihm doch die ganze Maſchine des Aus¬

wärtigen Amtes in der Hand ließ und ihm dadurch den Einfluß

auf die Miſſionen geſtattete, den er thatſächlich ausübte. Trotz

der Klarheit, mit der der Kaiſer die Abwege erkannte, die ein¬

zuſchlagen ſein Miniſter ſich durch perſönliche Gründe verleiten

ließ, unterwarf er die Concepte, die ihm Gortſchakow zu eigen¬

händigen Briefen an den Kaiſer Wilhelm vorlegte, nicht der ſcharfen

Sichtung, deren ſie bedurft hätten, wenn der Eindruck verhütet

werden ſollte, daß die wohlwollende Geſinnung des Kaiſers in der

Hauptſache den anſpruchsvollen und bedrohlichen Stimmungen Gor¬

tſchakows Platz gemacht habe. Der Kaiſer Alexander hatte eine elegante

und deutliche feine Handſchrift, und die Arbeit des Schreibens hatte

nichts Unbequemes für ihn, aber wenn auch die in der Regel ſehr

langen und in die Details eingehenden Schreiben von Souverän

zu Souverän ganz von der eignen Hand des Kaiſers herrührten,

ſo habe ich doch nach Stil und Inhalt in der Regel auf die Unter¬

lage eines von Gortſchakow redigirten Concepts ſchließen zu können

geglaubt; wie denn auch die eigenhändigen Antworten unſres Herrn

von mir zu entwerfen waren. Auf dieſe Weiſe hatte die eigen¬

händige Correſpondenz, in der beide Monarchen die wichtigſten

[177/0201]

Friedlicher Charakter der deutſchen Politik.

politiſchen Fragen mit entſcheidender Autorität behandelten, zwar

nicht die conſtitutionelle Garantie einer miniſteriellen Gegenzeich¬

nung, aber doch das Correctiv miniſterieller Mitwirkung, voraus¬

geſetzt, daß ſich der Allerhöchſte Briefſteller genau an das Concept

hielt. Darüber erhielt der Verfaſſer des letztern allerdings keine

Sicherheit, da die Reinſchrift garnicht oder doch nur verſiegelt in

ſeine Hände kam.

Wie weit verzweigt die Gontaut-Gortſchakow'ſche Intrige ge¬

weſen war, ergiebt folgendes Schreiben, das ich am 13. Auguſt 1875

aus Varzin an den Kaiſer richtete 1):

„Eurer Majeſtät huldreiches Schreiben vom 8. d. M. aus Gaſtein

habe ich mit ehrfurchtsvollem Danke erhalten und mich vor Allem

gefreut, daß Eurer Majeſtät die Kur gut bekommen iſt, trotz alles

ſchlechten Wetters in den Alpen. Den Brief der Königin Victoria

beehre ich mich wieder beizufügen; es wäre ſehr intereſſant geweſen,

wenn Ihre Majeſtät ſich genauer über den Urſprung der damaligen

Kriegsgerüchte ausgelaſſen hätte. Die Quellen müſſen der hohen Frau

doch für ſehr ſicher gegolten haben, ſonſt würde Ihre Majeſtät ſich

nicht von Neuem darauf berufen, und würde die engliſche Regirung

auch nicht ſo gewichtige und für uns ſo unfreundliche Schritte daran

geknüpft haben. Ich weiß nicht, ob Eure Majeſtät es für thunlich

halten, die Königin Victoria beim Worte zu nehmen, wenn Ihre

Majeſtät verſichert, es ſei Ihr ‚ein Leichtes nachzuweiſen, daß Ihre

Befürchtungen nicht übertrieben waren‘. Es wäre ſonſt wohl von

Wichtigkeit zu ermitteln, von welcher Seite her ſo ‚kräftige Irrthümer‘

nach Windſor haben befördert werden können. Die Andeutung über

Perſonen, welche als ‚Vertreter‘ der Regirung Eurer Majeſtät gelten

müſſen, ſcheint auf den Grafen Münſter zu zielen. Derſelbe kann

ja ſehr wohl gleich dem Grafen Moltke akademiſch von der Nütz¬

lichkeit eines rechtzeitigen Angriffs auf Frankreich geſprochen haben,

obſchon ich es nicht weiß und er niemals dazu beauftragt worden

1) Bismarck-Jahrbuch IV 35 ff.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 12

[178/0202]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

iſt. Man kann ja ſagen, daß es für den Frieden nicht förderlich

iſt, wenn Frankreich die Sicherheit hat, daß es unter keinen Um¬

ſtänden angegriffen wird, es möge thun, was es wolle. Ich würde

noch heut wie 1867 in der Luxemburger Frage Eurer Majeſtät

niemals zureden, einen Krieg um deswillen ſofort zu führen, weil

wahrſcheinlich iſt, daß der Gegner ihn ſpäter beſſer gerüſtet beginnen

werde; man kann die Wege der göttlichen Vorſehung dazu niemals

ſicher genug im Voraus erkennen. Aber es iſt auch nicht nützlich,

dem Gegner die Sicherheit zu geben, daß man ſeinen Angriff jeden¬

falls abwarten werde. Deshalb würde ich Münſter noch nicht

tadeln, wenn er in ſolchem Sinne gelegentlich geredet hätte, und

die engliſche Regirung hätte deshalb noch kein Recht gehabt, auf

außeramtliche Reden eines Botſchafters amtliche Schritte zu gründen,

und sans nous dire gare die andern Mächte zu einer Preſſion

auf uns aufzufordern. Ein ſo ernſtes und unfreundliches Ver¬

fahren läßt doch vermuthen, daß die Königin Victoria noch andre

Gründe gehabt habe, an kriegeriſche Abſichten zu glauben als ge¬

legentliche Geſprächswendungen des Grafen Münſter, an die ich

nicht einmal glaube. Lord Ruſſell hat verſichert, daß er jederzeit

ſeinen feſten Glauben an unſre friedlichen Abſichten berichtet habe.

Dagegen haben alle Ultramontane und ihre Freunde uns heimlich

und öffentlich in der Preſſe angeklagt, den Krieg in kurzer Friſt

zu wollen, und der franzöſiſche Botſchafter, der in dieſen Kreiſen

lebt, hat die Lügen derſelben als ſichre Nachrichten nach Paris

gegeben. Aber auch das würde im Grunde noch nicht hinreichen,

der Königin Victoria die Zuverſicht und das Vertrauen zu den von

Eurer Majeſtät ſelbſt dementirten Unwahrheiten zu geben, das Höchſt¬

dieſelbe noch in dem Briefe vom 20. Juni ausſpricht. Ich bin

mit den Eigenthümlichkeiten der Königin zu wenig bekannt, um

eine Meinung darüber zu haben, ob es möglich iſt, daß die Wen¬

dung, es ſei ,ein Leichtes nachzuweiſen‘, etwa nur den Zweck haben

könnte, eine Uebereilung, die einmal geſchehn iſt, zu maskiren, an¬

ſtatt ſie offen einzugeſtehn.

[179/0203]

Schreiben an den Kaiſer. Verwaltungsreform.

Verzeihn E. M., wenn das Intereſſe des Fachmannes mich

über dieſen abgemachten Punkt nach dreimonatlicher Enthaltung

hat weitläuftig werden laſſen.“

III.

Graf Friedrich Eulenburg erklärte ſich Sommer 1877 körper¬

lich bankrott, und in der That war ſeine Leiſtungsfähigkeit ſehr ver¬

ringert, nicht durch Uebermaß von Arbeit, ſondern durch die Scho¬

nungsloſigkeit, mit der er ſich von Jugend auf jeder Art von

Genuß hingegeben hatte. Er beſaß Geiſt und Muth, aber nicht

immer Luſt zu ausdauernder Arbeit. Sein Nervenſyſtem war ge¬

ſchädigt und ſchwankte ſchließlich zwiſchen weinerlicher Mattigkeit

und künſtlicher Aufregung. Dabei hatte ihn in der Mitte der 70er

Jahre, wie ich vermuthe, ein gewiſſes Popularitätsbedürfniß über¬

fallen, das ihm früher fremd geblieben war, ſo lange er geſund

genug war, um ſich zu amüſiren. Dieſe Anwandlung war nicht

frei von einem Anflug von Eiferſucht auf mich, wenn wir auch

alte Freunde waren. Er ſuchte ſie dadurch zu befriedigen, daß er

ſich der Verwaltungsreform annahm. Sie mußte gelingen, wenn

ſie ihm Ruhm erwerben ſollte. Um den Erfolg zu ſichern, machte

er bei den parlamentariſchen Verhandlungen darüber unpraktiſche

Conceſſionen und bürokratiſirte den weſentlichen Träger unſrer

ländlichen Zuſtände, den Landrathspoſten, gleichzeitig mit der neuen

Local-Verwaltung. Der Landrathspoſten war in frühern Zeiten

eine preußiſche Eigenthümlichkeit, der letzte Ausläufer der Verwal¬

tungshierarchie, durch den ſie mit dem Volke unmittelbar in Be¬

rührung ſtand. In dem ſocialen Anſehn aber ſtand der Landrath

höher als andre Beamte gleichen Ranges. Man wurde früher

nicht Landrath mit der Abſicht, dadurch Carrière zu machen, ſon¬

dern mit der Ausſicht, ſein Leben als Landrath des Kreiſes zu

beſchließen. Die Autorität eines ſolchen wuchs mit den Jahren

[180/0204]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

ſeiner Amtsdauer; er hatte keine andern Intereſſen als die des

Kreiſes zu vertreten und für keine andern Wünſche als die ſeiner

Eingeſeſſenen zu ſtreben. Es liegt auf der Hand, wie nützlich eine

ſolche Inſtitution nach oben und nach unten wirkte, und mit wie

geringen Mitteln an Menſchen und Geld die Kreisgeſchäfte be¬

trieben werden konnten. Seitdem iſt der Landrath ein reiner

Regirungsbeamter geworden, ſeine Stellung ein Durchgangspoſten

für weitre Beförderung im Staatsdienſte, eine Erleichterung der

Wahl zum Abgeordneten; und in der Eigenſchaft des letztern wird

er, wenn er ſtrebſam iſt, ſeine Beziehungen nach oben als Beamter

wichtiger finden als die zu den Einſaſſen ſeines Kreiſes. Zugleich

ſind die neugeſchaffnen örtlichen Amtsvorſtände nicht Organe der

Selbſtverwaltung, nach Analogie der ſtädtiſchen Behörden, ſondern

eine unterſte ſchreiberartig wirkende Klaſſe der Bürokratie ge¬

worden, durch welche jede unpraktiſche oder müßige Anregung der

unzulänglich beſchäftigten und den Realitäten des Lebens fremden

Centralbürokratie über das platte Land verbreitet wird und die

die unglücklichen Selbſt-Verwalter nöthigt, Berichte und Liſten zu¬

ſammenzuſtellen, um die Wißbegierde von Beamten zu befriedigen,

die mehr Zeit als Staatsgeſchäfte haben. Es iſt für Landwirthe

oder Induſtrielle nicht möglich, ſolchen Anforderungen im „Neben¬

amte“ zu genügen. An ihre Stelle treten nothwendig mehr und

mehr remunerirte Schreiber, deren Koſten durch die Eingeſeſſenen

aufzubringen ſind und die von der höhern Bürokratie ad nutum

abhängig ſind.

Als Nachfolger des Grafen Eulenburg hatte ich Rudolf von

Bennigſen in's Auge gefaßt und habe im Laufe des Jahres 1877

in Varzin zweimal, im Juli und im December, Beſprechungen mit

ihm gehabt. Es fand ſich dabei, daß er dem Boden unſrer Ver¬

handlung eine weitre Ausdehnung zu geben ſuchte, als mit den

Anſichten Sr. Majeſtät und mit meinen eignen Auffaſſungen

vereinbar war. Ich wußte, daß es ſchon eine ſchwierige Aufgabe

ſein würde, ihn für ſeine Perſon dem Könige annehmbar zu

[181/0205]

Der Landrath ſonſt und jetzt. Verhandlungen mit Bennigſen.

machen; er aber faßte die Sache ſo auf, als ob es ſich um einen

durch die politiſche Situation gegebenen Syſtemwechſel handelte,

um die Uebernahme der Leitung durch die nationalliberale Partei.

Das Streben nach dem Mitbeſitz des Regiments hatte ſich ſchon

erkennbar gemacht in dem Eifer, mit dem die Partei das Stell¬

vertretungsgeſetz betrieben hatte in der Meinung, auf dieſem Wege

ein collegialiſches Reichsminiſterium anzubahnen, in dem anſtatt

des allein verantwortlichen Reichskanzlers ſelbſtändige Reſſorts

mit collegialiſcher Abſtimmung wie in Preußen die Entſcheidung

hätten. Bennigſen wollte daher nicht einfach Eulenburgs Nach¬

folger werden, ſondern verlangte, daß mit ihm wenigſtens Forcken¬

beck und Stauffenberg einträten. Der Erſtre ſei der geeignete

Mann für das Innere und werde dort dieſelbe Geſchicklichkeit und

Thatkraft wie in der Verwaltung der Stadt Berlin bewähren; er

ſelbſt würde das Finanzminiſterium wählen; Stauffenberg müſſe

an die Spitze des Reichsſchatzamts treten, um mit ihm zuſammen

zu wirken.

Ich ſagte ihm, es ſei nichts vacant als die Stelle Eulenburgs;

ich ſei bereit, ihn für dieſe dem Könige vorzuſchlagen, und würde

mich freuen, wenn ich den Vorſchlag durchſetzte. Wenn ich aber

Sr. Majeſtät rathen wollte, noch zwei Miniſterpoſten proprio

motu frei zu machen, um ſie mit Nationalliberalen zu beſetzen,

ſo werde der hohe Herr das Gefühl haben, daß es ſich nicht

um eine zweckmäßige Stellenbeſetzung, ſondern um einen Syſtem¬

wechſel handle, und einen ſolchen werde er prinzipiell ablehnen.

Bennigſen dürfe überhaupt nicht darauf rechnen, daß es dem Könige

und unſrer ganzen politiſchen Lage gegenüber möglich ſein werde,

ſeine Fraction gewiſſermaßen mit in das Miniſterium zu nehmen

und als ihr Führer den ihrer Bedeutung entſprechenden Ein¬

fluß im Schoße der Regirung auszuüben, gewiſſermaßen ein con¬

ſtitutionelles Majoritätsminiſterium zu ſchaffen. Bei uns ſei der

König thatſächlich und ohne Widerſpruch mit dem Verfaſſungstexte

Miniſterpräſident, und Bennigſen würde, wenn er als Miniſter

[182/0206]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

etwa die bezeichnete Richtung einhalten wollte, bald zwiſchen dem

Könige und ſeiner Fraction zu wählen haben. Er möge ſich klar

machen, daß wenn es mir gelänge, ſeine Ernennung durchzuſetzen,

damit ihm und ſeiner Partei eine mächtige Handhabe zur Ver¬

ſtärkung und Erweiterung ihres Einfluſſes geboten ſei; er möge

ſich das Beiſpiel Roons vergegenwärtigen, der als der einzige

Conſervative in das liberale Auerswaldſche Miniſterium trat und

der Kryſtalliſationspunkt wurde, um den es ſich in ein con¬

ſervatives verwandelte. Er möge nichts Unmögliches von mir ver¬

langen, ich kennte den König und die Grenzen meines Einfluſſes

genau genug; mir wären die Parteien ziemlich gleichgültig, ſogar

ganz gleichgültig, wenn ich von den eingeſtandenen und nicht ein¬

geſtandenen Republikanern abſähe, die nach rechts mit der Fort¬

ſchrittspartei abſchlöſſen. Mein Ziel ſei die Befeſtigung unſrer

nationalen Sicherheit; zu ihrer innern Ausgeſtaltung werde die

Nation Zeit haben, wenn erſt ihre Einheit und damit ihre Sicher¬

heit nach Außen conſolidirt ſein werde. Für die Erreichung des

letztern Zwecks ſei gegenwärtig auf dem parlamentariſchen Gebiete

die nationalliberale Partei das ſtärkſte Element. Die conſervative

Partei, der ich im Parlament angehört, habe die geographiſche

Ausdehnung, deren ſie in der heutigen Bevölkerung fähig ſei, er¬

reicht und trage nicht das Wachsthum in ſich, um zu einer natio¬

nalen Majorität zu werden; ihr naturgeſchichtliches Vorkommen,

ihr Standort ſei beſchränkt in unſern neuen Provinzen; im Weſten

und Süden von Deutſchland habe ſie nicht dieſelben Unterlagen

wie in Alt-Preußen; in Bennigſens Heimath, Hanover, namentlich

habe man nur zwiſchen Welfen und Nationalliberalen zu wählen,

und die letztern böten einſtweilen die beſte Unterlage von allen

denen, auf welchen das Reich Wurzel ſchlagen könne. Dieſe poli¬

tiſche Erwägung veranlaſſe mich, ihnen, als der gegenwärtig ſtärkſten

Partei, entgegen zu kommen, indem ich ihren Führer zum Collegen

zu werben ſuchte, ob für die Finanzen oder das Innere, ſei mir

gleichgültig. Ich ſähe die Sache von dem rein politiſchen Stand¬

[183/0207]

Verhandlungen über Bennigſens Eintritt ins Miniſterium.

punkte an, bedingt durch die Auffaſſung, daß es für jetzt und bis

nach den nächſten großen Kriegen nur darauf ankomme, Deutſch¬

land feſt zuſammenwachſen zu laſſen, es durch ſeine Wehrhaftigkeit

gegen äußere Gefahren und durch ſeine Verfaſſung gegen innere

dynaſtiſche Brüche ſicher zu ſtellen. Ob wir uns nachher im Innern

etwas conſervativer oder etwas liberaler einrichteten, das werde

eine Zweckmäßigkeitsfrage ſein, die man erſt ruhig erwägen könne,

wenn das Haus wetterfeſt ſei. Ich hätte den aufrichtigen Wunſch,

ihn zu überreden, daß er, wie ich mich ausdrückte, zu mir in das

Schiff ſpringe und mir bei dem Steuern helfe; ich läge am Lan¬

dungsplatze und wartete auf ſein Einſteigen.

Bennigſen blieb aber dabei, nicht ohne Forckenbeck und Stauffen¬

berg eintreten zu wollen, und ließ mich unter dem Eindrucke, daß

mein Verſuch mißlungen ſei, einem Eindrucke, der ſchnell verſtärkt

wurde durch das Einlaufen eines ungewöhnlich ungnädigen Schrei¬

bens des Kaiſers, aus dem ich erſah, daß Graf Eulenburg zu

ihm mit der Frage in das Zimmer getreten ſei: „Haben Eure

Majeſtät ſchon von dem neuen Miniſterium gehört? Bennigſen.“

Dieſer Mittheilung folgte der lebhafte ſchriftliche Ausbruch kaiſer¬

licher Entrüſtung über meine Eigenmächtigkeit und über die Zu¬

muthung, daß Er aufhören ſolle, „conſervativ“ zu regiren. Ich

war unwohl und abgeſpannt, und der Text des kaiſerlichen Schrei¬

bens und der Eulenburgiſche Angriff fielen mir dermaßen auf die

Nerven, daß ich von Neuem ziemlich ſchwer erkrankte, nachdem ich

dem Kaiſer durch Roon geantwortet hatte, ich könne ihm einen

Nachfolger Eulenburgs doch nicht vorſchlagen, ohne mich vorher

vergewiſſert zu haben, daß der Betreffende die Ernennung an¬

nehmen werde; ich hätte Bennigſen für geeignet gehalten und ſeine

Stimmungen ſondirt, bei ihm aber nicht die Auffaſſung gefunden,

die ich erwartet hätte, und die Ueberzeugung gewonnen, daß ich

ihn nicht zum Miniſter vorſchlagen könne; die ungnädige Ver¬

urtheilung, die ich durch das Schreiben erfahren hätte, nöthige

mich, mein Abſchiedsgeſuch vom Frühjahr zu erneuern. Dieſe

[184/0208]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

Correſpondenz fand in den letzten Tagen des Jahres 1877 ſtatt,

und meine neue Erkrankung fiel grade in die Neujahrsnacht.

Der Kaiſer antwortete mir auf das Schreiben Roons, er ſei

über das Sachverhältniß getäuſcht worden und wünſche, daß ich

ſeinen vorhergehenden Brief als nicht geſchrieben betrachte. Jede

weitre Verhandlung mit Bennigſen verbot ſich durch dieſen Vor¬

gang von ſelbſt, ich hielt es aber in unſerm politiſchen Intereſſe

nicht für zweckmäßig, Letztern von der Beurtheilung in Kenntniß

zu ſetzen, die ſeine Perſon und Candidatur bei dem Kaiſer ge¬

funden hatte. Ich ließ die für mich definitiv abgeſchloſſene Unter¬

handlung äußerlich in suspenso; als ich dann wieder in Berlin war,

ergriff Bennigſen die Initiative, um die ſeiner Meinung nach noch

ſchwebende Angelegenheit in freundſchaftlicher Form zum negativen

Abſchluß zu bringen. Er fragte mich im Reichstagsgebäude, ob es

wahr ſei, daß ich das Tabakmonopol einzuführen ſtrebe, und er¬

klärte auf meine bejahende Antwort, daß er dann die Mitwirkung

als Miniſter ablehnen müſſe. Ich verſchwieg ihm auch dann noch,

daß mir jede Möglichkeit, mit ihm zu verhandeln, durch den Kaiſer

ſchon ſeit Neujahr abgeſchnitten war. Vielleicht hatte er ſich auf

anderm Wege überzeugt, daß ſein Plan einer grundſätzlichen Modi¬

fication der Regirungspolitik im Sinne der nationalliberalen An¬

ſchauungen bei dem Kaiſer auf unüberwindliche Hinderniſſe ſtoßen

würde, namentlich ſeit einer von Stauffenberg gehaltenen Rede

über die Nothwendigkeit der Abſchaffung des Art. 109 der preußi¬

ſchen Verfaſſung (Forterhebung der Steuern).

Wenn die nationalliberalen Führer ihre Politik geſchickt be¬

trieben hätten, ſo hätten ſie längſt wiſſen müſſen, daß bei dem

Kaiſer, deſſen Unterſchrift ſie zu ihrer Ernennung bedurften und

begehrten, es keinen empfindlicheren politiſchen Punkt gab als dieſen

Artikel, und daß ſie ſich den hohen Herrn nicht ſichrer entfremden

konnten als durch den Verſuch, ihm dieſes Palladium zu entreißen.

Als ich Sr. Majeſtät vertraulich den Verlauf meiner Verhandlungen

mit Bennigſen erzählte und deſſen Wunſch in Betreff Stauffenbergs

[185/0209]

Abbruch der Verhandlungen. „Regiment Stauffenberg“.

erwähnte, war der Kaiſer noch unter dem Eindrucke der Rede des

Letztern und ſagte, indem er mit dem Finger auf ſeine Schulter

deutete, wo auf der Uniform die Regimentsnummer ſitzt: „Nro. 109

Regiment Stauffenberg“. Wenn der Kaiſer damals den von mir

zur Herſtellung der Uebereinſtimmung mit der Reichstagsmajorität

gewünſchten Eintritt Bennigſens genehmigt und ſelbſt wenn der

Letztre bald die Unmöglichkeit eingeſehn hätte, das Cabinet und

den König in ſeine Fractionsrichtung zu bringen, ſo würden ſich

doch, wie ich heut überzeugt bin, die einigermaßen doctrinäre Schärfe

des Fractionsprogramms und die Empfindlichkeit der monarchiſchen

Auffaſſung des Kaiſers nicht lange mit einander vertragen haben.

Damals war ich deſſen nicht ſo ſicher geweſen, um nicht den Verſuch

zu machen, ob ich Se. Majeſtät bewegen könnte, ſich der national¬

liberalen Auffaſſung zu nähern. Die Schärfe des Widerſtandes,

die allerdings durch Eulenburgs feindliche Einwirkung geſteigert

worden war, übertraf meine Erwartung, obſchon mir bekannt war,

daß der Kaiſer gegen Bennigſen und ſeine frühere Thätigkeit in

Hanover eine inſtinctive monarchiſche Abneigung hegte. Obwohl

die nationalliberale Partei in Hanover und die Wirkſamkeit ihres

Führers vor und nach 1866 die „Verſtaatlichung“ Hanovers weſent¬

lich erleichtert hatte, und der Kaiſer ebenſo wenig wie ſein Vater

1805 eine Neigung hatte, dieſen Erwerb rückgängig zu machen, ſo

war der fürſtliche Inſtinct in ihm doch herrſchend genug, um ſolches

Verhalten eines hanöverſchen Unterthanen gegen die welfiſche

Dynaſtie mit innerlichem Unbehagen zu beurtheilen.

Es iſt eine der vielen unwahren Legenden, daß ich die National¬

liberalen hätte „an die Wand drücken“ wollen. Im Gegentheil,

die Herrn verſuchten es ſo mit mir zu machen. Durch den Bruch

mit den Conſervativen infolge der ganzen Verleumdungsära durch

die „Reichsglocke“ und die „Kreuzzeitung“ und der Kriegserklärung,

die unter Führung meines mißvergnügten frühern Freundes Kleiſt-

Retzow erfolgte, durch das neidiſche Uebelwollen meiner Standes¬

genoſſen, der Landjunker, durch alle dieſe Verluſte von Anlehnungen,

[186/0210]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

durch die Feindſchaften am Hofe, die katholiſchen und weiblichen

Einflüſſe daſelbſt waren meine Stützpunkte außerhalb der national¬

liberalen Fraction ſchwächer geworden und beſtanden allein in dem

perſönlichen Verhältniß des Kaiſers zu mir. Die Nationalliberalen

nahmen davon nicht etwa einen Anlaß, unſre gegenſeitigen Be¬

ziehungen dadurch zu ſtärken, daß ſie mich unterſtützten, ſondern

machten im Gegentheil den Verſuch, mich gegen meinen Willen in

das Schlepptau zu nehmen. Zu dieſem Zwecke wurden Beziehungen

zu mehren meiner Collegen angeknüpft; durch die Miniſter Frieden¬

thal und Botho Eulenburg, welcher Letztre das Ohr meines Ver¬

treters im Präſidium, des Grafen Stolberg hatte, wurden ohne

mein Wiſſen amtliche Verſtändigungen mit den Präſidien beider

Parlamente nicht nur bezüglich der Sitzungs- und Vertagungs¬

fragen, ſondern auch in Betreff materieller Vorlagen gegen meinen,

den Collegen bekannten Willen eingeleitet. Der Geſammtandrang

auf meine Stellung, das Streben nach Mitregentſchaft oder Allein¬

herrſchaft an meiner Stelle, das ſich in dem Plane ſelbſtändiger

Reichsminiſter und in den erwähnten Heimlichkeiten verrathen hatte,

trat handgreiflich zu Tage in der Conſeilſitzung, die der Kronprinz

als Vertreter ſeines verwundeten Vaters am 5. Juni 1878 ab¬

hielt, um über die Auflöſung des Reichstags nach dem Nobiling¬

ſchen Attentate zu beſchließen. Die Hälfte meiner Collegen oder

mehr, jedenfalls die Majorität des Miniſteriums und des Conſeils,

ſtimmte abweichend von meinem Votum gegen die Auflöſung und

machte dafür geltend, daß der vorhandene Reichstag, nachdem das

Nobilingſche Attentat auf das Hödelſche gefolgt ſei, bereit ſein

werde, ſeine jüngſte Abſtimmung zu ändern und der Regirung ent¬

gegen zu kommen. Die Zuverſicht, die meine Collegen bei dieſer

Gelegenheit kundgaben, beruhte offenbar auf vertraulicher Verſtändi¬

gung zwiſchen ihnen und einflußreichen Parlamentariern, während

mir gegenüber kein Einziger von den letztern auch nur eine Aus¬

ſprache verſucht hatte. Es ſchien, daß man ſich über die Theilung

meiner Erbſchaft bereits verſtändigt hatte.

[187/0211]

Verbündete der Nationalliberalen im Miniſterium.

Ich war ſicher, daß der Kronprinz, auch wenn alle meine

Collegen andrer Anſicht geweſen wären, die meinige annehmen

werde, abgeſehn von der Zuſtimmung, die ich unter den 20 oder

mehr zugezogenen Generalen und Beamten, wenigſtens bei den

erſtern fand. Wenn ich überhaupt Miniſter bleiben wollte, was

ja eine Opportunitätsfrage geſchäftlicher ſowohl wie perſönlicher

Natur war, die ich bei eigner Prüfung mir bejahte, ſo befand ich

mich im Stande der Nothwehr und mußte ſuchen, eine Aenderung

der Situation im Parlament und in dem Perſonalbeſtande meiner

Collegen herbeizuführen. Miniſter bleiben wollte ich, weil ich, wenn

der ſchwer verwundete Kaiſer am Leben bliebe, was bei dem ſtarken

Blutverluſt in ſeinem hohen Alter noch unſicher, feſt entſchloſſen

war, ihn nicht gegen ſeinen Willen zu verlaſſen, und es als Gewiſſens¬

pflicht anſah, wenn er ſtürbe, ſeinem Nachfolger die Dienſte, die

ich ihm vermöge des Vertrauens und der Erfahrung, die ich mir

erworben hatte, leiſten konnte, nicht gegen ſeinen Willen zu ver¬

ſagen. Nicht ich habe Händel mit den Nationalliberalen geſucht,

ſondern ſie haben im Complot mit meinen Collegen mich an die

Wand zu drängen verſucht. Die geſchmackloſe und widerliche Redens¬

art von dem „an die Wand drücken, bis ſie quietſchten“, hat niemals

in meinem Denken, geſchweige denn auf meiner Lippe Platz ge¬

funden — eine der lügenhaften Erfindungen, mit denen man poli¬

tiſchen Gegnern Schaden zu thun ſucht. Obenein war dieſe Redens¬

art nicht einmal eignes Product derer, welche ſie verbreiteten, ſon¬

dern ein ungeſchicktes Plagiat. Graf Beuſt erzählt in ſeinen Me¬

moiren („Aus drei Viertel-Jahrhunderten“ Thl. I S. 5):

„Die Slaven in Oeſterreich haben mir das beiläufig nie von

mir geſprochene Wort aufgebracht, ‚man müſſe ſie an die Wand

drücken‘. Der Urſprung dieſes Wortes war folgender: Der frühere

Miniſter, ſpätere Statthalter von Galizien, Graf Goluchowſki, pflegte

ſich mit mir in franzöſiſcher Sprache zu unterhalten. Seinen Be¬

mühungen war es vorzugsweiſe zu danken, daß nach meiner Ueber¬

nahme des Miniſterpräſidiums 1867 der galiziſche Landtag vor¬

[188/0212]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

behaltlos für den Reichsrath wählte. Damals hatte ich zu Graf

Goluchowſki geſagt: ,Si cela se fait, les Slaves sont mis au pied

du mur‘ — eine von der obigen ſehr verſchiedene Aeußerung.“

Ich habe unter meinen Argumenten für Auflöſung beſonders

geltend gemacht, daß dem Reichstage ohne Verletzung ſeines An¬

ſehns die Zurücknahme ſeines Beſchluſſes nur durch vorgängige Auf¬

löſung möglich gemacht werden könne. Ob hervorragende National¬

liberale damals die Abſicht hatten, nur meine Collegen oder meine

Nachfolger zu werden, kann unentſchieden bleiben, da erſtres immer

den Uebergang zu der andern Alternative bilden konnte; den zweifels¬

freien Eindruck aber hatte ich, daß zwiſchen einigen meiner Collegen,

einigen Nationalliberalen und einigen Leuten von Einfluß am Hofe

und im Centrum über die Theilung meiner politiſchen Erbſchaft die

Verhandlungen bis zur Verſtändigung oder nahezu ſo weit gediehn

waren. Dieſe Verſtändigung bedingte ein ähnliches Aggregat wie in

dem Miniſterium Gladſtone zwiſchen Liberalismus und Katholicis¬

mus. Der Letztre reichte durch die nächſten Umgebungen der Kaiſerin

Auguſta, einſchließlich des Einfluſſes der „Reichsglocke“, des Haus¬

miniſters von Schleinitz bis in das Palais des alten Kaiſers; und bei

ihm fand der Geſammtangriff gegen mich einen thätigen Bundes¬

genoſſen in dem General von Stoſch. Derſelbe hatte auch am kron¬

prinzlichen Hofe eine gute Stellung, theils direct durch eignes Talent,

theils mit Hülfe des Herrn von Normann und ſeiner Frau, mit

denen er ſchon von Magdeburg her vertraut war und deren Ueber¬

ſiedlung nach Berlin er vermittelt hatte.

IV.

Bei dem Plane, mich durch ein Cabinet Gladſtone zu erſetzen,

war auf den Grafen Botho Eulenburg gerechnet, ſeit dem 31. März

1878 Miniſter des Innern, welchem ſeine Verwandſchaft den traditio¬

nellen Hofeinfluß ſeiner und der Dönhoffſchen Familie ſicherte. Er

[189/0213]

Miniſterium Gladſtone. Differenz mit B. Eulenburg.

iſt geſcheidt, elegant, eine vornehmere Natur als Harry von Arnim,

glatter polirt als Robert Goltz; aber ich habe auch mit ihm das

Erlebniß gehabt, daß begabte Mitarbeiter und eventuelle Nach¬

folger, die ich heranzuziehn ſuchte, mir ihr Wohlwollen nicht dauernd

bewahrten.

Meine Beziehungen zu ihm wurden zuerſt geſchädigt durch einen

Ausbruch der Empfindlichkeit, die bei ihm äußerlich durch die volle

Höflichkeit guter Erziehung verdeckt wurde, aber doch von einer für

den geläufigen und vertraulichen Geſchäftsverkehr ſtörenden Schärfe

war. Mein damaliger Beiſtand für vertrauliche Geſchäfte, der Ge¬

heim-Rath Tiedemann, veranlaßte durch die Form, in der er einen

Auftrag während meiner Abweſenheit von Berlin bei dem Grafen

ausrichtete, dieſen zu einer mir unerwarteten brieflichen Exploſion.

Da mein Auftrag an Tiedemann ein ſachliches und noch lebendiges

Intereſſe hat, ſo laſſe ich die Correſpondenz folgen.

„Kiſſingen, den 15. Auguſt 1878.

Eure Hochwohlgeboren bitte ich, Herrn Miniſter Grafen Eulen¬

burg und Herrn Geheim-Rath Hahn mein Bedauern darüber aus¬

zuſprechen, daß der Entwurf des Socialiſtengeſetzes in der Provinzial-

Correſpondenz amtlich publicirt worden iſt, bevor er im Bundesrath

vorgelegt war. Die Veröffentlichung präjudicirt jeder Amendirung

durch uns und iſt für Baiern und andre Diſſentirende verletzend.

Nach meinen Verhandlungen von hier aus mit Baiern muß ich

annehmen, daß letztres an ſeinem Widerſpruche gegen das Reichs¬

amt unbedingt feſthält. Würtemberg und, wie ich höre, auch Sachſen

widerſprechen dem Reichsamt nicht im Prinzip, wohl aber an¬

gebrachter Maßen, indem ſie die Zuziehung von Richtern perhorres¬

ciren. Dieſem Widerſpruche kann ich mich perſönlich nur anſchließen.

Es handelt ſich nicht um richterliche, ſondern um politiſche Functionen,

und auch das preußiſche Miniſterium darf in ſeinen Vorentſcheidungen

nicht einem richterlichen Collegium unterſtellt und auf dieſe Weiſe

für alle Zukunft in ſeiner politiſchen Bewegung gegen den Socialis¬

[190/0214]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

mus lahm gelegt werden. Die Functionen des Reichsamts können

nach meiner Auffaſſung nur durch den Bundesrath entweder direct

oder durch Delegation an einen jährlich zu wählenden Ausſchuß

geübt werden. Der Bundesrath repräſentirt die Regirungsgewalt

der Geſammt-Souveränetät von Deutſchland, dabei etwa dem Staats¬

rathe unter andern Verhältniſſen entſprechend.

Bisher muß ich indeſſen annehmen, daß Baiern auf dieſen

für Würtemberg, Sachſen und für mich perſönlich annehmbaren

Ausweg nicht eingehn wird. Auch die Klauſel in Nro. 3 Artikel 23,

daß nur arbeitsloſe Individuen ausgewieſen werden dürfen, iſt für

den Zweck ungenügend.

Ferner bedarf das Geſetz meines Erachtens eines Zuſatzes in

Betreff der Beamten dahingehend, daß Betheiligung an ſocialiſtiſcher

Politik die Entlaſſung ohne Penſion nach ſich zieht. Die Mehr¬

zahl der ſchlecht bezahlten Subalternbeamten in Berlin, und dann

der Bahnwärter, Weichenſteller und ähnlicher Kategorien ſind Socia¬

liſten, eine Thatſache, deren Gefährlichkeit bei Aufſtänden und

Truppentransporten einleuchtet.

Ich halte ferner, wenn das Geſetz wirken ſoll, für die Dauer

nicht möglich, den geſetzlich als Socialiſten erweislichen Staats¬

bürgern das Wahlrecht und die Wählbarkeit und den Genuß der

Privilegien der Reichstagsmitglieder zu laſſen.

Alle dieſe Verſchärfungen werden, nachdem einmal die mildere

Form in allen Zeitungen gleichzeitig bekannt gegeben, denſelben

alſo wohl amtlich mitgetheilt iſt, im Reichstage ſehr viel weniger

Ausſicht haben, als der Fall ſein könnte, wenn eine mildere Verſion

nicht amtlich bekannt geworden wäre.

Die Vorlage, ſo wie ſie jetzt iſt, wird praktiſch dem Socia¬

lismus nicht Schaden thun, zu ſeiner Unſchädlichmachung keinesfalls

ausreichen, namentlich da ganz zweifellos iſt, daß der Reichstag

von jeder Vorlage etwas abhandelt. Ich bedaure, daß meine Ge¬

ſundheit mir abſolut verbietet, mich jetzt ſofort an den Verhand¬

lungen des Bundesrathes zu betheiligen, und muß mir vorbehalten,

[191/0215]

Differenz mit Graf B. Eulenburg.

meine weitern Anträge im Bundesrathe im Hinblick auf die ordent¬

liche Reichstagsſeſſion im Winter zu ſtellen.

v. Bismarck.“

„Berlin, den 18. Auguſt 1878.

Eure Durchlaucht

haben den Geheimen Regierungsrath Tiedemann beauftragt, mir

und dem Geheimen Rath Hahn Ihr Bedauern darüber auszuſprechen,

daß der Entwurf des Socialiſtengeſetzes in der Provinzial-Corre¬

ſpondenz amtlich publicirt worden iſt, ehe er im Bundesrath vor¬

gelegt war. Den Geheimen Rath Hahn trifft hierbei keine Ver¬

antwortlichkeit, da er nicht ohne meine Zuſtimmung gehandelt hat.

Letztere habe ich erſt ertheilt, nachdem Abends zuvor die den

Entwurf enthaltende Druckſache des Bundesraths ohne beſondere

Anempfehlung discreter Behandlung ausgegeben und mir Seitens

des Herrn Präſidenten des Reichskanzleramts mitgetheilt worden

war, daß unter dieſen Umſtänden die Veröffentlichung des Ent¬

wurfs durch die Zeitungen am folgenden, alſo an demſelben Tage,

an welchem die Provinzial-Correſpondenz erſchien, mit Sicherheit

zu erwarten ſei, eine Annahme, welche ſich demnächſt als völlig

zutreffend erwieſen hat. Die Sitzung des Bundesraths fand am

14. d. M. Nachmittags 2 Uhr ſtatt, die Provinzial-Correſpondenz

wurde an demſelben Tage Nachmittags ausgegeben; die Mittheilung

des Inhalts des Geſetzentwurfs in derſelben hat alſo nicht früher

ſtattgefunden, als die Vorlegung des Entwurfs im Bundesrathe.

Ob es dennoch beſſer geweſen wäre, jene Mittheilung in der

Provinzial-Correſpondenz zu unterlaſſen, habe ich nicht die Abſicht

weiter zu erörtern. Ew. Durchlaucht erleuchtetes Urtheil zu ver¬

nehmen, wird mir ſtets von hohem Werthe ſein, auch wenn daſſelbe

von dem meinigen abweicht. Dagegen kann ich es nicht ſtillſchwei¬

gend hinnehmen, daß Ew. Durchlaucht Ihr Mißfallen mir durch

Einen Ihrer Untergebenen haben eröffnen und die darin liegende

Mißachtung meiner Stellung um ſo ſchärfer haben hervortreten

[192/0216]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

laſſen, als Sie mich hierbei mit Einem meiner Untergebenen auf

Eine Linie ſtellten. Das Verletzende dieſes Verfahrens ſpringt ſo

ſehr in die Augen, daß die Annahme der Abſichtlichkeit und die

hieran nothwendiger Weiſe ſich knüpfende Gedankenreihe nahe

liegen. Der letzteren Folge zu geben, werde ich nicht zögern, ſo¬

bald ich mich überzeuge, daß dieſe Annahme zutrifft. Indem ich

einſtweilen davon ausgehe, daß dies nicht der Fall iſt, beſchränke

ich mich darauf, Ew. Durchlaucht dringend zu bitten, ein ähnliches

Verfahren nicht wiederkehren zu laſſen.

Mit c. Graf Eulenburg.

„Gaſtein, den 20. Auguſt 1878.

Eure Excellenz haben, wie ich aus dem geehrten Schreiben

vom 18. entnehme, die, wie es ſcheint, wenig vorſichtige, mir jeden¬

falls unerwartete Folge, die der Geheim-Rath Tiedemann meiner

vertraulichen und formloſen Aeußerung gegeben hat, mir mit vollem

Gewichte zur Laſt geſchrieben, ohne mir auch nur das Beneficium

der Unvollkommenheit des Geſchäftsganges bei eingreifender Bade¬

kur zu gewähren. Nach Inhalt Ihres Schreibens bin ich unter

dem Eindruck, daß Ihnen gegenüber eine Tactloſigkeit in der Form

begangen iſt, für die ich Sie um Verzeihung bitte, obſchon ich ſie

nicht verſchuldet, höchſtens ermöglicht habe. Daß Eurer Excellenz

dabei der Gedanke an eine Abſichtlichkeit meinerſeits hat nahe treten

können, iſt mir unerwartet und betrübend, indem ich die freund¬

ſchaftliche Natur unſrer perſönlichen Beziehungen zu einander zu

geſichert glaubte, um ein derartiges Mißverſtändniß aufkommen

zu laſſen.

Mit c. v. Bismarck.

Es iſt bekannt, unter welchen Umſtänden Graf Eulenburg

im Februar 1881 ſeinen Abſchied nahm, und daß er im Auguſt

deſſelben Jahres zum Oberpräſidenten in Kaſſel ernannt wurde.

[193/0217]

Differenz mit B. Eulenburg. Ein Traum des Kaiſers.

An ſeinen Namen knüpft ſich folgender Briefwechſel zwiſchen

Sr. Majeſtät und mir. Den Gegenſtand meines darin erwähnten

Vortrags vom 17. December 1881 habe ich nicht zu ermitteln

vermocht.

„Berlin, den 18. December 1881.

Einen eigenthümlichen Traum muß ich Ihnen erzählen, den

ich dieſe Nacht träumte, ſo klar, wie ich ihn hier mittheile.

Der Reichstag trat nach den jetzigen Ferien zum erſten Mal

zuſammen. Während der Discussion trat der Graf Eulenburg ein;

ſogleich ſchwieg die Discussion; nach einer langen Pauſe ertheilte

der Präſident dem letzten Redner von Neuem das Wort. Schweigen!

Der Präſident hebt die Sitzung auf. Nun entſteht ein Tumult und

Geſchrei. Keinem Mitgliede darf ein Orden während der Session

des Reichstags ertheilt werden; der Monarch darf nicht in der

Session genannt werden. Andern Tages Sitzung. Eulenburg

erſcheint und wird mit ſolchem Ziſchen und Lärm empfangen —

darüber erwache ich in einer nervöſen Agitation, daß ich lange

mich nicht erholen konnte und zwei Stunden von ½5 bis ½7 Uhr

nicht ſchlafen konnte.

Das alles geſchah in meiner Gegenwart im Hauſe ſo klar,

wie ich es hier niederſchreibe.

Ich will nicht hoffen, daß der Traum ſich realisire, aber eigen¬

thümlich bleibt die Sache. Da dieſer Traum erſt nach dem ſechs¬

ſtündigen ruhigen Schlaf eintrat, ſo könnte er doch keine unmittel¬

bare Folge unſerer Unterredung ſein.

Enfin ich mußte Ihnen dieſe Curioſität doch erzählen.

Ihr

Wilhelm.“

„Berlin, den 18. December 1881.

Eurer Majeſtät danke ich ehrfurchtsvoll für das huldreiche Hand¬

ſchreiben. Ich glaube doch, daß der Traum das Ergebniß nicht grade

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 13

[194/0218]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

meines vorhergehenden Vortrages, aber doch der Geſammtheit der

Eindrücke der letzten Tage, auf Grund der mündlichen Berichte von

Puttkamer, der Zeitungsartikel und meines Vortrags war. Die Bilder

des Wachens tauchen im Spiegel des Traumes nicht ſofort, ſondern

erſt dann wieder auf, wenn der Geiſt durch Schlaf und Ruhe ſtill ge¬

worden iſt. Eurer Majeſtät Mittheilung ermuthigt mich zur Erzählung

eines Traumes, den ich Frühjahr 1863 in den ſchwerſten Conflicts¬

tagen hatte, aus denen ein menſchliches Auge keinen gangbaren Aus¬

weg ſah. Mir träumte, und ich erzählte es ſofort am Morgen

meiner Frau und andern Zeugen, daß ich auf einem ſchmalen

Alpenpfad ritt, rechts Abgrund, links Felſen; der Pfad wurde

ſchmaler, ſo daß das Pferd ſich weigerte, und Umkehr und Abſitzen

wegen Mangel an Platz unmöglich; da ſchlug ich mit meiner Gerte

in der linken Hand gegen die glatte Felswand und rief Gott an;

die Gerte wurde unendlich lang, die Felswand ſtürzte wie eine

Couliſſe und eröffnete einen breiten Weg mit dem Blick auf Hügel

und Waldland wie in Böhmen, Preußiſche Truppen mit Fahnen

und in mir noch im Traume der Gedanke, wie ich das ſchleunig

Eurer Majeſtät melden könnte. Dieſer Traum erfüllte ſich, und ich

erwachte froh und geſtärkt aus ihm.

Der böſe Traum, aus dem Eure Majeſtät nervös und agitirt

erwachten, kann doch nur ſo weit in Erfüllung gehn, daß wir noch

manche ſtürmiſche und lärmende Parlamentsſitzung haben werden,

durch welche die Parlamente ihr Anſehn leider untergraben und die

Staatsgeſchäfte hemmen; aber Eurer Majeſtät Gegenwart dabei iſt

nicht möglich, und ich halte dergleichen Erſcheinungen wie die letzten

Reichstagsſitzungen zwar für bedauerlich als Maßſtab unſrer Sitten

und unſrer politiſchen Bildung, vielleicht unſrer politiſchen Be¬

fähigung; aber für kein Unglück an ſich: l'excès du mal en devient

le remède.

Verzeihn Eure Majeſtät mit gewohnter Huld dieſe durch Aller¬

höchſtdero Schreiben angeregte Ferienbetrachtung; denn ſeit geſtern

bis zum 9. Januar haben wir Ferien und Ruhe.“

[195/0219]

Ein Traum als Offenbarung. Nervenkriſis. Roons Präſidium.

Die Beſchwerde des Grafen Eulenburg über Tiedemann und die

darin ſofort geſtellte Cabinetsfrage waren mir in ihrer Form um

ſo mehr auf die Nerven gefallen, als ich an den Folgen einer

ſchweren Erkrankung litt, die durch die Einwirkung der auf den Kaiſer

gemachten Attentate und den gleichzeitigen Zwang zur Arbeit in

dem Präſidium des Berliner Congreſſes hervorgerufen, zwar aus

amtlichem Pflichtgefühle zurückgedrängt, aber durch die Gaſteiner

Kur mehr verſchärft als geheilt war. Dieſe Kur, der mein Mit¬

arbeiter, der Staatsminiſter Bernhard von Bülow, am 20. October

1879 erlag, wirkt auf überarbeitete Nerven nicht beruhigend, wenn

ſie durch Arbeit oder Gemüthsbewegung geſtört wird.

Unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Berlin hatte ich die

Vorlage des Socialiſtengeſetzes im Reichstage zu vertreten und fand

dabei die Erfahrung beſtätigt, daß die oratoriſche Leiſtung auf der

Tribüne eine geringere Nervenanſtrengung erfordert als die Correctur

einer langen ſchnell geſprochenen Rede, deren Wortlaut an leitender

Stelle vertreten werden ſoll. Während einer ſolchen Correctur

kam bei mir eine ſeit Monaten vorbereitete Nervenkriſis körperlich

zum Ausbruche, glücklicherweiſe in der leichtern Form der Neſſelſucht.

Die Aufgaben eines leitenden Miniſters einer europäiſchen

Großmacht mit parlamentariſcher Verfaſſung ſind an ſich hin¬

reichend aufreibender Natur, um die Arbeitsfähigkeit eines Mannes

zu abſorbiren; ſie werden es in höherm Maße, wenn der Miniſter,

wie in Deutſchland und Italien, einer Nation über das Stadium

ihrer Ausbildung hinwegzuhelfen und wie bei uns mit einem ſtarken

Iſolirungstrieb der Parteien und Individuen zu kämpfen hat. Wenn

man Alles, was der Menſch an Kräften und Geſundheit beſitzt,

an die Löſung ſolcher Aufgaben ſetzt, ſo iſt man gegen alle Er¬

ſchwerungen derſelben, welche nicht ſachlich nothwendig ſind, doppelt

empfindlich. Ich glaubte ſchon zu Anfang der 70er Jahre mit

meiner Geſundheit zu Ende zu ſein und überließ deshalb das Prä¬

ſidium des Cabinets dem einzigen mir perſönlich Naheſtehenden

unter meinen Collegen, dem Grafen Roon, wurde aber damals

[196/0220]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

nicht durch ſachliche Schwierigkeiten entmuthigt. Um letztres her¬

beizuführen, mußte die feindliche Intrige der Kreiſe hinzutreten,

auf deren Unterſtützung ich vorzugsweiſe glaubte rechnen zu können,

und die ſich zur Zeit der „Reichsglocke“ in den Beziehungen der

durch dieſes Blatt vertretenen Elemente in erſter Linie zum Hofe

und den Conſervativen und zu vielen meiner amtlichen Mitarbeiter

kennzeichnete. Die Thatſache, daß ich bei dem mir ſonſt ſo gnä¬

digen Monarchen keinen genügenden Beiſtand gegen die Hof- und

Hauseinflüſſe des Reichsglockenringes fand, hatte mich am meiſten

entmuthigt und das Gewicht der Erwägungen vervollſtändigt, die

mich zu meinem Abſchiedsgeſuche vom 27. März 1877 bewogen

hatten. Die Gürtelroſe, an welcher ich krank war, als Graf

Schuwalow 1878 von mir die Berufung des Congreſſes verlangte,

kennzeichnete den Fehlbetrag in dem damaligen Zuſtande meiner

Geſundheit, war eine Quittung über Erſchöpfung der Nerven.

Mehr als die „Reichsglocke“ und deren Zubehör am Hofe hatte

daran der Mangel an Aufrichtigkeit in der Mitwirkung einiger

meiner amtlichen Mitarbeiter Antheil. Meine Vertretung durch

das Vicepräſidium des Grafen Stolberg nahm durch den Einfluß,

den die Miniſter Friedenthal und dann Graf Botho Eulenburg

auf meinen Vertreter ausübten, eine Geſtalt an, die mir ſchlie߬

lich den Eindruck machte, daß ich mich einem Syſteme allmäligen

Abdrängens von den Geſchäften der politiſchen Leitung gegenüber

befand. Das Symbol dieſes Syſtems machte ſich in der That¬

ſache kenntlich, daß die amtlichen Kundgebungen des Staatsmini¬

ſteriums aus der damaligen Zeit meiner Mitunterſchrift entbehrten.

Es geſchah das nicht auf meinen Wunſch oder mit meiner Zu¬

ſtimmung, ſondern unter Benutzung meiner Gleichgültigkeit gegen

Aeußerlichkeiten, und ich habe dieſe Vorgänge ungerügt gelaſſen,

bis ich über die ſyſtematiſche Abſichtlichkeit derſelben keinen Zweifel

mehr haben konnte.

Die auf ſpätere Ereigniſſe Licht werfenden Einzelnheiten ge¬

hören nicht alle in die Situation zur Zeit der Conſeilſitzung im

[197/0221]

Syſtematiſche Abdrängung von den Geſchäften.

Juni 1878, aber ſie beleuchten zum Theil retroſpectiv die damalige

Lage und ihre Triebfedern. Graf Botho Eulenburg als Miniſter

des Innern gab damals auf der Tribüne des Landtags ohne

Zwang ſein Wohlwollen für den Abgeordneten Rickert gegenüber

einem Artikel der „Nordd. Allg. Ztg.“ mit abſichtlicher Klarheit

zu erkennen, für mich um ſo einleuchtender, als ich keinen Zweifel

hatte, daß er jenen von ihm gemißbilligten Artikel mit mir in

Verbindung brachte. Wie in der Nacht beim Gewitter jeder Blitz

die Gegend deutlich zeigt, ſo geſtatteten auch mir einzelne Schach¬

züge meiner Gegner die Geſammtheit der Situation zu überblicken,

die durch äußerlich achtungsvolle Kundgebungen von perſönlichem

Wohlwollen bei thatſächlicher Boycottirung erzeugt wurde. Ob

ein Cabinet Gladſtone, deſſen Miſſion durch die Namen Stoſch,

Eulenburg, Friedenthal, Camphauſen, Rickert und beliebige Ab¬

ſchwächungen des Gattungsbegriffs „Windthorſt“ mit katholiſchen

Hofeinflüſſen bezeichnet werden kann, wenn es gelang, daſſelbe

zu Stande zu bringen, in ſich haltbar geweſen wäre, iſt eine

Frage, die ſich die Intereſſenten wohl nicht vorgelegt hatten; der

Hauptzweck war der negative, mich zu beſeitigen, und über den

waren einſtweilen die Inhaber der Antheilſcheine auf die Zukunft

einig. Jeder konnte nachher wieder hoffen, den Andern hinaus¬

zudrängen, wie das bei uns im Syſtem aller der heterogenen

Coalitionen liegt, die nur in der Abneigung gegen das Beſtehende

einig ſind. Die ganze Combination hatte damals keinen Erfolg,

weil weder der König noch der Kronprinz dafür zu gewinnen

waren. Ueber die Beziehungen des Letztern zu mir waren die

ſtrebenden Gegner damals wie ſpäter 1888 ſtets falſch unter¬

richtet. Er hatte bis an ſein Lebensende daſſelbe Vertrauen zu

mir wie ſein Vater, und die Neigung, es zu erſchüttern, erreichte

bei ſeiner Gemalin niemals dieſelbe kampfbereite Entſchiedenheit

wie bei der Kaiſerin Auguſta, die ſich auch in der Wahl der

Mittel freier bewegte.

Neben den aufreibenden Kämpfen perſönlicher Natur waren mir

[198/0222]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

ſachliche Schwierigkeiten und anſtrengende Arbeiten erwachſen aus

dem Bruche mit der Freihandelspolitik, den mein Brief an den

Freiherrn von Thüngen 1) über Schutzzoll ſymptomatiſch kennzeichnet,

dann aus der Seceſſion und dem Uebergange der Seceſſioniſten zu

dem Centrum. Ich verfiel in einen Geſundheitsbankrott, der

mich lähmte, bis Dr. Schweninger meine Krankheit richtig erkannte,

richtig behandelte und mir ein relatives Geſundheitsgefühl ver¬

ſchaffte, das ich ſeit vielen Jahren nicht mehr gekannt hatte.

V.

Herr von Gruner, während der Neuen Aera Unterſtaats¬

ſekretär in dem Miniſterium der Auswärtigen Angelegenheiten,

wurde bald nach meiner Uebernahme des Miniſteriums des Aus¬

wärtigen zur Diſpoſition geſtellt und durch Herrn von Thile erſetzt.

Er gehörte ſchon ſeit meiner Ernennung zum Bundesgeſandten zu

meinen Gegnern, da er dieſe Stellung als ein Erbtheil von ſeinem

Vater Juſtus Gruner angeſehn hatte; er blieb mir Feind und war

geſchäftlich unfähig. Im November 1863 richtete er an Se. Ma¬

jeſtät ein Schreiben über den Budgetſtreit in demſelben Sinne,

in dem der Oberſtlieutenant von Vincke auf Olbendorf (vergl.

Bd. I S. 303) und Roggenbach denſelben Schritt zu thun für gut

befunden hatten. Indem dieſe Herrn ihre Vorſchläge an den König

richteten, gingen ſie von der Vorausſetzung aus, daß derſelbe,

wenn er ihrem Rathe folgend, dem Abgeordnetenhauſe nachgäbe,

ein andres Miniſterium, wenigſtens einen andern Miniſterpräſidenten

und Miniſter des Auswärtigen berufen werde, ein Ergebniß, für

das außerhalb des öffentlichen Lebens Einflüſſe in Thätigkeit waren,

denen der Hausminiſter von Schleinitz mit andern dem Hofe nahe¬

ſtehenden Perſonen ſeine Dienſte widmete. Auch ſpäter lebte Herr

1) Vom 16. April 1879, Politiſche Reden VIII 54 f.

[199/0223]

Geſundheitsbankrott. Herr v. Gruner.

von Gruner in den Kreiſen, die 1876 die „Reichsglocke“ prote¬

girten und ſpeiſten.

Nachdem der Redacteur dieſes Blattes im Januar 1877 ver¬

urtheilt und ich im März das von Sr. Majeſtät abgelehnte Ab¬

ſchiedsgeſuch eingereicht hatte, kam es im Juni, während ich mich

zur Kur in Kiſſingen befand, im Geſchäftswege zu meiner Kenntniß,

daß Herr von Gruner in das Hausminiſterium berufen, zugleich

ohne Gegenzeichnung eines verantwortlichen Miniſters zum Wirk¬

lichen Geheimen Rath ernannt ſei, und daß Herr von Schleinitz

an den Curator des „Reichs- und Staats-Anzeigers“ das An¬

ſinnen geſtellt habe, dieſe Ernennung in dem amtlichen Blatte zu

publiciren.

Ich ſchrieb darüber unter dem 8. Juni an den Chef der

Reichskanzlei Geheim-Rath Tiedemann, zur Mittheilung an das

Staatsminiſterium:

„Meiner Anſicht nach iſt der amtliche Theil des Reichs-

und Staats-Anzeigers für ſolche Veröffentlichungen da, welche be¬

züglich der Reichs- und der Preußiſchen Staats-Angelegenheiten

unter Verantwortung des Reichskanzlers reſp. des Preußiſchen

Staatsminiſteriums erfolgen. Kommt die Ernennung Gruners ohne

Weitres in den amtlichen Theil, ſo kann ſelbſt durch die vorgängige

Erwähnung der Ueberweiſung an das Hausminiſterium die Prä¬

ſumtion nicht entkräftet werden, daß das Staatsminiſterium die Er¬

nennung Gruners zum Wirkl. Geheimen Rath mit ſeiner Ver¬

antwortlichkeit deckt. Die öffentliche Meinung und der Landtag

würden kaum annehmen, daß das Staatsminiſterium dieſe Aus¬

zeichnung ſeines notoriſchen Gegners gewünſcht habe; ſie würden

vielmehr die Wahrheit leicht errathen, daß das Staatsminiſterium

bei Hofe nicht das hinreichende Anſehn, bei Sr. Majeſtät nicht

den hinreichenden Einfluß gehabt habe, um dieſe Ernennung zu

hindern; man würde auch darüber garnicht zweifelhaft ſein, daß

dieſe im Staatsanzeiger veröffentlichte Ernennung eine vom Staats¬

miniſterium more solito contraſignirte geweſen ſei. Der Glaube,

[200/0224]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

daß das Staatsminiſterinm ſich im Beſitz des von der Verfaſſung

vorausgeſetzten Einfluſſes auf die Allerhöchſten Entſchließungen be¬

fände, würde auch dann nicht gefördert werden, wenn etwa die

ungnädige Allerhöchſte Randbemerkung und die darauf erfolgte Ant¬

wort des Staatsminiſteriums öffentlich bekannt würden. Man würde

in Verſuchung ſein, in Betreff von Inhalt und Wirkung Vergleiche

mit dem Vorgange in Frankreich anzuſtellen, der dort zu dem

jüngſten Miniſterwechſel führte.

Ich bin nicht ohne Beſorgniß, daß wir in dem Grunerſchen

Vorgange nur eine Sonde zu erblicken haben, die von Herrn von

Schleinitz und ſeinen Rathgebern (nicht von Sr. Majeſtät dem

Kaiſer) angelegt wird, um zu probiren, was man uns bieten kann

und wie hoch wir unſre miniſterielle Autorität anſchlagen. Meiner

Anſicht nach iſt Fügſamkeit gegen dieſe unberechtigten Einflüſſe auf

die Allerhöchſten Entſchließungen nicht das Mittel, ſie abzuſchneiden;

im Gegentheil, ſie werden wachſen, und der Conflict, der jetzt ein

blos formaler iſt, würde ſich auf ungünſtigern Feldern und unter

Hineinziehung großer Parteifragen demnächſt wiederholen.

Ich könnte mich nach meiner augenblicklichen Lage jeder amt¬

lichen Aeußerung enthalten, aber ich habe das Gefühl, daß die für

mich perſönlich doch ſehr wichtige Frage meines Wiedereintritts in die

Geſchäfte auf dieſem Wege auch ohne Rückſicht auf meine Geſund¬

heit präjudicirt werden würde. Da ich hoffe, daß meine Geſund¬

heit ſich beſſern wird, und da ich für dieſen Fall mir gern den

Wiedereintritt in die Geſchäfte, ſo weit er dem Allerhöchſten Willen

entſpricht, offen erhalte, ſo nehme ich ein perſönliches Intereſſe

daran, daß das Anſehn der miniſteriellen Stellung hinreichend ge¬

wahrt werde, um mir die Wiederaufnahme einer ſolchen nach meinem

Gewiſſen möglich zu erhalten.

Die richtige der Logik des erſten Beſchluſſes entſprechende Er¬

ledigung wäre meiner Anſicht nach die Ablehnung der von dem Haus¬

miniſter beantragten Veröffentlichung für den amtlichen Theil des

Staats-Anzeigers. Die amtliche Aufnahme iſt vor Mißdeutung in

[201/0225]

Gruners Ernennung zum Wirkl. Geh. Rathe.

der Oeffentlichkeit nicht zu ſchützen und bleibt immer ein partieller

Sieg der Reichsglocken-Intrige über die gegenwärtige Regirung.

Bekanntmachungen des Hausminiſteriums gehören an und für ſich

nicht in den ‚Reichs- und Staats-Anzeiger‘; ſoll letztrer außerdem

ein ‚Königlicher Haus-Anzeiger‘ ſein, ſo können doch meiner An¬

ſicht nach in ſeinem amtlichen Theile immer keine Anordnungen

des Hausminiſters Platz greifen, der keine Verantwortlichkeit für

den Inhalt des amtlichen Blattes trägt; dieſelben müßten immer

in der einen oder andern Geſtalt das von dem Hausminiſter nach¬

zuſuchende Placet des verantwortlichen Staatsminiſteriums erhalten,

bevor ſie abgedruckt werden. Dieſes Placet iſt im vorliegenden

Falle nicht nachgeſucht; der Hausminiſter hat ein Verfügungsrecht

über den Staats-Anzeiger in Anſpruch genommen, und wäre deshalb

ſein Verlangen angebrachtermaßen ſchon unter Anführung dieſes for¬

mellen Grundes abzulehnen. Geht ein Befehl zur Aufnahme einer

Angelegenheit des Königlichen Hauſes von Sr. Majeſtät dem Könige

ſelbſt aus, ſo wird ſeine Ausführung in den Fällen, welche die Regel

bilden, ja kein Bedenken haben; nur wird es ſich auch ſelbſt in unver¬

fänglichen Fällen empfehlen, die amtlichen Bekanntmachungen des

Königlichen Hauſes durch ihren Platz von denen des Staates geſondert

erſcheinen zu laſſen. Dieſe Sonderung wäre meines Erachtens in

der Art vorzunehmen, daß die das Königliche Haus angehenden

Allerhöchſten Anordnungen nicht promiscue mit denen des Staats¬

miniſteriums erſcheinen, ſondern es würde neben den beiden großen

amtlichen Rubriken des Staatsanzeigers ‚Deutſches Reich‘ und

‚Königreich Preußen‘, am höflichſten zwiſchen beiden, eventuell

auch nach ‚Königreich Preußen‘ eine dritte mit der Bezeichnung

‚Königliches Haus‘ einzuſchalten ſein, von den andern beiden Rubriken

ebenſo mittelſt durchgehender Striche geſchieden, wie jetzt ‚Preußen‘

und das ‚Reich‘. Damit ließe ſich die formale Frage für die

Zukunft erledigen, und in einer, wie mir ſcheint, nach keiner Seite

hin verletzenden Form.

Etwas andres iſt es aber, wenn eine Allerhöchſte Entſchließung

[202/0226]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

amtlich bekannt gemacht wird, welche in der Oeffentlichkeit, ungeachtet

der in den Acten verbleibenden Verſicherung des Gegentheils, das¬

jenige bekundet, was man im conſtitutionellen Sprachgebrauch Mangel

an Vertrauen des Monarchen zu ſeinen Miniſtern zu nennen pflegt.

Dagegen haben Miniſter natürlich kein andres Hülfsmittel, als

den Rücktritt aus ihrer Stellung. Unzweifelhaft trifft der vorliegende

Fall, ſoweit er dieſe Natur hat, mehr mich als meine Collegen.

Die letztern ſind von der Reichsglocke und andern Blättern, in

denen die Tendenzen der Herrn von Gruner, von Schleinitz, Graf

Neſſelrode, Nathuſius-Ludom vertreten wurden, theils garnicht, theils

doch nicht in dem Maße wie ich öffentlich verleumdet worden.

Eine Begnadigung des Herrn von Nathuſius, eine Auszeichnung

des Grafen Neſſelrode und des Herrn von Gruner grade in der

Zeit, wo die Verleumdungen des Organs dieſer Herrn gegen mich

die öffentliche Meinung und die Gerichte beſchäftigten, wo der Zu¬

ſammenhang jener Herrn mit dieſen Blättern offenkundig wurde,

enthalten einen Act Königlichen Wohlwollens für Leute, die durch

weiter nichts bekannt ſind, als durch ihre Feindſchaft gegen die

Regirung und durch öffentliche Verletzung meiner Ehre. Letztre

aber ſollte, ſo lange ich des Königs Diener bin, unter Sr. Majeſtät

Schutze ſtehn. Wird mir das Gegentheil dieſes Schutzes zu Theil,

ſo liegt ein perſönliches Motiv vor, welches mich viel gebieteriſcher

aus dem Dienſte vertreibt, als die Rückſicht auf meine Geſundheit

es jemals könnte. Dieſe Entſchließungsgründe liegen nur perſön¬

lich für mich vor, werden aber je nach der Entwicklung der Sache

für die Möglichkeit meines Wiedereintritts in die Geſchäfte ent¬

ſcheidend ſein.

Meinen Herrn Collegen ſtelle ich ergebenſt anheim, im In¬

tereſſe ihrer miniſteriellen Zukunft dafür Sorge tragen zu wollen,

daß die amtliche Publication von Gruners Ernennung, wenn Se.

Majeſtät nicht überhaupt darauf verzichten will, doch in einer Form

ſtattfinde, aus der die Nichtcontraſignatur zweifellos erſichtlich iſt.

Es würde dies in der oben vorgeſchlagenen Dreitheilung der Er¬

[203/0227]

Gruners Ernennung zum Wirkl. Geh. Rathe.

nennungen zwiſchen Reich, Preußen und Haus erreichbar ſein,

namentlich wenn die Preſſe dazu eine Erläuterung erhält. Em¬

pfehlen würde es ſich aber meines Erachtens, wenn die Anſtellung

Gruners im Hausminiſterium vorher in separato unter der Haus¬

miniſterial-Rubrik veröffentlicht und am andern Tage bekannt ge¬

geben würde, daß Se. Majeſtät geruht hätte, den im Hausmini¬

ſterium c. Angeſtellten den Titel eines Wirklichen Geheim-Raths c.

zu verleihn; eine etwas abweichende Geſtalt des Wortlauts der

Bekanntmachung von der ſonſt üblichen, wenn auch nur eine ganz

geringe, würde ſich immer empfehlen.“

Dieſem, an den Geheim-Rath Tiedemann gerichteten, unter

fliegendem Siegel an den Miniſter von Bülow beförderten Schreiben

fügte ich für Letztern mit dem Anheimſtellen vertraulicher Benutzung

bei den Collegen Folgendes hinzu:

„...Ich bin, wie ich glaube, von dem Vorgange in einem

ſtärkern Maße betroffen als meine Collegen; höchſtens Camphauſen

iſt außer mir noch von der Reichsglockenpartei verleumdet worden,

aber doch lange nicht mit dem Maße von Niedertracht, wie es mir

gegenüber geſchehn iſt. Man hat ihn ſachlich in Bezug auf ſein

Amt mit unwürdigen Mitteln angegriffen, aber doch ſeine perſön¬

liche Ehre nicht angetaſtet. Das Staatsminiſterium im Ganzen iſt

gewiß in der Lage, ſich durch die Form der Ernennung Gruners

verletzt zu finden und gegen dieſe Verletzung zu reagiren, um

ſeine Rechte und ſeine Würde für die Zukunft ſicher zu ſtellen.

Die Verletzung aber, die in der Thatſache der Ernennung

Gruners liegt, trifft weſentlich mich allein; ſeine langjährige Feind¬

ſchaft gegen mich perſönlich iſt es allein, welche die Aufmerkſam¬

keit auf ihn hat lenken können, denn er beſitzt weder Fähigkeiten

noch Verdienſte, war im Auswärtigen Amte durch ſeine, in wich¬

tigen Momenten an Geiſteskrankheit grenzende Unfähigkeit ein

Hinderniß und hat nunmehr ſeit 15 Jahren nichts geleiſtet, als

mit der ganzen Verbiſſenheit verkannter Selbſtüberſchätzung gegen

mich geſprochen, geſchrieben, intrigirt. Ich ſehe dabei für den

[204/0228]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel: Intrigen.

Augenblick ganz davon ab, daß grade dieſe Reichsglocken-Elemente

mir die Erfüllung meiner Amtspflicht in einem meine Kräfte über¬

ſchreitenden Maße erſchweren. Ich ſpreche jetzt nur von dem

Schlag, der dadurch perſönlich gegen mich hat geführt werden

ſollen, daß dieſer Menſch Sr. Majeſtät hat mit Erfolg empfohlen

werden können. Wenn ich dem gegenüber in meinem Schreiben

an Tiedemann ſage, daß für meine Herrn Collegen ein zwingendes

Motiv zum Rücktritt in dieſem Grunerſchen Falle nicht liegt, ſo

erſcheint mir meine Lage demſelben gegenüber als eine weſentlich

andre.

Ich würde Ihnen ſehr dankbar ſein, wenn Sie namentlich mit

Camphauſen, Friedenthal und Falk in dieſem Sinne vertraulich reden

wollten. Das Verhalten Wilmowskis geſtaltet ſich anders, als ich

erwartet hatte. Ich hatte bisher auf ihn als auf einen ſichern

Bundesgenoſſen gegen die Schleinitzſche Camarilla gerechnet; ſeine

Thätigkeit in dieſem Falle aber verſtehe ich nicht recht. Er wird

mit Eulenburg und Leonhardt zuſammen das Staatsminiſterium um

das Maß von Selbſtachtung, von Conſideration und ſchließlich auch

im Lande bringen, ohne welches ſich in dieſen ſchwierigen Lagen

am Hofe und im Lande die Staatsgeſchäfte nicht führen laſſen.

Gegen Eulenburg wird man ſich nur ſo äußern können, wie es

wiedererzählt werden kann. Wie ſtellt ſich eigentlich Hofmann zu

der Sache?

Mir ſcheint die Kur gut zu bekommen, doch markirt ſich jeder

Rückſchlag über ärgerliche Eindrücke in empfindlicher Weiſe und

läßt mich vorausſehn, daß mein Geſundheitszuſtand ein geſchäfts¬

fähiger ſchwerlich wieder werden wird. Vor der einfachen Be¬

ſorgung der Amtsgeſchäfte würde ich nicht zurückſchrecken; aber die

faux frais der Hofintrigen vermag ich nicht mehr in der Weiſe zu

tragen wie früher, vielleicht auch deshalb, weil ſie an Umfang und

Wirkung in erſchreckender Weiſe zugenommen haben. Dieſe eigent¬

lichen Gründe meiner fortbeſtehenden Abſicht, zurückzutreten, habe

ich vor drei Monaten verſchwiegen, obſchon es weſentlich dieſelben

[205/0229]

Gruners Ernennung zum Wirkl. Geh. Rathe.

waren; und ich werde auch demnächſt aus Rückſicht für den Kaiſer

keine andern Motive für mein Ausſcheiden anführen können, als

den Zuſtand meiner Geſundheit.“

Die Sache ſchloß damit ab, daß die Ernennung Gruners

zum Wirklichen Geheimen Rathe im Staatsanzeiger nicht veröffent¬

licht wurde.

[[206]/0230]

Siebenundzwanzigſtes Kapitel.

Die Reſſorts.

Bei meinen vielen Abweſenheiten verlor ich mit manchen

meiner Collegen die Fühlung; die Thatſache, daß ich jedem Ein¬

zelnen von ihnen das Aufſteigen von zum Theil geringen Stel¬

lungen bis zum Miniſter verſchafft und ſie mit Einmiſchungen in

ihre Reſſorts nicht beläſtigt hatte, ließ mich ihr perſönliches Wohl¬

wollen für mich überſchätzen. In die laufenden Geſchäfte ihrer

Reſſorts habe ich ſehr ſelten hineingeredet, und nur wenn ich ſah,

daß ein großes öffentliches Intereſſe Gefahr lief, unter Sonder¬

intereſſen zu leiden. Ich habe z. B. die Canaliſirung des Rheins

am Rheingau bekämpft, die um der Schifffahrt willen geſchehn

ſollte und das Flußbett zwiſchen den Ufern und den beiden zu

erbauenden Dämmen auf 30 Jahre in einen Sumpf verwandelt

hätte; desgleichen den Plan, den Kurfürſtendamm nur in der ge¬

wöhnlichen Breite der Chauſſeen zu chauſſiren und bis dicht an

den alten Weg zu bebauen. In beiden Fällen habe ich die Ab¬

ſichten der zunächſt competenten Behörden gekreuzt und glaube mir

damit ein dauerndes Verdienſt erworben zu haben. Auch mit Pro¬

tectionen bin ich meinen Collegen und den mir untergeordneten

Reichsämtern nicht läſtig gefallen. Verfaſſungsmäßig hätte ich alle

Poſt-, Telegraphen- und Eiſenbahnbeamte anſtellen und alle Poſten

der einzelnen Reichs-Reſſorts beſetzen können. Ich glaube aber

kaum, daß ich je von Herrn von Stephan oder Andern Poſten

[207/0231]

Als Vertreter des öffentlichen Intereſſes gegen die Reſſorts.

für einen von mir empfohlenen Candidaten verlangt habe, auch

nicht für einen Briefträger. Nur der Neigung, neue eingreifende

Geſetze oder Organiſationen zu machen, der Neigung, vom grünen

Tiſche aus zu reglementiren, bin ich bei meinen Collegen nicht

ſelten entgegen getreten, weil ich wußte, daß, wenn nicht ſie ſelbſt,

ſo doch ihre Räthe die Geſetzmacherei übertrieben, und daß ſo

manche vortragende Räthe in den innern Reſſorts ſeit dem Examen

her Projecte in ihren Fächern haben, durch die ſie die Unterthanen

des Reiches zu beglücken ſuchen, ſobald ſie einen Chef finden, der

darauf eingeht.

Ungeachtet meiner Zurückhaltung iſt nach meinem Ausſcheiden

bei der Mehrheit meiner Geſchäftsfreunde ein Gefühl wie der Er¬

leichterung von einem Drucke wahrgenommen worden, das in vielen

Fällen eben aus dem Widerſtande zu erklären iſt, den ich dem über¬

wuchernden Triebe zu unnöthigen Eingriffen in den Beſtand unſrer

Geſetzgebung geleiſtet hatte. Auf dem Gebiete der Schule hatte ich

dauernd, aber ohne Erfolg die Theorie bekämpft, daß der Unter¬

richtsminiſter ohne Geſetz und ohne ſich an das vorhandene Schul¬

vermögen zu binden, auf dem Verwaltungswege und ohne die

Leiſtungsfähigkeit zu beachten, beſtimmen könne, was jede Gemeinde

zur Schule beizutragen habe. Dieſe in keinem andern Verwaltungs¬

zweige vorhandene Machtvollkommenheit, deren Anwendung in

manchen Fällen ſo weit getrieben wurde, daß die Gemeinden exiſtenz¬

unfähig wurden, beruhte nicht auf Geſetz, ſondern auf einem Re¬

ſcript des frühern Cultusminiſters von Raumer, das das Schulbudget

von einer Verfügung der betreffenden Abtheilung der Regirungen,

in letzter Inſtanz des Miniſters, abhängig machte. Das Beſtreben,

dieſen Miniſterabſolutismus durch Geſetz zu conſolidiren, war für

mich ein Hinderniß, den gelegentlich mir vorgelegten Schulgeſetz¬

entwürfen meine Zuſtimmung zu geben.

Auf dem Gebiete der Finanzen war meine Zuſtimmung zu

einer Steuerreform jederzeit dem Verlangen untergeordnet, die¬

jenigen directen Steuern, die von dem Vermögen des Zahlenden

[208/0232]

Siebenundzwanzigſtes Kapitel: Die Reſſorts.

unabhängig ſind, nicht ferner als Maßſtab für jährliche Zuſchläge

zu benutzen. Wenn auch die durch Auflegung der Grund- und

Häuſerſteuer einmal begangene Ungerechtigkeit ſich nicht ausgleichen

ließ, ſo iſt es deshalb doch nicht der Gerechtigkeit entſprechend, ſie

jährlich durch Zuſchläge zu wiederholen. Mein letzter College im

Finanzminiſterium, Scholz, mit dem ich jederzeit in freundlichen

Beziehungen gelebt habe, theilte meine Anſicht, hatte jedoch mit

den parlamentariſchen und miniſteriellen Schwierigkeiten der Remedur

zu kämpfen; dagegen war die Streitmacht ſeiner Räthe ohne Zweifel

der freiern Bewegung froh, die nach meinem Ausſcheiden aus dem

Staatsminiſterium eintrat. Eine Forderung, mit der ich Jahre

lang im Finanzminiſterium keinen Anklang finden konnte, war

neben der Selbſteinſchätzung die, daß das Einkommen von aus¬

ländiſchen Werthen höher zu beſteuern ſei als von deutſchen,

gewiſſermaßen ein Schutzzoll für deutſche Werthe, und das

von ſelbſt flüſſige höher als das durch Arbeit jährlich neu zu ge¬

winnende.

Auf dem Gebiete der Landwirthſchaft iſt der Wegfall des von

mir angeblich ausgeübten agrariſchen Druckes hauptſächlich den

kranken Schweinen und den Viehſeuchen zu Gute gekommen, des¬

gleichen den höhern und niedern Beamten, denen die Aufgabe zu¬

fiel, vor dem Parlamente und dem Lande die Agitationslüge von

der Vertheuerung der Lebensmittel zu bekämpfen. In der Nach¬

giebigkeit auf dieſem Gebiete und in der, nach unangenehmen Er¬

fahrungen im Februar 1891 wieder zurückgenommnen, Erleichterung

des franzöſiſchen Verkehrs mit dem Elſaß ſehe ich den gemeinſchaft¬

lichen Ausdruck der Kampfesſcheu, die die Zukunft für etwas mehr

Bequemlichkeit in der Gegenwart zu opfern bereit iſt. Der Zweck,

wohlfeiles Schweinefleiſch zu haben, wird durch laxe Behandlung

der Anſteckungsgefahr auf die Dauer ebenſo wenig gefördert werden,

wie die Loslöſung des Elſaß von Frankreich durch die beifalls¬

bedürftige Weichlichkeit gegen locale Beſchwerden und Grenz¬

ſchwierigkeiten.

[209/0233]

Als Vertreter des öffentlichen Intereſſes gegen die Reſſorts.

Was die Reichsämter betrifft, ſo habe ich mit dem Schatz¬

amte ſtets gute Fühlung gehabt, zur Zeit von Scholz wie von

Maltzahn. Die Beſtimmung dieſes Amtes hatte keine größere Trag¬

weite als diejenige, dem Reichskanzler in ſeinen Erörterungen und

Verſtändigungen mit dem preußiſchen Miniſter der Finanzen Bei¬

ſtand und techniſch geſchulte Arbeitskräfte zu ſtellen. Die entſcheidende

Stelle in Finanzfragen blieb der preußiſche Finanzminiſter und das

Staatsminiſterium. Der Charakter beider Herrn geſtattete, Mei¬

nungsverſchiedenheiten in ehrlicher Erörterung und ohne Verſtim¬

mung zu erledigen. Die neuerdings in der Preſſe vertretne und

thatſächlich gehandhabte Auffaſſung von der Möglichkeit einer von

einander unabhängigen Finanzpolitik des Reichskanzlers oder gar

des ihm untergebnen Reichsſchatzamtes einerſeits und des preußi¬

ſchen Finanzminiſters andrerſeits galt zu meiner Zeit als ver¬

faſſungswidrig. Divergenzen beider Stellen fanden ihre Löſung

in collegialiſchen Berathungen des Staatsminiſteriums, dem der

Kanzler als auswärtiger Miniſter angehörte, und ohne deſſen vor¬

ausgeſetztes oder ausgeſprochnes Einverſtändniß er nicht berechtigt

iſt, im Bundesrath die preußiſchen Stimmen abzugeben oder eine

Geſetzesvorlage zu machen.

Weniger durchſichtig waren für mich die Beziehungen zu dem

Reichspoſtamte. Während des franzöſiſchen Krieges traten Erſchei¬

nungen hervor, die mich hart an den Bruch mit Herrn von Stephan

brachten, aber ich war ſchon damals von ſeiner ungewöhnlichen

Begabung, nicht für ſein Fach allein, ſo überzeugt, daß ich

ihn gegen die Ungnade Sr. Majeſtät mit Erfolg vertrat. Herr

von Stephan hatte an ſeine Untergebenen ein amtliches Circular

gerichtet, in dem er die Beſorgung von gewiſſen Blättern für alle

Armeelazarethe in Frankreich anbefahl und zur Motivirung dieſes

Befehls auf Wünſche I. K. Hoheit der Kronprinzeſſin Bezug nahm.

Wie weit er dazu berechtigt war, weiß ich nicht; wer aber den

alten Herrn kannte, wird ſich ſeine Stimmung denken können, als

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 14

[210/0234]

Siebenundzwanzigſtes Kapitel: Die Reſſorts.

dieſer poſtaliſche Erlaß durch Militärberichte zu ſeiner Kenntniß

gekommen war. Die Farbe der empfohlenen Blätter allein hätte

genügt, um Stephan bei Wilhelm I. in Ungnade zu bringen; noch

verſtimmender aber wirkte die Berufung auf ein Mitglied der könig¬

lichen Familie und grade der Frau Kronprinzeſſin. Ich ſtellte den

Frieden mit Sr. Majeſtät her. Das Bedürfniß hoher Anerkennung

iſt eins der Paſſiva, die auf den meiſten ungewöhnlichen Begabungen

laſten. Ich nahm an, daß die Schwächen, welche Stephan aus

ſeinen Anfängen in ſeine höhern Stellungen hinübergebracht hatte,

je älter und je vornehmer er werde, deſto mehr von ihm abfallen

würden. Ich kann nur wünſchen, daß er in ſeinem Amte alt werde

und geſund bleibe, und würde ſeinen Verluſt für ſchwer erſetzlich

halten 1), vermuthe aber, daß auch er bei meinem Abgange zu denen

gehörte, welche eine Erleichterung zu empfinden glaubten. Ich bin

ſtets der Meinung geweſen, daß der Transport- und Correſpondenz-

Verkehr zu dem Staatszwecke beizuſteuern habe und dieſe Beiſteuer in

der Porto- und Frachtvergütung einzubegreifen ſei. Stephan iſt mehr

Reſſortpatriot und als ſolcher allerdings nicht nur ſeinem Reſſort

und deſſen Beamten, ſondern auch dem Reiche in einem Maße nützlich

geweſen, das für jeden Nachfolger ſchwer erreichbar ſein wird. Ich

bin ſeinen Eigenmächtigkeiten ſtets mit dem Wohlwollen entgegen

getreten, das die Achtung vor ſeiner eminenten Begabung mir ein¬

flößte, auch wenn ſie in meine Competenz als Kanzler und ſtimm¬

führender Vertreter Preußens einſchnitten, oder er durch ſeine Vor¬

liebe für Prachtbauten die finanziellen Ergebniſſe ſchädigte.

1) Stephan ſtarb 8. April 1897.

[[211]/0235]

Achtundzwanzigſtes Kapitel.

Berliner Congreß.

I.

Im Herbſt 1876 erhielt ich in Varzin ein chiffrirtes Tele¬

gramm unſres Militärbevollmächtigten, des Generals von Werder

aus Livadia, durch welches er im Auftrage des Kaiſers Ale¬

xander eine Aeußerung darüber verlangte, ob wir neutral bleiben

würden, wenn Rußland mit Oeſtreich in Krieg geriethe. Bei der

Beantwortung deſſelben hatte ich zu erwägen, daß Werders Chiffre

innerhalb des Kaiſerlichen Palais nicht unzugänglich ſein werde,

hatte ich doch die Erfahrung gemacht, daß ſelbſt in unſerm Geſand¬

ſchaftshauſe in Petersburg durch keinen künſtlichen Verſchluß, ſondern

nur durch häufigen Wechſel der Chiffre das Geheimniß derſelben zu

bewahren war 1). Ich konnte meiner Ueberzeugung nach nichts nach

Livadia telegraphiren, was nicht auch zur Kenntniß des Kaiſers

kommen würde. Daß eine ſolche Frage überhaupt auf ſolchem

Wege geſtellt werden konnte, hatte ſchon eine Verſchiebung der

geſchäftlichen Traditionen zur Vorausſetzung. Wenn ein Cabinet

Fragen der Art an ein andres ſtellen will, ſo iſt der correcte Weg

eine vertrauliche mündliche Sondirung durch den eignen Botſchafter

oder von Souverän zu Souverän bei perſönlicher Begegnung. Daß

1) S. Bd. I 228.

[212/0236]

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.

die Sondirung durch eine Anfrage bei dem Vertreter der zu ſon¬

direnden Macht ſeine Bedenken hat, hatte die ruſſiſche Diplomatie

durch die Vorgänge zwiſchen dem Kaiſer Nicolaus und Seymour

erfahren. Die Neigung Gortſchakows, telegraphiſche Anfragen

bei uns nicht durch den ruſſiſchen Vertreter in Berlin, ſondern

durch den deutſchen in Petersburg zu bewirken 1), hat mich ge¬

nöthigt, unſre Miſſionen in Petersburg häufiger als an andern

Höfen darauf aufmerkſam zu machen, daß ihre Aufgabe nicht

in der Vertretung der Anliegen des ruſſiſchen Cabinets bei

uns, ſondern unſrer Wünſche an Rußland liege. Die Verſuchung

für einen Diplomaten, ſeine dienſtliche und geſellſchaftliche Stel¬

lung durch Gefälligkeiten für die Regirung, bei der er beglaubigt

iſt, zu pflegen, iſt groß und wird noch gefährlicher, wenn der

fremde Miniſter unſern Agenten für ſeine Wünſche bearbeiten

und gewinnen kann, ehe dieſer alle die Gründe kennt, aus denen

für ſeine Regirung die Erfüllung und ſelbſt die Zumuthung inop¬

portun iſt.

Außerhalb aller aber, ſelbſt der ruſſiſchen, Gewohnheiten lag

es, wenn der deutſche Militärbevollmächtigte am ruſſiſchen Hofe uns,

und während ich nicht in Berlin war, auf Befehl des ruſſiſchen

Kaiſers eine politiſche Frage von großer Tragweite in dem kate¬

goriſchen Stile eines Telegramms vorlegte. Ich hatte, ſo unbequem

ſie mir auch war, nie eine Aenderung in der alten Gewohnheit er¬

langen können, daß unſre Militärbevollmächtigten in Petersburg

nicht, wie andre, durch das Auswärtige Amt, ſondern direct in

eigenhändigen Briefen an Se. Majeſtät berichteten, — einer Ge¬

wohnheit, die ſich davon herſchrieb, daß Friedrich Wilhelm III. dem

erſten Militärattaché in Petersburg, dem frühern Commandanten

von Kolberg, Lucadou, eine beſonders intime Stellung zu dem Kaiſer

gegeben hatte. Freilich meldete der Militärattaché in ſolchen Briefen

Alles, was der ruſſiſche Kaiſer über Politik in dem gewohnheits¬

1) S. o. S. 173.

[213/0237]

Eine indiscrete Anfrage des ruſſiſchen Kaiſers.

mäßigen vertraulichen Verkehre am Hofe mit ihm geſprochen hatte,

und das war nicht ſelten viel mehr, als Gortſchakow mit dem Bot¬

ſchafter ſprach; der „Pruski Fligeladjudant“, wie er am Hofe hieß,

ſah den Kaiſer faſt täglich, jedenfalls viel öfter als Gortſchakow,

der Kaiſer ſprach mit ihm nicht bloß über Militäriſches, und die

Aufträge zu Beſtellungen an unſern Herrn beſchränkten ſich nicht

auf Familienangelegenheiten. Die diplomatiſchen Verhandlungen

zwiſchen beiden Cabineten haben ihren Schwerpunkt, wie zur Zeit

Rauchs und Münſters, oft und lange mehr in den Berichten des

Militärbevollmächtigten als in denen der amtlich accreditirten Ge¬

ſandten gefunden. Da indeſſen Kaiſer Wilhelm niemals verſäumte,

mir ſeine Correſpondenz mit dem Militärbevollmächtigten in Peters¬

burg nachträglich, wenn auch oft zu ſpät, mitzutheilen, und poli¬

tiſche Entſchlüſſe nie ohne Erwägung an amtlicher Stelle faßte, ſo

beſchränkten ſich die Nachtheile dieſes directen Verkehrs auf Ver¬

ſpätung von Informationen und Anzeigen, die in ſolchen Immediat¬

berichten enthalten waren. Es lag alſo außerhalb dieſer Gewohn¬

heit im Geſchäftsverkehr, daß Kaiſer Alexander, ohne Zweifel auf

Anregung des Fürſten Gortſchakow, Herrn von Werder als Organ

benutzte, um uns jene Doctorfrage vorzulegen. Gortſchakow war

damals bemüht, ſeinem Kaiſer zu beweiſen, daß meine Ergebenheit

für ihn und meine Sympathie für Rußland unaufrichtig oder doch

nur „platoniſch“ ſei, und ſein Vertrauen zu mir zu erſchüttern,

was ihm denn auch ſpäter gelungen iſt.

Bevor ich die Werderſche Anfrage ſachlich beantwortete, ver¬

ſuchte ich es mit dilatoriſchen Rückäußerungen, bezugnehmend auf

die Unmöglichkeit, mich auf eine ſolche Frage ohne höhere Ermächti¬

gung zu äußern, und empfahl auf wiederholtes Drängen, die Frage

auf amtlichem, wenn auch vertraulichem Wege durch den ruſſiſchen

Botſchafter in Berlin im Auswärtigen Amte zu ſtellen. Indeſſen

ſchnitten wiederholte Interpellationen durch Werderſche Telegramme

dieſen ausweichenden Weg ab. Inzwiſchen hatte ich Se. Majeſtät

gebeten, Herrn von Werder, der in Livadia diplomatiſch gemißbraucht

[214/0238]

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.

werde, ohne ſich deſſen erwehren zu können, telegraphiſch an das

kaiſerliche Hoflager zu berufen und ihm die Uebernahme von poli¬

tiſchen Aufträgen zu unterſagen, als eine Leiſtung, die dem ruſſiſchen,

aber nicht dem deutſchen Dienſte angehöre. Der Kaiſer ging auf

meinen Wunſch nicht ein, und da Kaiſer Alexander endlich auf

Grund unſrer perſönlichen Beziehungen die Ausſprache meiner eignen

Meinung unter Betheiligung der ruſſiſchen Botſchaft in Berlin von

mir verlangte, ſo war es mir nicht länger möglich, der Beantwortung

der indiscreten Frage auszuweichen. Ich erſuchte den Botſchafter

von Schweinitz, der am Ende ſeines Urlaubs ſtand, mich vor der

Rückkehr nach St. Petersburg in Varzin zu beſuchen, um meine

Inſtruction entgegenzunehmen. Vom 11. bis 13. October war

Schweinitz mein Gaſt. Ich beauftragte ihn, ſich ſobald als mög¬

lich über Petersburg an das Hoflager des Kaiſers Alexander nach

Livadia zu begeben. Der Sinn meiner Inſtruction für Herrn

von Schweinitz war, unſer erſtes Bedürfniß ſei, die Freundſchaft

zwiſchen den großen Monarchien zu erhalten, welche der Revolution

gegenüber mehr zu verlieren, als im Kampfe unter einander zu ge¬

winnen hätten. Wenn dies zu unſerm Schmerze zwiſchen Rußland

und Oeſtreich nicht möglich ſei, ſo könnten wir zwar ertragen,

daß unſre Freunde gegen einander Schlachten verlören oder ge¬

wönnen, aber nicht, daß einer von beiden ſo ſchwer verwundet

und geſchädigt werde, daß ſeine Stellung als unabhängige und

in Europa mitredende Großmacht gefährdet würde. Dieſe unſre

Erklärung, welche von uns in zweifelsfreier Deutlichkeit zu er¬

zwingen Gortſchakow ſeinen Herrn bewogen hatte, um ihm den

platoniſchen Charakter unſrer Liebe zu beweiſen, hatte zur Folge,

daß das ruſſiſche Gewitter von Oſtgalizien ſich nach dem Balkan

hin verzog, — und daß Rußland anſtatt der mit uns abgebrochnen

Verhandlungen dergleichen mit Oeſtreich, ſo viel ich mich erinnere,

zunächſt in Peſt, im Sinne der Abmachungen von Reichſtadt,

wo die Kaiſer Alexander und Franz Joſeph am 8. Juli 1876

zuſammengetroffen waren, einleitete unter dem Verlangen, ſie vor

[215/0239]

Beantwortung der Frage. Reichſtadter Convention. Türkenkrieg.

uns geheim zu halten. Dieſe Convention 1), nicht der Berliner

Congreß, iſt die Grundlage des öſtreichiſchen Beſitzes an Bosnien

und der Herzegowina und hat den Ruſſen während ihres Krieges

mit den Türken die Neutralität Oeſtreichs geſichert.

II.

Daß das ruſſiſche Cabinet in den Abmachungen von Reich¬

ſtadt den Oeſtreichern für ihre Neutralität die Erwerbung Bosniens

zugeſtanden hat, läßt annehmen, daß Herr von Oubril uns nicht

die Wahrheit ſagte, indem er verſicherte, es werde ſich in dem

Balkankriege nur um eine promenade militaire, um Beſchäftigung

des trop plein des Heeres und um Roßſchweife und Georgenkreuze

handeln; dafür wäre Bosnien ein zu hoher Preis geweſen. Wahr¬

ſcheinlich hatte man in Petersburg darauf gerechnet, daß Bulgarien,

wenn von der Türkei losgelöſt, dauernd in Abhängigkeit von Rußland

bleiben werde. Dieſe Berechnung würde wahrſcheinlich auch dann nicht

zugetroffen ſein, wenn der Friede von San Stefano ungeſchmälert zur

Ausführung gekommen wäre. Um nicht vor dem eignen Volke für

dieſen Irrthum verantwortlich zu ſein, hat man ſich mit Erfolg be¬

müht, der deutſchen Politik, der „Untreue“ des deutſchen Freundes die

Schuld für den unbefriedigenden Ausgang des Krieges aufzubürden.

Es war das eine unehrliche Fiction; wir hatten niemals etwas Andres

in Ausſicht geſtellt als wohlwollende Neutralität, und wie ehrlich

wir es damit gemeint haben, ergibt ſich ſchon daraus, daß wir uns

durch die von Rußland verlangte Geheimhaltung der Reichſtadter

Abmachungen vor uns in unſerm Vertrauen und Wohlwollen für

Rußland nicht irre machen ließen, ſondern bereitwillig dem Wunſche,

den der Graf Peter Schuwalow mir nach Friedrichsruh überbrachte,

entgegen kamen, einen Congreß nach Berlin zu berufen. Der Wunſch

1) Abgeſchloſſen am 15. Januar 1877.

[216/0240]

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.

der ruſſiſchen Regirung, vermittelſt eines Congreſſes zu dem Frieden

mit der Türkei zu gelangen, bewies, daß ſie ſich militäriſch nicht

ſtark genug fühlte, es auf Krieg mit England und Oeſtreich an¬

kommen zu laſſen, nachdem die rechtzeitige Beſetzung von Con¬

ſtantinopel einmal verſäumt war. Für die Mißgriffe der ruſſiſchen

Politik theilt Fürſt Gortſchakow ohne Zweifel mit jüngern und

energiſcheren Geſinnungsgenoſſen die Verantwortlichkeit, aber frei

davon iſt er nicht. Wie ſtark ſeine Stellung, nach den ruſſiſchen

Traditionen gemeſſen, dem Kaiſer gegenüber war, zeigt die

Thatſache, daß er gegen den ihm bekannten Wunſch ſeines

Herrn an dem Berliner Congreſſe als Vertreter Rußlands theil¬

nahm. Indem er, geſtützt auf ſeine Eigenſchaft als Reichskanzler

und auswärtiger Miniſter, ſeinen Sitz einnahm, entſtand die eigen¬

thümliche Situation, daß der vorgeſetzte Reichskanzler und der ſeinem

Reſſort unterſtellte Botſchafter Schuwalow neben einander figurirten,

der Träger der ruſſiſchen Vollmacht aber nicht der Reichskanzler

ſondern der Botſchafter war 1).

Dieſe vielleicht actenmäßig nur aus den ruſſiſchen Archiven

und vielleicht auch aus dieſen nicht nachweisbare, aber nach meiner

Wahrnehmung unzweifelhafte Situation zeigt, daß auch in einer

Regirung mit ſo einheitlicher und abſoluter Spitze, wie der ruſſi¬

ſchen, die Einheit der politiſchen Action nicht geſichert iſt. Sie iſt

es vielleicht in höherm Grade in England, wo der leitende Miniſter

und die Berichte, die er empfängt, der öffentlichen Kritik unter¬

liegen, während in Rußland nur der jedesmalige Kaiſer in der

Lage iſt, je nach ſeiner Menſchenkenntniß und Befähigung zu be¬

urtheilen, welcher von ſeinen berichtenden und vortragenden Dienern

irrt oder ihn belügt, und von welchem er die Wahrheit erfährt.

Ich will damit nicht ſagen, daß der laufende Dienſt des auswärtigen

Amtes in London klüger betrieben wird als in Petersburg, aber die

engliſche Regirung geräth ſeltener als die ruſſiſche in die Noth¬

1) S. o. S. 106.

[217/0241]

Gortſchakow und Schuwalow. Verſtimmung des Zaren.

wendigkeit, Irrthümer ihrer Untergebenen durch Unaufrichtigkeit

wieder gut zu machen. Lord Palmerſton hat freilich am 4. April

1856 im Unterhauſe mit einer von der Maſſe der Mitglieder wahr¬

ſcheinlich nicht verſtandenen Ironie geſagt, die Auswahl der dem

Parlamente vorzulegenden Schriftſtücke über Kars habe große Sorg¬

falt und Aufmerkſamkeit von Perſonen, die nicht eine untergeord¬

nete, ſondern eine hohe Stellung im Auswärtigen einnähmen, er¬

fordert. Das Blaubuch über Kars, die caſtrirten Depeſchen von

Sir Alexander Burnes aus Afghaniſtan und die Mittheilungen der

Miniſter über die Entſtehung der Note, welche die Wiener Con¬

ferenz 1854 dem Sultan anſtatt der Mentſchikowſchen zur Unter¬

zeichnung empfahl, ſind Proben von der Leichtigkeit, mit welcher

Parlament und Preſſe in England getäuſcht werden können. Daß

die Archive des Auswärtigen Amtes in London ängſtlicher als irgend¬

wo gehütet werden, läßt vermuthen, daß in ihnen noch manche

ähnliche Probe zu entdecken ſein würde. Im Ganzen wird man

aber doch ſagen dürfen, daß der Zar leichter zu belügen iſt als das

Parlament.

Bei den diplomatiſchen Verhandlungen über Ausführung der

Beſtimmungen des Berliner Congreſſes wurde in Petersburg er¬

wartet, daß wir jede ruſſiſche Auffaſſung der öſtreichiſch-engliſchen

gegenüber ohne weitres und namentlich ohne vorgängige Ver¬

ſtändigung zwiſchen Berlin und Petersburg unterſtützen und durch¬

ſetzen würden. Meine angedeutete, endlich ausgeſprochene Forderung,

die ruſſiſchen Wünſche uns vertraulich, aber deutlich auszuſprechen

und darüber zu verhandeln, wurde eludirt, und ich erhielt den

Eindruck, daß Fürſt Gortſchakow von mir, wie eine Dame von

ihrem Verehrer, erwartete, daß ich die ruſſiſchen Wünſche errathen

und vertreten würde, ohne daß Rußland ſelbſt ſie auszuſprechen

und dadurch eine Verantwortlichkeit zu übernehmen brauchte. Selbſt

in Fällen, wo wir annehmen durften, der ruſſiſchen Intereſſen und

Abſichten völlig gewiß zu ſein, und glaubten, der ruſſiſchen Politik

einen Beweis unſrer Freundſchaft freiwillig geben zu können, ohne

[218/0242]

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.

eigne Intereſſen zu ſchädigen, erfuhren wir ſtatt der erwarteten An¬

erkennung eine nörgelnde Mißbilligung, weil wir angeblich in Rich¬

tung und Maß nicht das von unſerm ruſſiſchen Freunde Erwartete

getroffen hatten. Auch wenn letztres unzweifelhaft der Fall war,

hatten wir keinen beſſern Erfolg. In dieſem ganzen Verfahren

lag eine berechnete Unehrlichkeit nicht nur uns, ſondern auch dem

Kaiſer Alexander gegenüber, deſſen Gemüthe die deutſche Politik

als unehrlich und unzuverläſſig erſcheinen ſollte. Votre amitié est

trop platonique, hat die Kaiſerin Marie einem unſrer Vertreter

vorwurfsvoll geſagt. Platoniſch bleibt die Freundſchaft eines gro߬

mächtlichen Cabinets für die andern allerdings immer bis zu einem

gewiſſen Grade; denn keine Großmacht kann ſich in den ausſchlie߬

lichen Dienſt einer andern ſtellen. Sie wird immer ihre, nicht nur

gegenwärtigen, ſondern auch zukünftigen Beziehungen zu den übrigen

im Auge behalten und dauernde, prinzipielle Feindſchaft mit jeder

von ihnen nach Möglichkeit vermeiden müſſen. Für Deutſchland

mit ſeiner centralen, nach drei großen Angriffsfronten offnen Lage

trifft das beſonders zu.

Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte ſtrafen

ſich nicht ſofort, weder in Petersburg noch in Berlin, aber un¬

ſchädlich ſind ſie nie. Die geſchichtliche Logik iſt noch genauer in

ihren Reviſionen als unſre Oberrechenkammer. Bei Ausführung

der Congreßbeſchlüſſe erwartete und verlangte Rußland, daß die

deutſchen Commiſſarien bei localen Verhandlungen darüber im Orient,

bei Divergenzen zwiſchen ruſſiſchen und andern Auffaſſungen, generell

der ruſſiſchen zuſtimmen ſollten 1). Uns konnte in manchen Fragen

allerdings die objective Entſcheidung ziemlich gleichgültig ſein, es kam

für uns nur darauf an, die Stipulationen ehrlich auszulegen und

unſre Beziehungen auch zu den übrigen Großmächten nicht durch

parteiiſches Verhalten zu ſtören in Localfragen, die ein deutſches

1) Vgl. dazu die einer Depeſche entnommene Charakteriſtik der Situation

im Bismarck-Jahrbuch I 125 ff.

[219/0243]

Unehrliche Politik Gortſchakows. Ruſſiſche Kriegsdrohung.

Intereſſe nicht berührten. Die leidenſchaftliche Bitterkeit der Sprache

aller ruſſiſchen Organe, die durch die Cenſur autoriſirte Verhetzung

der ruſſiſchen Volksſtimmung gegen uns ließ es dann gerathen

erſcheinen, die Sympathien, die wir bei nichtruſſiſchen Mächten

noch haben konnten, uns nicht zu entfremden.

In dieſer Situation nun kam ein eigenhändiges Schreiben des

Kaiſers Alexander, das trotz aller Verehrung für den bejahrten

Freund und Oheim an zwei Stellen beſtimmte Kriegsdrohungen

enthielt in der Form, die völkerrechtlich üblich iſt, etwa des In¬

halts: wenn die Weigerung, das deutſche Votum dem ruſſiſchen

anzupaſſen, feſtgehalten wird, ſo kann der Friede zwiſchen uns nicht

dauern. Dieſes Thema war in ſcharfen und unzweideutigen Worten

an zwei Stellen variirt. Daß Fürſt Gortſchakow, der am 6. Sep¬

tember 1879 in einem Interview mit dem Correſpondenten des

orleaniſtiſchen „Soleil“, Louis Peyramont, Frankreich eine ſehr auf¬

fallende Liebeserklärung machte, auch an jenem Schreiben mitge¬

arbeitet hatte, ſah ich dem letztern an; durch zwei ſpätre Wahr¬

nehmungen wurde meine Vermuthung beſtätigt. Im October hörte

eine Dame der Berliner Geſellſchaft, die in dem Hôtel de l'Eu¬

rope in Baden-Baden Zimmernachbarin Gortſchakows war, ihn

ſagen: „j'aurais voulu faire la guerre, mais la France a

d'autres intentions.“ Und am 1. November war der Pariſer

Correſpondent der „Times“ in der Lage, ſeinem Blatte zu melden,

vor der Zuſammenkunft in Alexandrowo habe der Zar an Kaiſer

Wilhelm geſchrieben, ſich über die Haltung Deutſchlands beſchwert

und ſich der Phraſe bedient: „Der Kanzler Ew. Majeſtät hat die

Verſprechungen von 1870 vergeſſen“ *).

*) Der Correſpondent, Herr Oppert aus Blowitz in Böhmen, wird die

Verbreitung dieſer ihm doch wohl von Gortſchakow zugegangenen Nachricht um

ſo bereitwilliger übernommen haben, als er mir von dem Congreß her grollte.

Auf den Wunſch Beaconsfields, der ihn bei guter Laune erhalten wollte, hatte

ich ihm die dritte Claſſe des Kronenordens verſchafft. Er war über die nach

preußiſchen Begriffen ungewöhnlich hoch gegriffene Auszeichnung entrüſtet,

lehnte ſie ab und verlangte die zweite Claſſe.

[220/0244]

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.

Angeſichts der Haltung der ruſſiſchen Preſſe, der ſteigenden

Erregtheit der großen Maſſen des Volkes, der Truppenanhäufung

unmittelbar längs der preußiſchen Grenzen wäre es leichtfertig ge¬

weſen, den Ernſt der Situation und der kaiſerlichen Drohung gegen

den früher ſo verehrten Freund zu bezweifeln. Daß Kaiſer Wilhelm

auf den Rath des Feldmarſchalls von Manteuffel am 3. September

1879 nach Alexandrowo ging, um die ſchriftlichen Drohungen ſeines

Neffen mündlich begütigend zu beantworten, widerſtrebte meinem

Gefühle und meinem Urtheil über das, was noth thue.

III.

Betrachtungen analog denen, welche den Verſuch widerriethen,

die complicirten Schwierigkeiten von 1863 auf dem Wege eines

ruſſiſchen Bündniſſes zu löſen 1), ſtanden in der zweiten Hälfte der

ſiebziger Jahre ebenfalls einer ſtärkern Accentuirung der ruſſiſchen

Freundſchaft ohne Oeſtreich entgegen. Ich weiß nicht, in wie weit

Graf Peter Schuwalow vor Beginn des letzten Balkankrieges und

während des Congreſſes ausdrücklich beauftragt war, die Frage eines

deutſch-ruſſiſchen Bündniſſes zu beſprechen; er war nicht in Berlin

beglaubigt, ſondern in London, ſeine perſönlichen Beziehungen zu

mir geſtatteten ihm aber, ſowohl bei ſeinen vorübergehenden Be¬

rührungen Berlins auf der Durchreiſe wie während des Congreſſes

mit mir alle Eventualitäten rückhaltlos zu beſprechen.

Anfang Februar 1877 hatte ich von ihm ein längeres Schrei¬

ben aus London erhalten; meine Antwort und ſeine Erwiderung

darauf laſſe ich folgen:

Berlin, le 15 février 1877.

Cher Comte,

Je vous remercie des bonnes paroles que vous avez bien

voulu m'écrire et je suis bien obligé au Cte. Munster pour

1) S. o. S. 62 ff.

[221/0245]

Alexandrowo. Correſpondenz mit P. Schuwalow.

avoir si bien interprété en cette occasion les sentiments, qui

dès notre première connaissance ont formé entre nous un lien

qui survivra aux relations politiques, qui aujourd'hui nous

mettent en rapport. Parmi les regrets que me laissera la vie

officielle, celui qui naîtra du souvenir de mes relations avec

vous, sera des plus vifs.

Quel que soit l'avenir politique de nos deux pays, la part

que j'ai prise au passé, me laissera la satisfaction, qu'au sujet

de la nécessité de leur alliance, j'ai de tout temps été d'accord

avec l'homme d'état le plus aimable parmi vos compatriotes.

Tant que je resterai en place, je serai fidèle aux traditions qui

m'ont guidé depuis 25 ans et dont les principes coincident

avec les idées développées dans votre lettre au sujet des ser¬

vices que la Russie et l'Allemagne peuvent se rendre et se

sont rendus mutuellement depuis plus d'un siècle sans que les

intérêts spéciaux de l'une ou de l'autre en aient souffert. C'est

cette conviction qui m'a guidé en 1848, en 54, en 63 comme

dans la situation actuelle, et pour laquelle j'ai réussi à gagner

l'opinion de la grande majorité de mes compatriotes. C'est

une oeuvre qu'il sera peut-être plus facile de détruire qu'il n'a

été de la créer, surtout dans le cas où mes successeurs ne

mettraient pas la même constance que moi à cultiver des

traditions dont l'expérience leur manquera, et quelquefois

l'abnégation d'amour propre, qu'il faut pour subordonner les

apparences au fond des affaires, les susceptibilités aux grands

intérêts monarchiques. Un vieux routier de ma trempe ne se

laisse pas facilement dérouter par de fausses alarmes, et dans

l'intérêt de mon Souverain et de mon pays, je sais oublier les

déboires qui pendant les derniers deux ans ne m'ont pas été

épargnés de la part de chez vous; je ne tiens pas compte des

„flirtations“ que mon ancien ami et tuteur de Pétersbourg et

mon jeune ami à Paris 1) y entretiennent; mais avec les Chan¬

1) Orlow.

[222/0246]

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.

celiers qui me suivront, il sera peut-être plus aisé d'égarer

leur jugement politique en leur faisant entrevoir comme on

l'a fait depuis trois ans, la facilité que l'on aurait chez vous

à créer une coalition sur la base de la revanche. Le sangfroid

avec lequel j'envisage cette éventualité, je ne pourrai pas le

léguer à mon successeur. Avec des journaux officieux qui

menacent, avec des câlineries parisiennes en feuilletons et en

lettres aux dames politiques, il ne sera pas trop difficile un

de ces jours de fausser la boussole à un ministre allemand

épouvanté par l'idée de l'isolement, et pour l'éviter il prendra

des engagements maladroits, mais difficiles à résoudre après

coup. Ce ne sera pas moi dans tous les cas; car dès que j'aurai

satisfait tant bien que mal aux exigences de la diète qui

s'ouvrira le 22 et qui ne doit durer que quelques semaines, je

me rendrai aux eaux pour ne plus revenir aux affaires. Je

tiens le certificat de la faculté que je suis „untauglich“, phrase

officielle pour l'admission à la retraite, et qui dans cette cir¬

constance ne dit que la triste vérité! Je n'y tiens plus.

Avant cette époque j'aurai à répondre au dernier énigme

de votre politique; je suis maladroit à deviner, j'ai besoin

d'être éclairé sur une pensée intime que j'ai à ce qu'il paraît,

mal comprise par le passé. En ne recevant ni consigne ni

avis, je ne saurai trouver la ligne étroite entre le reproche

d'encourager le Turc en parlant paix et le soupçon de pousser

traitreusement à la guerre. Je viens de passer sous le feu

de ces accusations en sens opposé et je n'ai pas envie de m'y

exposer de nouveau sans pilote et sans phare même qui

indique le port où vous désirez nous voir arriver.

Bismarck.

Londres, le 25 févr. 1877.

Mon cher Prince,

J'ai été très profondément touché de votre si bonne lettre —

seulement c'est un vrai remords pour moi que de penser à la

[223/0247]

Correſpondenz mit P. Schuwalow.

peine que vous vous êtes donnée de l'écrire et au temps pré¬

cieux (quand c'est le vôtre) qu'elle vous à coûté!

Cette lettre restera un des meilleurs souvenirs de ma car¬

rière politique et je la léguerai à mon fils.

Eloigné depuis un an de Berlin et de Pétersbourg, le

doute s'était emparé de moi.

Je pensais que ce qui avait existé — n'existait peut-être

plus . Vous m'en donnez la preuve contraire. Je m'en ré¬

jouis en bon Russe et de tout mon coeur.

Si je n'avais pas retrouvé en vous, cher Prince, l'homme

qui ne varie jamais ni en politique, ni dans sa bienveillance

pour ses amis, — c'est alors pour le coup que j'aurais vendu

mes fonds russes comme vous aviez voulu le faire il y a trois

ans, parce que vous aviez une trop haute opinion de moi.

J'ai copié quelques passages de votre lettre, et les ai

envoyés à mon Empereur. Je sais que cela lui fera plaisir de

les lire. Toutes les fois qu'il s'est trouvé en contact direct

avec vous, il en est résulté du bon et de l'utile; or lire ce

que vous écrivez à quelqu'un que vous honorez du titre d'ami,

c'est pour l'Empereur, comme s'il était en rapports directs.

Inutile d'ajouter que j'ai omis tout ce qui concernait Gor¬

tschakow, car j'ai considéré vos allusions à son égard comme

une preuve de confiance dans ma discrétion.

Tout mal informé que je suis (et pour cause) de ce que

l'on veut à Pétersbourg, l'ajournement et le désarmement me

paraissent probables.

La paix avec la Serbie et le Monténégro va être conclue,

dit-on. Le grand-visir à adressé des lettres à Decazes et

Derby pour leur déclarer que le Sultan promet d'accomplir

spontanément toutes les réformes demandées par la conférence.

L'Europe va nous demander d'accorder du temps à la Turquie.

Serait-ce le moment favorable pour nous de déclarer la guerre

et de nous aliéner encore davantage les sentiments de l'Europe?

[224/0248]

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.

Des affaires particulières me réclament impérieusement en

Russie; je compte demander un court congé aussitôt qu'une

décision sera prise chez nous dans un sens ou dans l'autre.

J'espère, mon cher Prince, que vous me permettrez de vous

voir à mon passage par Berlin — j'y tiens énormément .

Excusez la longueur de cette lettre pour la raison que

vous n'avez pas un seul mot à y répondre.

Recevez encore une fois, cher Prince, mes chaleureux re¬

merciements pour votre „kindness“ et pour votre lettre, à la¬

quelle je ne fais qu'une seule objection, c'est la façon dont

vous parlez malheureusement de votre santé. — Dieu la sou¬

tiendra, j'en suis sûr, comme II préserve tout ce qui est utile

à des millions d'hommes et à la préservation de grands et de

vastes intérêts.

Soyez assuré, cher Prince, que vous trouverez toujours

en moi plus même qu'un admirateur, dont le nombre est

assez grand sans moi, mais un homme qui vous est sincère¬

ment attaché et dévoué de tout coeur.

Schouvaloff.

Noch vor dem Congreß berührte Graf Schuwalow die Frage

eines ruſſiſch-deutſchen Schutz- und Trutzbündniſſes und ſtellte ſie

direct. Ich beſprach mit ihm offen die Schwierigkeiten und Aus¬

ſichten, die die Bündnißfrage und zunächſt, wenn der Dreibund der

Oſtmächte nicht haltbar wäre, die Wahl zwiſchen Oeſtreich und Ru߬

land für uns habe. Er ſagte unter Anderm in der Diſcuſſion:

„vous avez le cauchemar des coalitions“, worauf ich erwiderte:

„nécessairement“. Als das ſicherſte Mittel dagegen bezeichnete er

ein feſtes, unerſchütterliches Bündniß mit Rußland, weil bei Aus¬

ſchluß der letztern Macht aus dem Kreiſe unſrer Coalitionsgegner

keine für uns lebensgefährliche Combination möglich ſei.

Ich gab dies zu, ſprach aber meine Befürchtung aus, daß die

deutſche Politik, wenn ſie ihre Möglichkeiten auf das ruſſiſche Bünd¬

[225/0249]

Schwierigkeiten eines deutſch-ruſſiſchen Bündniſſes.

niß einſchränkte und allen übrigen Staaten den ruſſiſchen Wünſchen

entſprechend abſagte, Rußland gegenüber in eine ungleiche Stellung

gerathen könne, weil die geographiſche Lage und die autokratiſche

Verfaſſung Rußlands dieſem für das Aufgeben des Bündniſſes

ſtets mehr Leichtigkeit gewähre, als wir haben würden, und weil

das Feſthalten an der alten Tradition des preußiſch-ruſſiſchen Bundes

doch immer nur auf zwei Augen ſtehe, d. h. von dem Gemüths¬

leben des jedesmaligen Kaiſers von Rußland abhänge. Unſre Be¬

ziehungen zu Rußland beruhten weſentlich auf dem perſönlichen

Verhältniß beider Monarchen zu einander und auf deſſen richtiger

Pflege durch höfiſche und diplomatiſche Geſchicklichkeit, reſpective

Geſinnung der beiderſeitigen Vertreter. Wir hätten das Beiſpiel

gehabt, daß bei ziemlich hülfloſen preußiſchen Geſandten in Peters¬

burg durch die Geſchicklichkeit von Militärbevollmächtigten, wie

der Generale von Rauch und Graf Münſter, die gegenſeitigen

Beziehungen intim geblieben wären, trotz mancher berechtigten Em¬

pfindlichkeit auf beiden Seiten. Wir hätten ebenſo erlebt, daß jäh¬

zornige oder reizbare Vertreter Rußlands, wie Budberg und Oubril,

durch ihre Haltung in Berlin und durch ihre Berichterſtattung, wenn

ſie perſönlich verſtimmt waren, Eindrücke erzeugten, welche auf die

gegenſeitigen Geſammtbeziehungen zweier Völker von einundeinhalb

Hundert Millionen gefährlich zurückwirken konnten.

Ich erinnere mich, daß Fürſt Gortſchakow mir, als ich in

Petersburg Geſandter war und ſeines unbegrenzten Vertrauens

mich erfreute, mitunter, wenn er mich warten ließ, noch un¬

erbrochne Berliner Berichte zu leſen gab, bevor er ſelbſt ſie durch¬

geſehn hatte. Ich war zuweilen erſtaunt, daraus zu entnehmen,

mit welchem Uebelwollen mein früherer Freund Budberg ſeiner

Empfindlichkeit über irgend ein Erlebniß in der Geſellſchaft oder

auch nur dem Bedürfniß, einen witzigen Sarkasmus über Berliner

Verhältniſſe am Hofe und in dem Miniſterium anzubringen, die

Aufgabe der Erhaltung der gegenwärtigen Beziehungen unter¬

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 15

[226/0250]

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.

ordnete. Seine Berichte wurden natürlich dem Kaiſer vorgelegt

und zwar ohne Commentar und ohne Vortrag, und die kaiſerlichen

Randbemerkungen, von denen Gortſchakow mir in der weitern

geſchäftlichen Correſpondenz mitunter Einſicht geſtattete, lieferten

mir den zweifelloſen Beweis, wie der uns wohlgeſinnte Kaiſer

Alexander II. für die verſtimmten Berichte von Budberg und Oubril

empfänglich war und daraus nicht auf die falſche Darſtellung ſeiner

Vertreter, ſondern auf den in Berlin herrſchenden Mangel an

einſichtiger und wohlwollender Politik ſchloß. Wenn der Fürſt

Gortſchakow mir derartige Dinge unerbrochen zu leſen gab, um

mit ſeinem Vertrauen zu coquettiren, ſo pflegte er zu ſagen: „Vous

oublierez ce que vous ne deviez pas lire,“ was ich natürlich,

nachdem ich im Nebenzimmer die Depeſchen durchgeſehn hatte, zu¬

ſagte und, ſo lange ich in Petersburg war, auch gehalten habe,

da es nicht meine Aufgabe war, die Beziehungen beider Höfe durch

Anklagen gegen den Vertreter des ruſſiſchen in Berlin zu ver¬

ſchlechtern, und da ich ungeſchickte Verwerthung meiner Meldungen

zu höfiſchen Intrigen und Verhetzungen befürchtete.

Es wäre überhaupt zu wünſchen, daß wir an jedem befreun¬

deten Hofe durch Diplomaten vertreten wären, die ohne der Ge¬

ſammtpolitik des eignen Vaterlandes vorzugreifen, doch nach Mög¬

lichkeit die Beziehungen beider betheiligten Staaten dadurch pflegten,

daß ſie Verſtimmungen und Klatſch nach Möglichkeit verſchwiegen,

ihr Bedürfniß, witzig zu ſein, zügelten und eher die förderliche

Seite der Sache hervorhöben. Ich habe die Berichte unſrer

Vertreter an deutſchen Höfen höhern Orts oft nicht vorgelegt,

weil ſie mehr die Tendenz hatten, pikant zu ſein oder verſtim¬

mende Aeußerungen oder Erſcheinungen mit Vorliebe zu melden

und zu würdigen, als die Beziehungen zwiſchen beiden Höfen zu

beſſern und zu pflegen, ſo lange letztres, wie in Deutſchland ſtets

der Fall iſt, die Aufgabe unſrer Politik war. Ich habe mich für

berechtigt gehalten, aus Petersburg und Paris Dinge, die zu Hauſe

nur zwecklos verſtimmen konnten oder ſich lediglich zu ſatiriſchen

[227/0251]

Aufgaben eines Geſandten an fremdem Hofe.

Darſtellungen eigneten, zu verſchweigen, und als ich Miniſter war,

dergleichen allerhöchſten Orts nicht vorzulegen. In der Stellung

eines Botſchafters am Hofe einer Großmacht findet die Verpflich¬

tung zur mechaniſchen Berichterſtattung über alle am Domicil des

Botſchafters vorkommenden thörichten Reden und Bosheiten nicht

Anwendung. Ein Botſchafter nicht nur, ſondern auch jeder deutſche

Diplomat an einem deutſchen Hofe, ſollte nicht Berichte ſchreiben,

wie ſie Budberg, Oubril aus Berlin, Balabin aus Wien nach

Hauſe ſandten in der Berechnung, daß ſie als witzig mit Intereſſe

und mit ſelbſtgefälliger Heiterkeit geleſen würden, ſondern er ſollte

ſich, ſo lange die Verhältniſſe freundlich ſind und bleiben ſollen,

des Hetzens und Klatſchens enthalten. Wer nur das Förmliche des

Geſchäftsganges im Auge hat, wird es allerdings für das Richtigſte

halten, daß der Geſandte rückhaltlos meldet, was er hört, und es

dem Miniſter überläßt, über was er hinwegſehn und was er be¬

tonen will. Ob das aber ſachlich zweckmäßig iſt, hängt von der

Perſönlichkeit des Miniſters ab. Da ich mich für ebenſo einſichtig

hielt wie Herrn von Schleinitz und einen tiefern und gewiſſen¬

haftern Antheil an dem Schickſal unſres Landes nahm als er, ſo

habe ich mich für berechtigt und verpflichtet gehalten, manches nicht

zu ſeiner Kenntniß zu bringen, was in ſeinen Händen Verhetzungen

und Intrigen am Hofe im Sinne einer Politik dienen konnte, die

nicht die des Königs war.

Ich kehre von dieſer Abſchweifung zu den Beſprechungen zurück,

die ich zur Zeit des Balkankrieges mit dem Grafen Peter Schuwalow

gehabt habe. Ich ſagte ihm, daß wir, wenn wir der Feſtigkeit

eines Bündniſſes mit Rußland die Beziehungen zu allen andern

Mächten zum Opfer brächten, uns bei acuten Vorkommniſſen von

franzöſiſcher und öſtreichiſcher Revancheluſt bei unſrer exponirten

geographiſchen Lage in einer gefährlichen Abhängigkeit von Ru߬

land befinden würden. Die Verträglichkeit Rußlands mit Mächten,

die nicht auch ohne ſein Wohlwollen beſtehn könnten, hätte ihre

Grenzen, namentlich bei einer Politik, wie die des Fürſten Gor¬

[228/0252]

Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.

tſchakow, die mich mitunter an aſiatiſche Auffaſſungen erinnerte.

Er habe oft jeden politiſchen Einwand einfach mit dem Argumente

niedergeſchlagen: „l' empereur est fort irrité“, worauf ich ironiſch

zu antworten pflegte: „Eh, le mien donc!“ Schuwalow bemerkte

dazu: „Gortschakoff est un animal“, was in dem Petersburger

Jargon nicht ſo grob gemeint iſt, wie es klingt, „il n'a aucune

influence“; er verdanke es überhaupt nur der Achtung des Kaiſers

vor dem Alter und dem frühern Verdienſte, daß er formell noch

die Geſchäfte führe. Worüber könnten Rußland und Preußen ernſt¬

haft jemals in Streit gerathen? Es gebe gar keine Frage zwiſchen

ihnen, die wichtig genug dazu wäre. Das letztre gab ich zu, er¬

innerte aber an Olmütz und den ſiebenjährigen Krieg, man gerathe

auch aus unwichtigen Urſachen in Händel, ſogar aus Formfragen;

es würde manchen Ruſſen auch ohne Gortſchakow ſchwer, einen

Freund als gleichberechtigt zu betrachten und zu behandeln, ich

wäre in dem Punkte der Form perſönlich nicht empfindlich — aber

das jetzige Rußland habe bis auf Weitres nicht blos die Formen,

ſondern auch die Anſprüche Gortſchakows.

Ich lehnte die „Option“ zwiſchen Oeſtreich und Rußland auch

damals ab und empfahl den Bund der drei Kaiſer oder doch die

Pflege des Friedens zwiſchen ihnen.

[[229]/0253]

Neunundzwanzigſtes Kapitel.

Der Dreibund.

I.

Der Dreibund, den ich urſprünglich nach dem Frankfurter

Frieden zu erreichen ſuchte und über den ich ſchon im September

1870 von Meaux aus in Wien und Petersburg ſondirt hatte, war

ein Bund der drei Kaiſer mit dem Hintergedanken des Beitritts

des monarchiſchen Italiens und gerichtet auf den, wie ich be¬

fürchtete, in irgend einer Form bevorſtehenden Kampf zwiſchen den

beiden europäiſchen Richtungen, die Napoleon die republikaniſche

und die koſakiſche genannt hat und die ich nach heutigen Begriffen

bezeichnen möchte einerſeits als das Syſtem der Ordnung auf

monarchiſcher Grundlage, andrerſeits als die ſociale Republik, auf

deren Niveau die antimonarchiſche Entwicklung langſam oder ſprung¬

weiſe hinabzuſinken pflegt, bis die Unerträglichkeit der dadurch ge¬

ſchaffenen Zuſtände die enttäuſchte Bevölkerung für gewaltſame

Rückkehr zu monarchiſchen Inſtitutionen in cäſariſcher Form em¬

pfänglich macht. Dieſem circulus vitiosus zu entgehn, oder das

Eintreten in ihn der gegenwärtigen Generation oder ihren Kin¬

dern womöglich zu erſparen, halte ich für eine Aufgabe, die den

noch lebenskräftigen Monarchien näher liegen ſollte als die Ri¬

valilät um den Einfluß auf die nationalen Fragmente, welche die

Balkanhalbinſel bevölkern. Wenn die monarchiſchen Regirungen

[230/0254]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

für das Bedürfniß des Zuſammenhaltens im Intereſſe ſtaatlicher

und geſellſchaftlicher Ordnung kein Verſtändniß haben, ſondern ſich

chauviniſtiſchen Regungen ihrer Unterthanen dienſtbar machen, ſo

befürchte ich, daß die internationalen revolutionären und ſocialen

Kämpfe, die auszufechten ſein werden, um ſo gefährlicher und

für den Sieg der monarchiſchen Ordnung ſchwieriger ſich geſtalten

werden. Ich habe die nächſtliegende Aſſecuranz gegen dieſe Kämpfe

ſeit 1871 in dem Dreikaiſerbunde und in dem Beſtreben geſucht,

dem monarchiſchen Prinzipe in Italien eine feſte Anlehnung an

dieſen Bund zu gewähren. Ich war nicht ohne Hoffnung auf einen

dauernden Erfolg, als im September 1872 die Zuſammenkunft

der drei Kaiſer in Berlin, demnächſt die Beſuche meines Kaiſers

in Petersburg im Mai, des Königs von Italien in Berlin im

September, des deutſchen Kaiſers in Wien im October des folgenden

Jahres ſtattfanden. Die erſte Trübung dieſer Hoffnung wurde

1875 verurſacht durch die Hetzereien des Fürſten Gortſchakow 1),

der die Lüge verbreitete, daß wir Frankreich, bevor es ſich von ſeinen

Wunden erholt hätte, zu überfallen beabſichtigten.

Ich bin zur Zeit der Luxemburger Frage (1867) ein grund¬

ſätzlicher Gegner von Präventivkriegen geweſen, d. h. von An¬

griffskriegen, die wir um deshalb führen würden, weil wir ver¬

mutheten, daß wir ſie ſpäter mit dem beſſer gerüſteten Feinde zu

beſtehn haben würden. Daß wir 1875 Frankreich beſiegt haben

würden, war nach der Anſicht unſrer Militärs wahrſcheinlich; aber

nicht ſo wahrſcheinlich war es, daß die übrigen Mächte neutral

geblieben ſein würden. Wenn ſchon in den letzten Monaten vor

den Verſailler Verhandlungen die Gefahr europäiſcher Einmiſchung

mich täglich beängſtigte, ſo würde die ſcheinbare Gehäſſigkeit eines

Angriffs, den wir unternommen hätten, nur um Frankreich nicht

wieder zu Athem kommen zu laſſen, einen willkommnen Vorwand

zunächſt für engliſche Humanitätsphraſen geboten haben, dann aber

1) Kap. 26, ſ. o. S. 174.

[231/0255]

Der Dreikaiſerbund. Die Gortſchakowſche Intrige.

auch für Rußland, um aus der Politik der perſönlichen Freund¬

ſchaft der beiden Kaiſer einen Uebergang zu der des kühlen ruſſi¬

ſchen Staatsintereſſes zu finden, das 1814 und 1815 bei Ab¬

ſteckung des franzöſiſchen Gebiets maßgebend geweſen war. Daß

es für die ruſſiſche Politik eine Grenze giebt, über die hinaus

das Gewicht Frankreichs in Europa nicht vermindert werden darf,

iſt erklärlich. Dieſelbe war, wie ich glaube, mit dem Frankfurter

Frieden erreicht, und dieſe Thatſache war vielleicht 1870 und 1871

in Petersburg noch nicht in dem Maße zum Bewußtſein gekommen,

wie fünf Jahre ſpäter. Ich glaube kaum, daß das ruſſiſche Cabinet

während unſres Krieges deutlich vorausgeſehn hat, daß es nach

demſelben ein ſo ſtarkes und conſolidirtes Deutſchland zum Nachbar

haben würde. Im Jahre 1875 nahm ich an, daß an der Newa

ſchon einige Zweifel darüber herrſchten, ob es richtig geweſen ſei,

die Dinge ſo weit kommen zu laſſen, ohne in die Entwicklung einzu¬

greifen. Die aufrichtige Freundſchaft und Verehrung Alexanders II.

für ſeinen Oheim deckten das Unbehagen, das die amtlichen Kreiſe

bereits empfanden. Hätten wir damals den Krieg erneuern

wollen, nur um das kranke Frankreich nicht geneſen zu laſſen, ſo

würde unzweifelhaft nach einigen mißlungenen Conferenzen zur

Verhütung des Krieges unſre Kriegführung ſich in Frankreich in

der Lage befunden haben, die ich in Verſailles bei der Ver¬

ſchleppung der Belagerung befürchtet hatte. Die Beendigung des

Krieges würde nicht durch einen Friedensſchluß unter vier Augen,

ſondern in einem Congreſſe zu Stande gekommen ſein, wie 1814

unter Zuziehung des beſiegten Frankreich und vielleicht bei der

Mißgunſt, der wir ausgeſetzt waren, ebenſo wie damals unter

Leitung eines neuen Talleyrand.

Ich hatte ſchon in Verſailles befürchtet, daß die Betheiligung

Frankreichs an den Londoner Conferenzen über die das Schwarze

Meer betreffenden Clauſeln des Pariſer Friedens dazu benutzt werden

könnte, um mit der Dreiſtigkeit, die Talleyrand in Wien bewieſen

hatte, die deutſch-franzöſiſche Frage als Pfropfreis auf die pro¬

[232/0256]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

grammmäßigen Erörterungen zu ſetzen. Aus dem Grunde habe ich,

trotz vielſeitiger Befürwortung, die Betheiligung Favres an jener

Conferenz durch äußere und innere Einflüſſe verhindert. Ob Frank¬

reich 1875 unſerm Anfalle gegenüber in ſeiner Vertheidigung ſo

ſchwach geweſen ſein würde, wie unſre Militärs annahmen, erſcheint

fraglich, wenn man ſich erinnert, daß in dem franzöſiſch-engliſch-

öſtreichiſchen Vertrage vom 3. Januar 1815 das beſiegte und noch

theilweiſe beſetzte, durch zwanzig Kriegsjahre erſchöpfte Frankreich

doch noch bereit war, für die Coalition gegen Preußen und Rußland

150000 Mann ſofort und demnächſt 300000 in's Feld zu führen.

Die 300000 in unſrer Gefangenſchaft geweſenen altgedienten

Soldaten befanden ſich wieder in Frankreich, und wir hätten die

ruſſiſche Macht ſchließlich wohl nicht wie im Januar 1815 wohl¬

wollend neutral, ſondern vielleicht feindlich hinter uns gehabt. Aus

dem Gortſchakowſchen Circular-Telegramm vom Mai 1875 1) an

alle ruſſiſchen Geſandſchaften geht hervor, daß die ruſſiſche Diplo¬

matie bereits zu einer Thätigkeit gegen unſre angebliche Neigung

zur Friedensſtörung veranlaßt worden war.

Auf dieſe Epiſode folgten die unruhigen Beſtrebungen des

ruſſiſchen Reichskanzlers, unſre und beſonders meine perſönlich

guten Beziehungen zum Kaiſer Alexander zu trüben, unter anderm

dadurch, daß er, wie im 28. Kapitel erzählt iſt, durch Vermittlung

des Generals von Werder die Ablehnung des Verſprechens der

Neutralität für den Fall eines ruſſiſch-öſtreichiſchen Krieges von

mir erpreßte. Daß das ruſſiſche Cabinet ſich alsdann direct und

im Geheimen an das Wiener wandte, bezeichnet wiederum eine

Phaſe der Gortſchakowſchen Politik, die meinem Streben nach

einem monarchiſch-conſervativen Dreibunde nicht günſtig war.

1) S. o. S. 174.

[233/0257]

Gortſchakows Trugkomödie. Le cauchemar des coalitions.

II.

Graf Schuwalow hatte vollkommen Recht, wenn er mir ſagte,

daß mir der Gedanke an Coalitionen böſe Träume verurſache 1).

Wir hatten gegen zwei der europäiſchen Großmächte ſiegreiche Kriege

geführt; es kam darauf an, wenigſtens einen der beiden mächtigen

Gegner, die wir im Felde bekämpft hatten, der Verſuchung zu ent¬

ziehn, die in der Ausſicht lag, im Bunde mit andern Revanche

nehmen zu können. Daß Frankreich das nicht ſein konnte, lag für

jeden Kenner der Geſchichte und der galliſchen Nationalität auf

der Hand, und wenn ein geheimer Vertrag von Reichſtadt ohne

unſre Zuſtimmung und unſer Wiſſen möglich war, ſo war auch

die alte Kaunitzſche Coalition von Frankreich, Oeſtreich, Rußland

nicht unmöglich, ſobald die ihr entſprechenden, in Oeſtreich latent

vorhandenen Elemente dort an das Ruder kamen. Sie konnten

Anknüpfungspunkte finden, von denen aus ſich die alte Rivalität,

das alte Streben nach deutſcher Hegemonie als Factor der öſt¬

reichiſchen Politik wieder beleben ließ in Anlehnung, ſei es an

Frankreich, die zur Zeit des Grafen Beuſt und der Salzburger

Begegnung mit Louis Napoleon, Auguſt 1867, in der Luft ſchwebte,

ſei es in Annäherung an Rußland, wie ſie ſich in dem geheimen

Abkommen von Reichſtadt erkennen ließ.

Die Frage, welche Unterſtützung Deutſchland von England in

einem ſolchen Falle zu erwarten haben würde, will ich nicht ohne

Weitres im Rückblick auf die Geſchichte des ſiebenjährigen Krieges

und des Wiener Congreſſes beantworten, es aber doch als wahr¬

ſcheinlich bezeichnen, daß ohne die Siege Friedrichs des Großen

die Sache des Königs von Preußen damals noch früher von Eng¬

land wäre fallen gelaſſen worden.

In dieſer Situation lag die Aufforderung zu dem Verſuch,

1) S. o. S. 224.

[234/0258]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

die Möglichkeit der antideutſchen Coalition durch vertragsmäßige

Sicherſtellung der Beziehungen zu wenigſtens einer der Gro߬

mächte einzuſchränken. Die Wahl konnte nur zwiſchen Oeſtreich

und Rußland ſtehn, da die engliſche Verfaſſung Bündniſſe von

geſicherter Dauer nicht zuläßt und die Verbindung mit Italien

allein ein hinreichendes Gegengewicht gegen eine Coalition der drei

übrigen Großmächte auch dann nicht gewährte, wenn die zukünftige

Haltung und Geſtaltung Italiens nicht nur von Frankreich, ſondern

auch von Oeſtreich unabhängig gedacht wurde. Es blieb, um

das Feld der Coalitionsbildung zu verkleinern, nur die bezeich¬

nete Wahl.

Für materiell ſtärker hielt ich die Verbindung mit Rußland.

Sie hatte mir früher auch als ſichrer gegolten, weil ich die tradi¬

tionelle dynaſtiſche Freundſchaft, die Gemeinſamkeit des monarchi¬

ſchen Erhaltungstriebes und die Abweſenheit aller eingebornen

Gegenſätze in der Politik für ſichrer hielt als die wandelbaren

Eindrücke der öffentlichen Meinung in der ungariſchen, ſlaviſchen

und katholiſchen Bevölkerung der habsburgiſchen Monarchie. Abſolut

ſicher für die Dauer war keine der beiden Verbindungen, weder

das dynaſtiſche Band mit Rußland, noch das populäre ungariſch-

deutſcher Sympathie. Wenn in Ungarn ſtets die beſonnene poli¬

tiſche Erwägung den Ausſchlag gäbe, ſo würde dieſe tapfere und

unabhängige Nation ſich darüber klar bleiben, daß ſie als Inſel

in dem weiten Meere ſlaviſcher Bevölkerungen ſich bei ihrer ver¬

hältnißmäßig geringen Ziffer nur durch Anlehnung an das deutſche

Element in Oeſtreich und in Deutſchland ſicher ſtellen kann. Aber

die Koſſuthſche Epiſode und die Unterdrückung der reichstreuen

deutſchen Elemente in Ungarn ſelbſt und andre Symptome zeigten,

daß in kritiſchen Momenten das Selbſtvertrauen des ungariſchen

Huſaren und Advocaten ſtärker iſt als die politiſche Berechnung

und die Selbſtbeherrſchung. Läßt doch auch in ruhigen Zeiten

mancher Magyar ſich von den Zigeunern das Lied „Der Deutſche

iſt ein Hundsfott“ aufſpielen!

[235/0259]

Deutſchland vor der Wahl. Bedenken gegen Oeſtreich.

Zu den Bedenken über die zukünftigen öſtreichiſch-deutſchen

Beziehungen kam der Mangel an Augenmaß für politiſche Mög¬

lichkeiten, infolge deſſen das deutſche Element in Oeſtreich die

Fühlung mit der Dynaſtie und die Leitung verloren hat, die ihm

in der geſchichtlichen Entwicklung zugefallen war. Zu Sorgen für

die Zukunft eines öſtreichiſch-deutſchen Bundes gab ferner die con¬

feſſionelle Frage Anlaß, die Erinnerung an den Einfluß der Beicht¬

väter der Kaiſerlichen Familie, die Möglichkeit der Herſtellung fran¬

zöſiſcher Beziehungen auf katholiſirender Unterlage, ſobald in Frank¬

reich eine entſprechende Wandlung der Form und der Prinzipien

der Staatsleitung eingetreten wäre. Wie fern oder wie nahe eine

ſolche in Frankreich liegt, entzieht ſich jeder Berechnung.

Dazu kam endlich die polniſche Seite der öſtreichiſchen Politik.

Wir können von Oeſtreich nicht verlangen, daß es auf die Waffe

verzichte, die es in der Pflege des Polenthums in Galizien Rußland

gegenüber beſitzt. Die Politik, die 1846 dazu führte, daß öſtreichiſche

Beamte Preiſe auf die Köpfe polniſcher Inſurgenten ſetzten, war

möglich, weil Oeſtreich die Vortheile der heiligen Allianz, des Bünd¬

niſſes der drei Oſtmächte, durch ein adäquates Verhalten in den

polniſchen und orientaliſchen Dingen bezahlte, gleichſam durch einen

Aſſecuranzbeitrag zu einem gemeinſamen Geſchäfte. Beſtand der

Dreibund der Oſtmächte, ſo konnte Oeſtreich ſeine Beziehungen zu

den Ruthenen in den Vordergrund ſtellen; löſte er ſich auf, ſo war

es rathſamer, den polniſchen Adel für den Fall eines ruſſiſchen

Krieges zur Verfügung zu haben. Galizien iſt überhaupt der öſt¬

reichiſchen Monarchie lockrer angefügt, als Poſen und Weſtpreußen

der preußiſchen. Die öſtreichiſche, gegen Oſten offne Provinz iſt

außerhalb der Grenzmauer der Karpathen künſtlich angeklebt, und

Oeſtreich könnte ohne ſie ebenſo gut beſtehn, wenn es für die 5 oder

6 Millionen Polen und Ruthenen einen Erſatz innerhalb des Donau¬

beckens fände. Pläne der Art in Geſtalt eines Eintauſches rumäni¬

ſcher und ſüdſlaviſcher Bevölkerungen gegen Galizien, unter Her¬

ſtellung Polens mit einem Erzherzoge an der Spitze, ſind während

[236/0260]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

des Krimkrieges und 1863 von berufner und unberufner Seite er¬

wogen worden. Die alten preußiſchen Provinzen aber ſind von

Poſen und Weſtpreußen durch keine natürliche Grenze getrennt, und

der Verzicht auf ſie wäre unausführbar. Die Frage der Zukunft

Polens iſt deshalb unter den Vorbedingungen eines deutſch-öſtreichi¬

ſchen Kriegsbündniſſes eine beſonders ſchwierige.

III.

In dieſer Erwägung nöthigte mich der drohende Brief des

Kaiſers Alexander (1879) zu feſtem Entſchluſſe behufs Abwehr und

Wahrung unſrer Unabhängigkeit von Rußland. Ein öſtreichiſches

Bündniß war ziemlich bei allen Parteien populär, bei den Conſerva¬

tiven aus einer geſchichtlichen Tradition, bezüglich deren man zweifel¬

haft ſein kann, ob ſie grade von dem Standpunkt einer conſervativen

Fraction heut zu Tage als folgerichtig gelten könne. Thatſache iſt aber,

daß die Mehrheit der Conſervativen in Preußen die Anlehnung

an Oeſtreich als ihren Tendenzen entſprechend anſieht, auch wenn

vorübergehend eine Art von Wettlauf im Liberalismus zwiſchen den

beiden Regirungen ſtattfand. Der conſervative Nimbus des öſt¬

reichiſchen Namens überwog bei den meiſten Mitgliedern dieſer

Fraction den Eindruck der theils überwundenen, theils neuen Vor¬

ſtöße auf dem Gebiete des Liberalismus und der gelegentlichen

Neigung zu Annäherungen an die Weſtmächte und ſpeciell an Frank¬

reich. Noch näher lagen die Erwägungen, welche den Katholiken

den Bund mit der vorwiegend katholiſchen Großmacht als nützlich

erſcheinen ließen. Der nationalliberalen Partei war ein vertrags¬

mäßig verbrieftes Bündniß des neuen Deutſchen Reiches mit Oeſt¬

reich ein Weg, auf dem man der Löſung der 1848er Cirkelquadratur

näher kam, ohne an den Schwierigkeiten zu ſcheitern, die einer

unitariſchen Verbindung nicht nur zwiſchen Oeſtreich und Preußen-

Deutſchland, ſondern ſchon innerhalb des öſtreichiſch-ungariſchen

[237/0261]

Popularität eines Bundes mit Oeſtreich.

Geſammtreiches entgegen ſtanden. Es gab alſo auf unſerm parla¬

mentariſchen Gebiete außer der ſocialdemokratiſchen Partei, deren

Zuſtimmung überhaupt zu keiner Art von Regirungspolitik zu haben

war, keinen Widerſpruch gegen und ſehr viel Vorliebe für das

Bündniß mit Oeſtreich.

Auch die Traditionen des Völkerrechts waren von den Zeiten

des Römiſchen Reiches deutſcher Nation und des Deutſchen Bundes

her theoretiſch darauf zugeſchnitten, daß zwiſchen dem geſammten

Deutſchland und der Habsburgiſchen Monarchie eine ſtaatsrechtliche

Verbindung beſtand, durch welche dieſe mitteleuropäiſchen Länder¬

maſſen theoretiſch zum gegenſeitigen Beiſtande verpflichtet erſchienen.

Praktiſch allerdings iſt ihre politiſche Zuſammengehörigkeit in der

Vorgeſchichte nur ſelten zum Ausdruck gekommen; aber man konnte

Europa und namentlich Rußland gegenüber mit Recht geltend

machen, daß ein dauernder Bund zwiſchen Oeſtreich und dem

heutigen Deutſchen Reiche völkerrechtlich nichts Neues ſei. Dieſe

Fragen der Popularität in Deutſchland und des Völkerrechts ſtanden

jedoch für mich in zweiter Linie und waren zu erwägen als Hülfs¬

mittel für die eventuelle Ausführung. Im Vordergrunde ſtand die

Frage, ob der Durchführung des Gedankens ſofort näher zu treten

und mit welchem Maße von Entſchiedenheit der vorausſichtliche

Widerſtand des Kaiſers Wilhelm aus Gründen, die weniger der

Politik als dem Gemüthsleben angehörten, zu bekämpfen ſein würde.

Mir erſchienen die Gründe, die in der politiſchen Situation uns

auf ein öſtreichiſches Bündniß hinwieſen, ſo zwingender Natur, daß

ich nach einem ſolchen auch gegen den Widerſtand unſrer öffent¬

lichen Meinung geſtrebt haben würde.

IV.

Als Kaiſer Wilhelm ſich nach Alexandrowo begab (3. Sep¬

tember), hatte ich ſchon in Gaſtein eine Begegnung mit dem Grafen

Andraſſy eingeleitet, die am 27. und 28. Auguſt ſtattfand.

[238/0262]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

Nachdem ich ihm die Lage dargelegt hatte, zog er daraus die

Folgerung mit den Worten: „Gegen ein ruſſiſch-franzöſiſches Bündniß

iſt der natürliche Gegenzug ein öſtreichiſch-deutſches.“ Ich erwiderte,

daß er damit die Frage formulirt habe, zu deren Beſprechung ich

unſre Zuſammenkunft angeregt hätte, und wir kamen leicht zu einer

vorläufigen Verſtändigung über ein rein defenſives Bündniß gegen

einen ruſſiſchen Angriff auf einen von beiden Theilen, dagegen fand

mein Vorſchlag, das Bündniß auch auf andre als ruſſiſche Angriffe

auszudehnen, bei dem Grafen keinen Anklang.

Nachdem ich nicht ohne Schwierigkeit die Ermächtigung Sr.

Majeſtät dazu erlangt hatte, in amtliche Verhandlungen einzutreten,

nahm ich zu dem Zwecke meinen Rückweg über Wien.

Vor meiner Abreiſe von Gaſtein richtete ich am 10. September

folgendes Schreiben an den König von Baiern:

„Gaſtein, den 10. September 1879.

Eure Majeſtät haben früher die Gnade gehabt, Allerhöchſtihre

Zufriedenheit mit den Beſtrebungen auszuſprechen, welche meinerſeits

dahin gerichtet waren, dem Deutſchen Reiche Frieden und Freund¬

ſchaft mit den beiden großen Nachbarreichen Oeſtreich und Ru߬

land gleichmäßig zu erhalten. Im Laufe der letzten drei Jahre iſt

dieſe Aufgabe um ſo ſchwieriger geworden, je mehr die ruſſiſche

Politik dem Einfluſſe der theils kriegeriſchen, theils revolutionären

Tendenzen des Panſlavismus ſich hingegeben hat. Schon im Jahre

1876 wurde uns von Livadia aus wiederholentlich die Forderung

geſtellt, uns darüber in verbindlicher Form zu erklären, ob das

Deutſche Reich in einem Kriege zwiſchen Rußland und Oeſtreich

neutral bleiben werde. Es gelang nicht, dieſer Erklärung aus¬

zuweichen, und das ruſſiſche Kriegswetter zog einſtweilen nach dem

Balkan ab. Die auch nach dem Congreſſe noch immer großen Er¬

folge, welche die ruſſiſche Politik infolge dieſes Krieges gewonnen

hat, haben leider die Erregtheit der ruſſiſchen Politik nicht in dem

Maße abgekühlt, wie es für das friedliebende Europa wünſchens¬

[239/0263]

Abſchluß des Defenſivbundes mit Oeſtreich.

werth wäre. Die ruſſiſchen Beſtrebungen ſind unruhig und friedlos

geblieben; der Einfluß des panſlaviſtiſchen Chauvinismus auf die

Stimmungen des Kaiſers Alexander hat ſich geſteigert, und mit der,

wie es leider ſcheint, ernſtlichen Ungnade des Grafen Schuwalow

hat deſſen Werk, der Berliner Congreß, ſeine Verurtheilung durch

den Kaiſer erfahren. Der leitende Miniſter, inſoweit es einen

ſolchen in Rußland gegenwärtig giebt, iſt der Kriegsminiſter Milutin.

Auf ſein Verlangen ſind jetzt nach dem Frieden, wo Rußland

von niemand bedroht iſt, die gewaltigen Rüſtungen erfolgt, welche

trotz der Finanzopfer des Krieges den Friedensſtand des ruſſiſchen

Heeres um 56000, den Stand der mobilen weſtlichen Kriegs¬

armee um faſt 400000 Mann ſteigerten. Dieſe Rüſtungen können

nur gegen Oeſtreich oder Deutſchland beſtimmt ſein, und die Truppen¬

aufſtellungen im Königreich Polen entſprechen einer ſolchen Be¬

ſtimmung. Der Kriegsminiſter hat auch den techniſchen Com¬

miſſionen *) gegenüber rückhaltlos geäußert, daß Rußland ſich auf

einen Krieg ,mit Europa‘ einrichten müſſe.

Wenn es zweifellos iſt, daß der Kaiſer Alexander, ohne den

Türkenkrieg zu wollen, unter dem Drucke der panſlaviſtiſchen Ein¬

flüſſe denſelben dennoch geführt hat, und wenn inzwiſchen dieſelbe

Partei ihren Einfluß dadurch geſteigert hat, daß dem Kaiſer die

Agitation, welche hinter ihr ſteht, heut mehr und gefährlicheren

Eindruck macht als früher, ſo liegt die Befürchtung nahe, daß es

ihr ebenſo gelingen kann, die Unterſchrift des Kaiſers Alexander für

weitre kriegeriſche Unternehmungen nach Weſten zu gewinnen. Die

europäiſchen Schwierigkeiten, welchen Rußland auf dieſem Wege be¬

gegnen könnte, können einen Miniſter wie Milutin oder Makoff

wenig ſchrecken, wenn es wahr iſt, was die Conſervativen in Ru߬

land befürchten, daß die Bewegungspartei, indem ſie Rußland in

ſchwere Kriege zu verwickeln ſucht, weniger einen Sieg Rußlands

über das Ausland, als einen Umſturz im Innern Rußlands erſtrebt.

*) Welche gewiſſe Beſtimmungen des Berliner Vertrages vom 13. Juli

1878 auszuführen hatten.

[240/0264]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

Ich kann mich unter dieſen Umſtänden der Ueberzeugung

nicht erwehren, daß der Friede durch Rußland, und zwar nur durch

Rußland, in der Zukunft, vielleicht auch in naher Zukunft, bedroht

ſei. Die nach unſern Berichten in jüngſter Zeit verſuchten Er¬

mittlungen, ob Rußland in Frankreich und Italien, wenn es Krieg

beginnt, Beiſtand finden würde, haben freilich ein negatives Reſultat

ergeben. Italien iſt machtlos befunden worden, und Frankreich

hat erklärt, daß es jetzt keinen Krieg wolle und im Bunde mit Ru߬

land allein ſich für einen Angriffskrieg gegen Deutſchland nicht

ſtark genug fühle.

In dieſer Lage hat nun Rußland in den letzten Wochen an

uns Forderungen geſtellt, welche darauf hinausgehn, daß wir defi¬

nitiv zwiſchen Rußland und Oeſtreich optiren ſollen, indem wir

die deutſchen Mitglieder der orientaliſchen Commiſſionen anwieſen,

in den zweifelhaften Fragen mit Rußland zu ſtimmen, während in

dieſen Fragen unſrer Meinung nach die richtige Auslegung der

Congreßbeſchlüſſe auf Seiten der durch Oeſtreich, England und

Frankreich gebildeten Majorität iſt, und Deutſchland deshalb mit

dieſer geſtimmt hat, ſo daß Rußland theils mit, theils ohne Italien

allein die Minorität bildet. Obſchon dieſe Fragen, wie z. B. die

Lage der Brücke bei Siliſtria, die der Türkei vom Congreß conce¬

dirte Militärſtraße in Bulgarien, die Verwaltung der Poſt und

Telegraphie und der Grenzſtreit über einzelne Dörfer an ſich im

Vergleich mit dem Frieden großer Reiche ſehr unbedeutende ſind,

ſo war das ruſſiſche Verlangen, daß wir in Betreff derſelben nicht

mehr mit Oeſtreich, ſondern mit Rußland ſtimmen ſollten, nicht

einmal, ſondern wiederholt von unzweideutigen Drohungen begleitet

bezüglich der Folgen, welche unſre Weigerung eventuell für die

internationalen Beziehungen beider Länder haben würde. Dieſe

auffällige Thatſache war, da ſie mit dem Rücktritt des Grafen

Andraſſy *) zuſammenfiel, geeignet, die Beſorgniß zu erwecken, daß

*) Am 14. Auguſt hatte der Kaiſer Franz Joſeph die von dem Grafen

Andraſſy nachgeſuchte Entlaſſung im Prinzip genehmigt, ſich aber die definitive

[241/0265]

Schreiben an den König von Baiern.

zwiſchen Rußland und Oeſtreich eine geheime Verſtändigung zum

Nachtheile Deutſchlands ſtattgefunden hätte. Dieſe Beſorgniß iſt

aber unbegründet; Oeſtreich fühlt gegenüber der Unruhe der ruſ¬

ſiſchen Politik daſſelbe Unbehagen wie wir und ſcheint zu einer

Verſtändigung mit uns behufs gemeinſamer Abwehr eines et¬

waigen ruſſiſchen Angriffs auf eine der beiden Mächte geneigt

zu ſein.

Ich würde es für eine weſentliche Garantie des europäiſchen

Friedens und der Sicherheit Deutſchlands halten, wenn das Deutſche

Reich auf eine ſolche Abmachung mit Oeſtreich einginge, welche

zum Zweck hätte, den Frieden mit Rußland nach wie vor ſorg¬

fältig zu pflegen, aber wenn trotzdem eine der beiden Mächte an¬

gegriffen würde, einander beizuſtehn. Im Beſitze dieſer gegen¬

ſeitigen Aſſecuranz könnten beide Reiche ſich nach wie vor der

erneuten Befeſtigung des Dreikaiſerbundes widmen. Das Deutſche

Reich im Bunde mit Oeſtreich würde der Anlehnung Englands

nicht entbehren und bei der friedfertigen Politik der beiden großen

Reichskörper den Frieden Europas mit zwei Millionen Streitern

verbürgen. Der rein defenſive Charakter dieſer gegenſeitigen An¬

lehnung der beiden deutſchen Mächte aneinander könnte auch für

niemand etwas Herausforderndes haben, da dieſelbe gegenſeitige

Aſſecuranz beider in dem deutſchen Bundesverhältniß von 1815

ſchon 50 Jahre völkerrechtlich beſtanden hat.

Unterbleibt jedes Abkommen derart, ſo wird man es Oeſt¬

reich nicht verargen können, wenn es unter dem Drucke ruſſiſcher

Drohungen und ohne Gewißheit über Deutſchland ſchließlich ent¬

weder bei Frankreich oder bei Rußland ſelbſt nähere Fühlung ſucht.

Träte der letztre Fall ein, ſo wäre Deutſchland bei ſeinem Ver¬

*)

*) Enthebung vorbehalten, bis über den Nachfolger Beſchluß gefaßt ſei. Der Graf

verſtand ſich dazu, noch einige Zeit in Function zu bleiben, um das Bündniß

mit Deutſchland zu Stande zu bringen. Am 8. October wurde ſeine Ver¬

abſchiedung und die Ernennung ſeines Nachfolgers Haymerle veröffentlicht.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 16

[242/0266]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

hältniß zu Frankreich der gänzlichen Iſolirung auf dem Continent

ausgeſetzt. Nähme Oeſtreich aber bei Frankreich und England

Fühlung, ähnlich wie 1854, ſo wäre Deutſchland auf Rußland

allein angewieſen und wenn es ſich nicht iſoliren wollte, an die

wie ich fürchte fehlerhaften und gefährlichen Bahnen der ruſſiſchen

innern und äußern Politik gebunden.

Zwingt uns Rußland, zwiſchen ihm und Oeſtreich zu optiren,

ſo glaube ich, daß Oeſtreich die conſervative und friedliebende

Richtung für uns anzeigen würde, Rußland aber eine unſichre.

Ich wage mich der Hoffnung hinzugeben, daß Eure Majeſtät

nach Allerhöchſtdero mir bekannter politiſcher Auffaſſung meine vor¬

ſtehende Ueberzeugung theilen, und würde glücklich ſein, wenn ich

darüber vergewiſſert werden könnte.

Die Schwierigkeiten der Aufgabe, welche ich mir ſtelle, ſind

an ſich groß, aber ſie werden noch weſentlich geſteigert durch die

Nothwendigkeit, eine ſo umfängliche und vielſeitige Angelegenheit

ſchriftlich von hier aus zu verhandeln, wo ich lediglich auf meine

eigne, durch die bisherige Ueberanſtrengung ganz unzulänglich ge¬

wordene Arbeitskraft reducirt bin. Ich habe aus Geſundheits¬

rückſichten meinen Aufenthalt hier ſchon verlängern müſſen, hoffe

aber nach dem 20. ds. M. meine Rückreiſe über Wien antreten zu

können. Wenn es bis dahin nicht gelingt, wenigſtens prinzipiell

zu einer Gewißheit zu gelangen, ſo wird, wie ich fürchte, die jetzt

günſtige Gelegenheit verſäumt ſein, und bei dem Rücktritt Andraſſys

läßt ſich nicht vorherſehn, ob ſie jemals wiederkehren wird.

Wenn ich für meine Pflicht halte, meine Anſicht über die Lage

und die Politik des Deutſchen Reiches in Ehrfurcht zu Eurer Majeſtät

Kenntniß zu bringen, ſo wollen Allerhöchſtdieſelben der Thatſache

in Gnaden Rechnung tragen, daß Graf Andraſſy und ich uns die

Geheimhaltung des vorſtehend dargelegten Planes gegenſeitig zu¬

geſagt haben und bisher nur Ihre Majeſtäten die beiden Kaiſer

Kenntniß haben von der Abſicht ihrer leitenden Miniſter, eine Ver¬

einbarung zwiſchen Allerhöchſtdenſelben herbeizuführen.“

[243/0267]

Correſpondenz mit König Ludwig II.

Ich füge zur Vervollſtändigung die Antwort des Königs, ſo¬

wie meine Erwiderung bei:

„Mein lieber Fürſt von Bismarck!

Mit aufrichtigem Bedauern entnahm ich Ihrem Schreiben

vom 10. d. M., daß die Wirkung Ihrer Kiſſinger und Gaſteiner

Badecur durch anſtrengende und aufregende Geſchäftsthätigkeit be¬

einträchtigt wurde. Ihrer ausführlichen Darlegung des gegen¬

wärtigen Standes der Politik bin ich mit dem größten Intereſſe

gefolgt und ſpreche Ihnen hiefür meinen lebhaften Dank aus.

Sollte es zwiſchen dem Deutſchen Reiche und Rußland zu kriege¬

riſchen Verwickelungen kommen, ſo würde mich eine ſo tief be¬

klagenswerthe Aenderung in den gegenſeitigen Beziehungen beider

Reiche auf das Schmerzlichſte berühren, und noch gebe ich mich

der Hoffnung hin, daß es gelingen wird, einer ſolchen Wendung

der Dinge durch eine im friedlichen Sinne ſich geltend machende

Einwirkung auf Seine Majeſtät den Kaiſer von Rußland vorzu¬

beugen. Unter allen Umſtänden jedoch dürfen Ihre Beſtrebungen

für einen engen Anſchluß des Deutſchen Reichs an Oeſterreich-

Ungarn meines vollen Beifalles und meiner angelegentlichſten

Wünſche für einen glücklichen Erfolg verſichert ſein.

Mit dem Wunſche, daß Sie neu gekräftigt in die Heimath

zurückkehren mögen, verbinde ich gerne die wiederholte Verſicherung

beſonderer Werthſchätzung, mit welcher ich bin und ſtets verbleibe

Berg, den 16. September 1879.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.“

„Gaſtein, 19. 9. 1879.

Mit ehrfurchtsvollem Danke habe ich Eurer Majeſtät gnädiges

Schreiben vom 16. d. M. erhalten und daraus zu meiner Freude

das Allerhöchſte Einverſtändniß mit meinen Beſtrebungen nach

gegenſeitiger Anlehnung mit Oeſtreich-Ungarn entnommen. In

[244/0268]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

Betreff der Beziehungen zu Rußland bemerke ich allerunterthänigſt,

daß die Gefahr kriegeriſcher Verwicklungen, welche auch ich nicht

nur politiſch, ſondern auch perſönlich auf das Tiefſte beklagen

würde, nach meinem ehrfurchtsvollen Dafürhalten nicht unmittelbar

bevorſteht, uns vielmehr nur dann nähertreten würde, wenn Frank¬

reich zu einem gemeinſamen Vorgehn mit Rußland bereit wäre.

Dies iſt bisher nicht der Fall, und unſre Politik wird nach den

Intentionen Seiner Majeſtät des Kaiſers nichts unterlaſſen, um

den Frieden des Reichs mit Rußland durch Einwirkung auf Seine

Majeſtät den Kaiſer Alexander nach wie vor zu pflegen und zu

befeſtigen. Die Verhandlungen über einen engern gegenſeitigen

Anſchluß mit Oeſtreich haben nur friedliche, defenſive Ziele und

daneben die Förderung der nachbarlichen Verkehrsverhältniſſe zum

Ziele.

In der Abſicht, Gaſtein morgen zu verlaſſen, hoffe ich am

Sonntag in Wien einzutreffen.

Mit unterthänigſtem Danke für Eurer Majeſtät huldreiche

Theilnahme an meiner Geſundheit verharre ich in tiefſter Ehrfurcht

Eurer Majeſtät

unterthänigſter Diener

v. Bismarck.“

V.

Auf der langen Fahrt von Gaſtein über Salzburg und Linz

wurde mein Bewußtſein, daß ich mich auf rein deutſchem Gebiete

und unter deutſcher Bevölkerung befand, durch die entgegenkommende

Haltung des Publikums auf den Stationen vertieft. In Linz war

die Maſſe ſo groß und ihre Stimmung ſo erregt, daß ich aus

Beſorgniß, in Wiener Kreiſen Mißverſtändniſſe zu erregen, die

Vorhänge der Fenſter meines Wagens vorzog, auf keine der wohl¬

wollenden Kundgebungen reagirte und abfuhr, ohne mich gezeigt zu

[245/0269]

Popularität des Bündniſſes in Oeſtreich.

haben. In Wien fand ich eine ähnliche Stimmung in den Straßen,

die Begrüßungen der dicht gedrängten Menge waren ſo zuſammen¬

hängend, daß ich, da ich in Civil war, in die unbequeme Noth¬

wendigkeit gerieth, die Fahrt zum Gaſthofe ſo gut wie mit bloßem

Kopfe zurückzulegen. Auch während der Tage, die ich in dem

Gaſthofe zubrachte, konnte ich mich nicht am Fenſter zeigen, ohne

freundliche Demonſtrationen der dort Wartenden oder Vorübergehen¬

den hervorzurufen. Dieſe Kundgebungen vermehrten ſich, nachdem

der Kaiſer Franz Joſeph mir die Ehre erzeigt hatte, mich zu be¬

ſuchen. Alle dieſe Erſcheinungen waren der unzweideutige Aus¬

druck des Wunſches der Bevölkerung der Hauptſtadt und der durch¬

reiſten deutſchen Provinzen, eine enge Freundſchaft mit dem neuen

Deutſchen Reiche als Signatur der Zukunft beider Großmächte ſich

bilden zu ſehn. Daß dieſelben Sympathien im Deutſchen Reiche,

im Süden noch mehr als im Norden, bei den Conſervativen mehr

als bei der Oppoſition, im katholiſchen Weſten mehr als im evan¬

geliſchen Oſten, der Blutsverwandſchaft entgegenkamen, war mir

nicht zweifelhaft. Die angeblich confeſſionellen Kämpfe des dreißig¬

jährigen Krieges, die einfach politiſchen des ſiebenjährigen und

die diplomatiſchen Rivalitäten vom Tode Friedrichs des Großen

bis 1866 hatten das Gefühl dieſer Verwandſchaft nicht erſtickt,

ſo ſehr ſonſt der Deutſche auch geneigt iſt, den Landsmann,

wenn ihm Gelegenheit dazu geboten wird, mit mehr Eifer zu

bekämpfen als den Ausländer. Es iſt möglich, daß der ſlaviſche

Keil, durch den in Geſtalt der Czechen die urdeutſche Bevölkerung

der öſtreichiſchen Stammlande von den nordweſtlichen Landsleuten

getrennt iſt, die Wirkungen, die nachbarliche Reibungen auf Deutſche

gleichen Stammes, aber verſchiedener dynaſtiſcher Angehörigkeit,

auszuüben pflegen, abgeſchwächt und das germaniſche Gefühl der

Deutſch-Oeſtreicher gekräftigt hat, das durch den Schutt, den

hiſtoriſche Kämpfe hinterlaſſen, wohl verdeckt, aber nicht erſtickt

worden iſt.

Ich fand bei dem Kaiſer Franz Joſeph eine ſehr huldreiche

[246/0270]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

Aufnahme und die Bereitwilligkeit, mit uns abzuſchließen. Um

mich der Zuſtimmung meines allergnädigſten Herrn zu verſichern,

hatte ich ſchon in Gaſtein täglich einen Theil der für die Cur be¬

ſtimmten Zeit am Schreibtiſche zugebracht und auseinandergeſetzt,

daß es nothwendig ſei, den Kreis der möglichen gegen uns ge¬

richteten Coalitionen einzuſchränken, und daß der zweckmäßigſte Weg

dazu ein Bündniß mit Oeſtreich ſei. Ich hatte freilich wenig

Hoffnung, daß der todte Buchſtabe meiner Abhandlungen die mehr

auf Gemüthsregungen als auf politiſcher Erwägung beruhende Auf¬

faſſung Sr. Majeſtät ändern werde. Der Abſchluß eines Vertrages,

deſſen wenn auch defenſives doch kriegeriſches Ziel ein Ausdruck

des Mißtrauens gegen den Freund und Neffen war, mit dem

er eben in Alexandrowo von Neuem unter Thränen und in der

vollſten Aufrichtigkeit des Herzens die Verſicherungen der alther¬

gebrachten Freundſchaft ausgetauſcht hatte, lief zu ſehr gegen

die ritterlichen Gefühle, mit denen der Kaiſer ſein Verhältniß zu

einem ebenbürtigen Freunde auffaßte. Ich zweifelte zwar nicht,

daß die gleiche rückhaltloſe Ehrlichkeit des Empfindens bei dem

Kaiſer Alexander vorhanden war; aber ich wußte, daß er nicht die

Schärfe des politiſchen Urtheils und nicht die Arbeitſamkeit beſaß,

die ihn dauernd gegen die unaufrichtigen Einflüſſe ſeiner Um¬

gebung gedeckt hätten, auch nicht die gewiſſenhafte Zuverläſſigkeit

in perſönlichen Beziehungen, die meinen hohen Herrn auszeichnete.

Die Offenheit, die der Kaiſer Nicolaus im Guten wie im Böſen

bewieſen hatte, war auf die weichere Natur ſeines Nachfolgers

nicht vollſtändig übergegangen; auch weiblichen Einflüſſen gegen¬

über war die Unabhängigkeit des Sohnes nicht auf derſelben Höhe

wie die des Vaters. Nun iſt aber die einzige Bürgſchaft für die

Dauer der ruſſiſchen Freundſchaft die Perſönlichkeit des regirenden

Kaiſers, und ſobald letztre eine minder ſichre Unterlage gewährt,

als Alexander I., der 1813 eine auf demſelben Throne nicht immer

vorauszuſetzende Treue gegen das preußiſche Königshaus bewährt

hat, wird man auf das ruſſiſche Bündniß, wenn man ſeiner

[247/0271]

Abneigung Wilhelms I. Tragfähigkeit von Bündniſſen.

bedarf, nicht jederzeit in dem vollen Maße des Bedürfniſſes rechnen

können.

Schon im vorigen Jahrhundert war es gefährlich, auf die

zwingende Gewalt eines Bündnißtextes zu rechnen, wenn die Ver¬

hältniſſe, unter denen er geſchrieben war, ſich geändert hatten;

heut zu Tage aber iſt es für eine große Regirung kaum möglich,

die Kraft ihres Landes für ein andres befreundetes voll ein¬

zuſetzen, wenn die Ueberzeugung des Volkes es mißbilligt. Es ge¬

währt deshalb der Wortlaut eines Vertrages dann, wenn er zur

Kriegführung zwingt, nicht mehr die gleichen Bürgſchaften wie zur

Zeit der Cabinetskriege, die mit Heeren von 30–60 000 Mann

geführt wurden; ein Familienkrieg, wie ihn Friedrich Wilhelm II.

für ſeinen Schwager in Holland führte, iſt heut ſchwer in Scene

zu ſetzen, und für einen Krieg, wie Nicolaus ihn 1849 in Ungarn

führte, finden ſich die Vorbedingungen nicht leicht wieder. In¬

deſſen iſt auf die Diplomatie in den Momenten, wo es ſich darum

handelt, einen Krieg herbeizuführen oder zu vermeiden, der Wort¬

laut eines klaren und tiefgreifenden Vertrages nicht ohne Einfluß.

Die Bereitwilligkeit zum zweifelloſen Wortbruch pflegt auch bei

ſophiſtiſchen und gewaltthätigen Regirungen nicht vorhanden zu

ſein, ſo lange nicht die force majeure unabweislicher Intereſſen

eintritt.

Alle Erwägungen und Argumente, die ich dem in Baden be¬

findlichen Kaiſer ſchriftlich aus Gaſtein, aus Wien und demnächſt

aus Berlin unterbreitete, waren ohne die gewünſchte Wirkung. Um

die Zuſtimmung des Kaiſers zu dem von mir mit Andraſſy ver¬

einbarten und von dem Kaiſer Franz Joſeph unter der Voraus¬

ſetzung, daß Kaiſer Wilhelm daſſelbe thun würde, genehmigten

Vertragsentwurfe herbeizuführen, war ich genöthigt, zu dem für

mich ſehr peinlichen Mittel der Cabinetsfrage zu greifen, und es

gelang mir, meine Collegen für mein Vorhaben zu gewinnen. Da

ich ſelbſt von den Anſtrengungen der letzten Wochen und von der

Unterbrechung der Gaſteiner Cur zu angegriffen war, um die

[248/0272]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

Reiſe nach Baden-Baden zu machen, ſo übernahm ſie Graf

Stolberg; er führte die Verhandlungen, wenn auch unter ſtarkem

Widerſtreben Sr. Majeſtät, glücklich zu Ende. Der Kaiſer war

von den politiſchen Argumenten nicht überzeugt worden, ſondern

ertheilte das Verſprechen, den Vertrag zu ratificiren, nur aus

Abneigung gegen einen Perſonenwechſel in dem Miniſterium. Der

Kronprinz war von Hauſe aus für das öſtreichiſche Bündniß

lebhaft eingenommen, aber ohne Einfluß auf ſeinen Vater.

Der Kaiſer hielt es in ſeinem ritterlichen Sinne für erforder¬

lich, den Kaiſer von Rußland vertraulich darüber zu verſtändigen,

daß er, wenn er eine der beiden Nachbarmächte angriffe, beide

gegen ſich haben werde, damit Kaiſer Alexander nicht etwa irrthüm¬

lich annehme, Oeſtreich allein angreifen zu können. Mir ſchien

dieſe Beſorgniß ungegründet, da das Petersburger Cabinet ſchon

aus unſrer Beantwortung der aus Livadia an uns gerichteten Frage

wiſſen mußte, daß wir Oeſtreich nicht würden fallen laſſen, durch

unſern Vertrag mit Oeſtreich alſo eine neue Situation nicht ge¬

ſchaffen, nur die vorhandene legaliſirt wurde.

VI.

Eine Erneuerung der Kaunitzſchen Coalition wäre für Deutſch¬

land, wenn es in ſich geſchloſſen einig bleibt und ſeine Kriege

geſchickt geführt werden, zwar keine verzweifelte, aber doch eine ſehr

ernſte Conſtellation, welche nach Möglichkeit zu verhüten Aufgabe

unſrer auswärtigen Politik ſein muß. Wenn die geeinte öſtreichiſch-

deutſche Macht in der Feſtigkeit ihres Zuſammenhangs und in der

Einheitlichkeit ihrer Führung ebenſo geſichert wäre wie die ruſſiſche

und die franzöſiſche, jede für ſich betrachtet, es ſind, ſo würde ich,

auch ohne daß Italien der Dritte im Bunde wäre, den gleich¬

zeitigen Angriff unſrer beiden großen Nachbarreiche nicht für lebens¬

gefährlich halten. Wenn aber in Oeſtreich antideutſche Richtungen

[249/0273]

Wilhelm I. giebt nach. Verträge zwiſchen Großſtaaten.

nationaler oder confeſſioneller Natur ſich ſtärker als bisher zeigen,

wenn ruſſiſche Verſuchungen und Anerbietungen auf dem Gebiet

der orientaliſchen Politik wie zur Zeit Katharinas und Joſephs II.

hinzutreten, wenn italieniſche Begehrlichkeiten Oeſtreichs Beſitz am

Adriatiſchen Meere bedrohn und ſeine Streitkräfte in ähnlicher

Weiſe wie zu Radetzkys Zeit in Anſpruch nehmen ſollten: dann

würde der Kampf, deſſen Möglichkeit mir vorſchwebt, ungleicher

ſein. Es braucht nicht geſagt zu werden, wie viel gefährdeter

Deutſchlands Lage erſcheint, wenn man ſich auch Oeſtreich, Her¬

ſtellung der Monarchie in Frankreich, im Einverſtändniß beider mit

der Römiſchen Curie, im Lager unſrer Gegner denkt mit dem Be¬

ſtreben, die Ergebniſſe von 1866 aus der Welt zu ſchaffen.

Dieſe peſſimiſtiſche, aber doch nicht außer dem Bereich der

Möglichkeit liegende und durch Vergangenes nicht ungerechtfertigte

Vorſtellung hatte mich veranlaßt, die Frage anzuregen, ob ſich ein

organiſcher Verband zwiſchen dem Deutſchen Reiche und Oeſtreich-

Ungarn empföhle, der nicht wie gewöhnliche Verträge kündbar,

ſondern der Geſetzgebung beider Reiche einverleibt und nur durch

einen neuen Act der Geſetzgebung eines derſelben lösbar wäre.

Eine ſolche Aſſecuranz hat für den Gedanken etwas Beruhi¬

gendes; ob auch im Drange der Ereigniſſe etwas Sicherſtellendes,

daran kann man zweifeln, wenn man ſich erinnert, daß die theo¬

retiſch ſehr viel ſtärker verpflichtende Verfaſſung des heiligen Römi¬

ſchen Reiches den Zuſammenhalt der deutſchen Nation niemals hat

ſichern können, und daß wir nicht im Stande ſein würden, für

unſer Verhältniß zu Oeſtreich einen Vertragsmodus zu finden,

der in ſich eine ſtärkere Bindekraft trüge als die frühern Bundes¬

verträge, nach denen die Schlacht von Königgrätz theoretiſch un¬

möglich war. Die Haltbarkeit aller Verträge zwiſchen Großſtaaten

iſt eine bedingte, ſobald ſie „in dem Kampf um's Daſein“ auf

die Probe geſtellt wird. Keine große Nation wird je zu bewegen

ſein, ihr Beſtehn auf dem Altar der Vertragſtreue zu opfern, wenn

ſie gezwungen iſt, zwiſchen beiden zu wählen. Das ultra posse nemo

[250/0274]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

obligatur kann durch keine Vertragsclauſel außer Kraft geſetzt

werden; und ebenſo wenig läßt ſich durch einen Vertrag das Maß

von Ernſt und Kraftaufwand ſicherſtellen, mit dem die Erfüllung

geleiſtet werden wird, ſobald das eigne Intereſſe des Erfüllenden

dem unterſchriebenen Texte und ſeiner frühern Auslegung nicht

mehr zur Seite ſteht. Es läßt ſich daher, wenn in der euro¬

päiſchen Politik Wendungen eintreten, die für Oeſtreich-Ungarn

eine antideutſche Politik als Staatsrettung erſcheinen laſſen, eine

Selbſtaufopferung für die Vertragstreue ebenſo wenig erwarten, wie

während des Krimkrieges die Einlöſung einer Dankespflicht er¬

folgte, die vielleicht gewichtiger war als das Pergament eines

Staatsvertrages.

Ein Bündniß unter geſetzlicher Bürgſchaft wäre eine Verwirk¬

lichung der Verfaſſungsgedanken geweſen, die in der Paulskirche

den gemäßigtſten Mitgliedern, den Vertretern des engern reichs¬

deutſchen und des größern öſtreichiſch-deutſchen Bundes vorſchwebten;

aber grade die vertragsmäßige Sicherſtellung ſolcher gegenſeitigen

Verpflichtungen iſt eine Feindin ihrer Haltbarkeit. Das Bei¬

ſpiel Oeſtreichs aus der Zeit von 1850 bis 1866 iſt mir eine

Warnung geweſen, daß die politiſchen Wechſel, die man auf ſolche

Verhältniſſe zu ziehn in Verſuchung kommt, über die Grenzen

des Credits hinausgehn, den unabhängige Staaten in ihren poli¬

tiſchen Operationen einander gewähren können. Ich glaube des¬

halb, daß das wandelbare Element des politiſchen Intereſſes und

ſeiner Gefahren ein unentbehrliches Unterfutter für geſchriebene

Verträge iſt, wenn ſie haltbar ſein ſollen. Für eine ruhige und

erhaltende öſtreichiſche Politik iſt das deutſche Bündniß das nützlichſte.

Die Gefahren, die für unſre Einigkeit mit Oeſtreich in den

Verſuchungen ruſſiſch-öſtreichiſcher Verſtändigungen im Sinne der

Zeit von Joſeph II. und Katharina oder der Reichſtadter Con¬

vention und ihrer Heimlichkeit liegen, laſſen ſich, ſo weit das über¬

haupt möglich iſt, paralyſiren, wenn wir zwar feſt auf Treue gegen

Oeſtreich, aber auch darauf halten, daß der Weg von Berlin nach

[251/0275]

Der Weg nach Petersburg muß Deutſchland frei bleiben.

Petersburg frei bleibt. Unſre Aufgabe iſt, unſre beiden kaiſer¬

lichen Nachbarn in Frieden zu erhalten. Die Zukunft der vierten

großen Dynaſtie in Italien werden wir in demſelben Maße ſicher

zu ſtellen im Stande ſein, in dem es uns gelingt, die drei

Kaiſerreiche einig zu erhalten und den Ehrgeiz unſrer beiden öſt¬

lichen Nachbarn entweder zu zügeln oder in beiderſeitiger Ver¬

ſtändigung zu befriedigen. Jeder von beiden iſt für uns nicht nur

in der europäiſchen Gleichgewichtsfrage unentbehrlich, — wir könnten

keinen von beiden miſſen, ohne ſelbſt gefährdet zu werden — ſon¬

dern die Erhaltung eines Elementes monarchiſcher Ordnung in

Wien und Petersburg, und auf der Baſis beider in Rom, iſt für

uns in Deutſchland eine Aufgabe, die mit der Erhaltung der ſtaat¬

lichen Ordnung bei uns ſelbſt zuſammenfällt.

VII.

Der Vertrag, den wir mit Oeſtreich zu gemeinſamer Ab¬

wehr eines ruſſiſchen Angriffs geſchloſſen haben, iſt publici juris.

Ein analoger Defenſivvertrag zwiſchen beiden Mächten gegenüber

Frankreich iſt nicht bekannt. Das deutſch-öſtreichiſche Bündniß

enthält gegen einen franzöſiſchen Krieg, von dem Deutſchland in

erſter Linie bedroht iſt, nicht dieſelbe Deckung wie gegen einen

ruſſiſchen, der mehr für Oeſtreich als für Deutſchland wahrſchein¬

lich iſt. Zwiſchen Deutſchland und Rußland exiſtiren keine Ver¬

ſchiedenheiten der Intereſſen, welche die Keime von Conflicten und

eines Bruches unabweislich in ſich trügen. Dagegen gewähren die

übereinſtimmenden Bedürfniſſe in der polniſchen Frage und die

Nachwirkung der hergebrachten dynaſtiſchen Solidarität im Gegen¬

ſatz zu den Umſturzbeſtrebungen Unterlagen für eine gemeinſame

Politik beider Cabinete. Dieſelben ſind abgeſchwächt worden durch

eine zehnjährige Fälſchung der öffentlichen Meinung ſeitens der

ruſſiſchen Preſſe, die in dem leſenden Theile der Bevölkerung

[252/0276]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

einen künſtlichen Haß gegen alles Deutſche geſchaffen und genährt

hat, mit dem die Dynaſtie rechnen muß, auch wenn der Kaiſer die

deutſche Freundſchaft pflegen will. Doch dürfte die Feindſchaft der

ruſſiſchen Maſſen gegen das Deutſchthum kaum ſchärfer zugeſpitzt

ſein, wie die der Czechen in Böhmen und Mähren, der Slowenen

in dem frühern deutſchen Bundesgebiete und der Polen in Galizien.

Kurz, wenn ich in der Wahl zwiſchen dem ruſſiſchen und dem öſt¬

reichiſchen Bündniß das letztre vorgezogen habe, ſo bin ich keines¬

wegs blind geweſen gegen die Zweifel, welche die Wahl erſchwerten.

Ich habe die Pflege nachbarlicher Beziehungen zu Rußland neben

unſerm defenſiven Bunde mit Oeſtreich nach wie vor für geboten

angeſehn, denn eine ſichre Aſſecuranz gegen einen Schiffbruch der

gewählten Combination iſt für Deutſchland nicht vorhanden, wohl

aber die Möglichkeit, antideutſche Belleitäten in Oeſtreich-Ungarn in

Schach zu halten, ſo lange die deutſche Politik ſich die Brücke, die

nach Petersburg führt, nicht abbricht und keinen Riß zwiſchen Ru߬

land und uns herſtellt, der ſich nicht überbrücken ließe. So lange

ein ſolcher unheilbarer Riß nicht vorhanden iſt, wird es für Wien

möglich bleiben, die dem deutſchen Bündniſſe feindlichen oder frem¬

den Elemente im Zaume zu halten. Wenn aber der Bruch zwiſchen

uns und Rußland, ſchon die Entfremdung, unheilbar erſchiene,

würden auch in Wien die Anſprüche wachſen, die man an die

Dienſte des deutſchen Bundesgenoſſen glauben würde ſtellen zu

können, erſtens in Erweiterung des casus foederis, der ſich bisher

nach dem veröffentlichten Texte doch nur auf die Abwehr eines

ruſſiſchen Angriffes auf Oeſtreich erſtreckt, und zweitens in dem

Verlangen, dem bezeichneten casus foederis die Vertretung öſt¬

reichiſcher Intereſſen im Balkan und im Orient zu ſubſtituiren,

was ſelbſt in unſrer Preſſe ſchon mit Erfolg verſucht worden iſt.

Es iſt natürlich, daß die Bewohner des Donaubeckens Bedürfniſſe

und Pläne haben, die ſich über die heutigen Grenzen der öſtreichiſch¬

ungariſchen Monarchie hinaus erſtrecken; und die deutſche Reichs¬

verfaſſung zeigt den Weg an, auf dem Oeſtreich eine Verſöhnung

[253/0277]

Gefahren eines Bruchs mit Rußland.

der politiſchen und materiellen Intereſſen erreichen kann, die zwiſchen

der Oſtgrenze des rumäniſchen Volksſtammes und der Bucht von

Cattaro vorhanden ſind. Aber es iſt nicht die Aufgabe des Deut¬

ſchen Reichs, ſeine Unterthanen mit Gut und Blut zur Verwirk¬

lichung von nachbarlichen Wünſchen herzuleihen. Die Erhaltung

der öſtreichiſch-ungariſchen Monarchie als einer unabhängigen ſtarken

Großmacht iſt für Deutſchland ein Bedürfniß des Gleichgewichts in

Europa, für das der Friede des Landes bei eintretender Noth¬

wendigkeit mit gutem Gewiſſen eingeſetzt werden kann. Man ſollte

ſich jedoch in Wien enthalten, über dieſe Aſſecuranz hinaus An¬

ſprüche aus dem Bündniſſe ableiten zu wollen, für die es nicht

geſchloſſen iſt.

Directe Bedrohung des Friedens zwiſchen Deutſchland und

Rußland iſt kaum auf anderm Wege möglich, als durch künſtliche

Verhetzung oder durch den Ehrgeiz ruſſiſcher oder deutſcher Militärs

von der Art Skobelews, die den Krieg wünſchen, bevor ſie zu alt

werden, um ſich darin auszuzeichnen. Es gehört ein ungewöhnliches

Maß von Dummheit und Verlogenheit in der öffentlichen Meinung

und in der Preſſe Rußlands dazu, um zu glauben und zu be¬

haupten, daß die deutſche Politik von aggreſſiven Tendenzen ge¬

leitet worden ſei, indem ſie das öſtreichiſche und dann das italie¬

niſche Defenſivbündniß abſchloß. Die Verlogenheit war mehr pol¬

niſch-franzöſiſchen, die Dummheit mehr ruſſiſchen Urſprungs. Pol¬

niſch-franzöſiſche Gewandheit hat auf dem Felde der ruſſiſchen

Leichtgläubigkeit und Unwiſſenheit den Sieg über den Mangel ſolcher

Gewandheit davongetragen, in dem je nach den Umſtänden eine

Stärke oder Schwäche der deutſchen Politik liegt. In den meiſten

Fällen iſt eine offne und ehrliche Politik erfolgreicher als die Fein¬

ſpinnerei früherer Zeiten, aber ſie bedarf, wenn ſie gelingen ſoll,

eines Maßes von perſönlichem Vertrauen, das leichter zu verlieren

als zu erwerben iſt.

Niemand kann die Zukunft Oeſtreichs an ſich mit der Sicher¬

heit berechnen, die für dauernde und organiſche Verträge erforder¬

[254/0278]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

lich iſt. Die bei Geſtaltung derſelben mitwirkenden Factoren ſind

ebenſo mannigfaltig wie die Völkermiſchung; und zu der ätzenden

und gelegentlich ſprengenden Wirkung dieſer kommt der unberechen¬

bare Einfluß, den je nach dem Steigen oder Fallen der römiſchen

Fluth das confeſſionelle Element auf die leitenden Perſönlichkeiten

auszuüben vermag. Nicht blos der Panſlavismus und Bulgarien

oder Bosnien, ſondern auch die ſerbiſche, die rumäniſche, die pol¬

niſche, die czechiſche Frage, ja ſelbſt noch heut die italieniſche im

Trentino, in Trieſt und an der dalmatiſchen Küſte, können zu

Kryſtalliſationspunkten für nicht blos öſtreichiſche, ſondern auch

europäiſche Kriſen werden, von denen die deutſchen Intereſſen nur

inſoweit nachweislich berührt werden, als das Deutſche Reich mit

Oeſtreich in ein ſolidariſches Haftverhältniß tritt. In Böhmen iſt

die Spaltung zwiſchen Deutſchen und Czechen ſtellenweis ſchon ſo

weit in die Armee eingedrungen, daß die Offiziere beider Nationa¬

litäten in einigen Regimentern nicht mit einander verkehren und ge¬

trennt eſſen. Für Deutſchland unmittelbar exiſtirt die Gefahr, in

ſchwere und gefährliche Kämpfe verwickelt zu werden, mehr auf

ſeiner Weſtſeite infolge der angriffsluſtigen, auf Eroberung gerich¬

teten Neigungen des franzöſiſchen Volks, die von den Monarchen

ſeit den Zeiten Kaiſer Karls V. im Intereſſe ihrer Herrſchſucht im

Innern ſowohl wie nach Außen groß gezogen worden ſind.

Der Beiſtand Oeſtreichs iſt für uns gegen Rußland leichter

zu haben als gegen Frankreich, nachdem die Frictionen dieſer beiden

Mächte in dem von ihnen umworbenen Italien in der alten Form

nicht mehr exiſtiren. Für ein monarchiſches und katholiſch geſinntes

Frankreich, wenn ein ſolches wieder erſtanden, wäre die Hoffnung

nicht erſtorben, ähnliche Beziehungen zu Oeſtreich wieder zu ge¬

winnen, wie ſie während des ſiebenjährigen Krieges und auf dem

Wiener Congreß vor der Rückkehr Napoleons von Elba beſtanden,

in der polniſchen Frage 1863 drohten, im Krimkriege und zur

Zeit des Grafen Beuſt von 1866 bis 1870 in Salzburg und Wien

Ausſicht auf Verwirklichung hatten. Bei etwaiger Wiederherſtellung

[255/0279]

Unſicherheit der Zukunft Oeſtreichs.

der Monarchie in Frankreich würde die durch die italieniſche

Rivalität nicht mehr abgeſchwächte gegenſeitige Anziehung der beiden

katholiſchen Großmächte unternehmende Politiker in Verſuchung

führen können, mit der Wiederbelebung derſelben zu experimentiren.

In der Beurtheilung Oeſtreichs iſt es auch heut noch ein Irr¬

thum, die Möglichkeit einer feindſeligen Politik auszuſchließen, wie

ſie von Thugut, Schwarzenberg, Buol, Bach und Beuſt getrieben

worden iſt. Kann ſich nicht die Politik für Pflicht gehaltner Un¬

dankbarkeit, deren Schwarzenberg ſich Rußland gegenüber rühmte, in

andrer Richtung wiederholen, die Politik, die uns von 1792 bis

1795, während wir mit Oeſtreich im Felde ſtanden, Verlegenheit be¬

reitete und im Stiche ließ, um uns gegenüber in den polniſchen

Händeln ſtark genug zu bleiben, die bis dicht an den Erfolg beſtrebt

war, uns einen ruſſiſchen Krieg auf den Hals zu ziehn, während

wir als nominelle Verbündete für das Deutſche Reich gegen Frank¬

reich fochten, die ſich auf dem Wiener Congreß bis nahe zum

Kriege zwiſchen Rußland und Preußen geltend machte? Die An¬

wandlungen, ähnliche Wege einzuſchlagen, werden für jetzt durch

die perſönliche Ehrlichkeit und Treue des Kaiſers Franz Joſeph

niedergehalten, und dieſer Monarch iſt nicht mehr ſo jung und

ohne Erfahrung, wie zu der Zeit, da er ſich von der perſönlichen

Rancüne des Grafen Buol gegen den Kaiſer Nicolaus zum poli¬

tiſchen Druck auf Rußland beſtimmen ließ, wenig Jahre nach

Vilagos; aber ſeine Garantie iſt eine rein perſönliche, fällt mit dem

Perſonenwechſel hinweg, und die Elemente, die die Träger einer

rivaliſirenden Politik zu verſchiedenen Epochen geweſen ſind, können

zu neuem Einfluſſe gelangen. Die Liebe der galiziſchen Polen, des

ultramontanen Clerus für das Deutſche Reich iſt vorübergehender

und opportuniſtiſcher Natur, ebenſo das Uebergewicht der Einſicht

in die Nützlichkeit der deutſchen Anlehnung über das Gefühl der

Geringſchätzung, mit dem der vollblütige Magyar auf den Schwaben

herabſieht. In Ungarn, in Polen ſind franzöſiſche Sympathien

auch heut lebendig, und im Clerus der habsburgiſchen Geſammt¬

[256/0280]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

monarchie würde eine katholiſch-monarchiſche Reſtauration in Frank¬

reich die Beziehungen wieder beleben können, die 1863 und

zwiſchen 1866 und 1870 in gemeinſamer Diplomatie und in mehr

oder weniger reifen Vertragsbildungen ihren Ausdruck fanden. Die

Bürgſchaft, die dieſen Möglichkeiten gegenüber in der Perſon

des heutigen Kaiſers von Oeſtreich und Königs von Ungarn liegt,

ſteht, wie geſagt, auf zwei Augen; eine vorausſehende Politik ſoll

aber alle Eventualitäten im Auge behalten, die im Reiche der

Möglichkeit liegen. Die Möglichkeit eines Wettbewerbes zwiſchen

Wien und Berlin um ruſſiſche Freundſchaft kann ebenſo gut wieder¬

kommen, wie ſie zur Zeit von Olmütz vorhanden war, und zur

Zeit des Reichſtadter Vertrages unter dem uns ſehr wohlgeſinnten

Grafen Andraſſy Lebenszeichen gab.

Dieſer Eventualität gegenüber iſt es ein Vortheil für uns,

daß Oeſtreich und Rußland entgegengeſetzte Intereſſen im Balkan

haben, und daß ſolche zwiſchen Rußland und Preußen-Deutſchland

nicht in der Stärke vorhanden ſind, daß ſie zu Bruch und Kampf

Anlaß geben könnten. Dieſer Vortheil kann aber vermöge der ruſſi¬

ſchen Staatsverfaſſung durch perſönliche Verſtimmungen und unge¬

ſchickte Politik noch heut mit derſelben Leichtigkeit aufgehoben werden,

mit der die Kaiſerin Eliſabeth durch Witze und bittre Worte Fried¬

richs des Großen bewogen wurde, dem franzöſiſch-öſtreichiſchen

Bunde gegen uns beizutreten. Zuträgereien, wie ſie damals zur Auf¬

hetzung Rußlands dienten, Erfindungen und Indiscretionen werden

auch heut an beiden Höfen nicht fehlen; aber wir können Unabhängigkeit

und Würde Rußland gegenüber wahren, ohne die ruſſiſche Empfind¬

lichkeit zu provociren und Rußlands Intereſſen zu ſchädigen. Ver¬

ſtimmung und Erbitterung, welche ohne Nothwendigkeit provocirt

werden, ſind heut ſo wenig ohne Rückwirkung auf die geſchichtlichen

Ereigniſſe, wie zur Zeit der Kaiſerin Eliſabeth von Rußland und

der Königin Anna von England. Aber die Rückwirkung von Ereig¬

niſſen, die dadurch gefördert werden, auf das Wohl und die Zu¬

kunft der Völker iſt heut zu Tage gewaltiger als vor 100 Jahren.

[257/0281]

Aufgaben einer vorſchauenden Politik Deutſchlands.

Eine Coalition wie im ſiebenjährigen Kriege gegen Preußen von

Rußland, Oeſtreich und Frankreich, vielleicht in Verbindung mit

andern dynaſtiſchen Unzufriedenheiten, iſt für unſre Exiſtenz ebenſo

gefährlich und für unſern Wohlſtand, wenn ſie ſiegt, noch er¬

drückender als die damalige. Es iſt unvernünftig und ruchlos, die

Brücke, die uns eine Annäherung an Rußland geſtattet, aus per¬

ſönlicher Verſtimmung abzubrechen.

Wir müſſen und können der öſtreichiſch-ungariſchen Mon¬

archie das Bündniß ehrlich halten; es entſpricht unſern Intereſſen,

den hiſtoriſchen Traditionen Deutſchlands und der öffentlichen Mei¬

nung unſres Volkes. Die Eindrücke und Kräfte, unter denen

die Zukunft der Wiener Politik ſich zu geſtalten haben wird, ſind

jedoch complicirter als bei uns, wegen der Mannigfaltigkeit der

Nationalitäten, der Divergenz ihrer Beſtrebungen, der clericalen

Einflüſſe und der in den Breiten des Balkan und des Schwarzen

Meeres für die Donauländer liegenden Verſuchungen. Wir dürfen

Oeſtreich nicht verlaſſen, aber auch die Möglichkeit, daß wir von

der Wiener Politik freiwillig oder unfreiwillig verlaſſen werden,

nicht aus den Augen verlieren. Die Möglichkeiten, die uns in

ſolchen Fällen offen bleiben, muß die Leitung der deutſchen Politik,

wenn ſie ihre Pflicht thun will, ſich klar machen und gegenwärtig

halten, bevor ſie eintreten, und ſie dürfen nicht von Vorliebe oder

Verſtimmung abhängen, ſondern nur von objectiver Erwägung der

nationalen Intereſſen.

VIII.

Ich habe mich ſtets bemüht, nicht nur die Sicherſtellung gegen

ruſſiſche Angriffe, ſondern auch die Beruhigung der ruſſiſchen Stim¬

mung und den Glauben an den inoffenſiven Charakter unſrer

Politik zu pflegen. Es iſt mir auch bis zu meinem Ausſcheiden

aus dem Amte vermöge des perſönlichen Vertrauens, das Kaiſer

Alexander III. mir ſchenkte, ſtets gelungen, dem Mißtrauen die

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 17

[258/0282]

Neunundzwanzigſtes Kapitel: Der Dreibund.

Spitze abzubrechen, das wiederholt durch fremde und einheimiſche

Entſtellungen und gelegentlich durch diesſeitige militäriſche Unter¬

ſtrömungen in ihm erregt wurde. Er hat mir, als ich ihn auf der

Danziger Rhede zum erſten Male als Kaiſer ſah, und bei allen

ſpätern Begegnungen auch trotz der über den Berliner Congreß

verbreiteten Lügen und trotz der Kenntniß des öſtreichiſchen Ver¬

trags ein Wohlwollen bewieſen, das in Skierniewice und in Berlin

zum authentiſchen Ausdruck kam und darauf beruhte, daß er mir

glaubte. Selbſt die durch ihre unverſchämte Dreiſtigkeit eindrucks¬

volle Intrige mit gefälſchten Briefen, die ihm in Kopenhagen zu¬

geſteckt worden waren, wurde durch meine einfache Verſicherung ſofort

unſchädlich gemacht. Ebenſo gelang es mir bei der Begegnung im

October 1889, die Zweifel, die er wieder aus Kopenhagen mit¬

gebracht hatte, zu zerſtreuen bis auf den einen, ob ich Miniſter

bleiben würde. Er war wohl beſſer unterrichtet als ich, als er die

Frage an mich richtete, ob ich meiner Stellung bei dem jungen

Kaiſer ganz ſicher ſei. Ich antwortete, was ich damals dachte, daß

ich von dem Vertrauen Kaiſer Wilhelms II. zu mir überzeugt ſei

und nicht glaubte, daß ich jemals gegen meinen Willen würde ent¬

laſſen werden, weil Seine Majeſtät bei meiner langjährigen Er¬

fahrung im Dienſte und bei dem Vertrauen, das ich mir in Deutſch¬

land ſowohl wie bei den auswärtigen Höfen erworben hätte, in

meiner Perſon einen ſchwer zu erſetzenden Diener beſäße. Der

Kaiſer gab ſeiner großen Genugthuung über meine Zuverſicht Aus¬

druck, wenn er ſie auch nicht unbedingt zu theilen ſchien.

Die internationale Politik iſt ein flüſſiges Element, das unter

Umſtänden zeitweilig feſt wird, aber bei Veränderungen der Atmo¬

ſphäre in ſeinen urſprünglichen Aggregatzuſtand zurückfällt. Die

clausula rebus sic stantibus wird bei Staatsverträgen, die

Leiſtungen bedingen, ſtillſchweigend angenommen. Der Dreibund

iſt eine ſtrategiſche Stellung, welche Angeſichts der zur Zeit ſeines

Abſchluſſes drohenden Gefahren rathſam und unter den obwaltenden

Verhältniſſen zu erreichen war. Er iſt von Zeit zu Zeit verlängert

[259/0283]

Vertrauen Alexanders III. Toujours en vedette!

worden, und es mag gelingen, ihn weiter zu verlängern; aber

ewige Dauer iſt keinem Vertrage zwiſchen Großmächten geſichert,

und es wäre unweiſe, ihn als ſichre Grundlage für alle Mög¬

lichkeiten betrachten zu wollen, durch die in Zukunft die Ver¬

hältniſſe, Bedürfniſſe und Stimmungen verändert werden können,

unter denen er zu Stande gebracht wurde. Er hat die Bedeutung

einer ſtrategiſchen Stellungnahme in der europäiſchen Politik nach

Maßgabe ihrer Lage zur Zeit des Abſchluſſes; aber ein für jeden

Wechſel haltbares ewiges Fundament bildet er für alle Zukunft

ebenſo wenig, wie viele frühere Tripel- und Quadrupel-Allianzen

der letzten Jahrhunderte und insbeſondre die heilige Allianz und

der Deutſche Bund. Er diſpenſirt nicht von dem toujours en vedette!

[[260]/0284]

Dreißigſtes Kapitel.

Zukünftige Politik Rußlands.

Die Gefahr auswärtiger Kriege, die Gefahr, daß der nächſte

auf der Weſtgrenze uns gegenüber die rothe Fahne ebenſo gut wie

vor hundert Jahren die dreifarbige in's Gefecht führen könne, lag

zur Zeit von Schnäbele und Boulanger vor und liegt noch heut

vor. Die Wahrſcheinlichkeit eines Krieges nach zwei Seiten hin

iſt durch den Tod von Katkow und Skobelew in etwas vermindert:

es iſt nicht nothwendig, daß ein franzöſiſcher Angriff auf uns Ru߬

land mit derſelben Gewißheit gegen uns in das Feld rufen würde,

wie ein ruſſiſcher Angriff Frankreich; aber die Neigung Rußlands,

ſtill zu ſitzen, hängt nicht allein von Stimmungen, ſondern mehr

noch von techniſchen Fragen der Bewaffnung zu Waſſer und zu

Lande ab. Wenn Rußland mit der Conſtruction ſeines Gewehrs,

der Art ſeines Pulvers und der Stärke ſeiner Schwarzen-Meer-

Flotte ſeiner Meinung nach „fertig“ iſt, ſo wird die Tonart, in

der heut die Variationen der ruſſiſchen Politik gehalten ſind, viel¬

leicht einer freiern Platz machen.

Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß Rußland, wenn es ſeine

Rüſtung vollendet hat, dieſelbe benutzen wird, um ohne Weitres

und in Rechnung auf franzöſiſchen Beiſtand uns anzugreifen. Der

deutſche Krieg bietet für Rußland ebenſo wenig unmittelbare Vor¬

theile, wie der ruſſiſche für Deutſchland, höchſtens im Betrage der

[261/0285]

Wahrſcheinlicher Grund der Zurückhaltung Rußlands.

Kriegscontribution würde der ruſſiſche Sieger günſtiger ſtehn als

der deutſche, aber doch kaum auf ſeine Koſten kommen. Der Ge¬

danke an den Erwerb Oſtpreußens, der im ſiebenjährigen Kriege

an das Licht trat, wird ſchwerlich noch Anhänger haben. Wenn

Rußland ſchon den deutſchen Beſtandtheil der Bevölkerung ſeiner

baltiſchen Provinzen nicht vertragen mag, ſo iſt nicht anzunehmen,

daß ſeine Politik auf die Verſtärkung dieſer für gefährlich ge¬

haltenen Minderheit durch einen ſo kräftigen Zuſatz wie den oſt¬

preußiſchen ausgehn wird. Ebenſo wenig erſcheint dem ruſſiſchen

Staatsmanne eine Vermehrung der polniſchen Unterthanen des

Zaren durch Poſen und Weſtpreußen begehrenswerth. Wenn man

Deutſchland und Rußland iſolirt betrachtet, ſo iſt es ſchwer, auf

einer von beiden Seiten einen zwingenden oder auch nur berech¬

tigten Kriegsgrund zu finden. Lediglich zur Befriedigung der Rauf¬

luſt oder zur Verhütung der Gefahren unbeſchäftigter Heere kann

man vielleicht in einen Balkankrieg gehn; ein deutſch-ruſſiſcher

aber wiegt zu ſchwer, um auf der einen oder andern Seite als

Mittel nur zur Beſchäftigung der Armee und ihrer Offiziere ver¬

wendet zu werden.

Ich glaube auch nicht, daß Rußland, wenn es fertig iſt, ohne

Weitres Oeſtreich angreifen würde, und bin noch heut der Mei¬

nung, daß die Truppenaufſtellung im ruſſiſchen Weſten auf keine

direct aggreſſive Tendenz gegen Deutſchland berechnet iſt, ſondern

nur auf die Vertheidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehn gegen

die Türkei die weſtlichen Mächte zur Repreſſion beſtimmen ſollte.

Wenn Rußland ſich für ausreichend gerüſtet halten wird, wozu

eine angemeſſene Stärke der Flotte im Schwarzen Meere gehört,

ſo wird, denke ich mir, das Petersburger Cabinet, ähnlich wie

es in dem Vertrage von Hunkiar-Iſkeleſſi 1833 verfahren, dem

Sultan anbieten, ihm ſeine Stellung in Konſtantinopel und den

ihm verbliebenen Provinzen zu garantiren, wenn er Rußland den

Schlüſſel zum ruſſiſchen Hauſe, d. h. zum Schwarzen Meere, in

der Geſtalt eines ruſſiſchen Verſchluſſes des Bosporus gewährt.

[262/0286]

Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.

Daß die Pforte auf ein ruſſiſches Protectorat in dieſer Form

eingehe, liegt nicht nur in der Möglichkeit, ſondern, wenn die

Sache geſchickt betrieben wird, auch in der Wahrſcheinlichkeit. Der

Sultan hat in frühern Jahrzehnten glauben können, daß die

Eiferſucht der europäiſchen Mächte ihm gegen Rußland Garantien

gewähre. Für England und Oeſtreich war es eine traditionelle

Politik, die Türkei zu erhalten; aber die Gladſtoneſchen Kund¬

gebungen haben dem Sultan dieſen Rückhalt entzogen, nicht nur

in London, ſondern auch in Wien, denn man kann nicht an¬

nehmen, daß das Wiener Cabinet die Traditionen der Metter¬

nichſchen Zeit (Ypſilanti, Feindſchaft gegen die Befreiung Griechen¬

lands) hätte in Reichſtadt fallen laſſen, wenn es der engliſchen

Unterſtützung ſicher geblieben wäre. Der Bann der Dankbarkeit

gegen den Kaiſer Nicolaus war bereits durch Buol während

des Krimkrieges gebrochen, und auf dem Pariſer Congreſſe war

die Haltung Oeſtreichs um ſo deutlicher in die alte Metternichſche

Richtung zurückgetreten, als ſie nicht durch die finanziellen Be¬

ziehungen jenes Staatsmannes zum ruſſiſchen Kaiſer gemildert,

vielmehr durch Kränkung der Eitelkeit des Grafen Buol verſchärft

war. Das Oeſtreich von 1856 würde ohne die zerſetzende Wir¬

kung ungeſchickter engliſcher Politik ſelbſt um den Preis Bosniens

ſich weder von England noch von der Pforte losgeſagt haben.

So wie die Sachen aber heut liegen, iſt es nicht wahrſcheinlich,

daß der Sultan von England oder Oeſtreich noch ſo viel Bei¬

ſtand und Schutz erwartet, wie ihm Rußland, ohne eigne Intereſſen

Preis zu geben, zuſagen und vermöge ſeiner Nachbarſchaft erfolg¬

reich gewähren kann.

Wenn Rußland, nachdem es hinreichend fertig iſt, um den

Sultan und den Bosporus nöthigenfalls militäriſch zu Waſſer und

zu Lande überzulaufen, dem Sultan perſönlich und vertraulich vor¬

ſchlägt, gegen Bewilligung einer ausreichenden Befeſtigung und

Truppenzahl am nördlichen Eingang des Bosporus ihm ſeine

Stellung im Serail und alle Provinzen nicht nur gegen das Aus¬

[263/0287]

Sein Streben nach dem Beſitze von Konſtantinopel.

land, ſondern auch gegen ſeine eignen Unterthanen zu garantiren,

ſo würde das ein Angebot ſein, in dem eine erhebliche Verſuchung

zur Annahme liegt. Setzen wir aber den Fall, daß der Sultan

aus eignem oder auf fremden Antrieb die ruſſiſche Inſinuation

zurückweiſt, ſo kann die neue Schwarze-Meer-Flotte die Beſtimmung

haben, auch vor entſchiedener Sache ſich der Stellung am Bosporus

zu bemächtigen, deren Rußland zu bedürfen glaubt, um in den

Beſitz ſeines Hausſchlüſſels zu gelangen.

Wie auch dieſe Phaſe der von mir vorausgeſetzten ruſſiſchen

Politik verlaufen mag, ſo wird aus derſelben immer die Situation

entſtehn, daß Rußland wie im Juli 1853 ein Pfand nimmt

und abwartet, ob man und wer es ihm wieder abnehmen werde.

Der erſte Schritt der ruſſiſchen Diplomatie nach dieſen ſeit lange

vorbereiteten Operationen würde vielleicht eine vorſichtige Sondirung

in Berlin ſein, bezüglich der Frage, ob Oeſtreich oder England,

wenn ſie ſich dem ruſſiſchen Vorgehn kriegeriſch widerſetzten, auf

die Unterſtützung Deutſchlands rechnen könnten. Dieſe Frage würde

meiner Ueberzeugung nach unbedingt zu verneinen ſein. Ich glaube,

daß es für Deutſchland nützlich ſein würde, wenn die Ruſſen auf

dem einen oder andern Wege, phyſiſch oder diplomatiſch, ſich in

Konſtantinopel feſtgeſetzt und daſſelbe zu vertheidigen hätten. Wir

würden dann nicht mehr in der Lage ſein, von England und

gelegentlich auch von Oeſtreich als Hetzhund gegen ruſſiſche Bos¬

porus-Gelüſte ausgebeutet zu werden, ſondern abwarten können, ob

Oeſtreich angegriffen wird und damit unſer casus belli eintritt.

Auch für die öſtreichiſche Politik wäre es richtiger, ſich den

Wirkungen des ungariſchen Chauvinismus ſo lange zu entziehn,

bis Rußland eine Poſition am Bosporus eingenommen und dadurch

ſeine Frictionen mit den Mittelmeerſtaaten, alſo mit England und

ſelbſt mit Italien und Frankreich, erheblich verſchärft und ſein Be¬

dürfniß, ſich mit Oeſtreich à l'amiable zu verſtändigen, geſteigert

hätte. Wenn ich öſtreichiſcher Miniſter wäre, ſo würde ich die

Ruſſen nicht hindern, nach Konſtantinopel zu gehn, aber eine Ver¬

[264/0288]

Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.

ſtändigung mit ihnen erſt beginnen, nachdem ſie den Vorſtoß gemacht

hätten. Die Betheiligung Oeſtreichs an der türkiſchen Erbſchaft

wird doch nur im Einverſtändniſſe mit Rußland geregelt werden,

und der öſtreichiſche Antheil um ſo größer ausfallen, je mehr

man in Wien zu warten und die ruſſiſche Politik zu ermuthigen

weiß, eine weiter vorgeſchobene Stellung einzunehmen. England

gegenüber mag die Poſition des heutigen Rußland als verbeſſert

gelten, wenn es Konſtantinopel beherrſcht, Oeſtreich und Deutſch¬

land gegenüber iſt ſie weniger gefährlich, ſo lange es in Konſtan¬

tinopel ſteht. Es würde dann die preußiſche Ungeſchicklichkeit nicht

mehr möglich ſein, uns wie 1855 für Oeſtreich, England, Frank¬

reich auszuſpielen und einzuſetzen, um uns in Paris eine demüthi¬

gende Zulaſſung zum Congreß und eine mention honorable als

europäiſche Macht zu verdienen.

Wenn man die Sondirung, ob Rußland, wenn es wegen ſeines

Vorgreifens nach dem Bosporus von andern Mächten angegriffen

wird, auf unſre Neutralität rechnen könne, ſo lange Oeſtreich

nicht gefährdet werde, in Berlin verneinend oder gar bedrohlich

beantwortet, ſo wird Rußland zunächſt denſelben Weg wie 1876

in Reichſtadt einſchlagen und wieder verſuchen, Oeſtreichs Ge¬

noſſenſchaft zu gewinnen. Das Feld, auf dem Rußland An¬

erbietungen machen könnte, iſt ein ſehr weites, nicht nur im Orient

auf Koſten der Pforte, ſondern auch in Deutſchland auf unſre

Koſten. Die Zuverläſſigkeit unſres Bündniſſes mit Oeſtreich-

Ungarn gegenüber ſolchen Verſuchungen wird nicht allein von dem

Buchſtaben der Verabredung, ſondern auch einigermaßen von dem

Charakter der Perſönlichkeiten und von den politiſchen und con¬

feſſionellen Strömungen abhängen, die dann in Oeſtreich leitend

ſein werden. Gelingt es der ruſſiſchen Politik, Oeſtreich zu ge¬

winnen, ſo iſt die Coalition des ſiebenjährigen Krieges gegen uns

fertig, denn Frankreich wird immer gegen uns zu haben ſein, weil

ſeine Intereſſen am Rheine gewichtiger ſind als die im Orient und

am Bosporus.

[265/0289]

Welche Politik haben Oeſtreich und Deutſchland zu befolgen?

Jedenfalls wird auch in der Zukunft nicht bloß kriegeriſche

Rüſtung, ſondern auch ein richtiger politiſcher Blick dazu gehören,

das deutſche Staatsſchiff durch die Strömungen der Coalitionen zu

ſteuern, denen wir nach unſrer geographiſchen Lage und unſrer

Vorgeſchichte ausgeſetzt ſind. Durch Liebenswürdigkeiten und wirth¬

ſchaftliche Trinkgelder für befreundete Mächte werden wir den Ge¬

fahren, die im Schoße der Zukunft liegen, nicht vorbeugen, ſondern

die Begehrlichkeit unſrer einſtweiligen Freunde und ihre Rechnung

auf unſer Gefühl ſorgenvoller Bedürftigkeit ſteigern. Meine Be¬

fürchtung iſt, daß auf dem eingeſchlagenen Wege unſre Zukunft

kleinen und vorübergehenden Stimmungen der Gegenwart geopfert

wird. Frühere Herrſcher ſahen mehr auf Befähigung als auf

Gehorſam ihrer Rathgeber; wenn der Gehorſam allein das Kriterium

iſt, ſo wird ein Anſpruch an die univerſelle Begabung des Monarchen

geſtellt, dem ſelbſt Friedrich der Große nicht genügen würde, obſchon

die Politik in Krieg und Frieden zu ſeiner Zeit weniger ſchwierig

war wie heut.

Unſer Anſehn und unſre Sicherheit werden ſich um ſo nach¬

haltiger entwickeln, je mehr wir uns bei Streitigkeiten, die uns

nicht unmittelbar berühren, in der Reſerve halten und unempfindlich

werden gegen jeden Verſuch, unſre Eitelkeit zu reizen und aus¬

zubeuten, Verſuche, wie ſie während des Krimkrieges von der eng¬

liſchen Preſſe und dem engliſchen Hofe und den auf England ge¬

ſtützten Strebern an unſerm eignen Hofe gemacht wurden, indem

man uns mit der Entziehung der Titulatur einer Großmacht ſo

erfolgreich bedrohte, daß Herr von Manteuffel uns in Paris großen

Demüthigungen ausſetzte, um zur Mitunterſchrift eines Vertrages

zugelaſſen zu werden, an den nicht gebunden zu ſein uns nützlich

geweſen ſein würde 1). Deutſchland würde auch heut eine große

Thorheit begehn, wenn es in orientaliſchen Streitfragen ohne eignes

Intereſſe früher Partei nehmen wollte, als die andern, mehr inter¬

1) S. Bd. I 276 f.

[266/0290]

Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.

eſſirten Mächte. Wie das ſchwächere Preußen ſchon während des

Krimkrieges Momente hatte, in denen es bei entſchloſſener Rüſtung

im Sinne öſtreichiſcher Forderungen und über dieſelben hinaus

den Frieden gebieten und ſein Verſtändniß mit Oeſtreich über

deutſche Fragen fördern konnte, ſo wird auch Deutſchland in zu¬

künftigen orientaliſchen Händeln, wenn es ſich zurückzuhalten weiß,

den Vortheil, daß es die in orientaliſchen Fragen am wenigſten inter¬

eſſirte Macht iſt, um ſo ſichrer verwerthen können, je länger es ſeinen

Einſatz zurückhält, auch wenn dieſer Vortheil nur in längerem Genuſſe

des Friedens beſtände. Oeſtreich, England, Italien werden einem

ruſſiſchen Vorſtoße auf Konſtantinopel gegenüber immer früher

Stellung zu nehmen haben als die Franzoſen, weil die orientaliſchen

Intereſſen Frankreichs weniger zwingend und mehr im Zuſammen¬

hange mit der deutſchen Grenzfrage zu denken ſind. Frankreich

würde in ruſſiſch-orientaliſchen Kriſen weder auf eine neue „weſt¬

mächtliche“ Politik, noch um ſeiner Freundſchaft mit Rußland willen

auf eine Bedrohung Englands ſich einlaſſen können, ohne vorgängige

Verſtändigung oder vorgängigen Bruch mit Deutſchland.

Dem Vortheile, den der deutſchen Politik ihre Freiheit von

directen orientaliſchen Intereſſen gewährt, ſteht der Nachtheil der

centralen und exponirten Lage des Deutſchen Reiches mit ſeinen

ausgedehnten Vertheidigungsfronten nach allen Seiten hin und die

Leichtigkeit antideutſcher Coalitionen gegenüber. Dabei iſt Deutſch¬

land vielleicht die einzige große Macht in Europa, die durch

keine Ziele, die nur durch ſiegreiche Kriege zu erreichen wären, in

Verſuchung geführt wird. Unſer Intereſſe iſt, den Frieden zu er¬

halten, während unſre continentalen Nachbarn ohne Ausnahme

Wünſche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg

zu erfüllen ſind. Dementſprechend müſſen wir unſre Politik ein¬

richten, das heißt den Krieg nach Möglichkeit hindern oder ein¬

ſchränken, uns in dem europäiſchen Kartenſpiele die Hinterhand

wahren und uns durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Koſten

des Landes, keine Eitelkeit oder befreundete Provocation vor der

[267/0291]

Deutſchlands Aufgabe: den Frieden zu erhalten.

Zeit aus dem abwartenden Stadium in das handelnde drängen

laſſen; wenn nicht, plectuntur Achivi.

Unſre Zurückhaltung kann vernünftiger Weiſe nicht den Zweck

haben, über irgend einen unſrer Nachbarn oder möglichen Gegner

mit geſchonten Kräften herzufallen, nachdem die andern ſich ge¬

ſchwächt hätten. Im Gegentheil ſollten wir uns bemühn, die

Verſtimmungen, die unſer Heranwachſen zu einer wirklichen Gro߬

macht hervorgerufen hat, durch den ehrlichen und friedliebenden

Gebrauch unſrer Schwerkraft abzuſchwächen, um die Welt zu über¬

zeugen, daß eine deutſche Hegemonie in Europa nützlicher und

unparteiiſcher, auch unſchädlicher für die Freiheit andrer wirkt als

eine franzöſiſche, ruſſiſche oder engliſche. Die Achtung vor den

Rechten andrer Staaten, an der namentlich Frankreich in den

Zeiten ſeines Uebergewichts es hat fehlen laſſen, und die in Eng¬

land doch nur ſo weit reicht, als die engliſchen Intereſſen nicht

berührt werden, wird dem Deutſchen Reiche und ſeiner Politik

erleichtert, einerſeits durch die Objectivität des deutſchen Charakters,

andrerſeits durch die verdienſtloſe Thatſache, daß wir eine Ver¬

größerung unſres unmittelbaren Gebietes nicht brauchen, auch nicht

herſtellen könnten, ohne die centrifugalen Elemente im eignen Ge¬

biete zu ſtärken. Mein ideales Ziel, nachdem wir unſre Einheit

innerhalb der erreichbaren Grenzen zu Stande gebracht hatten, iſt

ſtets geweſen, das Vertrauen nicht nur der mindermächtigen euro¬

päiſchen Staaten, ſondern auch der großen Mächte zu erwerben,

daß die deutſche Politik, nachdem ſie die injuria temporum, die

Zerſplitterung der Nation, gut gemacht hat, friedliebend und gerecht

ſein will. Um dieſes Vertrauen zu erzeugen, iſt vor allen Dingen

Ehrlichkeit, Offenheit und Verſöhnlichkeit im Falle von Reibungen

oder von untoward events nöthig. Ich habe dieſes Recept nicht

ohne Widerſtreben meiner perſönlichen Empfindlichkeiten befolgt in

Fällen wie Schnäbele (April 1887), Boulanger, Kaufmann (Sep¬

tember 1887), Spanien gegenüber in der Carolinen-Frage, den

Vereinigten Staaten gegenüber in Samoa, und vermuthe, daß die

[268/0292]

Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.

Gelegenheiten, zur Anſchauung zu bringen, daß wir befriedigt und

friedliebend ſind, auch in Zukunft nicht ausbleiben werden. Ich

habe während meiner Amtsführung zu drei Kriegen gerathen, dem

däniſchen, dem böhmiſchen und dem franzöſiſchen, aber mir auch

jedesmal vorher klar gemacht, ob der Krieg, wenn er ſiegreich wäre,

einen Kampfpreis bringen würde, werth der Opfer, die jeder Krieg

fordert und die heut ſo viel ſchwerer ſind, als in dem vorigen

Jahrhundert. Wenn ich mir hätte ſagen müſſen, daß wir nach

einem dieſer Kriege in Verlegenheit ſein würden, uns wünſchens¬

werthe Friedensbedingungen auszudenken, ſo würde ich mich, ſo lange

wir nicht materiell angegriffen waren, ſchwerlich von der Noth¬

wendigkeit ſolcher Opfer überzeugt haben. Internationale Streitig¬

keiten, die nur durch den Volkskrieg erledigt werden können, habe

ich niemals aus dem Geſichtspunkte des Göttinger Comments und

der Privatmenſuren-Ehre aufgefaßt, ſondern ſtets nur in Abwägung

ihrer Rückwirkung auf den Anſpruch des deutſchen Volkes, in Gleich¬

berechtigung mit den andern großen Mächten Europas ein autonomes

politiſches Leben zu führen, wie es auf der Baſis der uns eigen¬

thümlichen nationalen Leiſtungsfähigkeit möglich iſt.

Die traditionelle ruſſiſche Politik, die ſich theils auf Glaubens-,

theils auf Blutsverwandſchaft gründet, der Gedanke, die Rumänen,

die Bulgaren, die griechiſchen, gelegentlich auch die römiſch-katholi¬

ſchen Serben, die unter verſchiedenen Namen zu beiden Seiten der

öſtreichiſch-ungariſchen Grenze vorkommen, zu „befreien“ von dem

türkiſchen Joche und dadurch an Rußland zu feſſeln, hat ſich nicht

bewährt. Es iſt nicht unmöglich, daß in ferner Zukunft alle dieſe

Stämme dem ruſſiſchen Syſteme gewaltſam angefügt werden, aber

daß die Befreiung allein ſie nicht in Anhänger der ruſſiſchen Macht

verwandelt, hat zuerſt der griechiſche Stamm bewieſen. Er wurde

ſeit Tſchesme (1770) als Stützpunkt Rußlands betrachtet, und noch

in dem ruſſiſch-türkiſchen Kriege von 1806 bis 1812 ſchienen die

Ziele der kaiſerlich ruſſiſchen Politik unverändert zu ſein. Ob die

Unternehmungen der Hetärie zur Zeit des auch ſchon im Weſten

[269/0293]

Rußlands „Befreiungs“-Politik.

populär gemachten Ypſilanti'ſchen Aufſtandes, des durch die Fa¬

narioten vermittelten Ausläufers gräciſirender Orientpolitik, noch die

einheitliche Zuſtimmung der verſchiedenen ruſſiſchen Strömungen

hatten, die von Araktſchejew bis zu den Decabriſten durch einander

liefen, iſt gleichgültig, jedenfalls aber waren die Erſtlinge der ruſſi¬

ſchen Befreiungspolitik, die Griechen, eine, freilich noch nicht durch¬

ſchlagende, Enttäuſchung für Rußland. Die griechiſche Befreiungs¬

politik hört mit und ſeit Navarin auch in den Augen der Ruſſen

auf, eine ruſſiſche Specialität zu ſein. Es hat lange gedauert, ehe

das ruſſiſche Cabinet aus dieſem kritiſchen Ergebniß die Conſequenzen

zog. Die rudis indigestaque moles Rußland wiegt zu ſchwer, um

für jede Wahrnehmung des politiſchen Inſtincts leicht lenkſam zu

ſein. Man fuhr fort zu befreien und machte mit den Rumänen,

Serben, Bulgaren dieſelbe Erfahrung wie mit den Griechen. Alle

dieſe Stämme haben Rußlands Hülfe zur Befreiung von den

Türken bereitwillig angenommen, aber, nachdem ſie frei geworden,

keine Neigung gezeigt, den Zaren zum Nachfolger des Sultans

anzunehmen. Ich weiß nicht, ob man in Petersburg die Ueber¬

zeugung theilt, daß auch der „einzige Freund“ des Zaren, der

Fürſt von Montenegro, was bei ſeiner entfernten und iſolirten

Situation auch einigermaßen entſchuldbar iſt, nur ſo lange die

ruſſiſche Flagge hiſſen wird, als er Aequivalente an Geld oder

Macht dafür erwartet; aber es kann in Petersburg nicht unbekannt

ſein, daß der Vladika bereit war, und vielleicht noch bereit iſt, als

großherrlich türkiſcher Connetable an die Spitze der Balkanvölker

zu treten, wenn dieſer Gedanke bei der Pforte eine hinreichend

günſtige Aufnahme und Unterſtützung fände, um für Montenegro

nützlich werden zu können.

Wenn man in Petersburg aus den bisherigen Mißgriffen die

Folgerungen ziehn und praktiſch machen will, ſo wäre es natür¬

lich, ſich auf die weniger phantaſtiſchen Fortſchritte zu beſchränken,

die durch das Gewicht der Regimenter und Kanonen zu erreichen

ſind. Der geſchichtlich poetiſchen Seite, die der Kaiſerin Katharina

[270/0294]

Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.

vorſchwebte, als ſie ihrem zweiten Enkel den Namen Conſtantin

gab, fehlt das placet der Praxis. Befreite Völker ſind nicht dank¬

bar, ſondern anſpruchsvoll, und ich denke mir, daß die ruſſiſche

Politik in der heutigen realiſtiſchen Zeit mehr techniſch als ſchwung¬

haft vorgehn wird in Behandlung der orientaliſchen Fragen.

Ihr erſtes praktiſches Bedürfniß für Kraftentwicklung im Oriente

iſt die Sicherſtellung des Schwarzen Meeres. Gelingt es, einen

feſten Verſchluß des Bosporus durch Geſchütz- und Torpedoanlagen

zu erreichen, ſo iſt die Südküſte Rußlands noch beſſer geſchützt als

die baltiſche, der die überlegnen engliſch-franzöſiſchen Flotten im

Krimkriege nicht viel anzuhaben vermochten.

So mag die Berechnung des Petersburger Cabinets ſich geſtalten,

wenn ſie als Zielpunkt zunächſt den Verſchluß des Schwarzen

Meeres und die Gewinnung des Sultans für dieſen Zweck durch

Liebe, durch Geld, durch Gewalt in Ausſicht nimmt. Wenn die

Pforte ſich der freundſchaftlichen Annäherung Rußlands erwehrt

und gegen die angedrohte Gewalt das Schwert zieht, ſo wird

Rußland wahrſcheinlich von andrer Seite angegriffen werden, und

auf dieſen Fall ſind m. E. die Truppenanhäufungen an der Weſt¬

grenze berechnet. Gelingt es, den Verſchluß des Bosporus in

Güte zu erreichen, ſo werden vielleicht die Mächte, die ſich da¬

durch beeinträchtigt finden, einſtweilen ſtille ſitzen, weil eine jede

auf die Initiative der andern und auf die Entſchließung Frank¬

reichs warten würde. Unſre Intereſſen ſind mehr als die der

andern Mächte mit dem Gravitiren der ruſſiſchen Macht nach

Süden verträglich; man kann ſogar ſagen, daß ſie dadurch gefördert

werden. Wir können die Löſung eines neuen von Rußland ge¬

ſchürzten Knotens länger als die andern abwarten.

[[271]/0295]

Einunddreißigſtes Kapitel.

Der Staatsrath.

Der durch das Geſetz vom 20. März 1817 geſtiftete Staats¬

rath war beſtimmt, den abſoluten König zu berathen. An deſſen

Stelle iſt heut zu Tage der verfaſſungsmäßig von ſeinen Miniſtern

berathene König getreten und dadurch das Staatsminiſterium in

den durch die Vorberathung des Staatsraths aufzuklärenden regi¬

renden Factor, den früher der König allein darſtellte, mit aufge¬

nommen. Die Berathung des Staatsraths iſt heut zu Tage informa¬

toriſch nicht nur für den König, ſondern auch für die verantwortlichen

Miniſter; ſeine Reactivirung im Jahre 1852 hatte den Zweck, nicht

mir die königlichen Entſchließungen, ſondern auch die Vota der

Staatsminiſter vorzubereiten.

Die Vorbereitung der Geſetzentwürfe durch das Staatsminiſte¬

rium iſt unvollkommen. Ein vortragender Rath iſt im Stande, das

Schickſal eines Geſetzes feſtzulegen bis zu der Veröffentlichung, in¬

dem er alle Einwirkungen auf den Inhalt, die von dem Staats¬

miniſterium oder in den verſchiedenen Stadien der parlamenta¬

riſchen Berathung verſucht werden, an der Außenſeite des Ent¬

wurfs abgleiten läßt, wenn der Gegenſtand ſchwierig und die Zahl

der Paragraphen groß iſt. Schon im Staatsminiſterium beherrſcht

der Reſſortminiſter nicht immer den Stoff, den ihm ſeine be¬

treffenden Räthe in Geſtalt eines Geſetzentwurfes mit Motiven

[272/0296]

Einunddreißigſtes Kapitel: Der Staatsrath.

vorgelegt haben. Noch viel weniger verwenden die übrigen Miniſter

Zeit und Mühe darauf, ſich mit Inhalt und Tragweite eines

neuen Geſetzes in allen Einzelheiten vertraut zu machen, wenn

es nicht Wirkungen hat, die in ihr eignes Reſſort eingreifen.

Iſt das aber der Fall, ſo regt ſich das Unabhängigkeitsgefühl

und der Particularismus, wovon jeder der acht föderirten miniſte¬

riellen Staaten und jeder Rath in ſeiner Sphäre beſeelt iſt. Die

Wirkung eines beabſichtigten Geſetzes auf das praktiſche Leben im

Voraus zu beurtheilen, wird aber auch der Reſſortminiſter nicht

im Stande ſein, wenn er ſelbſt ein einſeitiges Product der Büro¬

kratie iſt, noch viel weniger aber ſeine Collegen. Diejenigen unter

ihnen, die das Bewußtſein haben, nicht nur Reſſortminiſter,

ſondern Staatsminiſter mit ſolidariſcher Verantwortlichkeit für die

Geſammtpolitik zu ſein, machen nicht fünf Procent derer aus,

welche ich zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Die übrigen

beſchränken ſich auf das Beſtreben, ihr Reſſort einwandfrei zu ver¬

walten, die Geldmittel dazu von dem Finanzminiſter und dem

Landtage bewilligt zu erhalten und parlamentariſche Angriffe auf ihr

Reſſort mit Beredſamkeit und nach Bedürfniß unter Preisgebung

ihrer Untergebenen erfolgreich abzuwehren. Die Quittungen, die

in der königlichen Unterſchrift und der parlamentariſchen Be¬

willigung liegen, ſind ausreichend, um daneben die Frage, ob die

Sache an ſich vernünftig ſei, vor einem bürokratiſch-miniſteriellen

Gewiſſen nicht zur Entſcheidung kommen zu laſſen. Einreden eines

Collegen, deſſen Reſſort nicht direct betheiligt iſt, erregen die Em¬

pfindlichkeit des Reſſortminiſters, und dieſe wird in der Regel ge¬

ſchont, im Hinblick auf gleiche Schonung, die man für eigne An¬

träge vorkommenden Falls erwartet. Ich habe die Erinnerung, daß

die Erörterungen des alten Staatsraths vor 1848, aus dem ich

einige hervorragende Mitglieder gekannt habe, mit ſchärferer An¬

ſtrengung des eignen Urtheils und größerer Regſamkeit des Ge¬

wiſſens geführt worden ſind, als die Miniſterberathungen, die ich

mehr als vierzig Jahre lang zu beobachten in der Lage geweſen bin.

[273/0297]

Reſſortparticularismus. Landtagsberathung kein Schutz gegen Unſinn.

Ich halte auch die Vorauſſetzung für trügeriſch, daß ein un¬

geſchickter Geſetzentwurf des Miniſteriums im Landtage ſachlich

genügend richtig geſtellt werden wird. Er kann und wird hoffent¬

lich in der Regel abgelehnt werden; iſt aber die Frage, die er

betrifft, dringend, ſo liegt die Gefahr vor, daß auch miniſterieller

Unſinn glatt durch die parlamentariſchen Stadien geht, namentlich

wenn es dem Verfaſſer gelingt, den einen oder andern einflu߬

reichen oder beredten Freund für ſein Erzeugniß zu gewinnen.

Abgeordnete, die einen Geſetzentwurf von mehr als hundert

Paragraphen zu leſen ſich die Mühe geben oder mit Verſtänd¬

niß zu leſen vermöchten, ſind bei der Ueberzahl ſtudirter Leute

aus der Juſtiz und der Verwaltung wohl vorhanden, aber die

Luſt und das Pflichtgefühl zur Arbeit haben nur wenige, und dieſe

ſind vertheilt unter einander bekämpfende Fractionen und Partei¬

beſtrebungen, deren Tendenzen es ihnen erſchweren, ſachlich zu

urtheilen. Die meiſten Abgeordneten leſen und prüfen nicht, ſondern

fragen die für eigne Zwecke arbeitenden und redenden Fractions¬

führer, wann ſie in die Sitzung kommen und wie ſie ſtimmen

ſollen. Das Alles iſt aus der menſchlichen Natur erklärlich, und

niemand iſt darüber zu tadeln, daß er nicht aus ſeiner Haut

hinaus kann; nur darf man ſich darüber nicht täuſchen, daß es ein

bedenklicher Irrthum iſt, anzunehmen, daß unſern Geſetzen heut

zu Tage die Prüfung und vorbereitende Arbeit zu Theil werde, deren

ſie bedürfen, oder auch nur die, welche ſie vor 1848 genoſſen.

Ein Denkmal ſeiner Flüchtigkeit hat ſich der Reichstag von

1867 in der Verfaſſung des Norddeutſchen Bundes geſetzt, das in

die Verfaſſung des Deutſchen Reiches übergegangen iſt. Der einem

Beſchluſſe des Frankfurter Bundestages nachgebildete Artikel 68 des

Entwurfs zählte fünf Verbrechen auf, die, wenn ſie gegen den Bund

begangen werden, ſo beſtraft werden ſollen, als wenn ſie gegen einen

einzelnen Bundesſtaat begangen wären. Die fünfte Nummer war

mit „endlich“ eingeführt. Der wegen ſeiner Gründlichkeit gerühmte

Tweſten ſtellte den Verbeſſerungsantrag, die drei erſten Nummern

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. II. 18

[274/0298]

Einunddreißigſtes Kapitel: Der Staatsrath.

zu ſtreichen, hatte aber offenbar den zu verbeſſernden Artikel nicht

zu Ende geleſen und das „endlich“ ſtehn laſſen. Sein Antrag

wurde angenommen und in allen Stadien der Berathung beibehalten,

und ſo hat denn der Artikel (jetzt 74) die ſonderbare Faſſung:

Jedes Unternehmen gegen die Exiſtenz, die Integrität, die

Sicherheit oder die Verfaſſung des Deutſchen Reichs, endlich

die Beleidigung des Bundesraths, des Reichstags u. ſ. w.

Vor 1848 war man befliſſen, das Richtige und Vernünftige

zu finden, heut genügt die Majorität und die königliche Unter¬

ſchrift. Ich kann nur bedauern, daß die Mitwirkung weitrer Kreiſe

zur Vorbereitung der Geſetze, wie ſie im Staatsrath und im Volks¬

wirthſchaftsrath gegeben war, gegenüber miniſterieller oder monarchi¬

ſcher Ungeduld nicht hinreichend hat zur Geltung gebracht werden

können. Ich habe, wenn ich Muße fand, mich mit dieſen Problemen

zu beſchäftigen, zu meinen Collegen gelegentlich den Wunſch ge¬

äußert, daß ſie ihre legislatoriſche Thätigkeit damit beginnen möchten,

die Entwürfe zu veröffentlichen, der publiciſtiſchen Kritik preis zu

geben, möglichſt viele ſachkundige und an der Frage intereſſirte

Kreiſe, alſo Staatsrath, Volkswirthſchaftsrath, nach Umſtänden die

Provinziallandtage zu hören, und alsdann erſt die Berathung im

Staatsminiſterium möchten eintreten laſſen. Das Zurückdrängen des

Staatsraths und ähnlicher Berathungskörper ſchreibe ich hauptſächlich

der Eiferſucht zu, mit der dieſe unzünftigen Rathgeber in öffent¬

lichen Angelegenheiten von den zünftigen Räthen und von den

Parlamenten betrachtet werden, zugleich aber auch dem Unbehagen,

mit dem die miniſterielle Machtvollkommenheit innerhalb des eignen

Reſſorts auf das Mitreden Andrer blickt.

Die erſten Staatsrathsſitzungen, denen ich nach ſeiner Wieder¬

einberufung 1884 unter dem Vorſitz des Kronprinzen Friedrich Wil¬

helm beiwohnte, machten nicht nur mir, ſondern, wie ich glaube,

allen Theilnehmern einen geſchäftlich günſtigen Eindruck. Der Prinz

hörte die Vorträge an, ohne ein Bedürfniß, die Vortragenden zu

[275/0299]

Ein Denkmal der Flüchtigkeit. Der Staatsrath von 1884.

beeinfluſſen, zu erkennen zu geben. Bemerkenswerth war, daß die

Vorträge zweier ehemaligen Gardes du Corps-Offiziere, von Zedlitz-

Trützſchler, ſpäterem Oberpräſidenten in Poſen und Cultusminiſter,

und von Minnigerode, einen ſolchen Eindruck machten, daß der

Kronprinz im Sinne der Verſammlung verfuhr, indem er die beiden

Herrn ſpäter zu Referenten beſtellte, obſchon die theoretiſch ſach¬

kundigſten Vorträge ohne Zweifel von den anweſenden fachgelehrten

Profeſſoren gehalten waren. Die Einwirkung, die dadurch frühern

Gardeoffizieren auf die Geſtaltung von Geſetzvorlagen zufiel, be¬

feſtigte mich in der Ueberzeugung, daß die rein und nur mini¬

ſterielle Prüfung von Entwürfen nicht der richtige Weg iſt, um die

Gefahr zu vermeiden, daß unpraktiſche, ſchädliche und gefährliche

Vorlagen in ſprachlich unvollkommner Faſſung ihren Weg aus den

Niederſchriften der legislativen Liebhabereien eines einzelnen vor¬

tragenden Rathes, unbeirrt oder doch ohne ausreichende Richtig¬

ſtellung durch alle Stadien des Staatsminiſteriums, der Parlamente

und des Cabinets bis in die Geſetzſammlung finden und dann bis

zu etwaiger Abhülfe einen Theil der Laſt bilden, die ſich wie eine

Krankheit ſchleichend fortſchleppt.

[[276]/0300]

Zweiunddreißigſtes Kapitel.

Kaiſer Wilhelm I.

I.

Um die Mitte der ſiebziger Jahre begann die geiſtige Em¬

pfänglichkeit des Kaiſers im Auffaſſen andrer und Entwickeln eigner

Vorträge ſchwerfälliger zu functioniren; er verlor zuweilen den

Faden im Zuhören und Sprechen. Merkwürdigerweiſe trat darin

nach dem Nobilingſchen Attentate eine günſtige Veränderung ein.

Momente wie die beſchriebenen kamen nicht mehr vor, der Kaiſer

war freier, lebendiger, auch weicher. Der Ausdruck meiner Freude

über ſein Wohlbefinden veranlaßte ihn zu dem Scherze: „Nobiling

hat beſſer als die Aerzte gewußt, was mir fehlte: ein tüchtiger Ader¬

laß.“ Die letzte Krankheit war kurz, ſie begann am 4. März 1888.

Am 8. Mittags hatte ich die letzte Unterredung mit dem Kaiſer, in

der er noch bei Bewußtſein war, und erlangte von ihm die Ermächti¬

gung zur Veröffentlichung der ſchon am 17. November 1887 voll¬

zogenen Ordre, die den Prinzen Wilhelm mit der Stellvertretung

beauftragte in Fällen, wo Se. Majeſtät einer ſolchen zu bedürfen

glauben würde. Der Kaiſer ſagte, er erwarte von mir, daß ich in

meiner Stellung verbleiben und ſeinen Nachfolgern zur Seite ſtehn

würde, wobei ihm zunächſt die Beſorgniß vorzuſchweben ſchien, daß ich

mich mit dem Kaiſer Friedrich nicht würde ſtellen können. Ich ſprach

mich beruhigend darüber aus, ſo weit es überhaupt angebracht ſchien,

einem Sterbenden gegenüber von dem zu ſprechen, was ſeine Nach¬

[277/0301]

Letzte Krankheit und Tod Wilhelms I.

folger und ich ſelbſt nach ſeinem Tode thun würden. Dann, an

die Krankheit ſeines Sohnes denkend, verlangte er von mir das

Verſprechen, meine Erfahrung ſeinem Enkel zu Gute kommen zu

laſſen und ihm zur Seite zu bleiben, wenn er, wie es ſchiene, bald

zur Regirung gelangen ſollte. Ich gab meiner Bereitwilligkeit

Ausdruck, ſeinen Nachfolgern mit demſelben Eifer zu dienen wie

ihm ſelbſt. Seine einzige Antwort darauf war ein etwas fühl¬

barerer Druck ſeiner Hand; dann aber traten Fieberphantaſien ein,

in denen die Beſchäftigung mit dem Enkel ſo im Vordergrunde

ſtand, daß er glaubte, der Prinz, der im September 1886 dem

Zaren in Breſt-Litowsk einen Beſuch gemacht hatte, ſäße an meiner

Stelle neben dem Bette, und mich plötzlich mit Du anredend ſagte:

„Mit dem ruſſiſchen Kaiſer mußt du immer Fühlung halten, da

iſt kein Streit nothwendig.“ Nach einer langen Pauſe des Schwei¬

gens war die Sinnestäuſchung verſchwunden; er entließ mich mit

den Worten: „Ich ſehe Sie noch.“ Geſehn hat er mich noch, als

ich mich am Nachmittage und dann wieder in der Nacht des 9. um

4 Uhr einfand, aber ſchwerlich unter den vielen Anweſenden erkannt;

noch in ſpäter Abendſtunde des 8. fand eine Rückkehr der vollen

Klarheit des Bewußtſeins und der Fähigkeit ſtatt, ſich den ſein

Sterbebett in dem engen Schlafzimmer Umſtehenden gegenüber

klar und zuſammenhängend auszuſprechen. Es war das letzte

Aufleuchten dieſes ſtarken und tapfern Geiſtes. Um 8 Uhr 30 Mi¬

nuten that er den letzten Athemzug.

II.

Für die Thronfolge war unter Friedrich Wilhelm III. nur

der Kronprinz mit Bewußtſein vorgebildet worden, der zweite Sohn

dagegen ausſchließlich militäriſch. Es war natürlich, daß durch

ſein ganzes Leben militäriſche Einflüſſe an und für ſich ſtärker auf

[278/0302]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

ihn wirkten als civiliſtiſche, und ich ſelbſt habe in dem äußern

Eindruck der Militäruniform, die ich trug, um ein mehrmaliges

Umkleiden am Tage zu vermeiden, ein Moment der Verſtärkung

meines Einfluſſes zu finden geglaubt. Unter den Perſonen, die,

ſo lange er noch Prinz Wilhelm war, Einfluß auf ſeine Entwick¬

lung haben konnten, ſtanden in erſter Linie Militärs ohne politi¬

ſchen Beruf, nachdem der General von Gerlach, der Jahre hin¬

durch ſein Adjutant geweſen war, dem politiſchen Leben vorüber¬

gehend fremd geworden war. Er war der begabteſte unter den

Adjutanten, die der Prinz gehabt hatte, und nicht theoretiſcher

Fanatiker in Politik und Religion wie ſein Bruder, der Präſident,

aber doch genug doctrinär, um bei dem praktiſchen Verſtande des

Prinzen nicht den Anklang zu finden, wie bei dem geiſtreichen

Könige Friedrich Wilhelm. Pietismus war ein Wort und ein

Begriff, die mit dem Namen Gerlach leicht in Verbindung traten

wegen der Rolle, die die beiden Brüder des Generals, der Prä¬

ſident und der Prediger, Verfaſſer eines ausgedehnten Bibelwerks,

in der politiſchen Welt ſpielten.

Ein Geſpräch, das ich 1853 in Oſtende, wo ich dem Prinzen

näher getreten war, mit ihm hatte und das ſich an den Namen

Gerlach knüpfte, iſt mir in Erinnerung geblieben, weil es mich

betroffen machte über des Prinzen Unbekanntſchaft mit unſern ſtaat¬

lichen Einrichtungen und der politiſchen Situation.

Eines Tages ſprach er mit einer gewiſſen Animoſität über den

General von Gerlach, der aus Mangel an Uebereinſtimmung und,

wie es ſchien, verſtimmt aus der Adjutanten-Stellung geſchieden

war. Der Prinz bezeichnete ihn als einen Pietiſten.

Ich: „Was denken Ew. K. H. Sich unter einem Pietiſten?“

Er: „Einen Menſchen, der in der Religion heuchelt, um

Carrière zu machen.“

Ich: „Das liegt Gerlach fern, was kann der werden? Im

heutigen Sprachgebrauch verſteht man unter einem Pietiſten etwas

andres, nämlich einen Menſchen, der orthodox an die chriſtliche

[279/0303]

Mangelhafte Vorbildung Wilhelms I. zum Regentenberuf.

Offenbarung glaubt und aus ſeinem Glauben kein Geheimniß

macht; und deren gibt es viele, die mit dem Staate garnichts

zu thun haben und an Carrière nicht denken.“

Er: „Was verſtehn Sie unter orthodox?“

Ich: „Beiſpielsweiſe Jemanden, der ernſtlich daran glaubt, daß

Jeſus Gottes Sohn und für uns geſtorben iſt als ein Opfer, zur

Vergebung unſrer Sünden. Ich kann es im Augenblick nicht

präciſer faſſen, aber es iſt das Weſentliche der Glaubensver¬

ſchiedenheit.“

Er, hoch erröthend: „Wer iſt denn ſo von Gott verlaſſen,

daß er das nicht glaubte!“

Ich: „Wenn dieſe Aeußerung öffentlich bekannt würde, ſo

würden Ew. K. H. ſelbſt zu den Pietiſten gezählt werden.“

Im weitern Verlauf der Unterhaltung kamen wir auf die

damals ſchwebende Frage der Kreis- und Gemeinde-Ordnung. Bei

der Gelegenheit ſagte der Prinz ungefähr:

Er ſei kein Feind des Adels, könne aber nicht zugeben, daß

„der Bauer von dem Edelmann mißhandelt werde“.

Ich erwiderte: „Wie ſollte der Edelmann das anfangen?

Wenn ich die Schönhauſer Bauern mißhandeln wollte, ſo fehlte

mir jedes Mittel dazu, und der Verſuch würde mit meiner Mi߬

handlung entweder durch die Bauern oder durch das Geſetz endigen.“

Darauf Er: „Das mag bei Ihnen in Schönhauſen ſo ſein;

aber das iſt eine Ausnahme, und ich kann nicht zugeben, daß der

kleine Mann auf dem Lande geſchunden wird.“

Ich bat um die Erlaubniß, ihm eine kurze Darſtellung der

Geneſis unſrer ländlichen Zuſtände, des Verhältniſſes zwiſchen Guts¬

herrn und Bauern vorzulegen. Er nahm das Erbieten freudig

dankend an; und ich habe nachher in Norderney meine freien

Stunden dazu verwendet, dem damals 56 Jahre alten Thronerben

an der Hand von Geſetzesſtellen die rechtliche Situation auseinander

zu ſetzen, in der ſich Rittergüter und Bauern 1853 befanden.

Ich ſchickte ihm die Arbeit nicht ohne die Befürchtung, der Prinz

[280/0304]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

würde kurz und ironiſch antworten, er habe durch mich nichts er¬

fahren, was er nicht ſchon ſeit 30 Jahren wiſſe. Umgekehrt aber

dankte er mir lebhaft für die intereſſante Zuſammenſtellung der ihm

neuen Daten.

III.

Von dem Augenblicke des Antritts der Regentſchaft an hatte

Prinz Wilhelm den Mangel an geſchäftlicher Vorbildung ſo leb¬

haft empfunden, daß er keine Arbeit Tag und Nacht ſcheute, um

demſelben abzuhelfen. Wenn er „Staatsgeſchäfte erledigte“, ſo

arbeitete er wirklich, mit vollem Ernſt und voller Gewiſſenhaftigkeit.

Er las alle Eingänge, nicht blos die, welche ihn anzogen, ſtudirte

die Verträge und Geſetze, um ſich ein ſelbſtändiges Urtheil zu

bilden. Er kannte keine Vergnügung, die den Staatsgeſchäften Zeit

entzogen hätte. Er las niemals Romane oder ſonſt Bücher, die

nicht Bezug auf ſeinen Herrſcherberuf hatten. Er rauchte nicht,

ſpielte nicht Karten. Wenn nach einem Jagddiner in Wuſterhauſen

die Geſellſchaft ſich in das Zimmer begab, in dem Friedrich

Wilhelm I. das Tabakscollegium zu verſammeln pflegte, ſo ließ er

ſich, damit die Anweſenden in ſeiner Gegenwart rauchen durften,

eine der langen holländiſchen Thonpfeifen reichen, that einige Züge

und legte ſie mit einem krauſen Geſichte aus der Hand. Als er

in Frankfurt, damals noch Prinz von Preußen, auf einem Balle

in ein Zimmer gerieth, in dem Hazard geſpielt wurde, ſagte

er zu mir: „Ich will doch auch einmal mein Glück verſuchen, habe

aber kein Geld bei mir, geben Sie mir etwas.“ Da auch ich kein

Geld bei mir zu tragen pflegte, ſo half der Graf Theodor Stol¬

berg aus. Der Prinz ſetzte einige Male einen Thaler, verlor jedes

Mal und verließ das Zimmer. Seine einzige Erholung war, nach

einem arbeitsvollen Tage in ſeiner Theaterloge zu ſitzen; aber auch

dort durfte ich als Miniſter ihn in dringenden Fällen aufſuchen,

[281/0305]

Fleiß und Gewiſſenhaftigkeit Wilhelms I. Menſchenverſtand.

um ihm in dem kleinen Zimmer vor der Loge Vorträge zu halten,

und Unterſchriften entgegennehmen. Obſchon er der Nachtruhe

dermaßen bedürftig war, daß er ſchon über eine ſchlechte Nacht

klagte, wenn er zweimal, und über Schlafloſigkeit, wenn er dreimal

erwacht war, ſo habe ich niemals den leiſeſten Zug von Verdrie߬

lichkeit wahrgenommen, wenn man ihn unter ſchwierigen Verhält¬

niſſen um 2 oder 3 Uhr weckte, um eine eilige Entſcheidung zu

erbitten.

Neben dem Fleiße, zu dem ihn ſein hohes Pflichtgefühl trieb,

kam ihm in Erfüllung ſeiner Regentenpflicht ein ungewöhnliches

Maß von klarem, durch Erlerntes weder unterſtützten noch beein¬

trächtigten geſunden Menſchenverſtande, common sense, zu Statten.

Hinderlich für das Verſtändniß der Geſchäfte war die Zähigkeit,

mit der er an fürſtlichen, militäriſchen und localen Traditionen

hing; jeder Verzicht auf ſolche, jede Wendung zu neuen Bahnen,

wie ſie der Lauf der Ereigniſſe nothwendig machte, wurde ihm

ſchwer und erſchien ihm leicht im Lichte von etwas Unerlaubtem

oder Unwürdigem. Wie an Perſonen ſeiner Umgebung und an

Sachen ſeines Gebrauchs, ſo hielt er auch an Eindrücken und

Ueberzeugungen feſt, unter der Mitwirkung der Erinnerung an das,

was ſein Vater in ähnlichen Lagen gethan hatte oder gethan

haben würde; insbeſondre im franzöſiſchen Kriege hatte er die

Erinnerung an den parallelen Verlauf der Freiheitskriege immer

vor Augen.

König Wilhelm, der mich während der ſchleswig-holſteiniſchen

Epiſode einmal vorwurfsvoll fragte: „Sind Sie denn nicht auch ein

Deutſcher?“ weil ich mich ſeiner durch häusliche Einflüſſe bedingten

Neigung, ein neues gegen Preußen ſtimmendes Großherzogthum in

Kiel zu ſchaffen, widerſetzte, derſelbe Herr war, wenn er, ohne durch

politiſche Gedanken angekränkelt zu ſein, in naturwüchſiger Freiheit

ſeinen Empfindungen folgte, einer der entſchloſſenſten Particulariſten

unter den deutſchen Fürſten, in der Richtung eines patriotiſchen

und conſervativ geſinnten preußiſchen Offiziers aus der Zeit ſeines

[282/0306]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

Vaters. Der Einfluß ſeiner Gemalin brachte ihn in reifern

Jahren in Oppoſition gegen das traditionelle Prinzip, und die Un¬

fähigkeit ſeiner Miniſter der Neuen Aera und das überſtürzende

Ungeſchick der liberalen Parlamentarier in der Conflictszeit weckte

in ihm wiederum den alten Pulsſchlag des preußiſchen Prinzen

und Offiziers, zumal er mit der Frage, ob die Bahn, die er ein¬

ſchlug, gefährlich ſei, niemals rechnete. Wenn er überzeugt war,

daß Pflicht und Ehre, oder eins von beiden, ihm geboten, einen

Weg zu betreten, ſo ging er ihn ohne Rückſicht auf die Gefahren,

denen er ausgeſetzt ſein konnte, in der Politik ebenſo wie auf dem

Schlachtfelde. Einzuſchüchtern war er nicht. Die Königin war es,

und das Bedürfniß des häuslichen Friedens mit ihr war ein un¬

berechenbares Gewicht, aber parlamentariſche Grobheiten oder Droh¬

ungen hatten nur die Wirkung, ſeine Entſchloſſenheit im Wider¬

ſtande zu ſtärken. Mit dieſer Eigenſchaft hatten die Miniſter der

Neuen Aera und ihre parlamentariſchen Stützen und Gefolgſchaften

niemals gerechnet. Graf Schwerin war in ſeinem Mißverſtehn

dieſes furchtloſen Offiziers auf dem Throne ſo weit gegangen, zu

glauben, ihn durch Ueberhebung und Mangel an Höflichkeit ein¬

ſchüchtern zu können 1). In dieſen Vorgängen lag der Wendepunkt

des Einfluſſes der Miniſter der Neuen Aera, der Altliberalen und

der Bethmann-Hollwegſchen Partei, von dem ab die Bewegung

rückläufig wurde, die Leitung in Roons Hände fiel und der Mi¬

niſterpräſident Fürſt Hohenzollern mit ſeinem Adjuncten Auerswald

meinen Eintritt in das Miniſterium wünſchten. Die Königin und

Schleinitz verhinderten ihn einſtweilen noch, als ich im Früh¬

jahr 1860 in Berlin war, aber die Aeußerlichkeiten, die zwiſchen

dem Herrn und ſeinen Miniſtern vorgekommen waren, hatten in

die gegenſeitigen Beziehungen doch einen Riß gebracht, der nicht

mehr vernarbte.

1) S. Bd. I 212.

[283/0307]

Seine Furchtloſigkeit. Prinzeſſin Auguſta.

IV.

Die Prinzeſſin Auguſta vertrat unter Friedrich Wilhelm IV. in

der Regel den Gegenſatz zur Regirungspolitik; die Neue Aera der

Regentſchaft ſah ſie als ihr Miniſterium an, wenigſtens bis zum

Rücktritt des Herrn von Schleinitz. Es lebte in ihr vorher und

ſpäter ein Bedürfniß des Widerſpruchs gegen die jedesmalige Hal¬

tung der Regirung ihres Schwagers und ſpäter ihres Gemals.

Ihr Einfluß wechſelte und zwar ſo, daß derſelbe bis auf die letzten

Lebensjahre ſtets gegen die Miniſter in's Gewicht fiel. War die

Regirungspolitik conſervativ, ſo wurden die liberalen Perſonen und

Beſtrebungen in den häuslichen Kreiſen der hohen Frau ausgezeichnet

und gefördert; befand ſich die Regirung des Kaiſers in ihrer

Arbeit zur Befeſtigung des neuen Reiches auf liberalen Wegen, ſo

neigte die Gunſt mehr nach der Seite der conſervativen und nament¬

lich der katholiſchen Elemente, deren Unterſtützung, da ſie unter einer

evangeliſchen Dynaſtie ſich häufig und bis zu gewiſſen Grenzen

regelmäßig in der Oppoſition befanden, überhaupt der Kaiſerin

nahe lag. In den Perioden, wo unſre auswärtige Politik mit

Oeſtreich Hand in Hand gehn konnte, war die Stimmung gegen

Oeſtreich unfreundlich und fremd; bedingte unſre Politik den

Widerſtreit gegen Oeſtreich, ſo fanden deſſen Intereſſen Vertretung

durch die Königin und zwar bis in die Anfänge des Krieges 1866

hinein. Während an der böhmiſchen Grenze ſchon gefochten wurde,

fanden in Berlin unter dem Patronate Ihrer Majeſtät durch das

Organ von Schleinitz noch Beziehungen und Unterhandlungen

bedenklicher Natur ſtatt. Herr von Schleinitz hatte, ſeit ich Miniſter

des Aeußern und er ſelbſt Miniſter des königlichen Hauſes ge¬

worden, das Amt einer Art Gegenminiſters der Königin, um

Ihrer Majeſtät Material zur Kritik und zur Beeinfluſſung des

Königs zu liefern. Er hatte zu dieſem Behufe die Verbindungen

benutzt, die er in der Zeit, wo er mein Vorgänger war, im Wege

[284/0308]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

der Privatcorreſpondenz angeknüpft hatte, um eine förmliche diplo¬

matiſche Berichterſtattung in ſeiner Hand zu concentriren. Ich er¬

hielt die Beweiſe dafür durch den Zufall, daß einige dieſer Berichte,

aus deren Faſſung die Thatſache der Continuität der Berichterſtattung

erſichtlich war, durch Mißverſtändniß der Feldjäger oder der Poſt

an mich gelangten und amtlichen Berichten ſo genau ähnlich ſahn,

daß ich erſt durch einzelne Bezugnahmen im Texte ſtutzig wurde,

mir das dazu gehörige Couvert aus dem Papierkorb ſuchte und

darauf die Adreſſe des Herrn von Schleinitz vorfand. Zu den Be¬

amten, mit denen er ſolche Verbindungen unterhielt, gehörte unter

Andern ein Conſul, über den mir Roon unter dem 25. Januar 1864

ſchrieb, derſelbe ſtehe im Solde von Drouyn de L'Huys und ſchreibe

unter dem Namen Siegfeld Artikel für das „Mémorial Diplo¬

matique“, die u. A. der Occupation der Rheinlande durch Na¬

poleon das Wort redeten und ſie in Parallele ſtellten mit unſrer

Occupation Schleswigs. Zur Zeit der „Reichsglocke“ und der ge¬

häſſigen Angriffe der conſervativen Partei und der „Kreuz¬

zeitung“ auf mich konnte ich ermitteln, daß die Colportage der

„Reichsglocke“ und ähnlicher verleumderiſcher Preßerzeugniſſe im

Bureau des Hausminiſteriums beſorgt wurde. Der Vermittler war ein

höherer Subalternbeamter Namens Bernhard (?), der der Frau von

Schleinitz die Federn ſchnitt und den Schreibtiſch in Ordnung hielt.

Durch ihn wurden allein an unſre höchſten Herrſchaften dreizehn

Exemplare der „Reichsglocke“, davon zwei in das Kaiſerliche Palais,

berichtmäßig eingeſandt und andre an mehre verwandte Höfe.

Als ich einmal den geärgerten und darüber erkrankten Kaiſer

des Morgens aufſuchen mußte, um über eine höfiſche Demonſtration

zu Gunſten des Centrums eine unter den obwaltenden Umſtänden

dringliche Beſchwerde zu führen, fand ich ihn im Bette und

neben ihm die Kaiſerin in einer Toilette, die darauf ſchließen

ließ, daß ſie erſt auf meine Anmeldung herunter gekommen war.

Auf meine Bitte, mit dem Kaiſer allein ſprechen zu dürfen, ent¬

fernte ſie ſich, aber nur bis zu einem dicht außerhalb der, von ihr

[285/0309]

Wilhelm I. unter dem Einfluſſe ſeiner Gemalin.

nicht ganz geſchloſſenen Thüre ſtehenden Stuhle und trug Sorge,

durch Bewegungen mich erkennen zu laſſen, daß ſie Alles hörte.

Ich ließ mich durch dieſen, nicht den erſten, Einſchüchterungsverſuch

nicht abhalten, meinen Vortrag zu erſtatten. An dem Abende deſſelben

Tages war ich in einer Geſellſchaft im Palais. Ihre Majeſtät

redete mich in einer Weiſe an, die mich vermuthen ließ, daß der

Kaiſer meine Beſchwerde ihr gegenüber vertreten hatte. Die Unter¬

haltung nahm die Wendung, daß ich die Kaiſerin bat, die ſchon

bedenkliche Geſundheit ihres Gemals zu ſchonen und ihn nicht zwie¬

ſpältigen politiſchen Einwirkungen auszuſetzen. Dieſe nach höfiſchen

Traditionen unerwartete Andeutung hatte einen merkwürdigen Effect.

Ich habe die Kaiſerin Auguſta in dem letzten Jahrzehnt ihres Lebens

nie ſo ſchön geſehn wie in dieſem Augenblicke; ihre Haltung richtete

ſich auf, ihr Auge belebte ſich zu einem Feuer, wie ich es weder

vorher noch nachher erlebt habe. Sie brach ab, ließ mich ſtehn

und hat, wie ich von einem befreundeten Hofmanne erfuhr, geſagt:

„Unſer allergnädigſter Reichskanzler iſt heut ſehr ungnädig.“

Ich hatte durch langjährige Gewohnheit allmälig ziemliche

Sicherheit in Beurtheilung der Frage gewonnen, ob der Kaiſer

Anträgen, die mir logiſch geboten erſchienen, aus eigner Ueber¬

zeugung oder im Intereſſe des Hausfriedens widerſtand. War

erſtres der Fall, ſo konnte ich in der Regel auf Verſtändigung

rechnen, wenn ich die Zeit abwartete, wo der klare Verſtand des

Herrn ſich die Sache aſſimilirt hatte. Oder er berief ſich auf das

Miniſter-Conſeil. In ſolchen Fällen blieb die Diſcuſſion zwiſchen

mir und Sr. Majeſtät immer ſachlich. Anders war es, wenn

die Urſache des königlichen Widerſtrebens gegen miniſterielle Mei¬

nungen in vorhergegangenen Erörterungen der Frage lag, die

Ihre Majeſtät beim Frühſtück hervorgerufen und bis zu ſcharfer

Ausſprache der Zuſtimmung durchgeführt hatte. Wenn der König

in ſolchen Momenten, beeinflußt durch ad hoc geſchriebene Briefe

und Zeitungsartikel, zu raſchen Aeußerungen im Sinne antimini¬

ſterieller Politik gebracht war, ſo pflegte Ihre Majeſtät den

[286/0310]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

gewonnenen Erfolg zu befeſtigen durch Aeußerung von Zwei¬

feln, ob der Kaiſer im Stande ſein werde, die geäußerte Abſicht

oder Meinung „Bismarck gegenüber“ aufrecht zu erhalten. Wenn

Se. Majeſtät nicht auf Grund eigner Ueberzeugung, ſondern

weiblicher Bearbeitung widerſtand, ſo konnte ich dies daran

erkennen, daß ſeine Argumente unſachlich und unlogiſch waren.

Dann endete eine ſolche Erörterung, wenn ein Gegenargument

nicht mehr zu finden war, wohl mit der Wendung: „Ei der

Tauſend, da muß ich doch ſehr bitten.“ Ich wußte dann, daß

ich nicht den Kaiſer, ſondern die Gemalin mir gegenüber ge¬

habt hatte.

Alle Gegner, die ich mir in den verſchiedenſten Regionen im

Laufe meiner politiſchen Kämpfe nothwendiger Weiſe und im Intereſſe

des Dienſtes zugezogen hatte, fanden in ihrem gemeinſamen Haſſe

gegen mich ein Band, das einſtweilen ſtärker war, als ihre gegen¬

ſeitigen Abneigungen gegen einander. Sie vertagten ihre Feind¬

ſchaft, um einſtweilen der ſtärkern gegen mich zu dienen. Den

Kryſtalliſationspunkt für dieſe Uebereinſtimmung bildete die Kaiſerin

Auguſta, deren Temperament, wenn es galt ihren Willen durch¬

zuſetzen, auch in der Rückſicht auf Alter und Geſundheit des Ge¬

mals nicht immer Grenze fand.

Der Kaiſer hatte während der Belagerung von Paris, wie

häufig vorher und nachher, unter dem Kampfe zwiſchen ſeinem

Verſtande und ſeinem königlichen Pflichtgefühl einerſeits und dem

Bedürfniß nach häuslichem Frieden und weiblicher Zuſtimmung zur

Politik andrerſeits zu leiden. Die ritterlichen Empfindungen, die ihn

gegenüber ſeiner Gemalin, die myſtiſchen, die ihn der gekrönten

Königin gegenüber bewegten, ſeine Empfindlichkeit für Störungen

ſeiner Hausordnung und ſeiner täglichen Gewohnheiten haben mir

Hinderniſſe bereitet, die zuweilen ſchwerer zu überwinden waren

als die von fremden Mächten oder feindlichen Parteien verurſachten,

und vermöge der herzlichen Anhänglichkeit, die ich für die Perſon

des Kaiſers hatte, die aufreibende Wirkung der Kämpfe erheblich

[287/0311]

Oppoſition der Kaiſerin. Wilhelms I. königliche Vornehmheit.

geſteigert, die ich bei pflichtmäßigem Vertreten meiner Ueberzeugung

in den Vorträgen durchzumachen hatte.

Der Kaiſer hatte das Gefühl davon und machte in den letzten

Jahren ſeines Lebens mir gegenüber kein Geheimniß aus ſeinen

häuslichen Beziehungen, berieth mit mir, welche Wege und Formen

zu wählen ſeien, um ſeinen häuslichen Frieden ohne Schädigung

der Staatsintereſſen zu ſchonen; „der Feuerkopf“ pflegte der hohe

Herr in vertraulichen, aus Verdruß, Reſpect und Wohlwollen ge¬

miſchten Stimmungen die Gemalin zu bezeichnen und dieſen Aus¬

druck mit einer Handbewegung zu begleiten, die etwa ſagen

wollte: „Ich kann nichts ändern“. Ich fand dieſe Bezeichnung

außerordentlich treffend; die Königin war, ſo lange nicht phyſiſche

Gefahren drohten, eine muthige Frau, getragen von einem hohen

Pflichtgefühl, aber auf Grund ihres königlichen Empfindens ab¬

geneigt, andre Autoritäten als die ihrige gewähren zu laſſen.

V.

Das Schwergewicht, das nach dem Antritt der Regent¬

ſchaft der Wille und die Ueberzeugung des Prinzen von Preußen

und ſpätern Kaiſers auf dem außermilitäriſchen, dem politiſchen

Gebiete darſtellte, war das eigenſte Product der mächtigen und

vornehmen Natur, die dieſem Fürſten, unabhängig von der ihm

zu Theil gewordenen Erziehung, angeboren war. Der Ausdruck

„königlich vornehm“ iſt prägnant für ſeine Erſcheinung. Die Eitel¬

keit kann bei Monarchen ein Sporn zu Thaten und zur Arbeit

für das Glück ihrer Unterthanen ſein. Friedrich der Große war

nicht frei davon; ſein erſter Thatendrang entſprang dem Verlangen

nach hiſtoriſchem Ruhm; ob dieſe Triebfeder gegen das Ende ſeiner

Regirung, wie man ſagt, degenerirte, ob er dem Wunſche innerlich

Gehör gab, daß die Nachwelt den Unterſchied zwiſchen ſeiner und

der folgenden Regirung merken möge, laſſe ich unerörtert. Eine

[288/0312]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

dichteriſche Ergießung datirte er von dem Tage vor einer Schlacht

und theilte ſie brieflich mit der Unterſchrift mit: Pas trop mal

à la veille d'une bataille.

Eine Eitelkeit der Art war dem Kaiſer Wilhelm I. durch¬

aus fremd; dagegen war ihm die Furcht vor berechtigter

Kritik der Mit- und Nachwelt in hohem Maße eigen. Er war

darin ganz preußiſcher Offizier, der, ſobald er durch höhern

Befehl gedeckt iſt, ohne Schwanken dem ſichern Tode entgegen geht,

aber durch die Furcht vor dem Tadel des Vorgeſetzten und der

öffentlichen Meinung in zweifelnde Unſicherheit geräth, die ihn das

Falſche wählen läßt. Niemand hätte gewagt, ihm eine platte

Schmeichelei zu ſagen. In dem Gefühle königlicher Würde würde

er gedacht haben: wenn Einer das Recht hätte, mich in's Geſicht

zu loben, ſo hätte er auch das Recht, mich in's Geſicht zu tadeln.

Beides gab er nicht zu.

Monarch und Parlament hatten einander in ſchweren innern

Kämpfen gegenſeitig kennen und achten gelernt; die Ehrlichkeit der

königlichen Würde, die ſichre Ruhe des Königs hatten ſchließlich

die Achtung auch ſeiner Gegner erzwungen, und der König ſelbſt

war durch ſein hohes perſönliches Ehrgefühl zu einer gerechten

Beurtheilung der beiderſeitigen Situationen befähigt. Das Gefühl

der Gerechtigkeit nicht blos ſeinen Freunden und ſeinen Dienern

gegenüber, ſondern auch im Kampfe mit ſeinen Gegnern beherrſchte

ihn. Er war ein gentleman ins Königliche überſetzt, ein Edel¬

mann im beſten Sinne des Wortes, der ſich durch keine Verſuchung

der ihm zufallenden Machtvollkommenheiten von dem Satze noblesse

oblige diſpenſirt fühlte; ſein Verhalten in der innern wie in der

äußern Politik war den Grundſätzen des Cavaliers alter Schule

und des normalen preußiſchen Offiziersgefühls jederzeit unter¬

geordnet. Er hielt auf Treue und Ehre nicht nur Fürſten, ſondern

auch ſeinen Dienern bis zum Kammerdiener gegenüber. Wenn er

durch augenblickliche Erregung ſeinem feinen Gefühl für königliche

Würde und Pflicht zu nah getreten war, ſo fand er ſich ſchnell

[289/0313]

Freiheit von Eitelkeit, Furcht vor Kritik. Treue.

wieder und blieb dabei „jeder Zoll ein Konig“, und zwar ein ge¬

rechter und wohlwollender König und ehrliebender Offizier, den der

Gedanke an ſein preußiſches porte-épée auf richtigem Wege

erhielt 1).

Der Kaiſer konnte heftig werden, ließ ſich aber in der Dis¬

cuſſion von der etwaigen Heftigkeit deſſen, mit dem er diſcutirte,

nicht anſtecken, ſondern brach dann die Unterredung vornehm

freundlich ab. Ausbrüche wie in Verſailles bei Abwehr des Kaiſer¬

titels waren ſehr ſelten. Wenn er heftig wurde gegen Leute, denen

er wohlwollte, wie dem Grafen Roon oder mir, ſo war er entweder

durch den Gegenſtand ſelbſt erregt oder durch fremde, außer¬

amtliche Beſprechungen vorher an Auffaſſungen gebunden, die ſich

ſachlich nicht vertreten ließen. Graf Roon hörte dergleichen Ex¬

ploſionen an, wie ein Militär in der Front den Verweis eines

hohen Vorgeſetzten, den er nicht verdient zu haben glaubt, aber

er litt nervös darunter und ſecundär auch körperlich. Auf mich

haben Ausbrüche von Heftigkeit des Kaiſern, die ich ſeltner erlebte

als Roon, niemals contagiös, eher abkühlend gewirkt. Ich hatte

mir die Logik zurechtgelegt, daß ein Herrſcher, der mir in dem

Maße Vertrauen und Wohlwollen ſchenkte, wie Wilhelm I., in

ſeinen Unregelmäßigkeiten für mich die Natur einer vis major habe,

gegen die zu reagiren mir nicht gegeben ſei, etwa wie das Wetter

oder die See, wie ein Naturereigniß, auf das ich mich einrichten

müſſe; und wenn mir das nicht gelang, ſo hatte ich eben meine

Aufgabe nicht richtig angegriffen. Dieſer mein Eindruck beruhte

nicht auf meiner generellen Auffaſſung der Stellung eines Königs

von Gottes Gnaden zu ſeinem Diener, ſondern auf meiner perſön¬

lichen Liebe zu Kaiſer Wilhelm I. Ihm gegenüber lag mir

perſönliche Empfindlichkeit ſehr fern, er konnte mich ziemlich un¬

gerecht behandeln, ohne in mir Gefühle der Entrüſtung hervor¬

1) S. Bd. I 285 f.

Otto Fürſt von Bismarck. Gedanken und Erinnerungen. II. 19

[290/0314]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

zurufen. Das Gefühl, beleidigt zu ſein, werde ich ihm gegenüber

ebenſo wenig gehabt haben, wie im elterlichen Hauſe. Es hinderte

das nicht, daß mich ſachliche, politiſche Intereſſen, für die ich bei

dem Herrn entweder kein Verſtändniß oder eine vorgefaßte Mei¬

nung vorfand, die von Ihrer Majeſtät oder von confeſſionellen

oder freimaureriſchen Hofintriganten ausging, in der Stimmung

einer durch ununterbrochenen Kampf erzeugten Nervoſität zu einem

paſſiven Widerſtande gegen ihn geführt haben, den ich heut in

ruhiger Stimmung mißbillige und bereue, wie man analoge Em¬

pfindungen nach dem Tode eines Vaters hat, in Erinnerung an

Momente des Diſſenſes.

VI.

Seinem redlichen Sinne und der Aufrichtigkeit ſeines Wohl¬

wollens für Andre, ſeiner aus dem Herzen kommenden und von

hohem Sinne getragnen Liebenswürdigkeit verdankte er es, daß

ihm eine gewiſſe Leiſtung leicht wurde und gut gelang, die der

Verſtandesthätigkeit conſtitutioneller Regenten und Miniſter von Zeit

zu Zeit viel Mühe macht. Für öffentliche Anſprachen enthalten die

jährlich wiederkehrenden Aeußerungen ſolcher Monarchen, deren

Conſtitutionalismus als muſtergültig betrachtet wurde, einen reichen

Vorrath an Redewendungen; aber trotz aller ſprachlichen Gewand¬

heit haben ſowohl Leopold von Belgien wie Louis Philipp die con¬

ſtitutionelle Phraſeologie ziemlich erſchöpft, und ein deutſcher Monarch

wird kaum im Stande ſein, ſchriftlich und gedruckt den Kreis der

brauchbaren Aeußerungen zu erweitern. Mir ſelbſt iſt keine Arbeit

unbehaglicher und ſchwieriger geweſen, als die Herſtellung des

nöthigen Phraſenbedarfs für Thronreden und ähnliche Aeußerungen.

Wenn Kaiſer Wilhelm ſelbſt Proclamationen redigirte oder wenn

er eigenhändig Briefe ſchrieb, ſo hatten dieſelben, auch wenn ſie

ſprachlich incorrect waren, doch immer etwas Gewinnendes, oft Be¬

[291/0315]

Treue um Treue: König und Miniſter, Herr und Diener.

geiſterndes. Sie berührten angenehm durch die Wärme ſeines

Gefühls und die Sicherheit, die aus ihnen ſprach, daß er Treue

nicht nur verlangte, ſondern auch gewährte. Il était de relation

sûre; eine von den fürſtlichen Geſtalten, in Seele und Körper,

deren Eigenſchaften mehr des Herzens als des Verſtandes die im

germaniſchen Charakter hin und wieder vorkommende Hingebung

ihrer Diener und Anhänger auf Tod und Leben erklären. Für

monarchiſche Geſinnung iſt die Ausdehnung des Gebietes ihrer

Ergebenheit nicht jedem Fürſten gegenüber dieſelbe; ſie unterſcheidet

ſich, je nachdem politiſches Verſtändniß oder Empfindung die Grenzen

ziehn. Ein gewiſſes Maß der Hingebung wird durch die Geſetze

beſtimmt, ein größeres durch politiſche Ueberzeugung; wo es darüber

hinaus geht, bedarf es eines perſönlichen Gefühls von Gegen¬

ſeitigkeit, das bewirkt, daß treue Herrn treue Diener haben,

deren Hingebung über das Maß ſtaatsrechtlicher Erwägungen hin¬

ausreicht.

Es iſt eine Eigenthümlichkeit royaliſtiſcher Geſinnung, daß ihren

Träger, auch wenn er ſich bewußt iſt, die Entſchließungen des Königs

zu beeinfluſſen, das Gefühl nicht verläßt, der Diener des Monarchen

zu ſein. Der König ſelbſt rühmte eines Tages (1865) gegen meine

Frau die Geſchicklichkeit, mit der ich ſeine Intentionen zu er¬

rathen und — wie er nach einer Pauſe hinzuſetzte — zu leiten

wüßte. Solche Anerkennung benahm ihm nicht das Gefühl, daß

er der Herr und ich ſein Diener ſei, ein nützlicher, aber ehrerbietig

ergebener. Dieſes Bewußtſein verließ ihn auch dann nicht, als er

bei erregter Erörterung meines Abſchiedsgeſuchs 1877 in die Worte

ausbrach: „Soll ich mich in meinen alten Tagen blamiren? Es

iſt eine Untreue, wenn Sie mich verlaſſen“ — auch unter ſolchen

Gefühlen ſtand er in ſeiner eignen königlichen Einſchätzung und in

ſeinem Gerechtigkeitsſinn zu hoch, um jemals dem Gefühl einer

Sauliſchen Eiferſucht gegen mich zugänglich zu werden. Er hatte

das königliche Gefühl, daß er es nicht nur vertrug, ſondern ſich

gehoben fühlte durch den Gedanken, einen angeſehnen und mächtigen

[292/0316]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

Diener zu haben. Er war zu vornehm für das Gefühl eines Edel¬

mannes, der keinen reichen und unabhängigen Bauern im Dorfe

vertragen kann. Die freudige Art, in welcher er 1885 bei meiner

50jährigen Dienſtfeier 1) die mir gebrachten Huldigungen nicht befahl

und anordnete, aber zuließ und mitmachte, ſtellte auch für das

Publikum und die Geſchichte dieſen königlichen und vornehmen Cha¬

rakter in das richtige Licht. Die Feier war nicht von ihm befohlen,

aber zugelaſſen und freudig befördert. Nicht einen Augenblick kam

ihm der Gedanke einer Eiferſucht auf ſeinen Diener und Unter¬

thanen in den Sinn, und nicht einen Augenblick verließ ihn das

königliche Bewußtſein, der Herr zu ſein, ebenſo wie bei mir alle,

auch übertriebene Huldigungen das Gefühl, der Diener dieſes Herrn

zu ſein, und mit Freuden zu ſein, in keiner Weiſe berührten.

Dieſe Beziehungen und meine Anhänglichkeit hatten ihre prin¬

zipielle Begründung in einem überzeugungstreuen Royalismus: aber

in der Specialität, wie er vorhanden war, iſt er doch nur mög¬

lich unter der Wirkung einer gewiſſen Gegenſeitigkeit des Wohl¬

wollens zwiſchen Herrn und Diener, wie unſer Lehnrecht die „Treue“

auf beiden Seiten zur Vorauſſetzung hatte. Solche Beziehungen,

wie ich ſie zum Kaiſer Wilhelm hatte, ſind nicht ausſchließlich

ſtaatsrechtlicher oder lehnrechtlicher Natur; ſie ſind perſönlich und

ſie wollen von dem Herrn ſowohl wie von dem Diener, wenn ſie

wirkſam ſein ſollen, erworben ſein; ſie übertragen ſich mehr perſön¬

lich, als logiſch leicht auf eine Generation, aber ihnen einen dauern¬

den und prinzipiellen Charakter beizulegen, entſpricht im heutigen

politiſchen Leben nicht mehr den germaniſchen, ſondern eher den

romaniſchen Anſchauungen; der portugieſiſche porteur du coton iſt

in die deutſchen Begriffe nicht übertragbar.

1) Sie wurde nach Wunſch des Kaiſers mit der Feier des 70. Geburts¬

tags verbunden.

[293/0317]

Neidloſe Anerkennung. Briefe Wilhelms I.

VII.

Lebendiger als in meiner Schilderung werden gewiſſe Charakter¬

züge des Kaiſers aus ſeinen nachſtehenden Briefen hervortreten:

„Berlin, den 13. Januar 1870.

Leider vergaß ich noch immer, Ihnen die Sieges-Medaille zu

übergeben, die eigentlich zuerſt in Ihren Händen hätte ſein müſſen,

und ſo ſende ich ſie Ihnen hierbei als Siegel Ihrer Welthiſtoriſchen

Leiſtungen.

Ihr

Wilhelm.“

Ich ſchrieb dem Könige an demſelben Tage:

„Eurer Majeſtät ſage ich meinen ehrfurchtsvollen und tief¬

gefühlten Dank für die huldreiche Verleihung der Sieges-Medaille

und für den ehrenvollen Platz, den Eure Majeſtät mir auf dieſem

hiſtoriſchen Denkmal anzuweiſen geruht haben. Die Erinnerung,

welches dieſes geprägte Document der Nachwelt erhalten wird, ge¬

winnt für mich und die Meinigen ihre beſondre Bedeutung durch

die gnädigen Zeilen, mit denen Eure Majeſtät die Verleihung be¬

gleitet haben. Wenn mein Selbſtgefühl eine hohe Befriedigung

darin findet, daß es mir vergönnt iſt, meinen Namen unter den

Flügeln des Königlichen Adlers, der Deutſchland ſeine Bahnen

anweiſt, auf die Nachwelt kommen zu ſehn, ſo iſt mein Herz noch

mehr befriedigt in dem Gefühle, unter Gottes ſichtbarem Segen

einem angeſtammten Herrn zu dienen, dem ich mit voller perſön¬

licher Liebe anhänge, und deſſen Zufriedenheit zu beſitzen für mich

der in dieſem Leben begehrteſte Lohn iſt.“

„Berlin, den 21. März 1871.

Mit der heutigen Eröffnung des erſten deutſchen Reichstags

nach Wiederherſtellung eines Deutſchen Reiches beginnt die erſte

[294/0318]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

öffentliche Thätigkeit deſſelben. Preußens Geſchichte und Geſchick

wieſen ſeit längerer Zeit auf ein Ereigniß hin, wie es ſich jetzt

durch deſſen Berufung an die Spitze des neugegründeten Reiches

vollzogen hat. Preußen verdankt dies weniger ſeiner Ländergröße

und Macht, wenngleich beides ſich gleichmäßig mehrte, als ſeiner

geiſtigen Entwicklung und ſeiner Heeres-Organiſation. In un¬

erwartet ſchneller Folge haben ſich im Laufe von ſechs Jahren die

Geſchicke meines Landes zu dem Glanzpunkte entwickelt, auf dem

es heute ſtehet. In dieſe Zeit fällt eine Thätigkeit, zu welcher ich

Sie vor 10 Jahren zu mir berief. In welchem Maße Sie das

Vertrauen gerechtfertigt haben, aus welchem ich damals den Ruf

an Sie ergehen ließ, liegt offen vor der Welt. Ihrem Rath, Ihrer

Umſicht, Ihrer unermüdlichen Thätigkeit verdankt Preußen und

Deutſchland das Weltgeſchichtliche Ereigniß, welches ſich heute in

meiner Residenz verkörpert.

Wenngleich der Lohn für ſolche Thaten in Ihrem Innern

ruhet, ſo bin ich doch gedrungen und verpflichtet, Ihnen öffentlich

und dauernd den Dank des Vaterlandes und den meinigen aus¬

zudrücken. Ich erhebe Sie daher in den Fürſtenſtand Preußens

mit der Beſtimmung, daß ſich derſelbe ſtets auf das älteſte männ¬

liche Mitglied Ihrer Familie vererbt.

Mögen Sie in dieſer Auszeichnung den nie verſiegenden Dank

erblicken

Ihres

Kaiſers und Königs

Wilhelm.“

„Berlin, den 2. März 1872.

Wir begehen heute den erſten Jahrestag des glorreichen Friedens¬

ſchluſſes, der durch Tapferkeit und Opfer aller Art erkämpft, durch

Ihre Umſicht und Energie aber zu Reſultaten führte, die nie geahnt

waren! Meine Anerkennung und meinen Dank wiederhole ich Ihnen

heute von neuem mit dankbarem und gerührtem Herzen, dem ich

[295/0319]

Briefe Wilhelms I.

durch Eiſen und edle Metalle öffentlich Ausdruck gab. Es fehlt

aber noch ein Metall, die Bronze. Ein Andenken aus dieſem

Metall ſtelle ich daher heute zu Ihrer Disposition und zwar in

der Geſtalt, die Sie vor einem Jahre zum Schweigen brachten,

ich habe beſtimmt, daß nach Ihrer eignen Auswahl einige eroberte

Geſchütze Ihnen überwieſen werden, die Sie auf Ihren Beſitzungen

zum bleibenden Andenken Ihrer mir und dem Vaterlande geleiſteten

hohen Dienſte aufpflanzen wollen!

Ihr

treuergebener und

dankbarer

Wilhelm.“

„Coblenz, den 26. July 1872.

Sie werden am 28. d. M. ein ſchönes Familien Feſt begehen,

das Ihnen der Allmächtige in Seiner Gnade beſcheert. Daher darf

und kann ich mit meiner Theilnahme an dieſem Feſte nicht zurück¬

bleiben, und ſo wollen Sie und die Fürſtin Ihre Gemahlin hier

meinen innigſten und wärmſten Glückwunſch zu dieſem erhebenden

Feſte entgegen nehmen. Daß Ihnen Beiden unter ſo vielen Glücks¬

gütern, die Ihnen die Vorſehung für Sie erkoren hat, doch immer

das häusliche Glück obenan ſtand, das iſt es, wofür Ihre Dank¬

gebethe zum Himmel ſteigen. Unſere und meine Dankgebethe gehen

aber weiter, indem ſie den Dank in ſich ſchließen, daß Gott Sie

mir in entſcheidender Stunde zur Seite ſtellte und damit eine Lauf¬

bahn meiner Regierung eröffnete, die weit über Denken und Ver¬

ſtehen gehet. Aber auch hierfür werden Sie Ihre Dankgefühle

nach Oben ſenden, daß Gott Sie begnadigte, ſo Hohes zu leiſten.

Und in und nach allen Ihren Mühen fanden Sie ſtets in der

Häuslichkeit Erholung und Frieden, und das erhält Sie Ihrem

ſchweren Berufe. Für dieſen ſich zu erhalten und zu kräftigen, iſt

mein ſtetes Anliegen an Sie, und freue ich mich aus Ihrem Briefe

[296/0320]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm l.

durch Graf Lehndorff und von dieſem ſelbſt zu hören, daß Sie

jetzt mehr an ſich als an die Papiere denken werden.

Zur Erinnerung an Ihre ſilberne Hochzeit wird Ihnen eine

Vaſe übergeben werden, die eine dankbare Borussia darſtellt und

die, ſo gebrechlich ihr Matérial auch ſein mag, doch ſelbſt in jeder

Scherbe dereinſt ausſprechen ſoll, was Preußen Ihnen durch die

Erhebung auf die Höhe, auf welcher es jetzt ſtehet, verdankt.

Ihr

treu ergebener

dankbarer König

Wilhelm.“

„Coblenz am 6. November 1878.

Es iſt Ihnen beſchieden geweſen, in Zeit eines Vierteljahres

Europa durch Ihre Einſicht, Umſicht und durch Ihren Muth den

Frieden theils wiederzugeben, theils zu erhalten, und für Deutſchland

auf geſetzlichem Wege einem Feinde entgegen zu treten, der für

alle Staatlichen Verhältniſſe Verderben drohte. Wenn beide Welt¬

geſchichtliche Ereigniſſe von allen Wohlgeſinnten begriffen und Ihnen

derſelben Anerkennung zu Theil geworden iſt, und ich ſelbſt Ihnen

dieſe Anerkennung beweiſen konnte für das zuerſt genannte Ereig¬

niß des Berliner Congreſſes, ſo geziemt es mir nun auch für die

Entſchiedenheit, mit welcher Sie den Rechtsboden vertheidigt haben,

Ihnen dieſe Anerkennung auch öffentlich darzulegen. Das Geſetz *),

welches ich im Sinne habe und welches ſeine Entſtehung einem

meinem Herzen und Gemüth ſchmerzlichen Ereigniß verdankt, ſoll

den deutſchen Staaten ihren jetzigen rechtlichen Standpunkt erhalten

und ſichern, alſo auch Preußen.

Ich habe als Zeichen meiner Anerkennung Ihrer großen Ver¬

dienſte um mein Preußen die Zeichen ſeiner Macht gewählt: Krone,

*) Gegen die gemeingefährlichen Beſtrebungen der Socialdemokratie vom

21. October 1878.

[297/0321]

Briefe Wilhelms I.

Zepter und Schwerdt, und dem Großkreuz des Rothen Adler

Ordens, welches Sie ſtets tragen, zufügen laſſen, welche Décoration

ich Ihnen beifolgend überſende.

Das Schwerdt ſpricht für den Muth und die Einſicht, mit

welcher Sie meinen Zepter und meine Krone zu unterſtützen und

zu ſchützen wiſſen.

Möge die Vorſehung Ihnen noch die Kraft verleihen, um

lange Jahre hindurch ferner Ihren Patriotismus meiner Regierung

und dem Wohle des Vaterlandes zu widmen.

Ihr

treu ergebener dankbarer

Wilhelm.“

„Berlin, den 1. April 1879.

Leider kann ich Ihnen meine Wünſche zum heutigen Tage

nicht perſönlich mündlich darbringen, da ich heute zum Erſtenmale

zwar ausfahren ſoll, aber noch keine Treppen ſteigen darf.

Vor Allem wünſche ich Ihnen Geſundheit, denn von der hängt

ja alle Thätigkeit ab, und dieſe entwickeln Sie jetzt mehr wie ſeit

langer Zeit, ein Beweis, daß Thätigkeit auch geſund erhält.

Möge es zum Wohle des Vaterlandes, des engeren wie weiteren,

ſo fortgehen.

Ich benutze den Tag, um Ihren Schwiegerſohn den Grafen

Rantzau hiermit zum Legationsrath zu ernennen, da ich glaube

Ihnen damit eine Freude zu machen.

Auch ſende ich Ihnen die Copie meines großen Ahnherrn,

des Großkurfürſten, wie er auf der langen Brücke ſteht, zum An¬

denken an den heutigen Tag, der noch recht oft für Sie und

uns wiederkehren möge.

Ihr

dankbarer

Wilhelm.“

[298/0322]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

Um Weihnachten 1883 ſchenkte der Kaiſer mir eine Nach¬

bildung des Denkmals auf dem Niederwald, an der ein Blättchen

mit folgenden Worten befeſtigt war:

„Zu Weihnachten

1883

Der Schlußſtein Ihrer Politik, eine Feier, die hauptſächlich

Ihnen galt und der Sie leider *) nicht beiwohnen konnten!

W.“

„Berlin, 1. April 1885.

Mein lieber Fürſt! Wenn ſich in dem Deutſchen Lande und

Volke das warme Verlangen zeigt, Ihnen bei der Feier Ihres

70. Geburtstages zu bethätigen, daß die Erinnerung an Alles, was

Sie für die Größe des Vaterlandes gethan haben, in ſo vielen

Dankbaren lebt, ſo iſt es mir ein tiefgefühltes Bedürfniß, Ihnen

heute auszuſprechen, wie hoch es mich freut, daß ein ſolcher Zug

des Dankes und der Verehrung für Sie durch die Nation geht.

Es freut mich das für Sie als eine wahrlich im höchſten Maße

verdiente Anerkennung; und es erwärmt mir das Herz, daß ſolche

Geſinnungen ſich in ſo großer Verbreitung kund thun, denn es ziert

die Nation in der Gegenwart und es ſtärkt die Hoffnung auf ihre

Zukunft, wenn ſie Erkenntniß für das Wahre und Große zeigt und

wenn ſie ihre hochverdienten Männer feiert und ehrt. An einer

ſolchen Feier Theil zu nehmen, iſt mir und meinem Hauſe eine

beſondere Freude und wünſchen wir Ihnen durch beifolgendes Bild

(die Kaiſerproclamation in Verſailles) auszudrücken, mit welchen

Empfindungen dankbarer Erinnerung wir dies thun. Denn daſſelbe

vergegenwärtigt einen der größten Momente der Geſchichte des Hohen¬

zollernhauſes, deſſen niemals gedacht werden kann, ohne ſich zugleich

auch Ihrer Verdienſte zu erinnern. Sie, mein lieber Fürſt, wiſſen,

*) Krankheitshalber.

[299/0323]

Briefe Wilhelms I.

wie in mir jederzeit das vollſte Vertrauen, die aufrichtigſte Zu¬

neigung und das wärmſte Dankgefühl für Sie leben wird! Ihnen

ſage ich daher mit dieſem nichts, was ich Ihnen nicht oft genug

ausgeſprochen habe, und ich denke, daß dieſes Bild noch Ihren ſpäten

Nachkommen vor Augen ſtellen wird, daß Ihr Kaiſer und König

und ſein Haus ſich deſſen wohl bewußt waren, was wir Ihnen zu

danken haben. Mit dieſen Geſinnungen und Gefühlen endige ich

dieſe Zeilen als, über das Grab hinausdauernd, Ihr dankbarer

treu ergebener Kaiſer und König

Wilhelm.“

„Berlin zum 23. September 1887.

Sie feiern, mein lieber Fürſt, am 23. September d. J. den

Tag, an welchem ich Sie vor 25 Jahren in mein Staatsminiſterium

berief und nach kurzer Zeit Ihnen das Präſidium deſſelben über¬

trug. Ihre bis dahin dem Vaterlande in den verſchiedenſten und

wichtigſten Aufträgen geleiſteten ausgezeichneten Dienſte berechtigten

mich, Ihnen dieſe höchſte Stellung zu übertragen. Die Geſchichte

des letzten Viertels des Jahrhunderts beweiſet, daß ich mich nicht

bei Ihrer Wahl geirrt habe.

Ein leuchtendes Bild von wahrer Vaterlandsliebe, unermüd¬

licher Thätigkeit, oft mit Hintenanſetzung Ihrer Geſundheit, waren

Sie unermüdlich, die oft ſich aufthürmenden Schwierigkeiten im

Frieden und Kriege feſt ins Auge zu faſſen und zu guten Zielen

zu führen, die Preußen an Ehre und Ruhm zu einer Stellung

führten in der Welt-Geſchichte, wie man ſie nie geahnet hatte;

ſolche Leiſtungen ſind wohl gemacht, um den 25. Jahrestag des

23. Septembers mit Dank gegen Gott zu begehen, daß Er Sie

mir zur Seite ſtellte, um Seinen Willen auf Erden auszuführen.

Und dieſen Dank lege ich nun erneuert an Ihr Herz, wie

ich dieſes ſo oft ausſprechen und bethätigen konnte.

Mit dankerfülltem Herzen wünſche ich Ihnen Glück zur Feier

eines ſolchen Tages und wünſche von Herzen, daß Ihre Kräfte

[300/0324]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

noch lange ungeſchwächt erhalten bleiben zum Segen des Thrones

und des Vaterlandes.

Ihr

ewig dankbarer König

und Freund

Wilhelm.

N. Sch.

Zur Erinnerung an die abgelaufenen 25 Jahre ſende ich

Ihnen die Anſicht des Gebäudes, in welchem wir ſo entſcheidende

Beſchlüſſe berathen und ausführen mußten und die immer Preußen

und nun hoffentlich Deutſchland zur Ehre und zum Wohle ge¬

reichen mögen. W.“

Den letzten Brief des Kaiſers erhielt ich am 23. December 1887.

Verglichen mit dem vorhergehenden zeigt er im Satzbau und in

den Zügen, daß dem Kaiſer während der letztverfloſſenen drei

Monate der ſchriftliche Ausdruck und das Schreiben viel ſaurer

geworden waren; aber die Schwierigkeiten beeinträchtigen nicht die

Klarheit der Gedanken, die väterliche Rückſicht auf das Gefühl des

kranken Sohnes, die landesherrliche Sorge für die gehörige Aus¬

bildung des Enkels. Es wäre unrecht, bei der Wiedergabe dieſes

Briefes irgend etwas daran beſſern zu wollen.

„Berlin, den 23. Dezember 1887.

Anliegend ſende ich Ihnen die Ernennung Ihres Sohnes zum

Wirklichen Geheimen Rath mit dem Prädikat Excellenz, um die¬

ſelbe Ihrem Sohne zu übergeben, eine Freude, die ich Ihnen nicht

verſagen wollte. Ich denke, die Freude wird eine dreifache ſein,

für Sie, für Ihren Sohn und für mich!

Ich ergreife die Gelegenheit, um Ihnen mein bisheriges

Schweigen zu erklären auf Ihren Vorſchlag, meinen Enkel den

Prinzen Wilhelm mehr in die Staatsgeſchäfte einzuführen, bei dem

traurigen Geſundheitszuſtande des Kronprinzen meines Sohnes!

[301/0325]

Briefe Wilhelms I.

Im Princip bin ich ganz einverſtanden, daß dies geſchehe, aber

die Ausführung iſt eine ſehr ſchwierige — Sie werden ja wiſſen,

daß die an ſich ſehr natürliche Beſtimmung, die ich auf Ihren

Rath traf, daß mein Enkel W. in meiner Behinderung die laufenden

Erlaſſe des Civil- und Militär-Cabinets unterſchreiben werde unter

der Ueberſchrift ,auf Allerhöchſten Befehl' — daß dieſe Beſtim¬

mung den Kronprinzen ſehr irritirt hat, als denke man in Berlin

bereits an ſeinen Erſatz! Bei ruhigerer Ueberlegung wird ſich

mein Sohn wohl beruhigt haben. Schwieriger würde dieſe Ueber¬

legung ſein, wenn er erfährt, daß ſeinem Sohn nun noch größere

Einſicht in die Staatsgeſchäfte geſtattet wird und ſelbſt ein Civil-

Adjutant gegeben wird — wie ich ſeinerzeit meine vortragenden

Räthe bezeichnete. Damals lagen die Dinge jedoch ganz anders,

da ein Grund meinen königlichen Vater veranlaſſen konnte, einen

Stellvertreter des damaligen Kronprinzen zu beſtellen, obgleich

meine Erbſchaft an der Krone ſchon längſt vorher zu ſehen war

und unterblieb meine Einführung bis zu meinem 44. Jahre, als

mein Bruder mich ſofort zum Mitglied des Staatsminiſteriums

ernannte mit Beilegung des Titels als Prinz von Preußen. Mit

dieſer Stellung war alſo Zutheilung eines erfahrenen Geſchäfts¬

mannes nothwendig, um mich zur jedesmaligen Staats-Miniſterial-

Sitzung vorzubereiten. Zugleich erhielt ich täglich die politiſchen

Dépéchen, nachdem dieſelben durch 4–5–6 Hände, den Siegeln

nach, gegangen waren! Für bloße Converſation, wie Sie es

vorſchlagen, einen Staatsmann meinem Enkel zuzutheilen, entbehrt

alſo des Grundes einer Vorbereitung, wie bei mir, zu einem be¬

ſtimmten Zweck u. würde beſtimmt meinen Sohn von neuem

u. noch mehr irritiren, was durchaus unterbleiben muß. Ich ſchlage

Ihnen daher vor, daß die bisherige Art der Beſchäftigung-

Erlernung der Behandlung der Staats-Orientirung beibehalten wird

d. h. einzelnen Staats-Miniſterien zugetheilt werde und vielleicht

auf zwei ausgedehnt werde, wie in dieſem Winter, wo mein Enkel

freiwillig den Beſuch des Auswärtigen Amts ferner zu geſtatten

[302/0326]

Zweiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Wilhelm I.

neben dem Finanz-Miniſterium, welche Freiwilligkeit dann von Neu¬

jahr ganz fortfallen könnte u. vielleicht das Miniſt. des Inneren,

wobei meinem Enkel zu geſtatten wäre, in (unleſerlich) Fällen

ſich im Auswärt. Amt zu orientiren. Dieſe Fortſetzung des

jetzigen Verfahrens kann meinen Sohn weniger irritiren, obgleich

Sie Sich erinnern werden, daß er auch gegen dieſes Verfahren

ſcharf opponirt.

Ich bitte alſo um Ihre Anſicht in dieſer Materie.

Ein angenehmes Feſt Ihnen allen wünſchend

Ihr

dankbarer

Wilhelm.

Das beifolgende Patent wollen Sie gefälligſt vor der Ueber¬

gabe contrasigniren. W.“ 1)

Von der Kaiſerin Auguſta habe ich ſehr ſelten Zuſchriften er¬

halten; ihr letzter Brief, bei deſſen Abfaſſung ſie wohl ebenſo

wie ich bei dem Leſen an die Kämpfe gedacht hat, die ich mit ihr

zu beſtehn hatte, lautet wie folgt:

„Dictirt.

Baden-Baden, den 24. December 1888.

Lieber Fürſt!

Wenn ich dieſe Zeilen an Sie richte, ſo iſt es nur, um an

dem Wendepunkt eines ernſten Lebensjahres eine Pflicht der Dank¬

barkeit zu erfüllen. Sie haben unſerm unvergeßlichen Kaiſer treu

beigeſtanden und meine Bitte der Fürſorge für ſeinen Enkel er¬

füllt. Sie haben mir in bitteren Stunden Theilnahme bewieſen,

deshalb fühle ich mich berufen, Ihnen, bevor ich dieſes Jahr be¬

1) Eine größere Zahl von Briefen des Kaiſers Wilhelm I. an Bismarck

habe ich im Bismarck-Jahrbuch (I 140. 141, IV 3–12, V 254. 255, VI 203)

veröffentlicht. H. K.

[303/0327]

Briefe Wilhelms I. Brief der Kaiſerin Auguſta.

ſchließe, nochmals zu danken und dabei auf die Fortdauer Ihrer

Hülfe zu rechnen, mitten unter den Widerwärtigkeiten einer viel¬

bewegten Zeit. Ich ſtehe im Begriff, den Jahreswechſel im Familien¬

kreiſe ſtill zu feiern, und ſende Ihnen und Ihrer Gemahlin einen

freundlichen Gruß.

Auguſta.“

Die Unterſchrift iſt eigenhändig, aber ſehr verſchieden von den

feſten Zügen, in denen die Kaiſerin früher zu ſchreiben pflegte.

[[304]/0328]

Dreiunddreißigſtes Kapitel.

Kaiſer Friedrich III.

Es war ein weitverbreiteter Irrthum, daß der Regirungs¬

wechſel von Kaiſer Wilhelm zu Kaiſer Friedrich mit einem Miniſter¬

wechſel, der mir meinen Nachfolger gegeben haben würde, ver¬

bunden ſein müßte. Im Sommer 1848 hatte ich zuerſt Gelegen¬

heit, dem damals 17jährigen Herrn bekannt zu werden und Beweiſe

perſönlichen Vertrauens von ihm zu erhalten. Letztres mag bis

1866 gelegentlich geſchwankt haben, erwies ſich aber als feſt und

offen bei Erledigung der Danziger Epiſode in Gaſtein 1863 1).

Im Kriege von 1866, insbeſondre in den Kämpfen mit dem Könige

und den höhern Militärs über die Opportunität des Friedensſchluſſes

in Nikolsburg, hatte ich mich eines von politiſchen Prinzipien und

Meinungsverſchiedenheiten unabhängigen Vertrauens des Kronprinzen

zu erfreuen 2). Verſuche, es zu erſchüttern, ſind von verſchiedenen

Seiten, die äußerſte Rechte nicht ausgeſchloſſen, und unter An¬

wendung verſchiedener Vorwände und Erfindungen gemacht worden,

haben aber keinen dauernden Erfolg erreicht; zu ihrer Vereitlung

genügte ſeit 1866 eine perſönliche Ausſprache zwiſchen dem hohen

Herrn und mir.

Als der Geſundheitszuſtand Wilhelms I. im Jahre 1885

Anlaß zu ernſten Beſorgniſſen gab, berief der Kronprinz mich nach

1) S. Bd. I 322.

2) S. o. S. 47.

[305/0329]

Beziehungen zum Kronprinzen und zur Kronprinzeſſin.

Potsdam und fragte, ob ich im Falle eines Thronwechſels im

Dienſt bleiben würde. Ich erklärte mich dazu unter zwei Be¬

dingungen bereit: keine Parlamentsregirung und keine auswär¬

tigen Einflüſſe in der Politik. Der Kronprinz erwiderte mit einer

entſprechenden Handbewegung: „Kein Gedanke daran!“

Bei ſeiner Frau Gemalin konnte ich nicht daſſelbe Wohlwollen

für mich vorausſetzen; ihre natürliche und angeborne Sympathie

für ihre Heimath hatte ſich von Hauſe aus gekennzeichnet in dem

Beſtreben, das Gewicht des preußiſch-deutſchen Einfluſſes in euro¬

päiſchen Gruppirungen in die Wagſchale ihres Vaterlandes, als

welches ſie England zu betrachten niemals aufgehört hat, hinüber¬

zuſchieben und im Bewußtſein der Intereſſenverſchiedenheit der

beiden aſiatiſchen Hauptmächte, England und Rußland, bei ein¬

tretendem Bruche die deutſche Macht im Sinne Englands verwendet

zu ſehn. Dieſer auf der Verſchiedenheit der Nationalität beruhende

Diſſens hat in der orientaliſchen Frage, mit Einſchluß der Batten¬

bergiſchen, manche Erörterung zwiſchen Ihrer Kaiſerlichen Hoheit

und mir veranlaßt. Ihr Einfluß auf ihren Gemal war zu allen

Zeiten groß und wurde ſtärker mit den Jahren, um zu culmi¬

niren in der Zeit, wo er Kaiſer war. Aber auch bei ihr beſtand

die Ueberzeugung, daß meine Beibehaltung bei dem Thronwechſel

im Intereſſe der Dynaſtie liege.

Es iſt nicht meine Abſicht, würde auch unausführbar ſein,

jeder Legende und böswilligen Erfindung ausdrücklich zu wider¬

ſprechen. Da indeſſen die Erzählung, der Kronprinz habe 1887

nach der Rückkehr aus Ems eine Urkunde unterzeichnet, in der

er für den Fall, daß er ſeinen Vater überlebe, zu Gunſten des

Prinzen Wilhelm auf die Regirung verzichtet, in ein engliſches

Werk über den Kaiſer Wilhelm II. übergegangen iſt, ſo will ich

conſtatiren, daß an der Geſchichte nicht ein Schatten von Wahrheit

iſt. Auch daß ein Thronerbe, der an einer unheilbaren Körper¬

krankheit leide, nach unſern Hausgeſetzen nicht ſucceſſionsfähig ſei,

wie 1887 in manchen Kreiſen behauptet, in andern geglaubt wurde,

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II. 20

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Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III.

iſt eine Fabel. Die Hausgeſetze ſo wenig wie die preußiſche Ver¬

faſſungs-Urkunde enthalten irgend eine Beſtimmung der Art. Da¬

gegen gab es einen Moment, in dem eine Frage ſtaatsrechtlicher

Natur mich nöthigte, in die Behandlung des Dulders einzugreifen,

deren Geſchichte übrigens die mediziniſche Wiſſenſchaft angeht. Die

behandelnden Aerzte waren Ende Mai 1887 entſchloſſen, den Kron¬

prinzen bewußtlos zu machen und die Exſtirpation des Kehlkopfs

auszuführen, ohne ihm ihre Abſicht angekündigt zu haben. Ich er¬

hob Einſpruch, verlangte, daß nicht ohne die Einwilligung des Pa¬

tienten vorgegangen und, da es ſich um den Thronfolger handle,

auch die Zuſtimmung des Familienhauptes eingeholt werde. Der

Kaiſer, durch mich unterrichtet, verbot, die Operation ohne Ein¬

willigung ſeines Sohnes vorzunehmen.

Von den wenigen Erörterungen, die ich mit dem Kaiſer Friedrich

während ſeiner kurzen Regirungszeit zu führen hatte, ſei eine er¬

wähnt, an die ſich Betrachtungen über die Reichsverfaſſung knüpfen

laſſen, die mich in frühern Conjuncturen und wieder im März 1890

beſchäftigt haben.

Bei dem Kaiſer Friedrich war die Neigung vorhanden, der

Verlängerung der Legislaturperiode von drei auf fünf Jahre im

Reiche und in Preußen die Genehmigung zu verſagen. In Betreff

des Reichstags ſetzte ich ihm auseinander, daß der Kaiſer als ſolcher

kein Factor der Geſetzgebung ſei, ſondern nur als König von

Preußen durch die preußiſche Stimme am Bundesrathe mitwirke;

ein Veto gegen übereinſtimmende Beſchlüſſe beider geſetzgebenden

Körperſchaften habe ihm die Reichsverfaſſung nicht beigelegt. Dieſe

Auseinanderſetzung genügte, um Se. Majeſtät zur Vollziehung des

Schriftſtücks, durch das die Verkündigung des Geſetzes vom 19. März

1888 angeordnet wurde, zu beſtimmen.

Auf die Frage Sr. Majeſtät, wie ſich die Sache nach der

preußiſchen Verfaſſung verhalte, konnte ich nur antworten, daß der

König daſſelbe Recht habe, einen Geſetzentwurf anzunehmen oder

abzulehnen, wie jedes der beiden Häuſer des Landtags. Se. Majeſtät

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Eine Legende. Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung.

lehnte dann vor der Hand die Unterzeichnung ab, ſich die Ent¬

ſchließung vorbehaltend. Es entſtand alſo die Frage, wie das

Staatsminiſterium, das die Königliche Zuſtimmung beantragt hatte,

ſich zu verhalten habe. Ich befürwortete und erreichte, daß einſt¬

weilen auf eine Erörterung mit dem Könige verzichtet wurde, weil

er ein unzweifelhaftes Recht ausübe, weil überdies der Geſetzentwurf

vor dem Thronwechſel eingebracht war, und endlich, weil wir ver¬

meiden müßten, die wegen der Krankheit des Monarchen ohnehin

ſchwierige Situation durch Anregung von Cabinetsfragen zu ver¬

ſchärfen. Die Sache erledigte ſich dadurch, daß Se. Majeſtät mir

am 27. Mai auch das preußiſche Geſetz vollzogen aus eignem An¬

triebe zugehn ließ.

Man hat ſich in der Praxis daran gewöhnt, den Kanzler als

verantwortlich für das geſammte Verhalten der Reichsregirung an¬

zuſehn. Dieſe Verantwortlichkeit läßt ſich nur dann behaupten,

wenn man ſeine Berechtigung zugiebt, das kaiſerliche Ueberſendungs¬

ſchreiben, vermittelſt deſſen Vorlagen der verbündeten Regirungen

(Art. 16) an den Reichstag gelangen, durch Verweigerung der

Gegenzeichnung zu inhibiren. Der Kanzler an ſich hätte, wenn er

nicht zugleich preußiſcher Bevollmächtigter zum Bundesrathe iſt,

nach dem Wortlaute der Verfaſſung nicht einmal die Berechtigung,

an den Debatten des Reichstags perſönlich theilzunehmen. Wenn

er, wie bisher, zugleich Träger eines preußiſchen Mandates zum

Bundesrathe iſt, ſo hat er nach Art. 9 das Recht, im Reichstage

zu erſcheinen und jederzeit gehört zu werden; dem Reichskanzler als

ſolchem iſt dieſe Berechtigung durch keine Beſtimmung der Ver¬

faſſung beigelegt. Wenn alſo weder der König von Preußen, noch

ein andres Mitglied des Bundes den Kanzler mit einer Vollmacht

für den Bundesrath verſieht, ſo fehlt demſelben die verfaſſungs¬

mäßige Legitimation zum Erſcheinen im Reichstage; er führt zwar

nach Art. 15 im Bundesrathe den Vorſitz, aber ohne Votum, und

es würden ihm die preußiſchen Bevollmächtigten in derſelben Un¬

abhängigkeit gegenüberſtehn wie die der übrigen Bundesſtaaten.

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Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III.

Es leuchtet ein, daß eine Aenderung der bisherigen Verhält¬

niſſe, infolge deren die bisher dem Kanzler zugeſchriebene Ver¬

antwortlichkeit auf die Anordnungen der kaiſerlichen Executiv-Gewalt

beſchränkt und ihm die Befugniß, geſchweige denn die Verpflichtung,

im Reichstage zu erſcheinen und zu diſcutiren, entzogen würde,

nicht eine nur formelle ſein, ſondern auch die Schwerkraft der Fac¬

toren unſres öffentlichen Lebens weſentlich verändern würde. Ich

habe mir die Frage, ob es ſich empföhle, derartigen Eventualitäten

näher zu treten, vorgelegt zu der Zeit, als ich mich im December

1884 einer Reichstagsmehrheit gegenüber fand, die ſich aus einer

Coalition der verſchiedenartigſten Elemente zuſammenſetzte, aus der

Socialdemokratie, den Polen, Welfen, Franzoſenfreunden aus dem

Elſaß, den freiſinnigen Krypto-Republikanern und gelegentlich aus

mißgünſtigen Conſervativen am Hofe, im Parlamente und in der

Preſſe — der Coalition, die zum Beiſpiel die Geldbewilligung für

einen zweiten Director im Auswärtigen Amt ablehnte. Die Unter¬

ſtützung, die ich dieſer Oppoſition gegenüber am Hofe, im Parla¬

mente und außerhalb deſſelben fand, war keine unbedingte, und

nicht frei von der Mitwirkung mißgünſtiger und rivaliſirender

Streber. Ich habe damals die Frage Jahre hindurch mit wechſelnder

Anſicht über ihre Dringlichkeit bei mir und mit Andern erwogen,

ob das Maß nationaler Einheit, welches wir gewonnen hatten, zu

ſeiner Sicherſtellung nicht einer andern Form bedürfe, als der zur

Zeit gültigen, die aus der Vergangenheit überliefert und durch die

Ereigniſſe und durch Compromiſſe mit Regirungen und Parla¬

menten entwickelt war. Ich habe in jener Zeit, wie ich glaube,

auch in öffentlichen Reden angedeutet, daß der König von Preußen,

wenn ihm der Reichstag die kaiſerliche Wirkſamkeit über die Grenzen

der Möglichkeit monarchiſcher Einrichtungen erſchwere, ſich zu einer

ſtärkern Anlehnung an die Unterlagen veranlaßt ſehn könne, welche

die preußiſche Krone und Verfaſſung ihm gewähre 1). Ich hatte bei

1) Vgl. Pol. Reden XI 468.

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Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung.

Herſtellung der Reichsverfaſſung befürchtet, daß die Gefährdung

unſrer nationalen Einheit in erſter Linie von dynaſtiſchen Sonder¬

beſtrebungen zu befürchten ſei, und hatte mir daher zur Aufgabe

geſtellt, das Vertrauen der Dynaſtien durch ehrliche und wohl¬

wollende Wahrung ihrer verfaſſungsmäßigen Rechte im Reiche zu

gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbeſondre die

hervorragenden Fürſtenhäuſer eine gleichzeitige Befriedigung ihres

nationalen Sinnes und ihrer particulären Anſprüche fanden. In

dem Ehrgefühle, das den Kaiſer Wilhelm I. ſeinen Bundesgenoſſen

gegenüber beſeelte, habe ich ſtets ein Verſtändniß für die politiſche

Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen ſtark dynaſtiſchen Gefühle

ſchließlich doch überlegen war.

Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge¬

meinſamen öffentlichen Einrichtungen, namentlich in dem Reichs¬

tage, in Finanzen, baſirt auf indirecten Steuern und in Mono¬

polen, deren Erträge nur bei dauernd geſichertem Zuſammenhange

flüſſig bleiben, Bindemittel herzuſtellen, die haltbar genug wären,

um centrifugaler Anwandlung einzelner Bundesregirungen Wider¬

ſtand zu leiſten. Die Ueberzeugung, daß ich mich in dieſer Rech¬

nung geirrt, daß ich die nationale Geſinnung der Dynaſtien unter¬

ſchätzt, die der deutſchen Wähler oder doch des Reichstags über¬

ſchätzt hatte, war Ende der ſiebziger Jahre in mir noch nicht zum

Durchbruch gekommen, mit ſo viel Uebelwollen ich auch im Reichstage,

am Hofe, in der conſervativen Partei und deren „Declaranten“ zu

kämpfen gehabt hatte. Jetzt habe ich den Dynaſtien Abbitte zu leiſten;

ob die Fractionsführer mir ein pater peccavi ſchuldig ſind, darüber

wird die Geſchichte einmal entſcheiden. Ich kann nur das Zeugniß

ablegen, daß ich den Fractionen, den arbeitsſcheuen Mitgliedern ſo¬

wohl wie den Strebern, in deren Hand die Führung und das

Votum ihrer Gefolgſchaften lag, eine ſchwerere Schuld an der

Schädigung unſrer Zukunft beimeſſe, als ſie ſelbſt fühlen. „Get

you home, you fragments,“ ſagt Coriolan. Nur die Führung

des Centrums kann ich nicht eine unfähige nennen, aber ſie

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Dreiunddreißigſtes Kapitel: Kaiſer Friedrich III.

iſt berechnet auf die Zerſtörung des unbequemen Gebildes eines

Deutſchen Reiches mit evangeliſchem Kaiſerthum und acceptirt in

Wahlen und Abſtimmungen den Beiſtand jeder ihr an ſich feind¬

lichen, aber zunächſt in gleicher Richtung wirkenden Fraction, nicht

nur der Polen, Welfen, Franzoſen, ſondern auch der Freiſinnigen.

Wie viele der Mitglieder mit Bewußtſein, wie viele in ihrer Be¬

ſchränktheit für reichsfeindliche Zwecke arbeiten, werden nur die

Führer beurtheilen können. Windthorſt, politiſch latitudinarian,

religiös ungläubig, iſt durch Zufall und bürokratiſches Ungeſchick

auf die feindliche Seite geſchoben worden. Trotz alledem hoffe ich,

daß in Kriegszeiten das Nationalgefühl ſtets zu der Höhe an¬

ſchwellen wird, um das Lügengewebe zu zerreißen, in dem Fractions¬

führer, ſtrebſame Redner und Parteiblätter in Friedenszeiten die

Maſſen zu erhalten wiſſen.

Wenn man ſich die Zeit vergegenwärtigt, wo das Centrum,

geſtützt weniger auf den Papſt als auf den Jeſuitenorden, die

Welfen, nicht blos die hanöverſchen, die Polen, die franzöſirenden

Elſäſſer, die Volksparteiler, die Socialdemokraten, die Freiſinnigen

und die Particulariſten, einig unter einander nur in der Feind¬

ſchaft gegen das Reich und ſeine Dynaſtie, unter Führung deſſelben

Windthorſt, der vor und nach ſeinem Tode zu einem National¬

heiligen gemacht wurde, eine ſichre und herriſche Mehrheit gegen

den Kaiſer und die verbündeten Regirungen beſaß, ſo wird

Jeder, der die damalige Situation und die von Weſten und Oſten

drohenden Gefahren ſachkundig zu beurtheilen im Stande iſt, es

natürlich finden, daß ein für die Schlußergebniſſe verantwortlicher

Reichskanzler daran dachte, den möglichen auswärtigen Verwick¬

lungen und ihrer Verbindung mit innern Gefahren mit derſelben

Unabhängigkeit entgegen zu treten, mit der der böhmiſche Krieg

ohne Einverſtändniß, vielfach ſogar im Widerſpruche mit politiſchen

Stimmungen unternommen wurde.

Von den Privatbriefen des Kaiſers Friedrich theile ich einen

um ſeinet- und um meinetwillen mit, als Probe ſeiner Sinnesart

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Deutſches Fractionsgetriebe. Brief Friedrichs III.

und ſeines ſchriftlichen Ausdrucks und behufs Zerſtörung der Legende,

daß ich „ein Feind der Armee“ geweſen ſei.

„Charlottenburg, 25. März 1888.

Ich gedenke mit Ihnen, mein lieber Fürſt, der heute ab¬

gelaufenen 50 Jahre, welche verſtrichen ſind, ſeitdem Sie in das

Heer eintraten, und freue mich aufrichtig, daß der Garde-Jäger

von damals mit ſo viel Zufriedenheit auf dieſes abgelaufene halbe

Jahrhundert zurückblicken kann. Ich will mich heute nicht in lange

Auseinanderſetzungen über die ſtaatsmänniſchen Verdienſte ein¬

laſſen, welche Ihren Namen für immer mit unſrer Geſchichte ver¬

flochten haben. Aber das Eine muß ich hervorheben: daß wo es

galt, das Wohl des Heeres, ſeine Wehrkraft, ſeine Schlagfertigkeit

zu vervollkommnen, Sie nimmer fehlten, den Kampf auszufechten

und durchzuführen. Somit dankt Ihnen das Heer für erlangte

Segnungen, die es Ihnen niemals vergeſſen wird, und an der

Spitze deſſelben der Kriegsherr, der erſt vor wenigen Tagen be¬

rufen iſt, dieſe Stellung nach dem Heimgang deſſen einzunehmen,

der unausgeſetzt das Wohl der Armee auf dem Herzen trug.

Ihr

wohlgeneigter

Friedrich.“

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[Abbildung     Aus dem Manuſkript der „Gedanken und Erinnerungen“ von Otto Fürſt von Bismarck.

Fakſimile einer vom Fürſten ſelbſt geſchriebenen Seite.

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[0338]

[Abbildung     Aus dem Manuſkript der „Gedanken und Erinnerungen“ von Otto Fürſt von Bismarck.

Fakſimile einer vom Fürſten ſelbſt geſchriebenen Seite.

]

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