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Gedanken und Erinnerungen.

Von

Otto Fürſt von Bismarck.

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[[I]/0010]

[[II]/0011]

[Abbildung     F. von Lenbach pinx. Photographie im Verlag der Photogr. Union in München.]

[0012]

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[[III]/0014]

Gedanken und Erinnerungen.

Von

Otto Fürſt von Bismarck.

Erſter Band.

[Abbildung]

Stuttgart 1898.

Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung

Nachfolger.

[[IV]/0015]

Alle Rechte, insbeſondere das Ueberſetzungsrecht, vorbehalten.

Copyright 1898 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger.

Druck von C. Grumbach in Leipzig.

[[V]/0016]

Vorwort des Herausgebers.

Fürſt Bismarck begann die Aufzeichnungen ſeiner „Gedanken und

Erinnerungen“ bald nachdem ihm durch die Entlaſſung aus ſeinen

ruhmreich geführten Aemtern — wie er ſelbſt wiederholt geſagt hat —

das Spalier entzogen war, an dem ſich ſein Leben bisher emporgerankt

hatte. Die erſte Anregung gab ihm eine von einem Verlagsangebote

begleitete Anfrage des Cotta'ſchen Hauſes; ſchon am 6. Juli 1890 wurde

zwiſchen dem Fürſten und dem Vertreter der Cotta'ſchen Buchhandlung

ein Abkommen getroffen, durch welches dieſem Hauſe für den Fall, daß

der Fürſt Erinnerungen aus ſeinem Leben niederſchriebe, das Verlags¬

recht übertragen wurde. Lothar Bucher, der geſchichtskundige Diplomat,

der nach des Fürſten Entlaſſung Jahre lang mit kurzen Unterbrechungen

in Friedrichsruh oder Varzin als ſtiller Hausgaſt weilte, hat das Ver¬

dienſt, daß er den Fürſten Bismarck in ſeinem Entſchluſſe zur Nieder¬

ſchrift ſeiner Erinnerungen und ſeiner politiſchen Gedanken beſtärkte und

ihn in täglichen Geſprächen bei dem begonnenen Werke feſthielt. Buchers

ſtenographiſche Nachſchriften nach dem Dictate des Fürſten bildeten

den Grundſtock zu der erſten Ausarbeitung, mit der ſich der Fürſt Jahre

lang eifrig beſchäftigte, indem er die in Kapitel eingetheilten und

ſyſtematiſch geordneten Aufzeichnungen immer von neuem durchſah und

durch eigenhändige Nachträge ergänzte. Um ihm dieſe Arbeit zu er¬

leichtern, wurden die „Gedanken und Erinnerungen“ ſchon im Jahre

1893 als Manuſkript gedruckt mit allen Aenderungen, die der Fürſt

an dem erſten Entwurf angebracht hatte. Dieſes neue Manuſkript

hat Fürſt Bismarck dann noch zwei- bis dreimal durchgearbeitet und

ſorgfältiger Nachprüfung unterzogen, in der ihn ſein faſt untrügliches

Gedächtniß aufs beſte unterſtützte. Ganze Kapitel hat er noch in den

letzten beiden Jahren in neue Formen umgegoſſen.

Die zunehmenden Leiden des Alters und eine gewiſſe Scheu vor

der Mühe des Schreibens ließen die Arbeit zuweilen ins Stocken ge¬

[VI/0017]

Vorwort des Herausgebers.

rathen, aber ein großer Theil iſt fertig geworden und bildet ein koſtbares

Erbe der deutſchen Nation. Aus dieſer reichfließenden Quelle werden

auch noch in künftigen Jahrhunderten unſere Staatsmänner und Geſchicht¬

ſchreiber Belehrung ſchöpfen, unſer ganzes Volk aber wird ſich noch bis

in die fernſten Zeiten, wie an den Werken ſeiner Klaſſiker, an dem

Buche erbauen, das ſein Bismarck ihm hinterlaſſen hat.

Pflicht des Herausgebers, der hierin einem vom Fürſten Otto

von Bismarck ſelbſt herrührenden Auftrage nachkam, mußte es ſein,

die eingeſtreuten Schriftſtücke, die oft aus mangelhaften Drucken über¬

nommen worden waren, nach den Urſchriften richtig zu ſtellen, kleine

Irrthümer in der Angabe von Daten oder der Schreibung von Namen,

die der Mangel an amtlichem Material verſchuldete, zu beſſern, in

Fußnoten auf ähnliche Aeußerungen des Fürſten in ſeinen politiſchen

Reden aufmerkſam zu machen und literariſche Nachweiſe zu geben.

Nirgends aber iſt der Text geändert oder gekürzt worden — die Pietät

gebietet einem ſolchen Todten gegenüber doppelte Zurückhaltung.

Anmerkungen von der Hand des Fürſten ſind durch Sternchen (),

ſolche des Herausgebers durch Ziffern kenntlich gemacht.

Chemnitz, 21. Oktober 1898. Horſt Kohl

[[VII]/0018]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Vorwort des Herausgebers V

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage 1-19

I. Die politiſchen Anſchauungen des Jünglings S. 1. Rückwirkung

der Hambacher Feier und des Frankfurter Putſches auf die deutſch¬

nationale Geſinnung und den Liberalismus Bismarcks 2. Gedanken

des Jünglings über auswärtige Politik 2. Neigung zur diplomati¬

ſchen Laufbahn 3. Ancillons Ideal eines Diplomaten 3. Mangel

an geeignetem Material für die Diplomatie im preußiſchen Landadel

und Urſache dieſer Erſcheinung 4. Die Ausländer in der damaligen

preußiſchen Diplomatie und im Heere 5. Perſonen und Einrich¬

tungen der damaligen preußiſchen Juſtiz 6. Als Auscultator beim

Criminal- und Stadtgericht 6. 7. „Ich ſtimme wie der College

Tempelhof“ 7. Ein Sühneverſuch des Herrn Prätorius 7. Bedürf¬

niß einer Verordnung über das Verfahren in Eheſcheidungen 8. Be¬

ſchäftigung in der Abtheilung für Bagatellprozeſſe 8. Uebergang zur

Verwaltung 8. Die rheiniſchen Regierungscollegien, Perſönlichkeiten

und Geſchäfte 9. Fortſetzung des Referendariats bei der Regierung

zu Potsdam 10. Abneigung gegen Zopf und Perrücke der damaligen

Bureaukratie 10. Ungerechtigkeit in der Beurtheilung der damaligen

Bureaukratie gegenüber dem Bureaukratismus der heutigen Zeit 10.

Der Landrath ſonſt und jetzt 11. Größere Unparteilichkeit der früheren

Regierungsbeamten, parteipolitiſche Beeinfluſſung der Richter in unſrer

Zeit 12. Verzicht auf die Beamtenlaufbahn, Eintritt in die Bewirth¬

ſchaftung der pommerſchen Güter 13. II. Bismarcks angebliches

„Junkerthum“ 13. Die unumſchränkte Autorität der alten preußiſchen

Königsmacht nicht das letzte Wort ſeiner Ueberzeugung 14. Bismarcks

Ideal einer monarchiſchen Gewalt 15. Conflicte mit der Bureau¬

kratie 16. Bismarck contra Bismarck 16. Die Oppoſition auf dem

Erſten Vereinigten Landtag 17. Conflict Bismarcks mit der Oppo¬

ſition 17. Friedrich Wilhelm IV. und Bismarck 18.

[VIII/0019]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848 20–53

I. Erſter Eindruck der Ereigniſſe des 18. und 19. März S. 20.

Vertreibung der Tangermünder Deputirten durch die Schönhauſer

Bauern 20. Ihre Bereitſchaft zum Zuge nach Berlin 21. Bismarck

in Potsdam: Unterredung mit Bodelſchwingh, Möllendorf, Pritt¬

witz 21. Bismarck bei der Prinzeſſin von Preußen 22, beim

Prinzen Friedrich Karl 23. Bismarck verſucht in's Schloß zu Ber¬

lin zu gelangen, wird abgewieſen 23. Bismarcks Brief an den

König die erſte Sympathiekundgebung 24. In den Straßen von

Berlin 24. Unterredung mit Prittwitz und Möllendorf über die

Möglichkeit eines ſelbſtändigen militäriſchen Handelns 25. Bismarck

in Magdeburg mit Verhaftung bedroht 25. Bismarck mit einer De¬

putation Schönhauſer Bauern in Potsdam 26. Anrede des Königs

an die Offiziere des Gardecorps 26. Schreiben Bismarcks an General¬

lieutenant v. Prittwitz 27. Mittheilungen zur Geſchichte der März¬

bewegung aus Geſprächen mit Polizeipräſident v. Minutoli und Ge¬

neral v. Prittwitz 29. 30. Fürſt Lichnowſki 31. II. Bismarcks

Erklärung gegen die Adreſſe 31. Schreiben an eine Magdeburger

Zeitung 32. Ein Zeitungsartikel: „Aus der Altmark“ 34. Bismarck

gegen den Antrag v. Vincke, betr. die Abdankung des Königs und

Berufung der Prinzeſſin von Preußen zur Regentſchaft 36. Begeg¬

nung mit dem Prinzen von Preußen bei deſſen Rückkehr aus Eng¬

land 37. Erſte Begegnung mit dem Prinzen 38. Beim Prinzen in

Babelsberg 38. Erſte Beziehungen zur Prinzeſſin von Preußen und

dem Prinzen Friedrich Wilhelm 41. III. Schutzbedürftigkeit der deut¬

ſchen Fürſten gegenüber der Revolution, von Friedrich Wilhelm IV.

nicht im unitariſchen Sinne ausgebeutet 40. Der Umzug vom

21. März 41. Würde ein Sieg Friedrich Wilhelms IV. über die

Revolution dauernde Erfolge auf national-deutſchem Gebiete gehabt

haben? 42. Erſter Beſuch in Sansſouci 43. Geſpräch mit dem Kö¬

nige 43. Rechtsauffaſſung des Königs 45. Mögliche Hintergedanken

des Königs bei ſeinem Verhalten gegenüber der Nationalverſammlung 46.

Die Camarilla 46. Leopold und Ludwig v. Gerlach 47. General

v. Rauch 48. IV. Auf der Suche nach einem neuen Miniſterium 49.

Uebernahme des Präſidiums durch Graf Brandenburg 50. Otto v. Man¬

teuffel wird von Bismarck bewogen, in das Miniſterium Brandenburg

einzutreten 50. Die neuen Miniſter vor der Nationalverſammlung 50.

Vorkehrungen zu ihrer Sicherung 51. Die militäriſche Beſetzung

der Wohnung des Grafen Kniephauſen 51. Kritik des Verhaltens

Wrangels 52. Hintergedanken des Königs bei Verlegung der National¬

verſammlung 52.

[IX/0020]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden 54–77

I. Der latente deutſche Gedanke Friedrich Wilhelms IV. hat die

Mißerfolge der preußiſchen Politik nach 1848 verſchuldet S. 54. Die

Phraſen von dem deutſchen Berufe Preußens und von moraliſchen

Eroberungen 55. Die Dynaſtien und die Barrikade 55. Selbſt¬

täuſchung der Frankfurter Verſammlung 56. Stärke des dynaſtiſchen

Gefühls in Preußen 56. Die Ablehnung der Kaiſerkrone durch Friedrich

Wilhelm IV. 57. Bismarcks Urtheil über die damalige Lage jetzt

und im Jahre 1849 57. Seine damalige Auffaſſung gegründet auf

Fractionsbeurtheilung 58. Fractionsleben ſonſt und jetzt 58. Das

Dreikönigsbündniß 59. Gunſt der Lage für Preußen 59. Täuſchung

der leitenden Kreiſe in Preußen über die realen Machtverhältniſſe 60.

Bedenken Friedrich Wilhelms IV. 61. II. Die preußiſchen Truppen

in Pfalz und Baden 62. Bismarcks Vertrauen auf Preußens mili¬

täriſche Kraft im Kampfe gegen die Revolution 63. Halbheit der

damaligen preußiſchen Politik 64. General v. Radowitz, der Garderobier

der mittelalterlichen Phantaſie des Königs 64. Das Erfurter Parla¬

ment: Graf Brandenburg verſucht Bismarck für die Erfurter Politik

zu gewinnen 66. Bismarck und Gagern 66. Die Familien Gagern

und Auerswald 67. Kriegsminiſter Stockhauſen heißt Bismarck ab¬

wiegeln 68. Preußens militäriſche Gebundenheit und ihre Urſachen 70.

Bismarcks Rede vom 3. December 1850 71. Leitender Gedanke der

Rede 74. Ruhigere Auffaſſung der deutſchen Revolution in St. Peters¬

burg im November 1850 74. Baron v. Budberg 75. III. Geringer

Ertrag der Dresdner Verhandlungen 76. Fürſt v. Schwarzenberg

und Herr v. Manteuffel in Dresden 76. Grundirrthum der dama¬

ligen preußiſchen Politik 77.

Viertes Kapitel: Diplomat 78–91

Ernennung zum Legationsrath bei der Bundestags-Geſandtſchaft S. 78.

Ernennung zum Bundesgeſandten 80. Verſtimmung des Herrn

v. Rochow 80. Erſte Studien über das Ordensweſen, gemacht am

General v. Peucker 80. Bismarcks Gleichgültigkeit gegen Ordens¬

decorationen 81. Der monsieur décoré in Paris und Petersburg 81.

Das tanzluſtige Frankfurt 82. Abneigung des Königs Wilhelm I.

gegen tanzende Miniſter 83. Sendung nach Wien auf die „hohe

Schule der Diplomatie“ 83. Einführungsſchreiben vom 5. Juni 1852 83.

Aufnahme in Wien 85. Schwierigkeiten einer Zollgemeinſchaft mit

Oeſterreich 85. Klentzeſche Verdächtigungen 87. Abneigung Bismarcks

[X/0021]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

gegen den Wiener Poſten und den Miniſterpoſten 87. Schwierigkeiten

einer Miniſterſtellung unter Friedrich Wilhelm IV. 88. Bismarck bei

König Georg V. von Hannover 88. Verlaſſenheit Georgs V. 90.

Ein preußiſcher Conſul als öſterreichiſcher Agent? 90.

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg 92–120

I. Die Fraction Bethmann-Hollweg und der Prinz v. Preußen S. 92.

Graf Karl v. d. Goltz 92. Graf Robert v. d. Goltz als Impreſario

der Bethmann-Hollwegſchen Fraction 93. Das „Preußiſche Wochen¬

blatt“ 93. Rudolf v. Auerswald 94. Bismarck lehnt es ab, der

Wochenblattspartei beizutreten 94. Olmütz in den Empfindungen des

Prinzen v. Preußen 95. Manteuffels Abneigung gegen einen Bruch mit

Oeſterreich 96. Das preußiſch-öſterreichiſche Schutz- und Trutzbündniß

vom 20. April 1854 97. Bismarck ſchlägt dem Könige vor, die Ge¬

legenheit des ruſſiſch-weſtmächtlichen Kriegs zu einer Hebung des

preußiſchen Anſehns in Europa zu benutzen durch eine Truppenauf¬

ſtellung in Oberſchleſien 97. Der Deutſche Bund unter dem Drucke

einer öſterreichiſch-franzöſiſchen Allianz 98. Aeußerung des Königs

Wilhelm I. von Württemberg 98. „Liebeken, das is ſehr ſchöne, aber

es is mich zu theuer“ 99. II. Auszüge aus Briefen des Generals

v. Gerlach 100. Ein Brief des Cabinetsraths v. Niebuhr 103. Weitere

Auszüge aus Briefen Gerlachs 104. Manteuffels Abneigung gegen

eine active anti-öſterreichiſche Politik 108. Gewöhnlicher Verlauf der

Cabinetskriſen 109. Graf Alvensleben als Miniſtercandidat 109.

III. Doppelſpiel der Wochenblattspartei 110. Ihr politiſches Pro¬

gramm 110 und deſſen Kritik 111. Ein gefälſchtes Memoire 111.

Denkſchrift Bunſens über die Neugeſtaltung der Karte von Europa 112.

Unterredung des Prinzen von Preußen mit Bismarck über Preußens

Stellung im Krimkriege, ſpeciell zu Rußland 113. Was ſpricht gegen

einen Krieg Preußens gegen Rußland? 114. Der Depeſchen- und

Briefdiebſtahl 115. Selbſtverrath Hinckeldeys 116. IV. Ein Brief

Bismarcks an Gerlach über die Abdication Preußens von ſeiner euro¬

päiſchen Stellung 117.

Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz 121–127

Der Prinz von Preußen unter dem Einfluſſe ſeiner Gemahlin S. 121.

Hinneigung der Prinzeſſin (und Kaiſerin) Auguſta für alles Franzö¬

ſiſche und Engliſche 121. Ihre Abneigung gegen alles Ruſſiſche 122.

Herr v. Schleinitz 123. Frühſtücksvorträge der Prinzeſſin (und Kai¬

ſerin) Auguſta und ihre Einwirkungen 123. Gegnerſchaft der Höfe

[XI/0022]

Inhaltsverzeichniß.

von Sansſouci und Coblenz 124. Königin Eliſabeth 124. Hinneigung

der Prinzeſſin (und Kaiſerin) Auguſta zum Katholicismus 125. Ihre

Differenzen mit dem Oberpräſidenten v. Kleiſt-Retzow 126. Der

Generalſtab des Hofes von Sansſouci 126. Guſtav v. Alvensleben

als Vertreter des ſtaatlichen Intereſſes am Coblenzer Hofe 127.

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt u. Berlin 128–148

I. Bismarck zur „Territion“ Manteuffels entboten S.128. Marquis

Mouſtier ſucht Bismarck in weſtmächtlichem Sinne zu beeinfluſſen 129.

Goltz und Pourtalès als gelegentliche Vertrauensmänner des Königs

gegen Manteuffel 129. II. Manteuffel im Streite mit der Kreuz¬

zeitungspartei über Rhino Quehl 130. Briefe Gerlachs in Sachen

dieſes Streites 131. Manteuffel ſchmollt 137. Graf Albrecht v. Alvens¬

leben als „Schreckbild“, Bismarck als Friedensbote 137. Bismarck

befreit Manteuffel von Quehl und den beim Depeſchendiebſtahl be¬

nutzten Agenten 137. Auffaſſung Friedrich Wilhelms IV. von der

Stellung eines Miniſters 138. III. Ein Schreiben Manteuffels und

ein Schreiben Friedrich Wilhelms IV. über die Zuſammenſetzung

der Erſten Kammer 139. 140. Bismarck als königlicher Vertrauens¬

mann in den Verhandlungen mit der conſervativen Partei der Zweiten

Kammer 140. Zorn des Königs über Bismarcks Säumen 141. Eine

Internirung im Schloſſe zu Charlottenburg 141. Umſtimmung der

conſervativen Fraction durch Bismarck 142. Erſte Kammer oder

Herrenhaus? 143. Bismarcks Vorſchlag für die Bildung des Herren¬

hauſes 144. IV. Widerſpruch Manteuffels und der Camarilla gegen

eine Ernennung Bismarcks zum Miniſter 145. Bismarck und die

Führer der conſervativen Fraction 145. Bismarck als Redactor des

Königs 146. Kleine Ursachen, große Wirkungen 148.

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris 149–190

I. Graf Hatzfeldt ladet Bismarck nach Paris ein S. 149. Umſchlag in

der Stimmung des Königs 149. Königin Victoria und Prinz Albert

in Paris 149. Eingenommenheit des Prinzen Albert und der Kron¬

prinzeſſin Victoria gegen Bismarck 149. Geſpräch mit der Kron¬

prinzeſſin über die Zukunft der Monarchie 150. Haltung der Königin

Victoria 151. Ein Souper in Verſailles, Bismarck als Tiſchkarten¬

vertheiler 151. Plebejiſche Sitten der franzöſiſchen Hofgeſellſchaft des

zweiten Kaiſerreichs 153. Begegnung mit Kaiſer Napoleon III. 154.

Der Berliner Hof iſt verſtimmt gegen Bismarck wegen ſeiner Pariſer

Reiſe 154. Aeußerung dieſer Verſtimmung 154. Bismarcks Urtheil

über Napoleon III. 155. Aufnahme dieſes Urtheils durch Friedrich

[XII/0023]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Wilhelm IV. 155. II. Der Legitimitätsbegriff 156. Mittheilungen

aus der Correſpondenz Bismarcks mit Gerlach über die Beziehungen

Preußens zu Napoleon III. 156.

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft 191-216

I. Neue Annäherung des Königs S. 191. Herrn v. Bismarck wird das

Finanzminiſterium angeboten 191. Napoleons Gedanke einer preußiſch¬

franzöſiſchen Intimität zur Sicherung der preußiſchen Neutralität für

den Fall eines Krieges mit Oeſterreich über Italien 192. Bismarcks

Antwort auf Napoleons Vorſchlag 194. II. Jagdausflug nach Däne¬

mark und Schweden 195. Audienz bei König Friedrich VII. von

Dänemark 195. Abneigung der Schleswig-Holſteiner gegen Bildung

eines neuen Kleinſtaates 195. Sturz in Schweden, Rückkehr nach

Berlin, Reiſe zur Jagd nach Kurland 195. Erſte Erkrankung des

Königs 196. Schlaganfall 196. Unterredung mit dem Prinzen von

Preußen 197. Bismarck räth dem Prinzen ab, ſeinen Regierungs¬

antritt mit einer Ablehnung der Verfaſſung zu eröffnen 197. Des

Prinzen Stellvertretung 198. Intrige gegen den Prinzen 198.

Beſtellung des Prinzen zum Regenten 199. Manteuffels Entlaſſung 201.

III. Unterredung mit dem Prinzen von Preußen wegen der Ernennung

zum Geſandten in Petersburg 202. Uſedom und Frau 203. Epiſode:

das Entlaſſungsgeſuch von 1869 204. Briefe des Königs Wilhelm

an Bismarck 204. Beilegung der Differenz 210. IV. Unterredung

mit dem Prinzen von Preußen (Fortſetzung): das Miniſterium der

neuen Aera 210. Prinzeſſin Auguſta 211. Graf Schwerin 212.

V. Bankier Levinſtein als öſterreichiſcher Agent 212 und als Ver¬

trauensmann im Miniſterium Manteuffel 212. Corruption im aus¬

wärtigen Miniſterium 213.

Zehntes Kapitel: Petersburg 217-236

I. Freundſchaft des Kaiſers Niolaus I. für Oeſterreich 1849 und zu Ol¬

mütz S. 217. Mißtrauen des Zaren gegen ſeine eignen Unterthanen 218.

Nicolaus und Friedrich Willhelm IV. 218. Die damalige Petersburger

Geſellſchaft 219. Noch einmal der monsieur décoré in Paris und

St. Petersburg 221. Petersburger Straßenleben 222. Geſellſchaft¬

licher Ton der jüngeren Generation 223. Ihre antideutſche Stim¬

mung fühlbar auf dem Gebiete der politiſchen Beziehungen 223. Fürſt

Gortſchakow als Gönner und als Gegner Bismarcks 224. Urſache der

Verſtimmung Gortſchakows 224. Hat Deutſchland einen Krieg mit

Rußland nöthig? 224. II. Gaſtlichkeit auf den kaiſerlichen Schlöſſern 225.

Ein großfürſtliches enfant terrible 226. Unterſchleife der Hofdiener¬

ſchaft 226. Eine kaiſerliche Talgrechnung 226. Ruſſiſche Beharr¬

[XIII/0024]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

lichkeit: der Poſten aus der Zeit Katharinas II. 227. III. Einflu߬

loſigkeit Bismarcks auf die Entſchließungen in Berlin 227. Die

Genauigkeit ſeiner Berichte wird dem Regenten verdächtigt 228. Graf

Münſter als Inſpicient Bismarcks in St. Petersburg 228. Politiſche

Schachzüge der ruſſiſchen Diplomatie 228. Verletzung des Brief¬

geheimniſſes ein monarchiſches Recht 229. Oeſterreichiſche Praxis 229.

Der einfache Poſtbrief an den preußiſchen Geſandten in Wien oder

Petersburg als Form der Inſinuation einer unangenehmen Mit¬

theilung an die öſterreichiſche oder ruſſiſche Regierung 229. Das Brief¬

geheimniß in der Poſt von Thurn und Taxis 229. Mißbräuchliche

Gewohnheiten der preußiſchen Geſandtſchaft in Wien bis zum Jahre

1852 230. Oeſterreichiſche Gewaltthätigkeiten gegen untreue Beamte

des auswärtigen Dienſtes 231. Ruſſiſches Mittel, unzufriedene

Beamte zufrieden zu machen 231. IV. Erinnerungen an den Beſuch

in Moskau 231. Briefwechſel mit dem Fürſten Obolenſki 232.

V. Erkrankung und Behandlung der Krankheit durch einen ruſſiſchen

„Arzt“ 234. Im Bade Nauheim 236. Langes Krankenlager an

Lungenentzündung in Hohendorf 236. Gedanken eines ſterbenden

Preußen über Vormundſchaft 236.

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand 237–269

I. Bismarck wird dem Regenten zum Miniſter des Auswärtigen vor¬

geſchlagen S. 237. Bismarck entwickelt ſein Programm 237. Der Re¬

gent erklärt ſich für die Schleinitzſche Auffaſſung 239. Die Prinzeſſin

Auguſta als Schutzengel des Herrn v. Schleinitz 239. II. R. v. Auers¬

wald 240. Miniſterkriſis aus Anlaß der Huldigungsfrage 240. Roons

Brief vom 27. Juni 1861 240. Bismarcks Antwort 242. Seine

Reiſe nach Berlin 245. Verlauf der Kriſis nach Roons Brief vom

24. Juli 1861 246. Krönung Wilhelms I. 249. Geſpräch mit der

Königin Auguſta über die deutſche Politik Preußens 249. III. Mi¬

niſterielle Wechſelreiterei 250. Prinz Hohenlohe-Ingelfingen als ſtell¬

vertretender Miniſterpräſident 250. Berufung Bismarcks von Peters¬

burg nach Berlin, April 1862 250. Seine Ernennung nach Paris 251.

Brief Bismarcks an Roon 251. Brief Roons an Bismarck 252.

Antwort Bismarcks 254. Unterredung mit Napoleon III., Vorſchlag

eines preußiſch-franzöſiſchen Bündniſſes 256. Oeſterreichs Anträge bei

Napoleon III. 257. Reiſe in Südfrankreich, Briefwechſel mit Roon 258.

Berufungsdepeſche vom 18. September 266. Audienz beim Kron¬

prinzen 267. Audienz in Babelsberg 267. Ernennung Bismarcks

zum Staatsminiſter und interimiſtiſchen Vorſitzenden des Staats¬

miniſteriums 269

[XIV/0025]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik 270–287

Mangel an Selbſtändigkeit und Energie in der auswärtigen und deut¬

ſchen Politik Preußens ſeit der Zeit Friedrichs des Großen S. 270.

Particulariſtiſcher Charakter der preußiſchen Politik 270. Beſtimmen¬

der Einfluß der polniſchen Frage 271. Die Reichenbacher Convention

und ihre Bedeutung 272. Die verſäumten Gelegenheiten in der Ge¬

ſchichte Preußens 273. Die Fehler der Vermittlung von 1805 273.

Preußen als Vaſallenſtaat Rußlands unter Nicolaus I. 274. Preußen im

Vorſchuß gegen Rußland durch ſeine Haltung im Krimkriege und wäh¬

rend des Polenaufſtandes von 1863 275. Urſachen des Abhängigkeits¬

gefühles am Berliner Hofe 275. Ueberlegenheit Preußens gegenüber

Rußland und Oeſterreich auf dem Gebiete militäriſcher Rüſtungen 275.

Preußen antichambrirt in Paris, um als Großmacht zur Unterzeich¬

nung zugelaſſen zu werden 276. Fehlerhaftigkeit der damaligen

Politik 277. Das Erbe Friedrichs des Großen unter den Händen

ſeiner Epigonen 278. Wer trägt in der abſoluten Monarchie die ſtaat¬

liche Verantwortlichkeit? 278. Die Miniſterverantwortlichkeit im Ver¬

faſſungsſtaat 278. Wen trifft die Verantwortung für die preußiſche

Politik unter Friedrich Wilhelm IV.? 279. Warum Bismarck nicht

Miniſter Friedrich Wilhelms IV. werden mochte 280. Vorzug des

reinen Abſolutismus ohne Parlament vor dem durch gefügige Par¬

lamente unterſtützten 280. Der italieniſche Krieg 281. Planloſigkeit

der damaligen preußiſchen Politik unter der dominirenden Herrſchaft

der Prinzeſſin Auguſta und des Herrn von Schleinitz 281. Quer¬

treibereien gegen Bismarcks Leitung der auswärtigen Politik 283.

Eiſen und Blut 283. Bismarck richtet den muthloſen König auf durch

die Erinnerung an das Porte-épée des preußiſchen Offiziers 284.

Ernſt der Situation 286.

Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme 288–296

Die Dynaſtien in ihrem Verhalten zur deutſch-nationalen Frage S. 288.

Preußens Stellung im Bunde 289. Der Traum einer dualiſtiſchen

Politik im Einvernehmen Oeſterreichs und Preußens wird zerſtört

durch Schwarzenbergs Depeſche vom 7. December 1850: ein Wende¬

punkt in Bismarcks Anſchauungen 289. Preußen als Großmacht 290.

Deutſcher Patriotismus bedarf der Vermittlung dynaſtiſcher Anhäng¬

lichkeit 290. Stärke des Nationalgefühls bei andern Rationen 292.

Deutſcher Stammes-Particularismus 293. Die dynaſtiſche Anhänglich¬

keit der Welfen 294. Für Bismarck iſt das deutſche Nationalgefühl die

ſtärkere Kraft 294. Inwieweit haben dynaſtiſche Intereſſen in Deutſch¬

land Berechtigung? 294. Kämpfe Bismarcks mit dem preußiſchen

Particularismus 295. Die unbeſchränkte Staatsſouveränetät der Dyna¬

[XV/0026]

Inhaltsverzeichniß.

Seite

ſtien eine revolutionäre Errungenſchaft auf Koſten der Nation und

ihrer Einheit 295. Unnatürliche Zerreißung des deutſchen Volkes durch

dynaſtiſche Grenzen 295.

Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium 297–305

I. Karl v. Bodelſchwingh S. 297. Graf Itzenplitz 298. v. Jagow 298.

v. Selchow 299. Graf Fr. zu Eulenburg 299. v. Roon 300. v. Mühler 301.

Graf zur Lippe 302. II. Schreiben des Königs an v. Vincke-Olben¬

dorf 303.

Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention 306–315

Polonismus und Abſolutismus im Streite miteinander am ruſſiſchen

Hofe S. 306. Ruſſiſch-polniſche Verbrüderungsbeſtrebungen 307. Ale¬

xander II. über die Unſicherheit des polniſchen Beſitzes 308. Alexan¬

der II. fordert Bismarck auf in ruſſiſche Dienſte überzutreten 309. Nutzen

der ruſſiſchen Freundſchaft für die deutſchen Einheitsbeſtrebungen 309.

Haltung Oeſterreichs während des polniſchen Aufſtandes 310. Napo¬

leons III. Haltung in der polniſchen Frage 312. Schwierigkeit der

polniſchen Frage für Preußen 313. Bedeutung der Alvensleben¬

ſchen Militärconvention 314. Gortſchakows Stellung zur polniſchen

Frage 314. Erſte Begegnung mit Herrn Hintzpeter 315.

Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode 316–330

I. Bismarck und Kaiſer Friedrich S. 316. Erlaß der Preßverordnung 317.

Die Danziger Rede des Kronprinzen 317. Seine Beſchwerdeſchrift und

die Antwort des Königs 317. Bismarck hält den König von extremen

Schritten gegen den Sohn zurück 318. Die Indiscretionen der

„Times“ 319. Vermuthungen über die Urheber dieſer Veröffent¬

lichung 320. II. Unterredung mit dem Kronprinzen in Gaſtein 322.

Neuer Proteſt des Kronprinzen 322. Spannung zwiſchen dem König

und dem Kronprinzen 322. Ausſprache Bismarcks mit dem Kron¬

prinzen 323. Denkſchrift des Kronprinzen und die daran anſchließende

Correſpondenz des Königs mit Bismarck 324.

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag 331–350

I. Graf Rechberg S. 331. Wie Bismarck Rechbergs Vertrauen ge¬

wann 332. Verſuch, zu einer geſammtdeutſchen Union auf der Baſis

des Dualismus zu gelangen 333. Wahrſcheinliche Wirkung einer ſolchen

Geſtaltung 333. Welche Wirkung würde die Begründung der öſterreichi¬

ſchen Vorherrſchaft gehabt haben? 334. Das Einvernehmen Preußens

und Oeſterreichs die Vorausſetzung gegen engliſch-europäiſches Ein¬

greifen in der däniſchen Frage 334. Erörterung der preußiſch-öſterreichi¬

ſchen Beziehungen zwiſchen Bismarck und Graf Karolyi 335. Gering¬

[XVI/0027]

Inhaltsverzeichniß

ſchätzung Preußens in Wien 336. Unterſchiede im Charakter Friedrich

Wilhelms IV. und Wilhelms I. 336. Ueberſchätzung der abſchwächenden

Wirkung des Conflicts auf Preußens äußere Politik und militäriſche

Leiſtungsfähigkeit 336. Der Glaube an die militäriſche Ueberlegenheit

Oeſterreichs 337. II. Abneigung Oeſterreichs gegen einen friedlichen

Dualismus 338. Einladung zum Frankfurter Fürſtentag 339. Kaiſer

Franz Joſeph in Gaſtein 339. Erſter Eindruck der Einladung auf

den König 339. Bismarck gegen den Beſuch des Fürſtentags 340.

König Johann von Sachſen in Baden 340. Wirkung des preußiſchen

Fernbleibens auf die deutſchen Mittelſtaaten 341. Rechberg nähert

ſich Preußen 342. III. Tod. Friedrichs VII. von Dänemark 342.

Glänzender Anfang der dualiſtiſchen Politik 343. Gefährdung des

Zuſammengehns mit Oeſterreich durch militäriſche Einflüſſe 343. Cul¬

mination und Wendepunkt des Verſuchs eines freundlichen Dualis¬

mus 344. Unterredung der beiden Monarchen und ihrer Miniſter in

Schönbrunn 344. IV. Rechbergs Stellung erſchüttert 346. Verhand¬

lungen über eine zukünftige Aufnahme Oeſterreichs in den Zollverein 346.

Bismarck iſt für ein pactum de contrahendo aus politiſchen Er¬

wägungen, aber Gegner einer Zolleinigung 346. Durchkreuzung der

Bismarckſchen Politik durch Bodelſchwingh, Itzenplitz und Delbrück 347.

Rechberg wird entlaſſen und durch Graf Mensdorff erſetzt 347. Aus¬

züge aus Briefen von Thile, Abeken, Goltz 347. V. Unſicherheit

und Wandelbarkeit der öſterreichiſchen Freundſchaft 349.

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II . von Baiern _ 351-376

Am Münchner Hofe S. 351. Kronprinz Ludwig 351. Zur Charakteriſtik

des Königs Ludwig II. 352. Mittheilungen aus der Correſpondenz

des Königs Ludwig mit Bismarck 353.

[[1]/0028]

Erſtes Kapitel.

Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

I.

Als normales Product unſres ſtaatlichen Unterrichts verließ

ich Oſtern 1832 die Schule als Pantheiſt, und wenn nicht

als Republikaner, doch mit der Ueberzeugung, daß die

Republik die vernünftigſte Staatsform ſei, und mit Nachdenken über

die Urſachen, welche Millionen von Menſchen beſtimmen könnten,

Einem dauernd zu gehorchen, während ich von Erwachſenen manche

bittre oder geringſchätzige Kritik über die Herrſcher hören konnte.

Dazu hatte ich von der turneriſchen Vorſchule mit Jahn'ſchen Tra¬

ditionen (Plamann), in der ich vom ſechſten bis zum zwölften Jahre

gelebt, deutſch-nationale Eindrücke mitgebracht. Dieſe blieben im

Stadium theoretiſcher Betrachtungen und waren nicht ſtark genug,

um angeborne preußiſch-monarchiſche Gefühle auszutilgen. Meine

geſchichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität. Har¬

modius und Ariſtogiton ſowohl wie Brutus waren für mein kind¬

liches Rechtsgefühl Verbrecher und Tell ein Rebell und Mörder.

Jeder deutſche Fürſt, der vor dem 30jährigen Kriege dem Kaiſer

widerſtrebte, ärgerte mich, vom Großen Kurfürſten an aber war

ich parteiiſch genug, antikaiſerlich zu urtheilen und natürlich zu

finden, daß der ſiebenjährige Krieg ſich vorbereitete. Doch blieb

mein deutſches Nationalgefühl ſo ſtark, daß ich im Anfang der

Univerſitätszeit zunächſt zur Burſchenſchaft in Beziehung gerieth,

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 1

[2/0029]

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete.

Aber bei perſönlicher Bekanntſchaft mit ihren Mitgliedern mißfielen

mir ihre Weigerung, Satisfaction zu geben, und ihr Mangel an

äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Geſellſchaft, bei

näherer Bekanntſchaft auch die Extravaganz ihrer politiſchen Auf¬

faſſungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntniß der

vorhandenen, hiſtoriſch gewordenen Lebensverhältniſſe beruhte, von

denen ich bei meinen ſiebzehn Jahren mehr zu beobachten Gelegenheit

gehabt hatte als die meiſten jener durchſchnittlich ältern Studenten.

Ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel

an Erziehung. Gleichwohl bewahrte ich innerlich meine nationalen

Empfindungen und den Glauben, daß die Entwicklung der nächſten

Zukunft uns zur deutſchen Einheit führen werde; ich ging mit

meinem amerikaniſchen Freunde Coffin die Wette darauf ein, daß

dieſes Ziel in zwanzig Jahren erreicht ſein werde.

In mein erſtes Semeſter fiel die Hambacher Feier (27.Mai 1832),

deren Feſtgeſang mir in der Erinnerung geblieben iſt, in mein drittes

der Frankfurter Putſch (3. April 1833). Dieſe Erſcheinungen ſtießen

mich ab, meiner preußiſchen Schulung widerſtrebten tumultuariſche

Eingriffe in die ſtaatliche Ordnung; ich kam nach Berlin mit weniger

liberaler Geſinnung zurück, als ich es verlaſſen hatte, eine Reaction,

die ſich wieder abſchwächte, nachdem ich mit dem ſtaatlichen Räder¬

werke in unmittelbare Beziehung getreten war. Was ich etwa über

auswärtige Politik dachte, mit der das Publikum ſich damals wenig

beſchäftigte, war im Sinne der Freiheitskriege, vom preußiſchen

Offizierſtandpunkt geſehn. Beim Blick auf die Landkarte ärgerte

mich der franzöſiſche Beſitz von Straßburg, und der Beſuch von

Heidelberg, Speier und der Pfalz ſtimmte mich rachſüchtig und

kriegsluſtig. In der Zeit vor 1848 war für einen Kammergerichts-

Auscultator und Regirungs-Referendar, dem jede Beziehung zu mini¬

ſteriellen und höhern amtlichen Kreiſen fehlte, kaum eine Ausſicht zu

einer Betheiligung an der preußiſchen Politik vorhanden, ſo lange er

nicht den einförmigen Weg zurückgelegt hatte, der durch die Stufen

[3/0030]

Jünglingsanſchauungen. Die preußiſche Diplomatie.

der bürokratiſchen Laufbahn nach Jahrzehnten dahin führen konnte,

an den höhern Stellen bemerkt und herangezogen zu werden. Als

muſtergültige Vordermänner auf dieſem Wege wurden mir im

Familienkreiſe damals Männer wie Pommer-Eſche und Delbrück vor¬

gehalten, und als einzuſchlagende Richtung die Arbeit an und in dem

Zollvereine empfohlen. Ich hatte, ſo lange ich in dem damaligen

Alter an eine Beamtenlaufbahn ernſtlich dachte, die diplomatiſche im

Auge, auch nachdem ich von Seiten des Miniſters Ancillon bei meiner

Meldung dazu wenig Ermuthigung gefunden hatte. Derſelbe be¬

zeichnete nicht mir, aber hohen Kreiſen gegenüber als Muſterbild

deſſen, was unſrer Diplomatie fehle, den Fürſten Felix Lichnowſki,

obſchon man hätte vermuthen ſollen, daß dieſe Perſönlichkeit, wie

ſie ſich damals in Berlin zur Anſchauung brachte, der anerkennenden

Würdigung eines der evangeliſchen Geiſtlichkeit entſtammenden

Miniſters nicht grade nahe ſtände.

Der Miniſter hatte den Eindruck, daß die Kategorie unſres

hausbacknen preußiſchen Landadels für unſre Diplomatie den ihm

wünſchenswerthen Erſatz nicht lieferte und die Mängel, welche er

an der Gewandheit des Perſonalbeſtandes dieſes Dienſtzweiges

fand, zu decken nicht geeignet war. Dieſer Eindruck war nicht ganz

ohne Berechtigung. Ich habe als Miniſter ſtets ein landsmann¬

ſchaftliches Wohlwollen für eingeborne preußiſche Diplomaten ge¬

habt, aber im dienſtlichen Pflichtgefühle nur ſelten dieſe Vorliebe

bethätigen können, in der Regel nur dann, wenn die Betheiligten

aus einer militäriſchen Stellung in die diplomatiſche übergingen.

Bei den rein preußiſchen Civil-Diplomaten, welche der Wirkung

militäriſcher Diſciplin garnicht oder unzureichend unterlegen hatten,

habe ich in der Regel eine zu ſtarke Neigung zur Kritik, zum Beſſer¬

wiſſen, zur Oppoſition und zu perſönlichen Empfindlichkeiten ge¬

funden, verſtärkt durch die Unzufriedenheit, welche das Gleichheits¬

gefühl des alten preußiſchen Edelmanns empfindet, wenn ein Standes¬

genoſſe ihm über den Kopf wächſt oder außerhalb der militäriſchen

Verhältniſſe ſein Vorgeſetzter wird. In der Armee ſind dieſe Kreiſe

[4/0031]

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

ſeit Jahrhunderten daran gewöhnt, daß das geſchieht, und geben

den Bodenſatz ihrer Verſtimmung gegen frühere Vorgeſetzte an ihre

ſpätern Untergebenen weiter, ſobald ſie ſelbſt in höhere Stellen

gelangt ſind. In der Diplomatie kommt dazu, daß diejenigen

unter den Aſpiranten, welche Vermögen oder die zufällige Kenntniß

fremder Sprachen, namentlich der franzöſiſchen, beſitzen, ſchon darin

einen Grund zur Bevorzugung ſehn und deshalb der obern Leitung

noch anſpruchsvoller und zur Kritik geneigter gegenübertreten als

Andre. Sprachkenntniſſe, wie auch Oberkellner ſie beſitzen, bildeten

bei uns leicht die Unterlage des eignen Glaubens an den Beruf

zur Diplomatie, namentlich ſo lange unſre geſandſchaftlichen Be¬

richte, beſonders die ad Regem, franzöſiſch ſein mußten, wie es

die nicht immer befolgte, aber bis ich Miniſter wurde amtlich in

Kraft ſtehende Vorſchrift war. Ich habe manche unter unſern

ältern Geſandten gekannt, die, ohne Verſtändniß für Politik, lediglich

durch Sicherheit im Franzöſiſchen in die höchſten Stellen aufrückten;

und auch ſie ſagten in ihren Berichten doch nur das, was ſie

franzöſiſch geläufig zur Verfügung hatten. Ich habe noch 1862

von Petersburg franzöſiſch amtlich zu berichten gehabt, und die

Geſandten, welche auch ihre Privatbriefe an den Miniſter franzöſiſch

ſchrieben, empfahlen ſich dadurch als beſonders berufen zur Diplo¬

matie, auch wenn ſie politiſch als urtheilslos bekannt waren.

Außerdem kann ich Ancillon nicht Unrecht geben, wenn er

von den meiſten Aſpiranten aus unſerm Landadel den Eindruck

hatte, daß ſie ſich aus dem engen Geſichtskreiſe ihrer damaligen

Berliner, man könnte ſagen provinziellen Anſchauungen ſchwer los¬

löſen ließen, und daß es ihnen nicht leicht gelingen würde, den

ſpecifiſch preußiſchen Bürokraten in der Diplomatie mit dem

Firniß des europäiſchen zu übertünchen. Die Wirkung dieſer

Wahrnehmungen zeigt ſich deutlich, wenn man die Rangliſte unſrer

Diplomaten aus damaliger Zeit durchgeht; man wird erſtaunt ſein,

ſo wenig geborne Preußen darin zu finden. Die Eigenſchaft, der

Sohn eines in Berlin accreditirten fremden Geſandten zu ſein,

[5/0032]

Beſchaffenheit der preußiſchen Diplomatie.

gab an ſich einen Vorzug. Die an den kleinen Höfen erwachſenen,

in den preußiſchen Dienſt übernommnen Diplomaten hatten nicht

ſelten den Vortheil größrer assurance in höfiſchen Kreiſen und

eines größern Mangels an Blödigkeit vor den eingebornen. Ein

Beiſpiel dieſer Richtung war namentlich Herr von Schleinitz.

Dann finden ſich in der Liſte Mitglieder ſtandesherrlicher Häuſer,

bei denen die Abſtammung die Begabung erſetzte. Aus der Zeit,

als ich nach Frankfurt ernannt wurde, iſt mir außer mir, dem Frei¬

herrn Karl von Werther, Canitz und dem franzöſiſch verheiratheten

Grafen Max Hatzfeldt kaum der Chef einer anſehnlichen Miſſion

preußiſcher Abſtammung erinnerlich. Ausländiſche Namen ſtanden

höher im Kurſe: Braſſier, Perponcher, Savigny, Oriola. Man

ſetzte bei ihnen größere Geläufigkeit im Franzöſiſchen voraus, und

ſie waren „weiter her“, dazu trat der Mangel an Bereitwilligkeit

zur Uebernahme eigner Verantwortlichkeit bei fehlender Deckung

durch zweifelloſe Inſtruction, ähnlich wie im Militär 1806 bei der

alten Schule aus Friedericianiſcher Zeit. Wir züchteten ſchon da¬

mals das Offiziersmaterial bis zum Regiments-Commandeur in einer

Vollkommenheit wie kein andrer Staat, aber darüber hinaus war

das eingeborne preußiſche Blut nicht mehr fruchtbar an Be¬

gabungen wie zur Zeit Friedrichs des Großen ſelbſt. Unſre er¬

folgreichſten Feldherrn, Blücher, Gneiſenau, Moltke, Goeben, waren

keine preußiſchen Urproducte, ebenſowenig im Civildienſte Stein,

Hardenberg, Motz und Grolman. Es iſt, als ob unſre Staats¬

männer wie die Bäume in den Baumſchulen zu voller Wurzel¬

bildung der Verſetzung bedürften.

Ancillon rieth mir, zunächſt das Examen als Regirungs-

Aſſeſſor zu machen und dann auf dem Umwege durch die Zoll¬

vereinsgeſchäfte Eintritt in die deutſche Diplomatie Preußens zu

ſuchen; einen Beruf für die europäiſche erwartete er alſo bei einem

Sprößlinge des einheimiſchen Landadels nicht. Ich nahm mir ſeine

Andeutung zu Herzen und beabſichtigte, zunächſt das Examen als

Regirungs-Aſſeſſor zu machen.

[6/0033]

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

Die Perſonen und Einrichtungen unſrer Juſtiz, in der ich

zunächſt beſchäftigt war, gaben meiner jugendlichen Auffaſſung mehr

Stoff zur Kritik als zur Anerkennung. Die praktiſche Ausbildung

des Auscultators begann damit, daß man auf dem Criminalgericht

das Protokoll zu führen hatte, wozu ich von dem Rathe, dem ich

zugewieſen war, Herrn von Brauchitſch, über die Gebühr heran¬

gezogen wurde, weil ich damals über den Durchſchnitt ſchnell und

lesbar ſchrieb. Von den „Unterſuchungen“, wie die Criminal¬

prozeſſe bei dem damals geltenden Inquiſitionsverfahren genannt

wurden, hat mir eine den nachhaltigſten Eindruck hinterlaſſen, welche

eine in Berlin weit verzweigte Verbindung zum Zweck der unnatür¬

lichen Laſter betraf. Die Klubeinrichtungen der Betheiligten, die

Stammbücher, die gleichmachende Wirkung des gemeinſchaftlichen

Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch — alles

das bewies ſchon 1835 eine Demoraliſation, welche hinter den

Ergebniſſen des Prozeſſes gegen die Heinze'ſchen Eheleute (October

1891) nicht zurückſtand. Die Verzweigungen dieſer Geſellſchaft

reichten bis in hohe Kreiſe hinauf. Es wurde dem Einfluſſe des

Fürſten Wittgenſtein zugeſchrieben, daß die Akten von dem Juſtiz¬

miniſterium eingefordert und, wenigſtens während meiner Thätigkeit

an dem Criminalgerichte, nicht zurückgegeben wurden.

Nachdem ich vier Monate protokollirt hatte, wurde ich zu dem

Stadtgerichte, vor das die Civilſachen gehörten, verſetzt und aus

der mechaniſchen Beſchäftigung des Schreibens unter Dictat plötzlich

zu einer ſelbſtändigen erhoben, der gegenüber meine Unerfahrenheit

und mein Gefühl mir die Stellung erſchwerten. Das erſte Stadium,

in welchem der juriſtiſche Neuling damals zu einer ſelbſtändigen

Thätigkeit berufen wurde, waren nämlich die Eheſcheidungen.

Offenbar als das Unwichtigſte betrachtet, waren ſie dem unfähigſten

Rathe, Namens Prätorius, übertragen, und unter ihm der Be¬

arbeitung der ganz grünen Auscultatoren überlaſſen worden, die

damit in corpore vili ihre erſten Experimente in der Richterrolle

zu machen hatten, allerdings unter nomineller Verantwortlichkeit

[7/0034]

Als Auscultator beim Criminal- und Stadtgericht.

des Herrn Prätorius, der jedoch ihren Verhandlungen nicht bei¬

wohnte. Zur Charakteriſirung dieſes Herrn wurde uns jungen

Leuten erzählt, daß er in den Sitzungen, wenn behufs der Ab¬

ſtimmung aus einem leichten Schlummer geweckt, zu ſagen pflegte:

„Ich ſtimme wie der College Tempelhof“, und gelegentlich darauf

aufmerkſam gemacht werden mußte, daß Herr Tempelhof nicht an¬

weſend ſei.

Ich trug ihm einmal meine Verlegenheit vor, daß ich, wenige

Monate über 20 Jahre alt, mit einem aufgeregten Ehepaare den

Sühneverſuch vornehmen ſolle, der für meine Auffaſſung einen

gewiſſen kirchlichen und ſittlichen Nimbus hatte, dem ich mich in

meiner Seelenſtimmung nicht adäquat fühlte. Ich fand Prätorius

in der verdrießlichen Stimmung eines zur Unzeit geweckten, ältern

Herrn, der außerdem die Abneigung mancher alten Bürokraten

gegen einen jungen Edelmann hegte. Er ſagte mit geringſchätzigem

Lächeln: „Es iſt verdrießlich, Herr Referendarius, wenn man ſich

auch nicht ein bischen zu helfen weiß; ich werde Ihnen zeigen, wie

man das macht.“ Ich kehrte mit ihm in das Terminszimmer

zurück. Der Fall lag ſo, daß der Mann geſchieden ſein wollte,

die Frau nicht, der Mann ſie des Ehebruchs beſchuldigte, die Frau

mit thränenreichen Declamationen ihre Unſchuld betheuerte und trotz

aller Mißhandlung von Seiten des Mannes bei ihm bleiben wollte.

Mit ſeinem lispelnden Zungenanſchlage ſprach Prätorius die Frau

alſo an: „Aber Frau, ſei ſie doch nicht ſo dumm; was hat ſie

denn davon? Wenn ſie nach Hauſe kommt, ſchlägt ihr der Mann

die Jacke voll, bis ſie es nicht mehr aushalten kann. Sage ſie

doch einfach Ja, dann iſt ſie mit dem Säufer kurzer Hand aus¬

einander.“ Darauf die Frau weinend und ſchreiend: „Ich bin

eine ehrliche Frau, kann die Schande nicht auf mich nehmen, will

nicht geſchieden ſein.“ Nach mehrfacher Replik und Duplik in dieſer

Tonart wandte ſich Prätorius zu mir mit den Worten: „Da ſie

nicht Vernunft annehmen will, ſo ſchreiben Sie, Herr Referendarius,“

und dictirte mir die Worte, die ich wegen des tiefen Eindrucks,

[8/0035]

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

welchen ſie mir machten, noch heut auswendig weiß: „Nachdem der

Sühneverſuch angeſtellt und die dafür dem Gebiete der Moral und

Religion entnommnen Gründe erfolglos geblieben waren, wurde

wie folgt weiter verhandelt.“ Mein Vorgeſetzter erhob ſich und

ſagte: „Nun merken Sie ſich, wie man das macht, und laſſen

Sie mich künftig mit dergleichen in Ruhe.“ Ich begleitete ihn zur

Thüre und ſetzte die Verhandlung fort. Die Station der Ehe¬

ſcheidungen dauerte, ſo viel ich mich erinnere, vier bis ſechs Wochen,

ein Sühneverſuch kam mir nicht wieder vor. Es war ein gewiſſes

Bedürfniß vorhanden für die Verordnung über das Verfahren

in Eheſcheidungen, auf welche Friedrich Wilhelm IV. ſich beſchränken

mußte, nachdem ſein Verſuch, ein Geſetz über Aenderung des

materiellen Eherechts zu Stande zu bringen, an dem Widerſtande

des Staatsraths geſcheitert war. Dabei mag erwähnt werden,

daß durch jene Verordnung zuerſt in den Provinzen des All¬

gemeinen Landrechts der Staatsanwalt eingeführt worden iſt, als

defensor matrimonii und zur Verhütung von Colluſionen der

Parteien.

Anſprechender war das folgende Stadium der Bagatellprozeſſe,

wo der ungeſchulte junge Juriſt wenigſtens eine Uebung im Auf¬

nehmen von Klagen und Vernehmen von Zeugen gewann, wo man

ihn im Ganzen aber doch mehr als Hülfsarbeiter ausnutzte, als

mit Belehrung förderte. Das Local und die Procedur hatten

etwas von dem unruhigen Verkehre an einem Eiſenbahnſchalter.

Der Raum, wo der leitende Rath und die drei oder vier Aus¬

cultatoren mit dem Rücken gegen das Publikum ſaßen, war von

hölzernen Gittern umgeben, und die dadurch gebildete viereckige

Bucht war von der wechſelnden und mehr oder weniger lärmenden

Menge der Parteien rings umfluthet.

Mein Eindruck von Inſtitutionen und Perſonen wurde nicht

weſentlich modificirt, nachdem ich zur Verwaltung übergegangen

war. Um den Umweg zur Diplomatie abzukürzen, wandte ich

mich einer rheiniſchen Regirung, der Aachner, zu, deren Curſus

[9/0036]

Eheſcheidungen. Bagatellprozeſſe. Rheiniſche Regirungscollegien.

ſich in zwei Jahren abmachen ließ, während bei den altländiſchen

wenigſtens drei erforderlich waren 1).

Ich kann mir denken, daß bei Beſetzung der rheiniſchen Re¬

girungscollegien 1816 ähnlich verfahren worden war, wie 1871

bei der Organiſation von Elſaß-Lothringen. Die Behörden, welche

einen Theil ihres Perſonals abzugeben hatten, werden nicht auf das

ſtaatliche Bedürfniß gehört haben, für die ſchwierige Aufgabe der

Aſſimilirung einer neu erworbenen Bevölkerung den beſten Fuß

vorzuſetzen, ſondern diejenigen Mitglieder gewählt haben, deren

Abgang von ihren Vorgeſetzten oder von ihnen ſelbſt gewünſcht

wurde; in den Collegien fanden ſich frühere Präfektur-Sekretäre und

andre Reſte der franzöſiſchen Verwaltung. Die Perſönlichkeiten

entſprachen nicht alle dem unberechtigten Ideale, das mir in dem

Alter von 21 Jahren vorſchwebte, und noch weniger that dies

der Inhalt der laufenden Geſchäfte. Ich erinnere mich, daß ich

bei vielen Meinungsverſchiedenheiten zwiſchen Beamten und Re¬

girten oder innerhalb jeder dieſer beiden Kategorien, Meinungsver¬

ſchiedenheiten, deren polemiſche Vertretung jahrelang die Akten an¬

ſchwellen machte, gewöhnlich unter dem Eindrucke ſtand, „ja, ſo

kann man es auch machen,“ und daß Fragen, deren Entſcheidung

in dem einen oder dem andern Sinne das verbrauchte Papier nicht

werth war, eine Geſchäftslaſt erzeugten, die ein einzelner Präfekt

mit dem vierten Theile der aufgewandten Arbeitskraft hätte er¬

ledigen können. Nichtsdeſtoweniger war, abgeſehn von den ſub¬

alternen Beamten, das tägliche Arbeitspenſum ein geringes und

beſonders für die Abtheilungs-Dirigenten eine reine Sinecure. Ich

verließ Aachen mit einer, abgeſehn von dem begabten Präſidenten

Grafen Arnim-Boitzenburg, geringen Meinung von unſrer Büro¬

kratie im Einzelnen und in der Geſammtheit. Im Einzelnen

wurde meine Meinung günſtiger durch meine demnächſtige Erfah¬

1)

Vgl. die Akten des Aachner Aufenthalts in Bismarck-Jahrbuch III,

die Probearbeiten zum Referendariats-Examen in Bismarck-Jahrbuch II.

[10/0037]

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

rung bei der Regirung in Potsdam, zu der ich mich im Jahre

1837 verſetzen ließ, weil dort abweichend von den andern Pro¬

vinzen die indirecten Steuern zum Reſſort der Regirung gehörten

und grade dieſe wichtig waren, wenn ich die Zollpolitik zur Baſis

meiner Zukunft nehmen wollte.

Die Mitglieder des Collegiums machten mir einen würdigern

Eindruck als die Aachner, aber doch in ihrer Geſammtheit den

Eindruck von Zopf und Perrücke, in welche Kategorie meine jugend¬

liche Ueberhebung auch den väterlich-würdigen Oberpräſidenten von

Baſſewitz ſtellte, während der Aachner Regirungspräſident Graf

Arnim zwar die generelle Staatsperrücke, aber doch keinen geiſtigen

Zopf trug. Als ich dann aus dem Staatsdienſte in das Land¬

leben überging, brachte ich in die Berührungen, welche ich als

Gutsbeſitzer mit den Behörden hatte, eine nach meinem heutigen

Urtheil zu geringe Meinung von dem Werthe unſrer Bürokratie,

eine vielleicht zu große Neigung zur Kritik mit. Ich erinnere

mich, daß ich als ſtellvertretender Landrath über den Plan, die

Wahl der Landräthe abzuſchaffen, gutachtlich zu berichten hatte und

mich ſo ausſprach, die Bürokratie ſinke in der Achtung vom Land¬

rath aufwärts; ſie habe dieſelbe nur in der Perſon des Landraths

bewahrt, der einen Januskopf trage, ein Geſicht in der Bürokratie,

eins im Lande habe.

Die Neigung zu befremdendem Eingreifen in die verſchiedenſten

Lebensverhältniſſe war unter dem damaligen väterlichen Regimente

vielleicht größer als heut, aber die Organe zum Eingreifen waren

weniger zahlreich und ſtanden an Bildung und Erziehung höher als

ein Theil der heutigen. Die Beamten der Königlichen hochlöblichen

Regirung waren ehrliche, ſtudirte und gut erzogne Beamte, aber

ihre wohlwollende Thätigkeit fand nicht immer Anerkennung, weil

ſie ſich ohne locale Sachkunde auf Details zerſplitterte, in Betreff

deren die Anſichten des gelehrten Stadtbewohners am grünen

Tiſche nicht immer der Kritik des bäuerlichen geſunden Menſchen¬

verſtandes überlegen waren. Die Mitglieder der Regirungs¬

[11/0038]

Bürokratismus ſonſt und jetzt.

Collegien hatten damals multa, nicht multum zu thun, und der

Mangel an höhern Aufgaben brachte es mit ſich, daß ſie kein

ausreichendes Quantum wichtiger Geſchäfte fanden und in ihrem

Pflichteifer ſich über das Bedürfniß der Regirten hinaus zu thun

machten, in die Neigung zur Reglementirerei, zu dem, was der

Schweizer „Befehlerle“ nennt, geriethen. Man hatte, um einen

vergleichenden Blick auf die Gegenwart zu werfen, gehofft, daß

die Staatsbehörden durch die Einführung der heutigen localen

Selbſtverwaltung an Geſchäften und an Beamten würden ent¬

bürdet werden; aber im Gegentheile, die Zahl der Beamten und

ihre Geſchäftslaſt ſind durch Correſpondenzen und Frictionen mit

den Organen der Selbſtverwaltung von dem Provinzialrathe bis zu

der ländlichen Gemeindeverwaltung erheblich geſteigert worden. Es

muß früher oder ſpäter der wunde Punkt eintreten, wo wir von

der Laſt der Schreiberei und beſonders der ſubalternen Bürokratie

erdrückt werden.

Daneben iſt der bürokratiſche Druck auf das Privatleben

durch die Art der Ausführung der „Selbſtverwaltung“ verſtärkt

worden und greift in die ländlichen Gemeinden ſchärfer als früher

ein. Vorher bildete der der Bevölkerung ebenſo nahe als dem Staate

ſtehende Landrath den Abſchluß der ſtaatlichen Bürokratie nach

unten; unter ihm ſtanden locale Verwaltungen, die wohl der Controlle,

aber nicht in gleichem Maße wie heut der Diſciplinargewalt der

Bezirks- oder Miniſterial-Bürokratie unterlagen. Die ländliche Be¬

völkerung erfreut ſich heut vermöge der ihr gewährten Selbſt¬

regirung nicht etwa einer ähnlichen Autonomie wie ſeit lange die

der Städte, ſondern ſie hat in Geſtalt des Amtsvorſtehers einen

Vorſtand erhalten, der durch Befehle von oben, vom Landrathe

unter Androhung von Ordnungsſtrafen diſciplinariſch angehalten

wird, im Sinne der ſtaatlichen Hierarchie ſeine Mitbürger in ſeinem

Bezirke mit Liſten, Meldungen und Zumuthungen zu beläſtigen.

Die regirte contribuens plebs hat in der landräthlichen Inſtanz

ungeſchickten Eingriffen gegenüber nicht mehr die Garantie, welche

[12/0039]

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

früher in dem Verhältniß lag, daß die Kreiseingeſeſſenen, die

Landräthe wurden, dies in ihrem Kreiſe lebenslänglich zu bleiben

in der Regel entſchloſſen waren und die Leiden und Freuden des

Kreiſes mitfühlten. Heut iſt der Landrathspoſten die unterſte Stufe

der höhern Verwaltungslaufbahn, geſucht von jungen Aſſeſſoren,

die den berechtigten Ehrgeiz haben, Carrière zu machen; dazu be¬

dürfen ſie der miniſteriellen Gunſt mehr als des Wohlwollens der

Kreisbevölkerung und ſuchen erſtre durch hervorragenden Eifer und

Anſpannung der Amtsvorſteher der angeblichen Selbſtverwaltung

bei Durchführung auch minderwerthiger bürokratiſcher Verſuche zu

gewinnen. Darin liegt zum großen Theil der Anlaß zur Ueber¬

laſtung ihrer Untergebenen in der localen „Selbſtverwaltung“. Die

„Selbſtverwaltung“ iſt alſo Verſchärfung der Bürokratie, Ver¬

mehrung der Beamten, ihrer Macht und ihrer Einmiſchung ins

Privatleben.

Es liegt in der menſchlichen Natur, daß man von jeder

Einrichtung die Dornen ſtärker empfindet als die Roſen, und daß

die erſtern gegen das zur Zeit Beſtehende verſtimmen. Die alten

Regirungsbeamten zeigten ſich, wenn ſie mit der regirten Be¬

völkerung in unmittelbare Berührung traten, pedantiſch und durch

ihre Beſchäftigung am grünen Tiſche den Verhältniſſen des prak¬

tiſchen Lebens entfremdet, hinterließen aber den Eindruck, daß ſie

ehrlich und gewiſſenhaft bemüht waren, gerecht zu ſein. Daſſelbe

läßt ſich von den Organen der heutigen Selbſtverwaltung in Land¬

ſtrichen, wo die Parteien einander ſchärfer gegenüberſtehn, nicht in

allen Stufen vorausſetzen; das Wohlwollen für politiſche Freunde,

die Stimmung bezüglich des Gegners werden leicht ein Hinderniß

unparteiiſcher Handhabung der Einrichtungen. Nach meinen Er¬

fahrungen aus jener und der ſpätern Zeit möchte ich übrigens

den Vorzug der Unparteilichkeit im Vergleiche zwiſchen richterlichen

und adminiſtrativen Entſcheidungen nicht den erſtern allein ein¬

räumen, wenigſtens nicht durchgängig. Ich habe im Gegentheil

den Eindruck behalten, daß Richter an den kleinen und localen

[13/0040]

Der Landrath ſonſt und jetzt. Parteiweſen und Richter.

Gerichten den ſtarken Parteiſtrömungen leichter und hingebender

unterliegen als Verwaltungsbeamte; und es iſt auch kein pſycho¬

logiſcher Grund dafür erfindlich, daß bei gleicher Bildung die

letztern a priori für weniger gerecht und gewiſſenhaft in ihren

amtlichen Entſcheidungen gehalten werden ſollten als die erſtern.

Wohl aber nehme ich an, daß die amtlichen Entſchließungen an

Ehrlichkeit und Angemeſſenheit dadurch nicht gewinnen, daß ſie

collegialiſch gefaßt werden; abgeſehn davon, daß Arithmetik und

Zufall bei dem Majoritätsvotum an die Stelle logiſcher Begrün¬

dung treten, geht das Gefühl perſönlicher Verantwortlichkeit, in

welcher die weſentliche Bürgſchaft für die Gewiſſenhaftigkeit der

Entſcheidung liegt, ſofort verloren, wenn dieſe durch anonyme

Majoritäten erfolgt.

Der Geſchäftsgang in beiden Collegien, in Potsdam wie in

Aachen, war für meine Strebſamkeit nicht ermuthigend geweſen.

Ich fand die mir zugewieſene Beſchäftigung kleinlich und lang¬

weilig, und meine Arbeiten auf dem Gebiete der Mahlſteuerprozeſſe

und der Beitragspflicht zum Bau des Dammes in Rotzis bei

Wuſterhauſen haben mir kein Heimweh nach meiner damaligen Thätig¬

keit hinterlaſſen. Dem Ehrgeiz der Beamtenlaufbahn entſagend,

erfüllte ich gerne den Wunſch meiner Eltern, in die feſtgefahrne

Bewirthſchaftung unſrer pommerſchen Güter einzutreten. Auf dem

Lande dachte ich zu leben und zu ſterben, nachdem ich Erfolge in

der Landwirthſchaft erreicht haben würde, vielleicht auch im Kriege,

wenn es einen gäbe. Soweit mir auf dem Lande Ehrgeiz verblieb,

war es der des Landwehr-Lieutenants.

II.

Die in meiner Kindheit empfangenen Eindrücke waren wenig

dazu angethan, mich zu verjunkern. In der nach Peſtalozzi'ſchen und

Jahn'ſchen Grundſätzen eingerichteten Plamann'ſchen Erziehungs¬

[14/0041]

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

anſtalt war das „von“ vor meinem Namen ein Nachtheil für mein

kindliches Behagen im Verkehre mit Mitſchülern und Lehrern. Auch

auf dem Gymnaſium zum grauen Kloſter habe ich einzelnen Lehrern

gegenüber unter dem Adelshaſſe zu leiden gehabt, der ſich in einem

großen Theile des gebildeten Bürgerthums als Reminiſcenz aus

den Zeiten vor 1806 erhalten hatte. Aber ſelbſt die aggreſſive

Tendenz, die in bürgerlichen Kreiſen unter Umſtänden zum Vor¬

ſchein kam, hat mich niemals zu einem Vorſtoße in entgegengeſetzter

Richtung veranlaßt. Mein Vater war vom ariſtokratiſchen Vor¬

urtheile frei, und ſein inneres Gleichheitsgefühl war, wenn über¬

haupt, nur durch die Offizierseindrücke ſeiner Jugend, keineswegs aber

durch Ueberſchätzung des Geburtsſtandes modificirt. Meine Mutter

war die Tochter des in den damaligen Hofkreiſen für liberal

geltenden Cabinetsraths Friedrichs des Großen, Friedrich Wil¬

helms II. und III. aus der Leipziger Profeſſorenfamilie Mencken,

welche in ihren letzten, mir vorhergehenden Generationen nach

Preußen in den auswärtigen und den Hofdienſt gerathen war.

Der Freiherr vom Stein hat meinen Großvater Mencken als einen

ehrlichen, ſtark liberalen Beamten bezeichnet. Unter dieſen Um¬

ſtänden waren die Auffaſſungen, die ich mit der Muttermilch ein¬

ſog, eher liberal als reactionär, und meine Mutter würde, wenn

ſie meine miniſterielle Thätigkeit erlebt hätte, mit der Richtung

derſelben kaum einverſtanden geweſen ſein, wenn ſie auch an den

äußern Erfolgen meiner amtlichen Laufbahn große Freude empfunden

haben würde. Sie war in bürokratiſchen und Hofkreiſen groß ge¬

worden; Friedrich Wilhelm IV. ſprach von ihr als „Mienchen“ im

Andenken an Kinderſpiele. Ich darf es darnach für eine ungerechte

Einſchätzung meiner Auffaſſung in jüngern Jahren erklären, wenn

mir „die Vorurtheile meines Standes“ angeheftet werden und be¬

hauptet wird, daß Erinnerung an Bevorrechtigung des Adels der

Ausgangspunkt meiner innern Politik geweſen wäre.

Auch die unumſchränkte Autorität der alten preußiſchen Königs¬

macht war und iſt nicht das letzte Wort meiner Ueberzeugung.

[15/0042]

„Junkerthum.“ Vortheile und Nachtheile des Abſolutismus.

Für letztre war allerdings auf dem Erſten Vereinigten Landtage

dieſe Autorität des Monarchen ſtaatsrechtlich vorhanden, aber mit

dem Wunſche und dem Zukunftsgedanken, daß die unumſchränkte

Macht des Königs ſelber ohne Ueberſtürzung das Maß ihrer Be¬

ſchränkung zu beſtimmen habe. Der Abſolutismus bedarf in erſter

Linie Unparteilichkeit, Ehrlichkeit, Pflichttreue, Arbeitskraft und

innere Demuth des Regirenden; ſind ſie vorhanden, ſo werden

doch männliche oder weibliche Günſtlinge, im beſten Falle die

legitime Frau, die eigne Eitelkeit und Empfänglichkeit für

Schmeicheleien dem Staate die Früchte des Königlichen Wohl¬

wollens verkürzen, da der Monarch nicht allwiſſend iſt und nicht

für alle Zweige ſeiner Aufgabe gleiches Verſtändniß haben kann.

Ich bin ſchon 1847 dafür geweſen, daß die Möglichkeit öffentlicher

Kritik der Regirung im Parlamente und in der Preſſe erſtrebt

werde, um den Monarchen vor der Gefahr zu behüten, daß Weiber,

Höflinge, Streber und Phantaſten ihm Scheuklappen anlegten, die

ihn hinderten, ſeine monarchiſchen Aufgaben zu überſehn und

Mißgriffe zu vermeiden oder zu corrigiren. Dieſe meine Auffaſſung

hat ſich um ſo ſchärfer ausgeprägt, je nachdem ich mit den Hof¬

kreiſen mehr vertraut wurde und gegen ihre Strömungen und

gegen die Oppoſition des Reſſortpatriotismus das Staatsintereſſe

zu vertreten hatte. Letztres allein hat mich geleitet, und es iſt

eine Verleumdung, wenn ſelbſt wohlwollende Publiziſten mich be¬

ſchuldigen, daß ich je für ein Adelsregiment eingetreten ſei. Die

Geburt hat mir niemals als Erſatz für Mangel an Tüchtigkeit

gegolten; wenn ich für den Grundbeſitz eingetreten bin, ſo habe

ich das nicht im Intereſſe beſitzender Standesgenoſſen gethan,

ſondern weil ich im Verfall der Landwirthſchaft eine der größten

Gefahren für unſern ſtaatlichen Beſtand ſehe. Mir hat immer

als Ideal eine monarchiſche Gewalt vorgeſchwebt, welche durch eine

unabhängige, nach meiner Meinung ſtändiſche oder berufsgenoſſen¬

ſchaftliche Landesvertretung ſoweit controllirt wäre, daß Monarch

oder Parlament den beſtehenden geſetzlichen Rechtszuſtand nicht

[16/0043]

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

einſeitig, ſondern nur communi consensu ändern können, bei

Oeffentlichkeit und öffentlicher Kritik aller ſtaatlichen Vorgänge

durch Preſſe und Landtag.

Die Ueberzeugung, daß der uncontrollirte Abſolutismus, wie

er durch Louis XIV. zuerſt in Scene geſetzt wurde, die richtigſte

Regirungsform für deutſche Unterthanen ſei, verliert auch der,

welcher ſie hat, durch Specialſtudien in den Hofgeſchichten und

durch kritiſche Beobachtungen, wie ich ſie am Hofe des von mir

perſönlich geliebten und verehrten Königs Friedrich Wilhelms IV.

zur Zeit Manteuffel's anſtellen konnte. Der König war gläubiger,

gottberufener Abſolutiſt, und die Miniſter nach Brandenburg in der

Regel zufrieden, wenn ſie durch Königliche Unterſchrift gedeckt

waren, auch wenn ſie perſönlich den Inhalt des Unterſchriebenen

nicht hätten verantworten mögen. Ich erlebte damals, daß ein hoher

und abſolutiſtiſch geſinnter Hofbeamter in meiner und mehrer

ſeiner Collegen Gegenwart auf die Nachricht von dem Neufchâteler

Aufſtand der Royaliſten in einer gewiſſen Verblüffung ſagte: „Das

iſt ein Royalismus, den man heut zu Tage doch nur noch ſehr

fern vom Hofe erlebt.“ Sarkasmen lagen ſonſt nicht in der Ge¬

wohnheit dieſes alten Herrn.

Wahrnehmungen, welche ich auf dem Lande über Beſtechlich¬

keit und Chicane von Bezirksfeldwebeln und ſubalternen Beamten

machte, und kleine Conflicte, in welche ich als Kreisdeputirter und

Stellvertreter des Landraths mit der Regirung in Stettin gerieth,

ſteigerten meine Abneigung gegen die Herrſchaft der Bürokratie.

Von dieſen Conflicten mag der eine erwähnt ſein. Während ich

den beurlaubten Landrath vertrat, erhielt ich von der Regirung

den Auftrag, den Patron von Külz, der ich ſelbſt war, zur Ueber¬

nahme gewiſſer Laſten zu bewegen. Ich ließ den Auftrag liegen,

um ihn dem Landrathe bei ſeiner Rückkehr zu übergeben, wurde

wiederholt excitirt, und eine Ordnungsſtrafe von einem Thaler

wurde mir durch Poſtvorſchuß auferlegt. Ich ſetzte nun ein Protokoll

auf, in welchem ich erſtens als ſtellvertretender Landrath, zweitens

[17/0044]

Conflicte mit der Bürokratie. Oppoſition des Erſten Verein. Landtags.

als Patron von Külz als erſchienen aufgeführt war. Comparent

machte in ſeiner Eigenſchaft ad 1 ſich die vorgeſchriebene Vor¬

haltung; entwickelte dagegen in der ad 2 die Gründe, aus denen

er die Zumuthung ablehnen müſſe; worauf das Protokoll von ihm

doppelt genehmigt und unterſchrieben wurde. Die Regirung ver¬

ſtand Scherz und ließ mir die Ordnungsſtrafe zurückzahlen. In

andern Fällen kam es zu unangenehmeren Schraubereien. Ich

wurde zur Kritik geneigt, alſo „liberal“ in dem Sinne, in welchem

man das Wort damals in Kreiſen von Gutsbeſitzern anwandte zur

Bezeichnung der Unzufriedenheit mit der Bürokratie, die ihrer¬

ſeits in der Mehrzahl ihrer Glieder liberaler als ich war, aber in

andrem Sinne.

Aus meiner ſtändiſch-liberalen Stimmung, für die ich in

Pommern kaum Verſtändniß und Theilnahme, in Schönhauſen aber

die Zuſtimmung von Kreisgenoſſen wie Graf Wartensleben-Karow,

Schierſtädt-Dahlen und Andern fand, denſelben Elementen, die

zum Theil zu den ſpäter unter der neuen Aera gerichtlich ver¬

urtheilten Kirchen-Patronen gehörten, aus dieſer Stimmung wurde

ich wieder entgleiſt durch die mir unſympathiſche Art der Oppoſition

des Erſten Vereinigten Landtags, zu dem ich erſt für die letzten

ſechs Wochen der Seſſion wegen Erkrankung des Abgeordneten

von Brauchitſch als deſſen Stellvertreter einberufen wurde. Die

Reden der Oſtpreußen Saucken-Tarputſchen, Alfred Auerswald, die

Sentimentalität von Beckerath, der rheiniſch-franzöſiſche Liberalismus

von Heydt und Meviſſen und die polternde Heftigkeit der Vincke¬

ſchen Reden waren mir widerlich, und auch wenn ich die Verhand¬

lungen heut leſe, ſo machen ſie mir den Eindruck von importirter

Phraſen-Schablone. Ich hatte das Gefühl, daß der König auf

dem richtigen Wege ſei und den Anſpruch darauf habe, daß man

ihm Zeit laſſe und ihn in ſeiner eignen Entwicklung ſchone.

Ich gerieth mit der Oppoſition in Conflict, als ich das erſte

Mal zu längerer Ausführung das Wort nahm, am 17. Mai 1847,

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 2

[18/0045]

Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.

indem ich die Legende bekämpfte, daß die Preußen 1813 in den

Krieg gegangen wären, um eine Verfaſſung zu erlangen, und meiner

naturwüchſigen Entrüſtung darüber Ausdruck gab, daß die Fremd¬

herrſchaft an ſich kein genügender Grund zum Kampfe geweſen ſein

ſolle 1). Mir ſchien es unwürdig, daß die Nation dafür, daß ſie

ſich ſelbſt befreit habe, dem Könige eine in Verfaſſungsparagraphen

zahlbare Rechnung überreichen wolle. Meine Ausführung rief einen

Sturm hervor. Ich blieb auf der Tribüne, blätterte in einer

dort liegenden Zeitung und brachte, nachdem der Lärm ſich aus¬

getobt hatte, meine Rede zu Ende.

Bei den Hoffeſtlichkeiten, die während des Vereinigten Land¬

tags ſtattfanden, wurde ich von dem Könige und der Prinzeſſin

von Preußen in augenfälliger Weiſe gemieden, jedoch aus ver¬

ſchiedenen Gründen, von der letztern, weil ich weder liberal noch

populär war, von dem erſtern aus einem Grunde, der mir erſt

ſpäter klar wurde. Wem er bei Empfang der Mitglieder vermied,

mit mir zu ſprechen, wenn er im Cercle, nachdem er der Reihe

nach jeden angeredet hatte, abbrach, ſobald er an mich kam, um¬

kehrte oder quer durch den Saal abſchwenkte: ſo glaubte ich an¬

nehmen zu müſſen, daß meine Haltung als royaliſtiſcher Heißſporn

die Grenzen überſchritt, die er ſich geſteckt hatte. Daß dieſe Aus¬

legung unrichtig, erkannte ich erſt einige Monate ſpäter, als ich

auf meiner Hochzeitsreiſe Venedig berührte. Der König, der mich

im Theater erkannt hatte, befahl mich folgenden Tags zur Audienz

und zur Tafel, mir ſo unerwartet, daß mein leichtes Reiſegepäck

und die Unfähigkeit der Schneider des Ortes mir nicht die Mög¬

lichkeit gewährten, in correctem Anzuge zu erſcheinen. Mein Empfang

war ein ſo wohlwollender und die Unterhaltung auch auf politi¬

ſchem Gebiete derart, daß ich eine aufmunternde Billigung meiner

Haltung im Landtage daraus entnehmen konnte. Der König befahl

mir, mich im Laufe des Winters bei ihm zu melden, was geſchah.

1)

Politiſche Reden, Cotta'ſche Ausgabe I 9.

[19/0046]

Gegen die Adreſſe. Friedrich Wilhelm IV. und Bismarck.

Bei dieſer Gelegenheit und bei kleinern Diners im Schloſſe über¬

zeugte ich mich, daß ich bei beiden allerhöchſten Herrſchaften in

voller Gnade ſtand, und daß der König, wenn er zur Zeit der

Landtagsſitzungen vermieden hatte, öffentlich mit mir zu reden,

damit nicht eine Kritik meines politiſchen Verhaltens geben, ſondern

nur ſeine Billigung den Andern zur Zeit nicht zeigen wollte.

[[20]/0047]

Zweites Kapitel.

Das Jahr 1848.

I.

Die erſte Kunde von den Ereigniſſen des 18. und 19. März

1848 erhielt ich im Hauſe meines Gutsnachbarn, des Grafen von

Wartensleben auf Karow, zu dem ſich Berliner Damen geflüchtet

hatten. Für die politiſche Tragweite der Vorgänge war ich im

erſten Augenblick nicht ſo empfänglich wie für die Erbitterung über

die Ermordung unſrer Soldaten in den Straßen. Politiſch, dachte

ich, würde der König bald Herr der Sache werden, wenn er nur

frei wäre; ich ſah die nächſte Aufgabe in der Befreiung des Königs,

der in der Gewalt der Aufſtändiſchen ſein ſollte.

Am 20. meldeten mir die Bauern in Schönhauſen, es ſeien

Deputirte aus dem dreiviertel Meilen entfernten Tangermünde an¬

gekommen, mit der Aufforderung, wie in der genannten Stadt

geſchehn war, auf dem Thurme die ſchwarz-roth-goldne Fahne auf¬

zuziehn, und mit der Drohung, im Weigerungsfalle mit Verſtärkung

wiederzukommen. Ich fragte die Bauern, ob ſie ſich wehren wollten:

ſie antworteten mit einem einſtimmigen und lebhaften „Ja“, und

ich empfahl ihnen, die Städter aus dem Dorfe zu treiben, was

unter eifriger Betheiligung der Weiber beſorgt wurde. Ich ließ

dann eine in der Kirche vorhandene weiße Fahne mit ſchwarzem

Kreuz, in Form des eiſernen, auf dem Thurme aufziehn und er¬

mittelte, was an Gewehren und Schießbedarf im Dorfe vorhanden

[21/0048]

Der 18. und 19. März. Die Schönhauſer Bauern.

war, wobei etwa fünfzig bäuerliche Jagdgewehre zum Vorſchein

kamen. Ich ſelbſt beſaß mit Einrechnung der alterthümlichen einige

zwanzig und ließ Pulver durch reitende Boten von Jerichow und

Rathenow holen.

Dann fuhr ich mit meiner Frau auf umliegende Dörfer und

fand die Bauern eifrig bereit, dem Könige nach Berlin zu Hülfe

zu ziehn, beſonders begeiſtert einen alten Deichſchulzen Krauſe in

Neuermark, der in meines Vaters Regiment „Carabiniers“ Wacht¬

meiſter geweſen war. Nur mein nächſter Nachbar ſympathiſirte mit

der Berliner Bewegung, warf mir vor, eine Brandfackel in das

Land zu ſchleudern, und erklärte, wenn die Bauern ſich wirklich

zum Abmarſch anſchicken ſollten, ſo werde er auftreten und ab¬

wiegeln. Ich erwiderte: „Sie kennen mich als einen ruhigen

Mann, aber wenn Sie das thun, ſo ſchieße ich Sie nieder.“ —

„Das werden Sie nicht,“ meinte er. — „Ich gebe mein Ehrenwort

darauf,“ verſetzte ich, „und Sie wiſſen, daß ich das halte, alſo

laſſen Sie das.“

Ich fuhr zunächſt allein nach Potsdam, wo ich am Bahnhofe

Herrn von Bodelſchwingh ſah, der bis zum 19. Miniſter des Innern

geweſen war. Es war ihm offenbar unerwünſcht, im Geſpräch

mit mir, dem „Reactionär“, geſehn zu werden; er erwiderte meine

Begrüßung mit den Worten: „Ne me parlez pas.“ — „Les

paysans se lèvent chez nous,“ erwiderte ich. „Pour le Roi?“ —

„Oui.“ — „Dieſer Seiltänzer,“ ſagte er, die Hände auf die thränen¬

den Augen drückend. In der Stadt fand ich auf der Plantage an

der Garniſonkirche ein Bivouak der Garde-Infanterie; ich ſprach

mit den Leuten und fand Erbitterung über den befohlenen Rückzug

und Verlangen nach neuem Kampfe. Auf dem Rückwege längs

des Kanals folgten mir ſpionartige Civiliſten, welche Verkehr mit

der Truppe geſucht hatten und drohende Reden gegen mich führten.

Ich hatte vier Schuß in der Taſche, bedurfte ihrer aber nicht. Ich

ſtieg bei meinem Freunde Roon ab, der als Mentor des Prinzen

Friedrich Karl einige Zimmer in dem Stadtſchloſſe bewohnte,

[22/0049]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

und beſuchte im „Deutſchen Hauſe“ den General von Möllen¬

dorf, noch ſteif von den Mißhandlungen, die er erlitten, als er

mit den Aufſtändiſchen unterhandelte, und General von Prittwitz,

der in Berlin commandirt hatte. Ich ſchilderte ihnen die Stim¬

mung des Landvolks; ſie gaben mir dagegen Einzelheiten über die

Vorgänge bis zum 19. Morgens. Was ſie zu berichten hatten

und was an ſpätern Nachrichten aus Berlin hergelangt war,

konnte mich nur in dem Glauben beſtärken, daß der König nicht

frei ſei.

Prittwitz, der älter als ich war und ruhiger urtheilte, ſagte:

„Schicken Sie uns keine Bauern, wir brauchen ſie nicht, haben

Soldaten genug; ſchicken Sie uns lieber Kartoffeln und Korn,

vielleicht auch Geld, denn ich weiß nicht, ob für die Verpflegung

und Löhnung der Truppen ausreichend geſorgt werden wird. Wenn

Zuzug käme, würde ich aus Berlin den Befehl erhalten und aus¬

führen müſſen, denſelben zurückzuſchlagen.“ — „So holen Sie den

König heraus!“ ſagte ich. Er erwiderte: „Das würde keine große

Schwierigkeit haben; ich bin ſtark genug, Berlin zu nehmen, aber

dann haben wir wieder Gefecht; was können wir thun, nachdem

der König uns befohlen hat, die Rolle des Beſiegten anzunehmen?

Ohne Befehl kann ich nicht angreifen.“

Bei dieſem Zuſtand der Dinge kam ich auf den Gedanken,

einen Befehl zum Handeln, der von dem unfreien Könige nicht zu

erwarten war, von einer andern Seite zu beſchaffen, und ſuchte

zu dem Prinzen von Preußen zu gelangen. An die Prinzeſſin

verwieſen, deren Einwilligung dazu nöthig ſei, ließ ich mich bei

ihr melden, um den Aufenthalt ihres Gemals zu erfahren (der,

wie ich ſpäter erfuhr, auf der Pfaueninſel war). Sie empfing

mich in einem Dienerzimmer im Entreſol, auf einem fichtenen

Stuhle ſitzend, verweigerte die erbetene Auskunft und erklärte in

lebhafter Erregung, daß es ihre Pflicht ſei, die Rechte ihres Sohnes

zu wahren. Was ſie ſagte, beruhte auf der Vorausſetzung, daß

der König und ihr Gemal ſich nicht halten könnten, und ließ auf

[23/0050]

In Potsdam und Berlin.

den Gedanken ſchließen, während der Minderjährigkeit ihres Sohnes

die Regentſchaft zu führen. Um für dieſen Zweck die Mitwirkung

der Rechten in den Kammern zu gewinnen, ſind mir formelle

Eröffnungen durch Georg von Vincke gemacht worden. Da ich

zum Prinzen von Preußen nicht gelangen konnte, machte ich

einen Verſuch mit dem Prinzen Friedrich Karl, ſtellte ihm vor,

wie nöthig es ſei, daß das Königshaus Fühlung mit der Armee

behalte, und wenn Se. Majeſtät unfrei ſei, auch ohne Befehl des

Königs für die Sache deſſelben handle. Er erwiderte in lebhafter

Gemüthsbewegung, ſo ſehr ihm mein Gedanke zuſage, ſo fühle er

ſich doch zu jung, ihn auszuführen, und könne dem Beiſpiel der

Studenten, die ſich in die Politik miſchten, nicht folgen, er ſei

auch nicht älter als die. Ich entſchloß mich dann zu dem Ver¬

ſuche, zu dem Könige zu gelangen.

Prinz Karl gab mir im Potsdamer Schloſſe als Legitimation

und Paß das nachſtehende offene Schreiben:

Ueberbringer — mir wohlbekannt — hat den Auftrag, ſich bei

Sr. Majeſtät meinem Allergnädigſten Bruder perſönlich nach

Höchſtdeſſen Geſundheit zu erkundigen und mir Nachricht zu bringen,

aus welchem Grunde mir ſeit 30 Stunden auf meine wiederholten

eigenh. Anfragen „ob ich nicht nach Berlin kommen dürfe“ keine

Antwort ward.

Potsdam 21. Maerz 1848 Carl Prinz v. Preußen.

1 Uhr N. M.

Ich fuhr nach Berlin. Vom Vereinigten Landtage her vielen

Leuten von Anſehn bekannt, hatte ich für rathſam gehalten, meinen

Bart abzuſcheeren und einen breiten Hut mit bunter Kokarde auf¬

zuſetzen. Wegen der gehofften Audienz war ich im Frack. Am

Ausgange des Bahnhofes war eine Schüſſel mit einer Aufforderung

zu Spenden für die Barrikadenkämpfer aufgeſtellt, daneben ein baum¬

langer Bürgerwehrmann mit der Muskete auf der Schulter. Ein

Vetter von mir, mit dem ich beim Ausſteigen zuſammengetroffen

[24/0051]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

war, zog die Börſe. „Du wirſt doch für die Mörder nichts geben,“

ſagte ich, und auf einen warnenden Blick, den er mir zuwarf,

„und Dich vor dem Kuhfuß nicht fürchten?“ Ich hatte in dem

Poſten ſchon den mir befreundeten Kammergerichtsrath Meier er¬

kannt, der ſich auf den „Kuhfuß“ zornig umwandte und dann

ausrief: „I Jotte doch, Bismarck! wie ſehn Sie aus! Schöne

Schweinerei hier!“

Die Bürgerwache im Schloſſe fragte mich, was ich dort wolle.

Auf meine Antwort, ich hätte einen Brief des Prinzen Karl an

den König abzugeben, ſagte der Poſten, mich mit mißtrauiſchen

Blicken betrachtend, das könne nicht ſein; der Prinz befinde ſich

eben beim Könige. Erſtrer mußte alſo noch vor mir von Pots¬

dam abgereiſt ſein. Die Wache verlangte den Brief zu ſehn, den

ich hätte; ich zeigte ihn, da er offen und der Inhalt unverfänglich

war, und man ließ mich gehn, aber nicht in's Schloß. Im Gaſthof

Meinhard, parterre, lag ein mir bekannter Arzt im Fenſter, zu

dem ich eintrat. Dort ſchrieb ich dem Könige, was ich ihm zu

ſagen beabſichtigt hatte. Ich ging mit dem Briefe zum Fürſten

Boguslaw Radziwill, der freien Verkehr hatte und ihn dem Könige

übergeben konnte. Es ſtand darin u. A., die Revolution beſchränke

ſich auf die großen Städte, und der König ſei Herr im Lande, ſobald

er Berlin verlaſſe. Der König antwortete nicht, hat mir aber

ſpäter geſagt, er habe den auf ſchlechtem Papier ſchlecht geſchrie¬

benen Brief als das erſte Zeichen von Sympathie, das er damals

erhalten, ſorgfältig aufbewahrt.

Auf meinen Gängen durch die Straßen, um die Spuren des

Kampfes anzuſehn, raunte ein Unbekannter mir zu: „Wiſſen Sie,

daß Sie verfolgt werden?“ Ein andrer Unbekannter flüſterte mir

unter den Linden zu: „Kommen Sie mit“; ich folgte ihm in die

Kleine Mauerſtraße, wo er ſagte: „Reiſen Sie ab, oder Sie werden

verhaftet.“ „Kennen Sie mich?“ fragte ich. „Ja,“ antwortete er, „Sie

ſind Herr von Bismarck.“ Von welcher Seite mir die Gefahr drohen

ſollte, von welcher die Warnung kam, habe ich nie erfahren. Der

[25/0052]

In den Straßen von Berlin. Prittwitz und Möllendorf.

Unbekannte verließ mich ſchnell. Ein Straßenjunge rief mir nach:

„Kiek, det is och en Franzos,“ eine Aeußerung, an die ich durch

manche ſpätere Ermittlung erinnert worden bin. Mein allein un¬

raſirter langer Kinnbart, der Schlapphut und Frack hatten dem

Jungen einen exotiſchen Eindruck gemacht. Die Straßen waren

leer, kein Wagen ſichtbar; zu Fuß nur einige Trupps in Bluſen

und mit Fahnen, deren einer in der Friedrichſtraße einen lorbeer¬

bekränzten Barrikadenhelden zu irgend welcher Ovation geleitete.

Nicht wegen der Warnung, ſondern weil ich in Berlin keinen

Boden für eine Thätigkeit fand, kehrte ich an demſelben Tage nach

Potsdam zurück und beſprach mit den beiden Generalen Möllendorf

und Prittwitz noch einmal die Möglichkeit eines ſelbſtändigen

Handelns. „Wie ſollen wir das anfangen?“ ſagte Prittwitz. Ich

klimperte auf dem geöffneten Klavier, neben dem ich ſaß, den

Infanteriemarſch zum Angriff. Möllendorf fiel mir in Thränen

und vor Wundſchmerzen ſteif um den Hals und rief: „Wenn Sie uns

das beſorgen könnten!“ „Kann ich nicht,“ erwiderte ich; „aber wenn

Sie es ohne Befehl thun, was kann Ihnen denn geſchehn? Das

Land wird Ihnen danken und der König ſchließlich auch.“ Prittwitz:

„Können Sie mir Gewißheit ſchaffen, ob Wrangel und Hedemann

mitgehn werden? wir können zur Inſubordination nicht noch Zwiſt

in die Armee bringen.“ Ich verſprach das zu ermitteln, ſelbſt nach

Magdeburg zu gehn und einen Vertrauten nach Stettin zu ſchicken,

um die beiden commandirenden Generale zu ſondiren. Von Stettin

kam der Beſcheid des Generals von Wrangel: „Was Prittwitz thut,

thue ich auch.“ Ich ſelbſt war in Magdeburg weniger glücklich.

Ich gelangte zunächſt nur an den Adjutanten des Generals von Hede¬

mann, einen jungen Major, dem ich mich eröffnete und der mir

ſeine Sympathie ausdrückte. Nach kurzer Zeit aber kam er zu mir

in den Gaſthof und bat mich, ſofort abzureiſen, um mir eine

Unannehmlichkeit und dem alten General eine Lächerlichkeit zu

erſparen; derſelbe beabſichtige, mich als Hochverräther feſtnehmen

zu laſſen. Der damalige Oberpräſident von Bonin, die höchſte

[26/0053]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

politiſche Autorität der Provinz, hatte eine Proclamation erlaſſen

des Inhalts: „In Berlin iſt eine Revolution ausgebrochen; ich

werde eine Stellung über den Parteien nehmen.“ Dieſe „Stütze

des Thrones“ war ſpäter Miniſter und Inhaber hoher und einflu߬

reicher Aemter. General Hedemann gehörte dem Humboldtſchen

Kreiſe an.

Nach Schönhauſen zurückgekehrt, ſuchte ich den Bauern begreif¬

lich zu machen, daß der bewaffnete Zug nach Berlin nicht thunlich

ſei, gerieth aber dadurch in den Verdacht, in Berlin von dem

revolutionären Schwindel angeſteckt zu ſein. Ich machte ihnen

daher den Vorſchlag, der angenommen wurde, daß Deputirte aus

Schönhauſen und andern Dörfern mit mir nach Potsdam reiſen

ſollten, um ſelbſt zu ſehn, und den General von Prittwitz, viel¬

leicht den Prinzen von Preußen zu ſprechen. Als wir am 25. den

Bahnhof von Potsdam erreichten, war der König eben dort ein¬

getroffen und von einer großen Menſchenmenge in wohlwollender

Stimmung empfangen worden. Ich ſagte meinen bäuerlichen Be¬

gleitern: „Da iſt der König, ich werde Euch ihm vorſtellen, ſprecht

mit ihm.“ Das lehnten ſie aber ängſtlich ab und verzogen ſich

ſchnell in die hinterſten Reihen. Ich begrüßte den König ehr¬

furchtsvoll, er dankte, ohne mich zu erkennen, und fuhr nach dem

Schloſſe. Ich folgte ihm und hörte dort die Anrede, welche er im

Marmorſaale an die Offiziere des Gardecorps richtete *). Bei den

Worten: „Ich bin niemals freier und ſichrer geweſen als unter

dem Schutze meiner Bürger“ erhob ſich ein Murren und Aufſtoßen

von Säbelſcheiden, wie es ein König von Preußen in Mitten

ſeiner Offiziere nie gehört haben wird und hoffentlich nie wieder

hören wird 1).

*)

Die meiner Erinnerung und ſich unter einander widerſprechenden

Berichte der Allgemeinen Preußiſchen, der Voſſiſchen und der Schleſiſchen Zeitung

liegen mir vor. (Wolff, Berliner Revolutions-Chronik Band I 424.)

1)

Sie findet ſich nach den Aufzeichnungen eines Offiziers in Gerlach's

Denkwürdigkeiten I 148 f.

[27/0054]

Die Schönhauſer in Potsdam. Schreiben an Prittwitz.

Mit verwundetem Gefühl kehrte ich nach Schönhauſen zurück.

Die Erinnerung an das Geſpräch, welches ich in Potsdam

mit dem General-Lieutenant von Prittwitz gehabt hatte, veranlaßte

mich, im Mai folgendes, von meinen Freunden in der Schönhauſer

Gegend mitunterzeichnetes Schreiben an ihn zu richten:

„Jeder, dem ein preußiſches Herz in der Bruſt ſchlägt, hat

gewiß gleich uns Unterzeichneten mit Entrüſtung die Angriffe der

Preſſe geleſen, welchen in den erſten Wochen nach dem 19. März

die Königlichen Truppen zum Lohn dafür ausgeſetzt waren, daß

ſie ihre Pflicht im Kampfe treu erfüllt und auf ihrem befohlenen

Rückzuge ein unübertroffenes Beiſpiel militäriſcher Diſciplin und

Selbſtverleugnung gegeben hatten. Wenn die Preſſe ſeit einiger Zeit

eine ſchicklichere Haltung beobachtet, ſo liegt der Grund davon bei

der dieſelbe beherrſchenden Partei weniger in einer ihr ſeither

gewordenen richtigen Erkenntniß des Sachverhältniſſes, als darin,

daß die ſchnelle Bewegung der neuern Ereigniſſe den Eindruck der

ältern in den Hintergrund drängt, und man ſich das Anſehn

giebt, den Truppen wegen ihrer neueſten Thaten *)die frühern

verzeihn zu wollen. Sogar bei dem Landvolk, welches die erſten

Nachrichten von den Berliner Ereigniſſen mit kaum zu zügelnder

Erbitterung aufnahm, fangen die Entſtellungen an Conſiſtenz zu

gewinnen, welche von allen Seiten und ohne irgend erheblichen

Widerſpruch, theils durch die Preſſe, theils durch die bei Gelegen¬

heit der Wahlen das Volk bearbeitenden Emiſſäre verbreitet worden

ſind, ſo daß die wohlgeſinnten Leute unter dem Landvolk bereits

glauben, es könne doch nicht ohne allen Grund ſein, daß der

Berliner Straßenkampf von den Truppen, mit oder ohne Wiſſen

und Willen des vielverleumdeten Thronerben, vorbedachter Weiſe

herbeigeführt ſei, um dem Volke die Conceſſionen, welche der König

gemacht hatte, zu entreißen. An eine Vorbereitung auf der andern

Seite, an eine ſyſtematiſche Bearbeitung des Volkes, will kaum

*)

Am 23. April hatten ſie Schleswig beſetzt.

[28/0055]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

einer mehr glauben. Wir fürchten, daß dieſe Lüge, wenigſtens im

Bewußtſein der untern Volksſchichten, auf lange Zeit hin zu

Geſchichte werde, wenn ihr nicht durch ausführliche, mit Beweiſen

belegte Darſtellungen des wahren Hergangs der Sache entgegen¬

getreten wird, und zwar ſobald als möglich, da bei dem außer

aller Berechnung liegenden Lauf der Zeit heut und morgen

neue Ereigniſſe eintreten könnten, welche die Aufmerkſamkeit des

Publikums durch ihre Wichtigkeit dergeſtalt in Anſpruch nähmen, daß

Erklärungen über die Vergangenheit keinen Anklang mehr fänden.

Es würde unſrer Meinung nach von dem erheblichſten Ein¬

fluß auf die politiſchen Anſichten der Bevölkerung ſein, wenn ſie

über die unlautere Quelle der Berliner Bewegung einigermaßen

aufgeklärt werden könnte, ſowie darüber, daß der Kampf der März¬

helden zur Erreichung des vorgeſchützten Zweckes, nämlich der

Vertheidigung der von Sr. Majeſtät verſprochenen conſtitutionellen

Inſtitutionen, ein unnöthiger war. Ew. Excellenz als Befehlshaber

der ruhmwürdigen Truppen, welche bei jenen Ereigniſſen thätig

waren, ſind unſres Erachtens vorzugsweiſe berufen und im Stande,

die Wahrheit über dieſelben auf überzeugende Weiſe ans Licht zu

bringen. Die Ueberzeugung, wie wichtig dies für unſer Vaterland

ſein und wie ſehr der Ruhm der Armee dabei gewinnen würde,

muß uns zur Entſchuldigung dienen, wenn wir Ew. Excellenz ſo

dringend als ehrerbietig bitten, eine, inſoweit die dienſtlichen Rück¬

ſichten es geſtatten, genaue und mit Beweisſtücken verſehene Dar¬

ſtellung der Berliner Ereigniſſe vom militäriſchen Standpunkt ſo

bald als möglich der Oeffentlichkeit übergeben zu laſſen 1).“

Der General von Prittwitz iſt auf dieſe Anregung nicht ein¬

gegangen. Erſt am 18. März 1891 hat der General-Lieutenant z. D.

von Meyerinck in dem Beiheft des „Militär-Wochenblatts“ eine

Darſtellung zu dem von mir bezeichneten Zwecke geliefert, leider

ſo ſpät, daß grade die wichtigſten Zeugen, namentlich die Flügel¬

1)

Bismarck-Jahrbuch VI 8 ff.

[29/0056]

Mittheilungen aus Geſprächen mit Minutoli, Prittwitz.

adjutanten Edwin von Manteuffel und Graf Oriola, inzwiſchen

verſtorben waren.

Als Beitrag zu der Geſchichte der Märztage ſeien hier Ge¬

ſpräche aufgezeichnet, welche ich einige Wochen danach mit Perſonen

hatte, die mich, den ſie als Vertrauensmann der Conſervativen be¬

trachteten, aufſuchten, die einen, um ſich über ihr Verhalten vor

und an dem 18. März rechtfertigend auszuſprechen, die andern,

um mir die gemachten Wahrnehmungen mitzutheilen. Der Polizei¬

präſident von Minutoli beklagte ſich dabei, daß ihm der Vorwurf

gemacht werde, er habe den Aufſtand vorausgeſehn und nichts

zur Verhinderung deſſelben gethan, und beſtritt, daß irgend welche

auffallende Symptome zu ſeiner Kenntniß gekommen wären. Auf

meine Entgegnung, mir ſei in Genthin von Augenzeugen geſagt

worden, daß während der Tage vor dem 18. März fremdländiſch

ausſehende Männer, meiſtens polniſch ſprechend, einige offen Waffen

mit ſich führend, die andern mit ſchweren Gepäckſtücken, in der

Richtung nach Berlin paſſirt wären, erzählte Minutoli, der Miniſter

von Bodelſchwingh habe ihn Mitte März kommen laſſen und Be¬

ſorgniß über die herrſchende Gährung geäußert; darauf habe er

denſelben in eine Verſammlung vor den Zelten geführt. Nachdem

Bodelſchwingh die dort gehaltenen Reden angehört, habe er ge¬

ſagt: „Die Leute ſprechen ja ganz verſtändig, ich danke Ihnen, Sie

haben mich vor einer Thorheit bewahrt.“ Bedenklich für die Be¬

urtheilung Minutoli's war ſeine Popularität in den nächſten Tagen

nach dem Straßenkampfe. Sie war für einen Polizeipräſidenten

als Ergebniß eines Aufruhrs unnatürlich.

Auch der General von Prittwitz, der die Truppen um das

Schloß befehligt hatte, ſuchte mich auf und erzählte mir, mit

ihrem Abzuge ſei es ſo zugegangen: Nachdem ihm die Procla¬

mation „An meine lieben Berliner“ bekannt geworden, habe er

das Gefecht abgebrochen, aber den Schloßplatz, das Zeughaus und

die einmündenden Straßen zum Schutze des Schloſſes beſetzt ge¬

halten. Da ſei Bodelſchwingh an ihn mit der Forderung heran¬

[30/0057]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

getreten: „Der Schloßplatz muß geräumt werden.“ „Das iſt un¬

möglich,“ habe er geantwortet, „damit gebe ich den König preis.“

Darauf Bodelſchwingh: „Der König hat in ſeiner Proclamation

befohlen, daß alle ,öffentlichen Plätze‘ *)geräumt werden ſollen;

iſt der Schloßplatz ein öffentlicher Platz oder nicht? Noch bin ich

Miniſter, und ich habe es wohl auswendig gelernt, was ich als ſolcher

zu thun habe. Ich fordere Sie auf, den Schloßplatz zu räumen.“

„Was,“ ſo ſchloß Prittwitz ſeine Mittheilung, „was hätte ich dar¬

auf anders thun ſollen, als abmarſchiren?“ „Ich würde,“ antwortete

ich, „es für das Zweckmäßigſte gehalten haben, einem Unteroffizier

zu befehlen: ,Nehmen Sie dieſen Civiliſten in Verwahrung.‘“ Pritt¬

witz erwiderte: „Wenn man vom Rathhauſe kommt, iſt man immer

klüger. Sie urtheilen als Politiker; ich handelte ausſchließlich als

Soldat auf Weiſung des auf eine unterſchriebene allerhöchſte Procla¬

mation ſich ſtützenden dirigirenden Miniſters.“ — Von andrer Seite

habe ich gehört, Prittwitz habe dieſe ſeine letzte im Freien ſtatt¬

findende Unterredung mit Bodelſchwingh damit abgebrochen, daß

er blauroth vor Zorn den Degen in die Scheide geſtoßen und die

Aufforderung gemurmelt habe, die Götz von Berlichingen dem

Reichscommiſſar durch das Fenſter zuruft. Dann habe er ſein

Pferd links gedreht und ſei durch die Schloßfreiheit ſchweigend und

im Schritt abgeritten. Durch einen vom Schloſſe geſendeten Offizier

nach dem Verbleib der Truppen gefragt, habe er biſſig geantwortet:

„Die ſind mir durch die Finger gegangen, wo Alle mitreden **).“

Von Offizieren aus der nächſten Umgebung Sr. Majeſtät habe

ich Folgendes gehört. Sie ſuchten den König auf, der momentan

nicht zu finden war, weil er aus natürlichen Gründen ſich zurück¬

gezogen hatte. Als er wieder zum Vorſchein kam und gefragt wurde:

„Haben Ew. Majeſtät befohlen, daß die Truppen abmarſchiren?“

*)

Die Proclamation ſagt: „alle Straßen und Plätze“.

**)

Das Schreiben des Paſtors von Bodelſchwingh vom 8. November 1891

(Kreuzzeitung vom 18. November 1891, Nr. 539) und die Denkwürdigkeiten aus

dem Leben Leopolds von Gerlach ſind mir bekannt.

[31/0058]

Geſpräch mit Prittwitz. Fürſt Lichnowſki. Adreßdebatte.

erwiderte der König: „Nein,“ — „Sie ſind aber ſchon auf dem Ab¬

marſch,“ ſagte der Adjutant und führte den König an ein Fenſter.

Der Schloßplatz war ſchwarz von Civiliſten, hinter denen noch die

letzten Bajonette der abziehenden Soldaten zu ſehn waren. „Das

habe ich nicht befohlen, das kann nicht ſein,“ rief der König aus

und hatte den Ausdruck der Beſtürzung und Entrüſtung.

Ueber den Fürſten Lichnowſki wurde mir erzählt, daß er ab¬

wechſelnd oben im Schloſſe einſchüchternde Nachrichten über Schwäche

der Truppen, Mangel an Lebensmitteln und Munition verbreitet

und unten auf dem Platze den Aufſtändiſchen deutſch und polniſch

zugeredet habe auszuhalten, oben habe man den Muth verloren.

II.

In der kurzen Seſſion des Zweiten Vereinigten Landtags ſagte

ich am 2. April 1):

„Ich bin einer der wenigen, welche gegen die Adreſſe ſtimmen

werden, und ich habe um das Wort nur deshalb gebeten, um dieſe

Abſtimmung zu motiviren und Ihnen zu erklären, daß ich die

Adreſſe, inſoweit ſie ein Programm der Zukunft iſt, ohne Weitres

acceptire, aber aus dem alleinigen Grunde, weil ich mir nicht

anders helfen kann. — Nicht freiwillig, ſondern durch den Drang

der Umſtände getrieben, thue ich es; denn ich habe meine Anſicht

ſeit den ſechs Monaten nicht gewechſelt; ich glaube, daß dies

Miniſterium das einzige iſt, welches uns aus der gegenwärtigen

Lage einem geordneten und geſetzmäßigen Zuſtande zuführen kann,

und aus dieſem Grunde werde ich demſelben meine geringe Unter¬

ſtützung überall widmen, wo es mir möglich iſt. Was mich aber

veranlaßt, gegen die Adreſſe zu ſtimmen, ſind die Aeußerungen von

Freude und Dank für das, was in den letzten Tagen geſchehn iſt.

Die Vergangenheit iſt begraben, und ich bedaure es ſchmerzlicher

1)

Politiſche Reden Bd. I S. 45 f.

[32/0059]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

als Viele von Ihnen, daß keine menſchliche Macht im Stande iſt,

ſie wieder zu erwecken, nachdem die Krone ſelbſt die Erde auf ihren

Sarg geworfen hat. Aber wenn ich dies, durch die Gewalt der

Umſtände gezwungen, acceptire, ſo kann ich doch nicht aus meiner

Wirkſamkeit auf dem Vereinigten Landtage mit der Lüge ſcheiden,

daß ich für das danken und mich freuen ſoll über das, was ich

mindeſtens für einen irrthümlichen Weg halten muß. Wenn es

wirklich gelingt, auf dem neuen Wege, der jetzt eingeſchlagen iſt,

ein einiges deutſches Vaterland, einen glücklichen oder auch

nur geſetzmäßig geordneten Zuſtand zu erlangen, dann wird der

Augenblick gekommen ſein, wo ich dem Urheber der neuen Ordnung

der Dinge meinen Dank ausſprechen kann, jetzt aber iſt es mir

nicht möglich.“

Ich wollte mehr ſagen, war aber durch innere Bewegung in

die Unmöglichkeit verſetzt, weiter zu ſprechen, und verfiel in einen

Weinkrampf, der mich zwang, die Tribüne zu verlaſſen.

Wenige Tage zuvor hatte mir ein Angriff einer Magdeburger

Zeitung Anlaß gegeben, an die Redaction das nachſtehende Schreiben

zu richten, in welchem ich eine der Errungenſchaften, das ſtürmiſch

geforderte und durch die Aufhebung der Cenſur gewährte „Recht

der freien Meinungsäußerung“, auch für mich in Anſpruch nahm,

nicht ahnend, daß mir daſſelbe 42 Jahre ſpäter 1)würde beſtritten

werden.

„Eure Wohlgeboren

haben in die heutige Nummer Ihrer Zeitung einen ,Aus der Alt¬

mark‘ datirten Artikel aufgenommen, der einzelne Perſönlichkeiten

verdächtigt, indirect auch mich, und ich ſtelle daher Ihrem Gerech¬

tigkeitsgefühl anheim, ob Sie nachſtehende Erwiderung aufnehmen

wollen. Ich bin zwar nicht der in jenem Artikel bezeichnete Herr,

welcher von Potsdam nach Stendal gekommen ſein ſoll, aber ich

1)

Durch den Erlaß Caprivi's vom 23. Mai 1890.

[33/0060]

Schreiben an eine Magdeburger Zeitung.

habe ebenfalls in der vorigen Woche den mir benachbarten Ge¬

meinden erklärt, daß ich den König in Berlin nicht für frei hielte,

und dieſelben zur Abſendung einer Deputation an die geeignete

Stelle aufgefordert, ohne daß ich mir deshalb die ſelbſtſüchtigen

Motive, welche Ihr Correſpondent anführt, unterſchieben laſſen

möchte. Es iſt 1) ſehr erklärlich, daß jemand, dem alle mit der

Perſon des Königs nach dem Abzug der Truppen vorgegangenen

Ereigniſſe bekannt waren, die Meinung faſſen konnte, der König

ſei nicht Herr, zu thun und zu laſſen, was er wollte; 2) halte

ich jeden Bürger eines freien Staates für berechtigt, ſeine Mei¬

nung gegen ſeine Mitbürger ſelbſt dann zu äußern, wenn ſie der

augenblicklichen öffentlichen Meinung widerſpricht: ja nach den

neuſten Vorgängen möchte es ſchwer ſein, jemand das Recht

zu beſtreiten, ſeine politiſchen Anſichten durch Volksaufregung zu

unterſtützen; 3) wenn alle Handlungen Sr. Majeſtät in den

letzten 14 Tagen durchaus freiwillig geweſen ſind, was weder Ihr

Correſpondent noch ich mit Sicherheit wiſſen können, was hätten

dann die Berliner erkämpft? Dann wäre der Kampf am 18. und

19. mindeſtens ein überflüſſiger und zweckloſer geweſen und alles

Blutvergießen ohne Veranlaſſung und ohne Erfolg; 4) glaube

ich die Geſinnung der großen Mehrzahl der Ritterſchaft dahin

ausſprechen zu können, daß in einer Zeit, wo es ſich um das

ſociale und politiſche Fortbeſtehn Preußens handelt, wo Deutſchland

von Spaltungen in mehr als einer Richtung bedroht iſt, wir weder

Zeit noch Neigung haben, unſre Kräfte an reactionäre Verſuche,

oder an Vertheidigung der unbedeutenden uns bisher verbliebenen

gutsherrlichen Rechte zu vergeuden, ſondern gern bereit ſind, dieſe

auf Würdigere zu übertragen, indem wir dieſes als untergeordnete

Frage, die Herſtellung rechtlicher Ordnung in Deutſchland, die Er¬

haltung der Ehre und Unverletzlichkeit unſres Vaterlandes aber

als die für jetzt alleinige Aufgabe eines jeden betrachten, deſſen

Blick auf unſre politiſche Lage nicht durch Parteianſichten ge¬

trübt iſt.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 3

[34/0061]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

Gegen die Veröffentlichung meines Namens habe ich, falls

Sie Vorſtehendes aufnehmen wollen, nichts einzuwenden. Geneh¬

migen Sie die Verſicherung der größten Hochachtung, mit der ich bin

Schönhauſen bei Jerichow, 30. März 1848

Eurer Wohlgeboren

ergebenſter

Bismarck.“

Ich bemerke dazu, daß ich mich von Jugend auf ohne „v“

unterſchrieben und meine heutige Unterzeichnung v. B. erſt aus

Widerſpruch gegen die Anträge auf Abſchaffung des Adels 1848

angenommen habe.

Der nachſtehende Artikel, deſſen Concept in meiner Handſchrift

ſich erhalten hat, iſt, wie der Inhalt ergiebt, in der Zeit zwiſchen

dem Zweiten Vereinigten Landtage und den Wahlen zur National¬

verſammlung geſchrieben. In welcher Zeitung er erſchienen iſt,

hat ſich nicht ermitteln laſſen 1).

„Aus der Altmark.

Ein Theil unſrer Mitbürger, welcher ſich unter dem Syſtem

der ſtändiſchen Sonderung einer ſtarken Vertretung erfreute, näm¬

lich die Bewohner der Städte, fangen an zu fühlen, daß bei dem

neuen Wahlmodus, nach welchem in faſt allen Kreiſen die ſtädtiſche

Bevölkerung mit einer der Zahl nach ſehr überwiegenden ländlichen

zu concurriren haben wird, ihre Intereſſen gegen die der großen

Maſſen der Landbewohner werden zurückſtehn müſſen. Wir leben

in der Zeit der materiellen Intereſſen, und nach Feſtſtellung der

neuen Verfaſſung, nach Beruhigung der jetzigen Gährung, wird

ſich der Kampf der Parteien darum drehn, ob die Staatslaſten

gleichmäßig nach dem Vermögen getragen, oder ob ſie überwiegend

dem immer ſteuerbereiten Grund und Boden aufgelegt werden

ſollen, der die bequemſte und ſicherſte Erhebung geſtattet und von

1)

Bismarck-Jahrbuch VI 10 ff.

[35/0062]

Ein Zeitungsartikel.

deſſen Umfang nie etwas verheimlicht werden kann. Es iſt natür¬

lich, daß die Städter dahin ſtreben, den Steuererheber von der

Fabrikinduſtrie, von dem ſtädtiſchen Häuſerwerth, von dem Rentier

und Capitaliſten ſo fern als möglich zu halten, und ihn lieber auf

Acker und Wieſen und deren Producte anzuweiſen. Ein Anfang

iſt damit gemacht, daß in den bisher mahlſteuerpflichtigen Städten

die unterſten Stufen von der neuen directen Steuer frei bleiben,

während ſie auf dem Lande nach wie vor Klaſſenſteuer zahlen.

Wir hören ferner von Maßregeln zur Unterſtützung der Induſtrie

auf Koſten der Staatskaſſen, aber wir hören nicht davon, daß

man dem Landmanne zu Hülfe kommen wolle, der wegen der

kriegeriſchen Ausſichten auf der Seeſeite ſeine Producte nicht ver¬

werthen kann, aber der durch Kündigung von Capitalien in dieſer

geldarmen Zeit ſeinen Hof zu verkaufen genöthigt wird. Ebenſo

hören wir mit Bezug auf indirecte Beſteuerung mehr von dem

Schutzzollſyſtem zu Gunſten inländiſcher Fabrication und Gewerbe

ſprechen, als von dem für die ackerbautreibende Bevölkerung nöthigen

freien Handel. Es iſt wie geſagt natürlich, daß ein Theil der

ſtädtiſchen Bevölkerung mit Rückſicht auf die beregten Streitpunkte

kein Mittel ſcheut, bei den bevorſtehenden Wahlen das eigne

Intereſſe zur Geltung zu bringen und die Vertretung der Land¬

bewohner zu ſchwächen. Ein ſehr wirkſamer Hebel zu letzterem

Zweck liegt in den Beſtrebungen, der ländlichen Bevölkerung die¬

jenigen ihrer Mitglieder zu verdächtigen, deren Bildung und

Intelligenz ſie befähigen könnte, die Intereſſen des Grund und

Bodens auf der Nationalverſammlung mit Erfolg zu vertreten;

man bemüht ſich daher, eine Mißſtimmung gegen die Ritterguts¬

beſitzer künſtlich zu befördern, indem man meint, wenn man dieſe

Klaſſe unſchädlich macht, ſo müſſen die Landbewohner entweder

Advokaten oder andre Städter wählen, die nach den ländlichen

Intereſſen nicht viel fragen, oder es kommen meiſt ſchlichte Land¬

leute, und die denkt man durch die Beredſamkeit und kluge Politik

der Parteiführer in der Nationalverſammlung ſchon unvermerkt

[36/0063]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

zu leiten. Man ſucht daher die bisherige Ritterſchaft als ſolche

Leute zu bezeichnen, die den alten Zuſtand erhalten und zurück¬

führen wollen, während die Rittergutsbeſitzer wie jeder andre

vernünftige Menſch ſich ſelbſt ſagen, daß es unſinnig und unmög¬

lich wäre, den Strom der Zeit aufhalten oder zurückdämmen zu

wollen. — Man ſucht ferner auf den Dörfern die Vorſtellung zu

wecken und zu beſtärken, daß jetzt die Zeit gekommen ſei, ſich von

allen den Zahlungen, die nach den Separationsreceſſen an Ritter¬

güter zu leiſten ſind, ohne Entſchädigung loszumachen; aber man

verſchweigt dabei, daß eine Regirung, die Recht und Ordnung will,

nicht damit anfangen kann, eine Klaſſe von Staatsbürgern zu

plündern, um eine andre zu beſchenken, daß alle Rechte, die auf

Geſetz, Erkenntniß oder Vertrag beruhn, alle Forderungen, die

Einer an den Andern haben mag, alle Anſprüche auf hypotheka¬

riſche Zinſen und Capitalien denen, die ſie haben, mit demſelben

Rechtstitel genommen werden können, mit welchem man den Ritter¬

gütern ihre Renten ohne volle Entſchädigung nehmen möchte. Man

täuſcht den Landmann darüber, daß er mit dem Rittergutsbeſitzer

das gleiche Intereſſe des Landwirthes und den gleichen Gegner in

dem ausſchließlichen Induſtrieſyſteme hat, welches ſeine Hand nach

der Herrſchaft in dem preußiſchen Staate ausſtreckt; gelingt dieſe

Täuſchung, ſo wollen wir hoffen, daß ſie nicht lange dauert,

daß man ihr durch eine ſchnelle, geſetzliche Abſchaffung der bis¬

herigen politiſchen Rechte der Rittergüter ein Ende mache, und

daß der ländlichen Bevölkerung nicht erſt dann, wenn es an's Be¬

zahlen geht, dann aber zu ſpät, die Augen darüber aufgehn, wie

fein ſie von den klugen Städtern überliſtet iſt.“

Während der Zweite Vereinigte Landtag zuſammentrat, nahm

Georg von Vincke im Namen ſeiner Parteigenoſſen und angeblich

in höherem Auftrage meine Mitwirkung für den Plan in An¬

ſpruch, den König durch den Landtag zur Abdankung zu bewegen

und mit Uebergehung, aber im angeblichen Einverſtändniß des

[37/0064]

Antrag auf Einſetzung einer Regentſchaft.

Prinzen von Preußen, eine Regentſchaft der Prinzeſſin für ihren

minderjährigen Sohn herzuſtellen. Ich lehnte ſofort ab und er¬

klärte, daß ich einen Antrag des Inhalts mit dem Antrage auf

gerichtliches Verfahren wegen Hochverraths beantworten würde.

Vincke vertheidigte ſeine Anregung als eine politiſch gebotene,

durchdachte und vorbereitete Maßregel. Er hielt den Prinzen

wegen der von ihm leider nicht verdienten Bezeichnung „Kartätſchen¬

prinz“ für unmöglich und behauptete, daß deſſen Einverſtändniß

ſchriftlich vorliege. Damit hatte er eine Erklärung im Sinne,

welche der ritterliche Herr ausgeſtellt haben ſoll, daß er, wenn

ſein König dadurch vor Gefahr geſchützt werden könne, bereit ſei

auf ſein Erbrecht zu verzichten. Ich habe die Erklärung nie geſehn,

und der hohe Herr hat mir nie davon geſprochen. Herr von Vincke

gab ſeinen Verſuch, mich für die Regentſchaft der Prinzeſſin zu

gewinnen, ſchließlich kühl und leicht mit der Erklärung auf, ohne Mit¬

wirkung der äußerſten Rechten, die er als durch mich vertreten anſah,

werde der König nicht zum Rücktritt zu beſtimmen ſein. Die Ver¬

handlung fand bei mir im Hôtel des Princes, parterre rechts,

ſtatt und enthielt beiderſeits mehr, als ſich niederſchreiben läßt.

Von dieſem Vorgange und von der Ausſprache, welche ich

von ſeiner Gemalin während der Märztage in dem Potsdamer

Stadtſchloſſe zu hören bekommen hatte, habe ich dem Kaiſer Wilhelm

niemals geſprochen und weiß nicht, ob Andre es gethan haben.

Ich habe ihm dieſe Erlebniſſe verſchwiegen auch in Zeiten wie die

des vierjährigen Conflicts, des öſtreichiſchen Krieges und des Cultur¬

kampfs, wo ich in der Königin Auguſta den Gegner erkennen mußte,

welcher meine Fähigkeit, zu vertreten was ich für meine Pflicht hielt,

und meine Nerven auf die ſchwerſte Probe im Leben geſtellt hat.

Dagegen muß ſie ihrem Gemal nach England geſchrieben

haben, daß ich verſucht hatte, zu ihm zu gelangen, um ſeine Unter¬

ſtützung für eine contrarevolutionäre Bewegung zur Befreiung des

Königs zu gewinnen; denn als er auf der Rückkehr am 7. Juni

einige Minuten auf dem Genthiner Bahnhof verweilte und ich

[38/0065]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

mich in den Hintergrund gezogen hatte, weil ich nicht wußte, ob

er in ſeiner Eigenſchaft als „Abgeordneter für Wirſitz“ mit mir

geſehn ſein wollte, erkannte er mich in den hinterſten Reihen des

Publikums, bahnte ſich den Weg durch die vor mir Stehenden,

reichte mir die Hand und ſagte: „Ich weiß, daß Sie für mich

thätig geweſen ſind, und werde Ihnen das nie vergeſſen.“

Meine erſte Begegnung mit ihm war im Winter 1834/35 auf

einem Hofballe geweſen. Ich ſtand neben einem Herrn von Schack

aus Mecklenburg, der, wie ich, lang gewachſen und auch in Juſtiz-

Referendarien-Uniform war, was den Prinzen zu dem Scherz ver¬

anlaßte, die Juſtiz ſuche ſich jetzt die Leute wohl nach dem Garde¬

maße aus. Dann zu mir gewandt, fragte er mich, weshalb ich

nicht Soldat geworden ſei. „Ich hatte den Wunſch,“ erwiderte

ich, „aber die Eltern waren dagegen, weil die Ausſichten zu

ungünſtig ſeien.“ Worauf der Prinz ſagte: „Brillant iſt die

Carrière allerdings nicht, aber bei der Juſtiz auch nicht.“ Während

des Erſten Vereinigten Landtags, dem er als Mitglied der Herren¬

curie angehörte, redete er mich in den vereinigten Sitzungen wieder¬

holt in einer Weiſe an, die ſein Wohlgefallen an der damals von

mir angenommnen politiſchen Haltung bezeugte.

Bald nach der Begegnung in Genthin lud er mich nach

Babelsberg ein. Ich erzählte ihm mancherlei aus den Märztagen,

was ich theils erlebt, theils von Offizieren gehört hatte, namentlich

über die Stimmung, in der die Truppen den Rückzug aus Berlin

angetreten und die ſich in ſehr bittern, auf dem Marſch geſungenen

Verſen Luft gemacht hatte. Ich war hart genug, ihm das Gedicht

vorzuleſen, welches für die Stimmung der Truppen auf dem

befohlenen Rückzuge aus Berlin hiſtoriſch bezeichnend iſt:

1. Das waren Preußen, ſchwarz und weiß die Farben,

So ſchwebt' die Fahne einmal noch voran,

Als für den König ſeine Treuen ſtarben,

Für ihren König, jubelnd Mann für Mann.

Wir ſahen ohne Zagen

Fort die Gefall'nen tragen,

[39/0066]

Begegnungen mit dem Prinzen von Preußen.

Da ſchnitt ein Ruf in's treue Herz hinein,

„Ihr ſollt nicht Preußen mehr, ſollt Deutſche ſein.“

2. Doch wir mit Liebe nahten uns dem Throne,

Feſt noch im Glauben und voll Zuverſicht,

Da zeigt er uns, wie man die Treue lohne,

Uns, ſeine Preußen, hört ihr König nicht.

Da löſten ſich die Bande,

Weh' meinem Vaterlande!

Seit er verſtoßen ſeine Vielgetreu'n

Brach unſer Herz und ſeine Stütze ein.

3. Da, wie der Sturm ſein theures Haupt umbrauſet,

Verwünſcht, verläſtert von des Pöbels Wuth,

Der jetzt auf unſrem Siegesfelde hauſet,

Das, was Ihn ſchützte, war der Truppen Muth.

Sie ſtanden ohne Beben

Und ſetzten Blut und Leben

Für ihren Herrn, für ihren König ein,

Ihr Tod war ſüß, und ihre Ehre rein.

4. Und wo ſie fielen, Deine Tapfern, Treuen,

Vernimm die Schandthat, heil'ges Vaterland:

Sieht man des Pöbels ſchmutz'ge Schlächterreihen

Um jenen König ſtehen Hand in Hand.

Da ſchwören ſie auf's Neue

Sich Liebe ha! und Treue.

Trug iſt ihr Schwur

Und ihre Freiheit Schein,

Heil uns, ſie wollen nicht mehr Preußen ſein.

5. Schwarz, Roth und Gold glüht nun im Sonnenlichte,

Der ſchwarze Adler ſinkt herab entweiht;

Hier endet, Zollern, Deines Ruhms Geſchichte,

hier fiel ein König, aber nicht im Streit.

Wir ſehen nicht mehr gerne

Nach dem gefall'nen Sterne.

Was Du hier thateſt, Fürſt, wird Dich gereu'n,

So treu wird Keiner, wie die Preußen ſein.

Er brach darüber in ſo heftiges Weinen aus, wie ich es nur

noch einmal erlebt habe, als ich ihm in Nikolsburg wegen Fort¬

ſetzung des Krieges Widerſtand leiſtete (ſ. Kap. 20).

[40/0067]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

Bei der Prinzeſſin, ſeiner Gemalin, ſtand ich bis zu meiner

Ernennung nach Frankfurt ſo weit in Gnade, daß ich gelegentlich

nach Babelsberg befohlen wurde, um ihre politiſchen Auffaſſungen

und Wünſche zu vernehmen, deren Darlegung mit den Worten zu

ſchließen pflegte: „Es freut mich, Ihre Meinung gehört zu haben,“

obſchon ich nicht in die Lage gekommen war, mich zu äußern. Der

damals 18- und 19jährige, aber jünger ausſehende ſpätere Kaiſer

Friedrich pflegte in ſolchen Fällen ſeine politiſche Sympathie mir

dadurch zu erkennen zu geben, daß er mich im Dunkel der abend¬

lichen Abfahrt beim Einſteigen in den Wagen mit lebhaftem Hände¬

druck freundlich begrüßte in einer Art, als ob ihm eine offne Be¬

kundung ſeiner Geſinnung bei Licht nicht geſtattet wäre.

III.

Die Frage der deutſchen Einheit war in den letzten beiden

Jahrzehnten unter Friedrich Wilhelm III. nur in Geſtalt der burſchen¬

ſchaftlichen Strebungen und deren ſtrafrechtlicher Repreſſion in die

äußere Erſcheinung getreten. Friedrich Wilhelms IV. deutſches

oder, wie er ſchrieb, „teutſches“ Nationalgefühl war gemüthlich

lebhafter wie das ſeines Vaters, aber durch mittelalterliche Ver¬

brämung und durch Abneigung gegen klare und feſte Entſchlüſſe

in der praktiſchen Bethätigung gehemmt. Daher verſäumte er die

Gelegenheit, die im März 1848 günſtig war; und es ſollte das nicht

die einzige verſäumte bleiben. In den Tagen zwiſchen den ſüd¬

deutſchen Revolutionen, einſchließlich der Wiener, und dem 18. März,

ſo lange es vor Augen lag, daß von allen deutſchen Staaten,

Oeſtreich inbegriffen, Preußen der einzige feſtſtehende geblieben

war, waren die deutſchen Fürſten bereit, nach Berlin zu kommen

und Schutz zu ſuchen unter Bedingungen, die in unitariſcher Rich¬

tung über das hinausgingen, was heut verwirklicht iſt; auch das

bairiſche Selbſtbewußtſein war erſchüttert. Wenn es zu dem, nach

[41/0068]

Stellung zur Prinzeſſin. Politiſche Lage.

einer Erklärung der preußiſchen und der öſtreichiſchen Regirung vom

10. März auf den 20. März nach Dresden berufenen Fürſtencongreß

gekommen wäre, ſo wäre nach der Stimmung der betheiligten Höfe

eine Opferwilligkeit auf dem Altar des Vaterlandes wie die fran¬

zöſiſche vom 4. Auguſt 1789 zu erwarten geweſen. Dieſe Auffaſſung

entſprach den thatſächlichen Verhältniſſen; das militäriſche Preußen

war ſtark und intact genug, um die revolutionäre Welle zum Stehn

zu bringen und den übrigen deutſchen Staaten für Geſetz und

Ordnung in Zukunft Garantien zu bieten, welche den andern

Dynaſtien damals annehmbar erſchienen.

Der 18. März war ein Beiſpiel, wie ſchädlich das Eingreifen

roher Kräfte auch den Zwecken werden kann, die dadurch er¬

reicht werden ſollen. Indeſſen war am 19. Morgens noch nichts

verloren. Der Aufſtand war niedergeſchlagen. Führer deſſelben,

darunter der mir von der Univerſität her bekannte Aſſeſſor Rudolf

Schramm, hatten ſich nach Deſſau geflüchtet, hielten die erſte Nach¬

richt von dem Rückzuge der Truppen für eine polizeiliche Falle und

kehrten erſt nach Berlin zurück, nachdem ſie die Zeitungen erhalten

hatten. Ich glaube, daß mit feſter und kluger Ausnutzung des

Sieges; des einzigen, der damals von einer Regirung in Europa

gegen Aufſtände erfochten war, die deutſche Einheit in ſtrengerer

Form zu erreichen war, als zur Zeit meiner Betheiligung an der

Regirung ſchließlich geſchehn iſt. Ob das nützlicher und dauer¬

hafter geweſen wäre, laſſe ich dahingeſtellt ſein.

Wenn der König im März die Empörung in Berlin definitiv

niederwarf und auch nachher nicht wieder aufkommen ließ, ſo würden

wir von dem Kaiſer Nicolaus nach dem Zuſammenbruch Oeſt¬

reichs keine Schwierigkeiten in der Neubildung einer haltbaren

Organiſation Deutſchlands erfahren haben. Seine Sympathien

waren urſprünglich mehr nach Berlin als nach Wien gerichtet,

wenn auch Friedrich Wilhelm IV. perſönlich dieſe nicht beſaß und

bei der Verſchiedenheit der Charaktere nicht beſitzen konnte.

Der Umzug durch die Straßen in den Farben der Burſchen¬

[42/0069]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

ſchaft am 21. März war am wenigſten geeignet, das wieder ein¬

zubringen, was im Innern und nach Außen verloren war. Die

Situation wurde dadurch dergeſtalt umgedreht, daß der König nun

an der Spitze nicht mehr ſeiner Truppen, ſondern der Barrikaden¬

kämpfer, derſelben unlenkbaren Maſſen, ſtand, vor deren Bedrohung

die Fürſten einige Tage zuvor bei ihm Schutz geſucht hatten. Der

Gedanke, eine Verlegung des geplanten Fürſtencongreſſes von

Dresden nach Potsdam als einziges Ergebniß der Märztage zu

behandeln, verlor durch den würdeloſen Umzug jede Haltbarkeit.

Die Weichlichkeit, mit der Friedrich Wilhelm IV. unter dem

Drucke unberufener, vielleicht verrätheriſcher Rathgeber, gedrängt

durch weibliche Thränen, das blutige Ergebniß in Berlin, nachdem

es ſiegreich durchgeführt war, dadurch abſchließen wollte, daß er

ſeinen Truppen befahl, auf den gewonnenen Sieg zu verzichten,

hat für die weitere Entwicklung unſrer Politik zunächſt den

Schaden einer verſäumten Gelegenheit gebracht. Ob der Fortſchritt

ein dauernder geweſen ſein würde, wenn der König den Sieg

ſeiner Truppen feſtgehalten und ausgenutzt hätte, iſt eine andre

Frage. Der König würde dann allerdings nicht in der gebrochenen

Stimmung geweſen ſein, in der ich ihn während des Zweiten Ver¬

einigten Landtags gefunden habe, ſondern in dem durch den Sieg

geſtärkten Schwunge der Beredſamkeit, die er bei Gelegenheit der

Huldigung 1840, in Köln 1842 und ſonſt entwickelt hatte. Ich

wage keine Vermuthung darüber, welche Einwirkung auf die Hal¬

tung des Königs, die Romantik mittelalterlicher Reichserinnerungen

Oeſtreich und den Fürſten gegenüber und das vorher und ſpäter

ſo ſtarke fürſtliche Selbſtgefühl im Inlande das Bewußtſein geübt

haben würde, den Aufruhr definitiv niedergeſchlagen zu haben,

der ihm gegenüber allein ſiegreich blieb im außerruſſiſchen Continent.

Eine auf dem Straßenpflaſter erkämpfte Errungenſchaft wäre von

andrer Art und von minderer Tragweite geweſen als die ſpäter auf

dem Schlachtfeld gewonnene. Es iſt vielleicht für unſre Zukunft beſſer

geweſen, daß wir die Irrwege in der Wüſte innerer Kämpfe von

[43/0070]

Schwäche Friedrich Wilhelms IV. Erſter Beſuch in Sansſouci.

1848 bis 1866 wie die Juden, bevor ſie das gelobte Land er¬

reichten, noch haben durchmachen müſſen. Die Kriege von 1866

und 1870 wären uns doch ſchwerlich erſpart worden, nachdem

unſre 1848 zuſammengebrochenen Nachbarn in Anlehnung an

Paris, Wien und anderswo ſich wieder ermuthigt und gekräftigt

haben würden. Es iſt fraglich, ob auf dem kürzeren und raſcheren

Wege des Märzſieges von 1848 die Wirkung der geſchichtlichen

Ereigniſſe auf die Deutſchen dieſelbe geweſen ſein würde, wie die

heut vorhandene, die den Eindruck macht, daß die Dynaſtien, und

grade die früher hervorragend particulariſtiſchen, reichsfreundlicher

ſind als die Fractionen und Parteien.

Mein erſter Beſuch in Sansſouci kam unter ungünſtigen

Aſpecten zu Stande. In den erſten Tagen des Juni, wenige Tage

vor dem Abgange des Miniſterpräſidenten Ludolf Camphauſen, be¬

fand ich mich in Potsdam, als ein Leibjäger mich in dem Gaſt¬

hofe aufſuchte, um mir zu melden, daß der König mich zu ſprechen

wünſche. Ich ſagte unter dem Eindruck meiner frondirenden Ge¬

müthsſtimmung, daß ich bedauerte, dem Befehle Sr. Majeſtät

nicht Folge leiſten zu können, da ich im Begriffe ſei, nach Hauſe

zu reiſen und meine Frau, deren Geſundheit beſondrer Schonung

bedürfe, ſich ängſtigen würde, wenn ich länger als verabredet aus¬

bliebe. Nach einiger Zeit erſchien der Flügeladjutant Edwin von

Manteuffel, wiederholte die Aufforderung in Form einer Einladung

zur Tafel und ſagte, der König ſtelle mir einen Feldjäger zur Ver¬

fügung, um meine Frau zu benachrichtigen. Es blieb mir nichts

übrig, als mich nach Sansſouci zu begeben. Die Tiſchgeſellſchaft

war ſehr klein, enthielt, wenn ich mich recht erinnere, außer den

Damen und Herrn vom Dienſte nur Camphauſen und mich. Nach

der Tafel führte der König mich auf die Terraſſe und fragte

freundlich: „Wie geht es bei Ihnen?“ In der Gereiztheit, die ich

ſeit den Märztagen in mir trug, antwortete ich: „Schlecht.“ Darauf

der König: „Ich denke, die Stimmung iſt gut bei Ihnen.“ Darauf

ich, unter dem Eindrucke von Anordnungen, deren Inhalt mir nicht

[44/0071]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

erinnerlich iſt: „Die Stimmung war ſehr gut, aber ſeit die Revo¬

lution uns von den königlichen Behörden unter königlichem Stempel

eingeimpft worden, iſt ſie ſchlecht geworden. Das Vertrauen zu

dem Beiſtande des Königs fehlt.“ In dem Augenblicke trat die

Königin hinter einem Gebüſche hervor und ſagte: „Wie können

Sie ſo zu dem Könige ſprechen?“ — „Laß mich nur, Eliſe,“ ver¬

ſetzte der König, „ich werde ſchon mit ihm fertig werden;“ und

dann zu mir gewandt: „Was werfen Sie mir denn eigentlich

vor?“ — „Die Räumung Berlins.“ — „Die habe ich nicht ge¬

wollt,“ erwiderte der König. Und die Königin, die noch in Gehörs¬

weite geblieben war, ſetzte hinzu: „Daran iſt der König ganz un¬

ſchuldig, er hatte ſeit drei Tagen nicht geſchlafen.“ — „Ein König

muß ſchlafen können,“ verſetzte ich. Unbeirrt durch dieſe ſchroffe

Aeußerung ſagte der König: „Man iſt immer klüger, wenn man

von dem Rathhauſe kommt; was wäre denn damit gewonnen, daß

ich zugäbe, ,wie ein Eſel‘ gehandelt zu haben? Vorwürfe ſind nicht

das Mittel, einen umgeſtürzten Thron wieder aufzurichten, dazu

bedarf ich des Beiſtandes und thätiger Hingebung, nicht der Kritik.“

Die Güte, mit der er dies und Aehnliches ſagte, überwältigte mich.

Ich war gekommen in der Stimmung eines Frondeurs, dem es

ganz recht ſein würde, ungnädig weggeſchickt zu werden, und ging,

vollſtändig entwaffnet und gewonnen.

Auf meine Vorſtellungen, daß er Herr im Lande ſei und die

Macht beſitze, die bedrohte Ordnung überall herzuſtellen, ſagte er,

er müſſe ſich hüten, den Weg des formellen Rechtes zu verlaſſen;

wenn er mit der Berliner Verſammlung, dem Tagelöhnerparlamente,

wie man ſie damals in gewiſſen Kreiſen nannte, brechen wolle, ſo

müſſe er dazu das formelle Recht auf ſeiner Seite haben, ſonſt

ſtehe ſeine Sache auf ſchwachen Füßen, und die ganze Monarchie

laufe Gefahr, nicht blos von innern Bewegungen, ſondern auch

von außen her. Vielleicht hat er dabei an einen franzöſiſchen Krieg

unter Betheiligung deutſcher Aufſtände gedacht. Wahrſcheinlicher

aber iſt mir, daß er grade mir die Beſorgniß, ſeine deutſchen

[45/0072]

Geſpräch mit dem Könige. Seine Rechtsauffaſſung.

Ausſichten Preußens zu ſchädigen, in dem Moment, wo er meine

Dienſte gewinnen wollte, nicht ausſprach. Ich erwiderte, daß das

formale Recht und ſeine Grenzen in der vorliegenden Situation

verwiſcht erſchienen und von den Gegnern, ſobald ſie die Macht

hätten, ebenſo wenig reſpectirt werden würden, wie am 18. März,

ich ſähe die Situation mehr in dem Lichte von Krieg und Noth¬

wehr, als von rechtlichen Argumentationen. Der König beharrte

jedoch dabei, daß ſeine Stellung zu ſchwach werde, wenn er von

dem Rechtsboden abweiche, und der Eindruck iſt mir geblieben, daß

er dem von Radowitz bei ihm gepflegten Gedankengange, dem

ſchwarz-roth-goldnen, wie man damals ſagte, die Möglichkeit der

Herſtellung der Ordnung in Preußen zunächſt unterordnete.

Aus den zahlreichen Geſprächen, die auf jenes erſte folgten,

iſt mir das Wort des Königs erinnerlich: „Ich will den Kampf

gegen die Tendenzen der Nationalverſammlung durchführen, aber

wie die Sache heut liegt, ſo mag ich zwar von meinem Rechte

vollſtändig überzeugt ſein, es iſt aber nicht gewiß, daß Andre,

und daß ſchließlich die großen Maſſen es auch ſein werden: damit ich

deſſen gewiß werde, muß die Verſammlung ſich noch mehr und in

ſolchen Fragen in's Unrecht ſetzen, in denen mein Recht, mich mit Gewalt

zu wehren, nicht nur für mich, ſondern allgemein einleuchtend iſt.“

Meine Ueberzeugung, daß die Zweifel des Königs an ſeiner

Macht unbegründet ſeien, und daß es deshalb nur darauf an¬

komme, ob er an ſein Recht glaube, wenn er ſich gegen die Ueber¬

griffe der Verſammlung wehren wolle, konnte ich bei ihm nicht

zur Anerkennung bringen. Daß ſie richtig war, iſt demnächſt da¬

durch beſtätigt worden, daß den großen und kleinen Aufſtänden

gegenüber jede militäriſche Anordnung unbedenklich und mit Eifer

durchgeführt wurde, und zwar unter Umſtänden, wo die Bethätigung

des militäriſchen Gehorſams ſchon von Hauſe aus mit dem Nieder¬

werfen bereits vorhandenen bewaffneten Widerſtandes verbunden

war, während eine Auflöſung der Verſammlung, ſobald man ihre

Wirkſamkeit als ſtaatsgefährlich erkannte, in den Reihen der Truppen

[46/0073]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

die Frage des Gehorſams gegen militäriſche Befehle nicht berührt

haben würde. Auch das Einrücken größerer Truppenmaſſen in

Berlin nach dem Zeughausſturme und ähnlichen Vorgängen würde

nicht blos von den Soldaten, ſondern auch von der Mehrheit der

Bevölkerung als dankenswerthe Ausübung eines zweifelloſen könig¬

lichen Rechts aufgefaßt worden ſein, wenn auch nicht von der

Minderheit, welche die Leitung übte; und auch wenn die Bürger¬

wehr ſich hätte widerſetzen wollen, ſo würde ſie bei den Truppen

nur den berechtigten Kampfeszorn geſteigert haben. Ich kann mir

kaum denken, daß der König im Sommer an ſeiner materiellen

Macht, der Revolution in Berlin ein Ende zu machen, Zweifel

gehabt haben ſollte, vermuthe vielmehr, daß Hintergedanken rege

waren, ob nicht die Berliner Verſammlung und der Friede mit

ihr und ihrem Rechtsboden unter irgend welchen Conſtellationen

direct oder indirect nützlich werden könne, ſei es in Combinationen

mit dem Frankfurter Parlamente oder gegen daſſelbe, ſei es, um

nach andern Seiten hin in der deutſchen Frage einen Druck auszu¬

üben, und ob der formale Bruch mit der preußiſchen Volksvertretung

die deutſchen Ausſichten compromittiren könne. Den Umzug in

den deutſchen Farben ſetze ich allerdings nicht auf Rechnung ſolcher

Neigungen des Königs; er war damals körperlich und geiſtig ſo

angegriffen, daß er Zumuthungen, die ihm mit Entſchiedenheit ge¬

macht wurden, wenig Widerſtand entgegenſetzte.

Bei meinem Verkehr in Sansſouci lernte ich die Perſonen

kennen, die das Vertrauen des Königs auch in politiſchen Dingen

beſaßen, und traf zuweilen in dem Cabinet mit ihnen zuſammen.

Es waren das beſonders die Generale Leopold von Gerlach und

von Rauch, ſpäter Riebuhr, der Cabinetsrath.

Rauch war praktiſcher, Gerlach in der Entſchließung über

actuelle Vorkommniſſe mehr durch geiſtreiche Geſammtauffaſſung

angekränkelt, eine edle Natur von hohem Schwung, doch frei von

dem Fanatismus ſeines Bruders, des Präſidenten Ludwig von

Gerlach, im gewöhnlichen Leben beſcheiden und hülflos wie ein

[47/0074]

Hintergedanken des Königs. Die Camarilla: Rauch und Gerlach.

Kind, in der Politik tapfer und hochfliegend, aber durch körperliches

Phlegma gehemmt. Ich erinnere mich, daß ich in Gegenwart beider

Brüder, des Präſidenten und des Generals, veranlaßt wurde, mich

über den ihnen gemachten Vorwurf des Unpraktiſchen zu erklären

und das in folgender Weiſe that: „Wenn wir drei hier aus dem

Fenſter einen Unfall auf der Straße geſchehn ſehn, ſo wird der

Herr Präſident daran eine geiſtreiche Betrachtung über unſern

Mangel an Glauben und die Unvollkommenheit unſrer Einrichtungen

knüpfen; der General wird genau das Richtige angeben, was unten

geſchehn müſſe, um zu helfen, aber ſitzen bleiben; ich würde der

Einzige ſein, der hinunter ginge oder Leute riefe, um zu helfen.“

So war der General der einflußreichſte Politiker in der Camarilla

Friedrich Wilhelms IV., ein vornehmer und ſelbſtloſer Charakter,

ein treuer Diener des Königs, aber geiſtig vielleicht ebenſo wie

körperlich durch das Schwergewicht ſeiner Perſon an der prompten

Ausführung ſeiner richtigen Gedanken behindert. An Tagen, wo

der König ungerecht oder ungnädig für ihn geweſen war, wurde

in der Abendandacht im Hauſe des Generals wohl das alte Kirchen¬

lied geſungen:

Verlaſſe Dich auf Fürſten nicht,

Sie ſind wie eine Wiege.

Wer heute Hoſianna ſpricht,

Ruft morgen crucifige.

Aber ſeine Hingebung für den König erlitt unter dieſem chriſt¬

lichen Erguß ſeiner Verſtimmung nicht die mindeſte Abſchwächung.

Auch für den ſeiner Meinung nach irrenden König ſetzte er ſich

voll mit Leib und Leben ein, wie er ſchließlich ſeinen Tod dadurch

faſt eigenwillig herbeiführte, daß er hinter der Leiche ſeines Königs

bei Wind und ſehr hoher Kälte ſtundenlang in bloßem Kopfe, den

Helm in der Hand, folgte. Dieſer letzten formalen Hingebung

des alten Dieners für die Leiche ſeines Herrn unterlag ſeine ſchon

länger angegriffene Geſundheit; er kam mit der Kopfroſe nach

Hauſe und ſtarb nach wenigen Tagen. Durch ſein Ende erinnert

[48/0075]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

er an das Gefolge eines altgermaniſchen Fürſten, das freiwillig

mit ihm ſtirbt.

Neben Gerlach und vielleicht in höherem Grade war Rauch

ſeit 1848 von Einfluß auf den König. Sehr begabt, der fleiſch¬

gewordene geſunde Menſchenverſtand, tapfer und ehrlich, ohne

Schulbildung, mit den Tendenzen eines preußiſchen Generals von

der beſten Sorte, war er wiederholt als Militärbevollmächtigter in

Petersburg in der Diplomatie thätig geweſen. Einmal war Rauch

von Berlin in Sansſouci erſchienen mit dem mündlichen Auftrage

des Miniſterpräſidenten Grafen Brandenburg, von dem Könige die

Entſcheidung über eine Frage von Wichtigkeit zu erbitten. Als der

König, dem die Entſcheidung ſchwer wurde, nicht zum Entſchluß

kommen konnte, zog endlich Rauch die Uhr aus der Taſche und

ſagte mit einem Blick auf das Zifferblatt: „Jetzt ſind noch zwanzig

Minuten, bis mein Zug abgeht; da werden Ew. Majeſtät doch nun

befehlen müſſen, ob ich dem Grafen Brandenburg Ja ſagen ſoll

oder Nee, oder ob ich ihm melden ſoll, daß Ew. Majeſtät nich Ja

und nich Nee ſagen wollen.“ Dieſe Aeußerung kam heraus in

dem Tone der Gereiztheit, gedämpft durch die militäriſche Diſciplin,

als Ausdruck der Verſtimmung, die bei dem klaren, entſchiedenen

und durch die lange fruchtloſe Diſcuſſion ermüdeten General erklär¬

lich war. Der König ſagte: „Na, denn meinetwegen Ja“, worauf

Rauch ſich ſofort entfernte, um in beſchleunigter Gangart durch die

Stadt zum Bahnhof zu fahren. Nachdem der König eine Weile

ſchweigend dageſtanden hatte, wie wenn er die Folgen der wider¬

willig getroffenen Entſcheidung noch erwöge, wandte er ſich gegen

Gerlach und mich und ſagte: „Dieſer Rauch! Er kann nicht richtig

Deutſch ſprechen, aber er hat mehr geſunden Menſchenverſtand als

wir Alle,“ und darauf gegen Gerlach gewandt und das Zimmer

verlaſſend: „Klüger wie Sie iſt er immer ſchon geweſen.“ Ob der

König darin Recht hatte, laſſe ich dahingeſtellt; geiſtreicher war

Gerlach, praktiſcher Rauch.

[49/0076]

Die Camarilla. Auf der Suche nach einem Miniſterium.

IV.

Die Entwicklung der Dinge bot keine Gelegenheit, die Berliner

Verſammlung für die deutſche Sache nutzbar zu machen, während

ihre Uebergriffe wuchſen; es reifte daher der Gedanke, ſie nach

einem andern Orte zu verlegen, um ihre Mitglieder dem Drucke

der Einſchüchterung zu entziehn, eventuell ſie aufzulöſen. Damit

ſteigerte ſich die Schwierigkeit, ein Miniſterium zu Stande zu bringen,

welches dieſe Maßregel durchzuführen übernehmen würde. Schon

ſeit der Eröffnung der Verſammlung war es dem Könige nicht

leicht geworden, überhaupt Miniſter zu finden, beſonders aber ſolche,

welche auf ſeine ſich nicht immer gleichbleibenden Anſichten gefügig

eingingen, und deren furchtloſe Feſtigkeit zugleich die Bürgſchaft

gewährte, daß ſie bei einer entſcheidenden Wendung nicht verſagen

würden. Es ſind mir aus dem Frühjahre mehre verfehlte Ver¬

ſuche erinnerlich: Georg von Vincke antwortete auf meine Sondirung,

er ſei ein Mann der rothen Erde, zu Kritik und Oppoſition und

nicht zu einer Miniſterrolle veranlagt. Beckerath wollte die Bildung

eines Miniſteriums nur übernehmen, wenn die äußerſte Rechte ſich

ihm unbedingt hingebe und ihm den König ſicher mache. Männer,

welche in der Nationalverſammlung Einfluß hatten, wollten ſich

die Ausſicht nicht verderben, künftig, nach Herſtellung geordneter

Zuſtände, conſtitutionelle Majoritätsminiſter zu werden und zu

bleiben. Ich begegnete unter anderm bei Harkort, der als Handels¬

miniſter in das Auge gefaßt war, der Meinung, daß die Herſtellung

der Ordnung durch ein Fachminiſterium von Beamten und Militärs

bewirkt werden müſſe, ehe verfaſſungstreue Miniſter die Geſchäfte

übernehmen könnten; ſpäter ſei man bereit.

Die Abneigung, Miniſter zu werden, wurde verſtärkt durch

die Vorſtellung, daß perſönliche Gefahr damit verbunden ſein könne,

wie das Vorkommen körperlicher Mißhandlung conſervativer Ab¬

geordneter auf der Straße ſchon gezeigt habe. Nach den Ge¬

wöhnungen, welche die Straßenbevölkerung angenommen habe, und

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 4

[50/0077]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

bei dem Einfluſſe, den Abgeordnete der äußerſten Linken auf ſie

beſäßen, müſſe man auf größere Ausſchreitungen gefaßt ſein, wenn

die Regirung dem demokratiſchen Andringen Widerſtand zu leiſten

und in feſtere Wege einzulenken verſuche.

Als der Graf Brandenburg, gleichgültig gegen ſolche Beſorg¬

niſſe, ſich bereit erklärt hatte, das Präſidium zu übernehmen, kam

es darauf an, ihm geeignete und genehme Collegen zu gewinnen.

In einer Liſte, welche dem Könige vorgelegt wurde, fand ſich auch

mein Name; wie mir der General Gerlach erzählte, hatte der König

dazu an den Rand geſchrieben: „Nur zu gebrauchen, wenn das

Bayonett ſchrankenlos waltet“ *). Der Graf Brandenburg ſelbſt

ſagte mir in Potsdam: „Ich habe die Sache übernommen, habe

aber kaum die Zeitungen geleſen, bin mit ſtaatsrechtlichen Fragen

unbekannt und kann nichts weiter thun, als meinen Kopf zu Markte

tragen. Ich brauche einen ‚Kornak‘, einen Mann, dem ich traue

und der mir ſagt, was ich thun kann. Ich gehe in die Sache wie

ein Kind in's Dunkel, und weiß Niemanden, als Otto Manteuffel

(Director im Miniſterium des Innern), der die Vorbildung und

zugleich mein perſönliches Vertrauen beſitzt, der aber noch Bedenken

hat. Wenn er will, ſo gehe ich morgen in die Verſammlung;

wenn er nicht will, ſo müſſen wir warten und einen Andern

finden. Fahren Sie nach Berlin hinüber und bewegen Sie Man¬

teuffel.“ Dies gelang, nachdem ich von 9 Uhr bis Mitternacht

in ihn eingeredet und es übernommen hatte, ſeine Frau in Pots¬

dam zu benachrichtigen, und die für die perſönliche Sicherheit der

Miniſter im Schauſpielhauſe und in deſſen Umgebung getroffenen

Maßregeln dargelegt hatte.

Am 9. November früh Morgens kam der zum Kriegsminiſter

ernannte General v. Strotha zu mir, weil ihn Brandenburg an mich

*)

Gerlach iſt zuverläſſiger als die Quelle, aus welcher der Graf Vitzthum

von Eckſtädt geſchöpft haben muß, wenn er — „Berlin und Wien“ S. 247 —

die Randbemerkung ſo giebt: „Rother Reactionär, riecht nach Blut, ſpäter

zu gebrauchen.“

[51/0078]

Miniſterium Brandenburg. Eintritt Manteuffels.

gewieſen hatte, um ſich die Situation klar machen zu laſſen. Ich that

das nach Möglichkeit und fragte: „Sind Sie bereit?“ Er antwortete

mit der Gegenfrage: „Welcher Anzug iſt beſtimmt?“ — „Civil,“

erwiderte ich. — „Das habe ich nicht,“ ſagte er. Ich beſorgte ihm

einen Lohndiener, und es wurde glücklich noch vor der feſtgeſetzten

Stunde ein Anzug aus einer Kleiderhandlung beſchafft. Für die

Sicherheit der Miniſter wurden mannigfache Vorſichtsmaßregeln ge¬

troffen. Zunächſt waren im Schauſpielhauſe ſelbſt außer einer

ſtarken Polizeitruppe ungefähr dreißig der beſten Schützen des Garde-

Jäger-Bataillons ſo untergebracht, daß ſie auf ein beſtimmtes Signal

im Saale und auf den Gallerien erſcheinen und mit ihren der

größten Genauigkeit ſichern Schüſſen die Miniſter decken konnten,

wenn ſie thätlich bedroht wurden. Es ließ ſich annehmen, daß

auf die erſten Schüſſe die Inſaſſen den Saal ſchnell räumen

würden. Entſprechende Vorkehrungen waren an den Fenſtern des

Schauſpielhauſes und in verſchiedenen Gebäuden am Gensdarmen¬

markt getroffen, in der Abſicht, den Rückzug der Miniſter aus dem

Schauſpielhauſe gegen etwaige feindliche Angriffe zu decken; man

nahm an, daß auch größere etwa dort verſammelte Maſſen ſich

zerſtreuen würden, ſobald aus verſchiedenen Richtungen Schüſſe

fielen.

Herr von Manteuffel machte noch darauf aufmerkſam, daß der

Eingang zum Schauſpielhauſe in der dort engen Charlottenſtraße

nicht gedeckt ſei; ich erbot mich, zu bewirken, daß die ihm gegen¬

über liegende Wohnung des beurlaubten hanöverſchen Geſandten,

Grafen Kniephauſen, von Militär beſetzt würde. Ich begab mich

noch in der Nacht zu dem Oberſten von Griesheim im Kriegs¬

miniſterium, der mit den militäriſchen Anordnungen betraut war,

ſtieß aber bei ihm auf Bedenken, ob man eine Geſandſchaft zu

ſolchem Zwecke benutzen dürfe. Ich ſuchte nun den hanöverſchen

Geſchäftsträger, Grafen Platen, auf, der das dem Könige von

Hanover gehörige Haus unter den Linden bewohnte. Derſelbe

war der Anſicht, daß das amtliche Domizil der Geſandſchaft zur

[52/0079]

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.

Zeit in ſeiner Wohnung unter den Linden ſei, und ermächtigte mich,

dem Oberſten von Griesheim zu ſchreiben, daß er die Wohnung

„ſeines abweſenden Freundes“, des Grafen Kniephauſen, für poli¬

zeiliche Zwecke zur Verfügung ſtelle. Spät zu Bett gegangen,

wurde ich um 7 Uhr Morgens durch einen Boten Platens mit der

Bitte, ihn zu beſuchen, geweckt. Ich fand ihn ſehr erregt darüber,

daß eine Abtheilung von etwa 100 Mann im Hofe ſeiner Woh¬

nung, alſo grade dort, wo er den Sitz der Geſandſchaft bezeichnet

hatte, aufmarſchirt war. Griesheim hatte wahrſcheinlich den durch

meine Mittheilung veranlaßten Befehl irgend einem Beamten er¬

theilt, der das Mißverſtändniß angerichtet hatte. Ich ging zu ihm

und erwirkte den Befehl an den Führer der Abtheilung, die Kniep¬

hauſenſche Wohnung zu beſetzen, was denn auch geſchah, nachdem

es ſchon Tag geworden, während die Beſetzung der übrigen ge¬

wählten Häuſer in der Nacht heimlich erfolgt war. Vielleicht be¬

wirkte grade der zufällige Anſchein offner Entſchloſſenheit, daß

der Gensdarmenmarkt, als die Miniſter ſich in das Schauſpielhaus

begaben, ganz leer war.

Als Wrangel an der Spitze der Truppen eingezogen war (10. No¬

vember), verhandelte er mit der Bürgerwehr und bewog ſie zum

freiwilligen Abzuge. Ich hielt das für einen politiſchen Fehler; wenn

es zum kleinſten Gefecht gekommen wäre, ſo wäre Berlin nicht durch

Capitulation, ſondern gewaltſam eingenommen, und dann wäre die

politiſche Stellung der Regirung eine andre geweſen. Daß der

König die Nationalverſammlung nicht gleich auflöſte, ſondern auf

einige Zeit vertagte und nach Brandenburg verlegte und den Ver¬

ſuch machte, ob ſich dort eine Majorität finden würde, mit der ein

befriedigender Abſchluß zu erreichen war, beweiſt, daß in der poli¬

tiſchen Entwicklung, die dem Könige vorſchweben mochte, die

Rolle der Verſammlung auch damals noch nicht ausgeſpielt war.

Daß dieſe Rolle auf dem Gebiete der deutſchen Frage gedacht war,

dafür ſind mir einige Symptome erinnerlich. In Privatgeſprächen

der maßgebenden Politiker während der Vertagung der Verſamm¬

[53/0080]

Wrangels Einmarſch. Verlegung der Nationalverſammlung.

lung trat die deutſche Frage mehr in den Vordergrund als vorher,

und innerhalb des Miniſteriums wurden in dieſer Beziehung große

Hoffnungen auf den Sachſen von Carlowitz geſetzt, deſſen anerkannte

Beredſamkeit in deutſch-nationalem Sinne wirken würde. Wie der

Graf Brandenburg über die deutſche Sache dachte, darüber habe

ich damals von ihm unmittelbare Mittheilungen nicht erhalten. Er

gab nur ſeine Bereitwilligkeit zu erkennen, mit ſoldatiſchem Ge¬

horſam zu thun, was der König befehlen würde. Später in Erfurt

ſprach er ſich offner zu mir darüber aus.

[[54]/0081]

Drittes Kapitel.

Erfurt, Olmütz, Dresden.

I.

Der latente deutſche Gedanke Friedrich Wilhelms IV. trägt

mehr als ſeine Schwäche die Schuld an den Mißerfolgen unſrer

Politik nach 1848. Der König hoffte, das Wünſchenswerthe würde

kommen, ohne daß er ſeine legitimiſtiſchen Traditionen zu verletzen

brauchte. Wenn Preußen und der König garkeinen Wunſch nach

irgend etwas gehabt hätten, was ſie vor 1848 nicht beſaßen, ſei

es auch nur nach einer hiſtoriſchen mention honorable, wie es die

Reden von 1840 und 1842 vermuthen ließen; wenn der König

keine Ziele und Neigungen gehabt hätte, für deren Verfolgung eine

gewiſſe Popularität nützlich war: was hätte ihn dann abgehalten,

nachdem das Miniſterium Brandenburg feſten Fuß gefaßt, den

revolutionären Errungenſchaften im Innern Preußens in ähnlicher

Weiſe entgegenzutreten, wie dem badiſchen Aufſtande und dem

Widerſtande einzelner preußiſcher Provinzialſtädte? Der Verlauf

dieſer Erhebungen hatte auch denen, die es nicht wußten, gezeigt,

daß die militäriſchen Kräfte zuverläſſig waren; in Baden hatte ſo¬

gar die Landwehr aus Diſtricten, die für unſicher galten, ihre

Schuldigkeit nach Kräften gethan. Die Möglichkeit einer militäriſchen

Reaction, die Möglichkeit, wenn man einmal eine Verfaſſung

octroyirte, das zu Grunde gelegte belgiſche Formular ſchärfer, als

geſchehn iſt, im monarchiſchen Sinne zu amendiren, lag ohne Zweifel

[55/0082]

Urſache der Mißerfolge Preußens.

vor. Die Neigung, dieſe Möglichkeit auszunutzen, muß im Gemüthe

des Königs zurückgetreten ſein vor der Beſorgniß, dasjenige Maß

von Wohlwollen in nationaler und liberaler Richtung zu verlieren,

auf dem die Hoffnung beruhte, daß Preußen ohne Krieg und in

einer mit legitimiſtiſchen Vorſtellungen verträglichen Weiſe das Vor¬

gewicht in Deutſchland zufallen würde.

Dieſe Hoffnung oder Erwartung, die bis in die „Neue Aera“

hinein in Phraſen von dem deutſchen Berufe Preußens und von

moraliſchen Eroberungen einen ſchüchternen Ausdruck fand, beruhte

auf dem doppelten Irrthum, der vom März 1848 bis zum Früh¬

jahr des folgenden Jahres in Sansſouci wie in der Paulskirche

beſtimmend war: einer Unterſchätzung der Lebenskraft der deutſchen

Dynaſtien und ihrer Staaten, und einer Ueberſchätzung der Kräfte,

die man unter dem Wort Barrikade zuſammenfaſſen kann, ſo daß

darunter alle die Barrikade vorbereitenden Momente, Agitation

und Drohung mit dem Straßenkampfe, begriffen ſind. Nicht in

dieſem ſelbſt lag die Gefahr des Umſturzes, ſondern in der Furcht

davor. Die mehr oder weniger phäakiſchen Regirungen waren im

März, ehe ſie den Degen gezogen hatten, geſchlagen, theils durch

die Furcht vor dem Feinde, theils durch die innere Sympathie

ihrer Beamten mit demſelben. Immerhin wäre es für den König

von Preußen an der Spitze der Fürſten leichter geweſen, durch Aus¬

nutzung des Sieges der Truppen in Berlin ein deutſches Einheits¬

gebilde herzuſtellen, als es nachher der Paulskirche geworden iſt; ob

die Eigenthümlichkeit des Königs nicht eine ſolche Herſtellung auch

bei Feſthalten dieſes Sieges gehindert oder das hergeſtellte, wie

Bodelſchwingh im März fürchtete, wieder unſicher gemacht haben

würde, iſt allerdings ſchwer zu beurtheilen. In den Stimmungen

ſeiner letzten Lebensjahre, wie ſie auch aus den Aufzeichnungen

Leopolds v. Gerlach und aus andern Quellen erſichtlich ſind, ſteht

die urſprüngliche Abneigung gegen conſtitutionelle Einrichtungen, die

Ueberzeugung von der Nothwendigkeit eines größern Maßes freier

Bewegung der Königlichen Gewalt, als das in der preußiſchen Ver¬

[56/0083]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

faſſung gegebene, wieder im Vordergrunde. Der Gedanke, die

Verfaſſung durch einen „Königlichen Freibrief“ zu erſetzen, war in

der letzten Krankheit noch lebendig.

Die Frankfurter Verſammlung, in demſelben doppelten Irr¬

thum befangen, behandelte die dynaſtiſchen Fragen als über¬

wundenen Standpunkt, und mit der theoretiſchen Energie, welche

dem Deutſchen eigen iſt, auch in Betreff Preußens und Oeſtreichs.

Diejenigen Abgeordneten, welche in Frankfurt über die Stimmung

der preußiſchen Provinzen und der deutſch-öſtreichiſchen Länder

kundige Auskunft geben konnten, waren zum Theil intereſſirt bei

der Verſchweigung der Wahrheit; die Verſammlung täuſchte ſich,

ehrlich oder unehrlich, über die Thatſache, daß im Falle eines Wider¬

ſpruchs zwiſchen einem Frankfurter Reichstagsbeſchluß und einem

preußiſchen Königsbefehl der erſtere bei ſieben Achtel der preußiſchen

Bevölkerung leichter oder garnicht in's Gewicht fiel. Wer damals

in unſern Oſtprovinzen gelebt hat, wird heut noch die Erinnerung

haben, daß die Frankfurter Verhandlungen bei allen den Elementen,

in deren Hand die materielle Macht lag, bei allen denen, welche

in Conflictsfällen Waffen zu führen oder zu befehlen hatten, nicht

ſo ernſthaft aufgefaßt wurden, wie es nach der Würde der wiſſen¬

ſchaftlichen und parlamentariſchen Größen, die dort verſammelt

waren, hätte erwartet werden können. Und nicht nur in Preußen,

ſondern auch in den großen Mittelſtaaten hätte damals ein mon¬

archiſcher Befehl, der die Maſſe der Fäuſte dem Fürſten zu Hülfe

aufrief, falls er erfolgte, eine ausreichende Wirkung gehabt; nicht

überall in dem Maße, wie es in Preußen der Fall war, aber doch

in einem Maße, welches überall dem Bedürfniß materieller Polizei¬

gewalt genügt haben würde, wenn die Fürſten den Muth gehabt

hätten, Miniſter anzuſtellen, die ihre Sache feſt und offen ver¬

traten. Es war dies im Sommer 1848 in Preußen nicht der Fall

geweſen; ſobald aber im November der König ſich entſchloß, Mi¬

niſter zu ernennen, welche bereit waren, die Kronrechte ohne Rück¬

ſicht auf Parlamentsbeſchlüſſe zu vertreten, war der ganze Spuk

[57/0084]

Selbſttäuſchung der Frankfurter. Ablehnung der Kaiſerkrone.

verſchwunden und nur noch die Gefahr vorhanden, daß der Rück¬

ſchlag über das vernünftige Maß hinausgehn werde. In den

übrigen norddeutſchen Staaten kam es nicht einmal zu ſolchen Con¬

flicten, wie ſie das Miniſterium Brandenburg in einzelnen Pro¬

vinzialſtädten zu bekämpfen hatte. Auch in Baiern und Würtem¬

berg erwies ſich das Königthum trotz antiköniglicher Miniſter ſchlie߬

lich ſtärker als die Revolution.

Als der König am 3. April 1849 die Kaiſerkrone ablehnte,

aber aus dem Beſchluſſe der Frankfurter Verſammlung „ein An¬

recht“ entnahm, deſſen Werth er zu ſchätzen wiſſe, war er dazu

hauptſächlich bewogen durch den revolutionären oder doch parla¬

mentariſchen Urſprung des Anerbietens und durch den Mangel

eines ſtaatsrechtlichen Mandats des Frankfurter Parlaments bei

mangelnder Zuſtimmung der Dynaſtien. Aber auch wenn alle

dieſe Mängel nicht, oder doch in den Augen des Königs nicht,

vorhanden geweſen wären, ſo würde unter ihm eine Fortbildung

und Kräftigung der Reichs-Inſtitutionen, wie ſie unter Kaiſer Wil¬

helm ſtattgefunden hat, kaum zu erwarten geweſen ſein. Die Kriege,

welche der Letztere geführt hat, würden nicht ausgeblieben ſein,

nur würden ſie nach der Conſtituirung des Kaiſerthums, als Folge

derſelben, und nicht vorher, das Kaiſerthum vorbereitend und her¬

ſtellend, zu führen geweſen ſein. Ob Friedrich Wilhelm IV. zur

rechtzeitigen Führung derſelben hätte bewogen werden können, weiß

ich nicht; es war das ſchon ſchwierig bei ſeinem Herrn Bruder, in

dem die militäriſche Ader und das preußiſche Offiziersgefühl vor¬

wiegend waren.

Wenn ich die damaligen preußiſchen Zuſtände, perſönliche und

ſachliche, als nicht reif zur Uebernahme der Führung in Deutſch¬

land in Krieg und Frieden bezeichne, ſo will ich damit nicht geſagt

haben, daß ich damals die Vorausſicht davon mit derſelben Klar¬

heit gehabt habe, wie heut im Rückblick auf eine 40jährige ſeitdem

verfloſſene Entwicklung. Meine damalige Befriedigung über die

Ablehnung der Kaiſerkrone durch den König lag nicht in der vor¬

[58/0085]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

ſtehenden Beurtheilung ſeiner Perſon, eher in einer ſtärkern

Empfänglichkeit für das Preſtige der Preußiſchen Krone und ihres

Trägers, noch mehr aber in dem inſtinctiven Mißtrauen gegen die

Entwicklung ſeit den Barrikaden von 1848 und ihren parlamen¬

tariſchen Conſequenzen. Den letztern gegenüber war ich mit meinen

politiſchen Freunden unter dem Eindruck, daß die leitenden Männer

in Parlament und Preſſe das Programm „es muß alles ruinirt

werden“ zum Theil bewußt, zum größern Theile unbewußt för¬

derten und ausführten, und daß die vorhandenen Miniſter nicht

die Männer waren, welche die Bewegung leiten oder hemmen

konnten. Mein Standpunkt dazu unterſchied ſich damals nicht

weſentlich von dem noch heut in Kraft ſtehenden eines parlamen¬

tariſchen Fractionsmitgliedes, begründet auf Anhänglichkeit an

Freunde und Mißtrauen oder Feindſchaft gegen Gegner. Die

Ueberzeugung, daß der Gegner in Allem, was er vornimmt, im

beſten Falle beſchränkt, wahrſcheinlich aber böswillig und gewiſſenlos

iſt, und die Abneigung, mit den eignen Fractionsgenoſſen zu

diſſentiren und zu brechen, beherrſcht noch heut das Fractions¬

leben; und damals waren die Ueberzeugungen, auf denen dieſe dem

Staatsleben gefährlichen Erſcheinungen beruhn, ſehr viel lebhafter

und ehrlicher, als ſie heut ſind. Die Gegner kannten ſich damals

wenig, ſie haben ſeitdem 40 Jahre lang Gelegenheit gehabt, ſich

kennen zu lernen, da der Perſonalbeſtand der im Vordergrunde

ſtehenden Parteimänner ſich nur langſam und wenig zu ändern

pflegt. Man hielt ſich damals wirklich gegenſeitig für entweder

dumm oder ſchlecht, man hatte wirklich die Gefühle und Ueber¬

zeugungen, die man heutzutage behufs Einwirkung auf die Wähler

und auf den Monarchen zu haben vorgiebt, weil ſie zu dem Pro¬

gramm gehören, auf welches hin man in einer beſtimmten Fraction

Dienſt genommen hat, „eingeſprungen“ iſt, indem man an deren

Berechtigung geglaubt und ihren Führern vertraut hat. Das

politiſche Streberthum hat heut mehr Antheil an dem Beſtehn

und Verhalten der Fractionen als vor 40 Jahren; die Ueberzeu¬

[59/0086]

Fractionsleben ſonſt und jetzt. Dreikönigsbündniß.

gungen waren damals aufrichtiger und ungeſchulter, wenn auch die

Leidenſchaften, der Haß und die gegenſeitige Mißgunſt der Fractionen

und ihrer Führer, die Neigung, die Landesintereſſen den Fractions¬

intereſſen zu opfern, heut vielleicht ſtärker entwickelt ſind. En tout

cas le diable n'y perd rien. Byzantinismus und verlogene Spe¬

culation auf Liebhabereien des Königs wurden wohl in kleinen

höhern Kreiſen betrieben, aber bei den parlamentariſchen Fractionen

war der Wettlauf um die Gunſt des Hofes noch nicht im Gange;

der Glaube an die Macht des Königthums war irrthümlicher Weiſe

meiſt geringer als der an die eigne Bedeutung; man fürchtete

nichts mehr, als für ſervil oder für miniſteriell zu gelten. Die

Einen ſtrebten nach eigner Ueberzeugung das Königthum zu ſtärken

und zu ſtützen, die Andern glaubten, ihr und des Landes Wohl in

Bekämpfung und Schwächung des Königs zu finden; es liegt darin

ein Beweis, daß, wenn nicht die Macht, doch der Glaube an die

Macht des preußiſchen Königthums damals ſchwächer war als heut

zu Tage. Die Unterſchätzung der Macht der Krone erlitt auch durch

die Thatſache keine Aenderung, daß der perſönliche Wille eines nicht

ſehr willensſtarken Monarchen wie Friedrich Wilhelms IV. hinreichte,

der ganzen deutſchen Bewegung durch Ablehnung der Kaiſerkrone

die Spitze abzubrechen, und daß die ſporadiſchen Aufſtände, die

demnächſt für die Durchführung nationaler Wünſche ausbrachen,

von der Königlichen Gewalt mit Leichtigkeit unterdrückt wurden.

Die günſtige Situation, welche für Preußen in der kurzen

Zeit von der Niederlage des Fürſten Metternich in Wien bis zum

Rückzuge der Truppen aus Berlin beſtanden hatte, erneuerte ſich,

wenn auch in ſchwächern Umriſſen, dank der Wahrnehmung, daß

der König und ſein Heer nach allen Mißgriffen noch ſtark genug

waren, den Aufſtand in Dresden niederzuwerfen und das Drei-

Königsbündniß zu Stande zu bringen. Eine ſchnelle Ausnutzung

der Lage im nationalen Sinne war vielleicht möglich, ſetzte aber

klare und praktiſche Ziele und entſchloſſenes Handeln voraus. Beides

fehlte. Die günſtige Zeit ging verloren mit Erwägungen von

[60/0087]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

Einzelheiten der künftigen Verfaſſung, unter denen eine der breiteſten

Stellen die Frage von dem Geſandſchaftsrecht der deutſchen Fürſten

neben dem des Deutſchen Reiches einnahm 1). Ich habe damals in

den mir zugänglichen Kreiſen am Hofe und unter den Abgeordneten

die Anſicht vertreten, daß das Geſandſchaftsrecht nicht die Wichtig¬

keit habe, die man ihm beilegte, ſondern der Frage von dem Ein¬

fluſſe der einzelnen Bundesfürſten im Reiche oder im Auslande

untergeordnet ſei. Wäre der Einfluß eines ſolchen auf die Politik

gering, ſo würden ſeine Geſandſchaften im Auslande den einheit¬

lichen Eindruck des Reiches nicht abſchwächen können; bliebe ſein

Einfluß auf Krieg und Frieden, auf die politiſche und finanzielle

Leitung des Reiches oder auf die Entſchließungen fremder Höfe

ſtark genug, ſo gebe es kein Mittel, zu verhindern, daß fürſtliche

Correſpondenzen oder irgend welche mehr oder weniger diſtinguirte

Privatleute, bis in die Kategorie der internationalen Zahnärzte hinein,

die Träger politiſcher Verhandlungen würden.

Mir ſchien es damals nützlicher, anſtatt der theoretiſchen Er¬

örterungen über Verfaſſungsparagraphen die vorhandene lebens¬

kräftige preußiſche Militärmacht in den Vordergrund zu ſtellen, wie

es gegen den Aufſtand in Dresden geſchehn war und in den übrigen

außerpreußiſchen Staaten hätte geſchehn können. Die Dresdner Vor¬

gänge hatten gezeigt, daß in der ſächſiſchen Truppe Diſciplin und

Treue unerſchüttert waren, ſobald die preußiſche Verſtärkung die

militäriſche Lage haltbar machte. Ebenſo erwieſen ſich bei den Kämpfen

in Frankfurt die heſſiſche, in Baden die mecklenburgiſche Truppe

zuverläſſig, ſobald ſie überzeugt waren, daß eine bewußte Leitung

ſtattfand und einheitliche Befehle gegeben wurden, und ſobald man

ihnen nicht zumuthete, ſich angreifen zu laſſen und ſich nicht zu

wehren. Hätte man damals von Berlin aus die eigne Armee recht¬

zeitig und hinreichend verſtärkt und mit ihr die Führung auf mili¬

1)

Vgl. Bismarck's Aeußerung in der Reichstagsrede vom 8. März 1878,

Politiſche Reden VII 184 f.

[61/0088]

Bedenken und Hintergedanken.

täriſchem Gebiete ohne Hintergedanken übernommen, ſo weiß ich

nicht, was zu Zweifeln an einem günſtigen Erfolge hätte berech¬

tigen können. Die Situation war nicht ſo klar in allen Rechts-

und Gewiſſensfragen wie Anfangs März 1848, aber politiſch

immerhin nicht ungünſtig.

Wenn ich von Hintergedanken ſpreche, ſo meine ich damit den

Verzicht auf Beifall und Popularität bei verwandten Fürſtenhäuſern,

bei Parlamenten, Hiſtorikern und in der Tagespreſſe. Als öffent¬

liche Meinung imponirte damals die tägliche Strömung, die in

der Preſſe und den Parlamenten am lauteſten rauſcht, aber nicht

maßgebend iſt für die Volksſtimmung, von der es abhängt, ob die

Maſſe den auf regelmäßigem Wege von oben ergehenden Anforde¬

rungen noch Folge leiſtet. Die geiſtige Potenz der obern Zehn¬

tauſend in der Preſſe und auf der Tribüne iſt von einer zu

großen Mannigfaltigkeit ſich kreuzender Beſtrebungen und Kräfte

getragen und geleitet, als daß die Regirungen aus ihr die Richt¬

ſchnur für ihr Verhalten entnehmen könnten, ſo lange nicht die

Evangelien der Redner und Schriftſteller vermöge des Glaubens,

den ſie bei den Maſſen finden, die materiellen Kräfte, die ſich

„hart im Raume“ ſtoßen, zur Verfügung haben. Iſt dies der

Fall, ſo tritt vis major ein, mit der die Politik rechnen muß.

So lange dieſe, in der Regel nicht ſchnell eintretende Wirkung

nicht vorliegt, ſo lange nur das Geſchrei der rerum novarum cupidi

in größern Centren, das Emotionsbedürfniß der Preſſe und des

parlamentariſchen Lebens den Lärm machen, tritt für den Real¬

politiker die Betrachtung Coriolans über populäre Kundgebungen

in Kraft, wenn auch in ihr die Druckerſchwärze noch keine Er¬

wähnung findet. Die leitenden Kreiſe in Preußen ließen ſich aber

damals durch den Lärm der großen und kleinen Parlamente be¬

täuben, ohne deren Gewicht an dem Barometer zu meſſen, den

ihnen die Haltung der Mannſchaft in Reih und Glied oder der Ein¬

berufung gegenüber an die Hand gab. Zu der Täuſchung über

die realen Machtverhältniſſe, die ich damals bei Hofe und bei dem

[62/0089]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

Könige ſelbſt habe conſtatiren können, haben die Sympathien der

höhern Beamtenſchichten theils für die liberale, theils für die natio¬

nale Seite der Bewegung viel beigetragen — ein Element, das

ohne einen Impuls von oben wohl hemmend, aber nicht thatſächlich

entſcheidend in's Gewicht fallen konnte.

Gegenüber der Verſuchung, die in der Situation lag, hatte

der König ein Gefühl, welches ich dem Unbehagen vergleichen

möchte, von dem ich, obwohl ein großer Liebhaber des Schwimmens,

ergriffen wurde, wenn ich an einem kalten ſtürmiſchen Tage den

erſten Schritt in das Waſſer thun wollte. Seine Bedenken, ob die

Dinge reif ſeien, wurden unter anderm genährt durch die ge¬

ſchichtlichen Erörterungen, die er mit Radowitz pflog, nicht nur

über das ſächſiſche und hanöverſche Geſandſchaftsrecht, ſondern

auch über die Vertheilung der Sitze im „Reichstage“ zwiſchen Regi¬

renden und Mediatiſirten, zwiſchen Landesherrn und Perſonaliſten,

recipirten und nicht recipirten Grafen unter den verſchiedenen

Kategorien der Reichstagsmaſſe, wobei die Specialität des Freien

Standesherrn von Grote-Schauen zu unterſuchen war.

II.

Den militäriſchen Vorgängen ſtand ich damals weniger nahe

als ſpäter, glaube aber nicht zu irren, wenn ich annehme, daß für

die Truppenbewegungen zur Unterdrückung der Aufſtände in der

Pfalz und in Baden mehr Cadres und Stämme verwendet wurden

als rathſam und als erforderlich geweſen wäre, wenn man feld¬

mäßig mobile Truppen hätte marſchiren laſſen. Thatſache iſt,

daß mir der Kriegsminiſter zur Zeit der Olmützer Begegnung als

einen der zwingenden Gründe für den Frieden oder doch Aufſchub

des Krieges die Unmöglichkeit angab, den großen Theil der Armee

rechtzeitig oder überhaupt zu mobiliſiren, deſſen Stämme ſich in

Baden oder ſonſt außerhalb ihrer Stand- und Mobilmachungs¬

[63/0090]

Verzettelung der preußiſchen Truppen.

Bezirke unvollzählig befanden. Wenn wir im Frühjahr 1849 die

Möglichkeit einer kriegeriſchen Löſung im Auge behalten und unſre

Mobilmachungsfähigkeit durch Verwendung keiner andern als kriegs¬

bereiter Truppen intact erhalten hätten, ſo wäre die militäriſche

Kraft, über welche Friedrich Wilhelm IV. verfügte, ausreichend

geweſen, nicht nur jede aufſtändiſche Bewegung in und außer

Preußen niederzuſchlagen, ſondern die aufgeſtellten Streitkräfte

hätten zugleich das Mittel gewährt, uns 1850 auf die Löſung der

damaligen Hauptfragen in unverdächtiger Weiſe vorzubereiten, falls

ſie ſich zu einer militäriſchen Machtfrage zuſpitzten. Es fehlte

dem geiſtreichen Könige nicht an politiſcher Vorausſicht, aber an

Entſchluß, und ſein im Prinzip ſtarker Glaube an die eigne Macht¬

vollkommenheit hielt in concreten Fällen wohl gegen politiſche

Rathgeber Stand, aber nicht gegen finanzminiſterielle Bedenken.

Ich hatte ſchon damals das Vertrauen, daß die militäriſche

Kraft Preußens genügen werde, um alle Aufſtände zu überwältigen,

und daß die Ergebniſſe der Ueberwältigung zu Gunſten der Mon¬

archie und der nationalen Sache um ſo erheblicher ſein würden,

je größer der zu überwindende Widerſtand geweſen wäre, und

vollſtändig befriedigend, wenn alle Kräfte, von denen Widerſtand

zu erwarten war, in einem und demſelben Feldzuge überwunden

werden konnten. Während der Aufſtände in Baden und der Pfalz

war es eine Zeit lang zweifelhaft, wohin ein Theil der bairiſchen

Armee gravitiren würde. Ich erinnere mich, daß ich dem bairiſchen

Geſandten, Grafen Lerchenfeld, als er grade in dieſen kritiſchen

Tagen von mir Abſchied nahm, um nach München zu reiſen, ſagte:

„Gott gebe, daß auch Ihre Armee, ſo weit ſie unſicher iſt, offen

abfällt; dann wird der Kampf groß, aber ein entſcheidender werden,

der das Geſchwür heilt. Machen Sie mit dem unſichern Theil

Ihrer Truppen Frieden, ſo bleibt das Geſchwür unterköthig.“ Lerchen¬

feld, beſorgt und beſtürzt, nannte mich leichtſinnig. Ich ſchloß

das Geſpräch mit den Worten: „Seien Sie ſicher, wir reißen

Ihre und unſre Sache durch; je toller je beſſer.“ Er glaubte mir

[64/0091]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

nicht, aber meine Zuverſicht ermuthigte ihn doch, und ich glaube

noch heut, daß die Chancen für eine wünſchenswerthe Löſung der

damaligen Kriſis noch beſſer geworden wären, wenn vorher die

badiſche Revolution durch den damals befürchteten Abfall auch

eines Theils der bairiſchen und würtembergiſchen Truppen ver¬

ſtärkt worden wäre. Freilich würden ſie auch dann vielleicht un¬

benutzt geblieben ſein.

Ich laſſe unentſchieden, ob an der Halbheit und Schüchternheit

der damals den ernſten Gefahren gegenüber ergriffenen Maßregeln

nur finanzielle Miniſter-Aengſtlichkeiten oder dynaſtiſche Gewiſſens¬

bedenken und Unentſchloſſenheit an höchſter Stelle Schuld waren,

oder ob in amtlichen Kreiſen eine ähnliche Sorge mitwirkte wie

die, welche in den Märztagen bei Bodelſchwingh und Andern die

richtige Löſung verhinderte, nämlich die Befürchtung, daß der König

in dem Maße, in dem er ſich wieder mächtig und ſorgenfrei fühlen

würde, auch eine abſolutiſtiſche Richtung einſchlagen könnte. Ich

erinnere mich, dieſe Beſorgniß bei höhern Beamten und in

liberalen Hofkreiſen wahrgenommen zu haben.

Unbeantwortet iſt die Frage geblieben, ob der Einfluß des

Generals von Radowitz aus katholiſirenden Gründen in einer auf

den König wirkſamen Geſtalt verwendet worden iſt, um das

evangeliſche Preußen an der Wahrnehmung der günſtigen Gelegen¬

heit zu hindern und den König über dieſelbe hinweg zu täuſchen.

Ich weiß heut noch nicht, ob er ein katholiſirender Gegner Preu¬

ßens war oder nur beſtrebt, ſeine Stellung bei dem Könige zu

halten *) . Gewiß iſt, daß er den geſchickten Garderobier der

*) Der General von Gerlach hat im Auguſt 1850 niedergeſchrieben

(Denkwürdigkeiten I 514):

„Die Verehrung des Königs für Radowitz beruht auf zwei Dingen:

1) ſeinem ſcheinbar ſcharf logiſch-mathematiſchen Raiſonnement, bei dem ſeine

gedankenloſe Indifferenz es ihm möglich macht, jeden Widerſpruch mit dem

Könige zu vermeiden. Nun ſieht der König in dieſer ſeinem Ideengange ganz

entgegenſetzten Denkart die Probe für das Exempel, was er ſich zuſammen¬

[65/0092]

Radowitz als Garderobier der Phantaſie Friedrich Wilhelms IV.

mittelalterlichen Phantaſie des Königs machte und dazu beitrug,

daß der König über hiſtoriſche Formfragen und reichsgeſchichtliche

Erinnerungen die Gelegenheiten zu praktiſchem Eingreifen in die

Entwicklung der Gegenwart verſäumte. Das tempus utile für

Einrichtung des Dreikönigsbundes wurde dilatoriſch mit neben¬

ſächlichen Formfragen ausgefüllt, bis Oeſtreich wieder ſtark genug

war, um Sachſen und Hanover zum Rücktritt zu vermögen, ſo

daß beide Mitbegründer dieſes Dreibundes in Erfurt ausfielen.

Während des Erfurter Parlaments, in einer von dem General von

Pfuel geladenen Geſellſchaft, kamen vertrauliche Nachrichten einiger

Abgeordneten zur Sprache über die Stärke der öſtreichiſchen Armee,

die ſich in Böhmen ſammelte und dem Parlament als Gegen¬

gewicht und Correctiv dienen ſollte. Es wurden verſchiedene Zahlen,

80000 und 130000 Mann angegeben. Radowitz hörte eine Zeit

lang ruhig zu und ſagte dann mit dem ihm eignen Ausdruck

unwiderleglicher Gewißheit auf ſeinen regelmäßigen Zügen in ent¬

ſcheidendem Tone: „Oeſtreich hat in Böhmen 28254 Mann und

7132 Pferde.“ Die Tauſende, die er angab, ſind mir obiter in

Erinnerung, die übrigen Ziffern ſetze ich nach Gutdünken hinzu,

nur um die erdrückende Genauigkeit der Angaben des Generals

anſchaulich zu machen. Natürlich brachten dieſe Zahlen aus dem

Munde des amtlichen und competenten Vertreters der preußiſchen

Regirung einſtweilen jede abweichende Meinung zum Schweigen.

Wie ſtark die öſtreichiſche Armee im Frühjahr 1850 in Böhmen

geweſen iſt, wird heut wohl feſtſtehn; daß ſie zur Olmützer Zeit er¬

heblich mehr als 100000 Mann betrug, habe ich annehmen müſſen

*)

*) gerechnet, und hält ſich ſo ſeiner Sache gewiß. 2) Der König hält ſeine

Miniſter und auch mich für Rindvieh, ſchon darum, weil jene mit ihm currente

und praktiſche Geſchäfte abmachen müſſen, welche nie ſeinen Ideen entſprechen.

Er traut ſich nicht die Fähigkeit zu, dieſe Miniſter ſich folgſam zu machen, auch

nicht die, andre zu finden, er giebt alſo dieſen Weg auf und glaubt, in Radowitz

einen gefunden zu haben, von Deutſchland aus Preußen zu reſtauriren, wie

das Radowitz in ,Deutſchland und Friedrich Wilhelm IV.‘ geradezu eingeſteht.“

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 5

[66/0093]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

nach den vertraulichen Mittheilungen, die mir der Kriegsminiſter

im November deſſelben Jahres machte.

Die nähere Berührung, in welche ich in Erfurt mit dem Grafen

Brandenburg trat, ließ mich erkennen, daß ſein preußiſcher Patrio¬

tismus vorwiegend von den Erinnerungen an 1812 und 1813

zehrte und ſchon deshalb von deutſchem Nationalgefühl durchſetzt

war. Entſcheidend blieb indeß das dynaſtiſche und boruſſiſche

Gefühl und der Gedanke einer Machtvergrößerung Preußens. Er

hatte von dem Könige, der ſchon damals auf ſeine Weiſe an meiner

politiſchen Erziehung arbeitete, den Auftrag erhalten, meinen

etwaigen Einfluß in der Fraction der äußerſten Rechten für die

Erfurter Politik zu gewinnen, und verſuchte das, indem er mir

auf einem einſamen Spaziergange zwiſchen der Stadt und dem

Steigerwalde ſagte: „Was kann bei der ganzen Sache Preußen für

Gefahr laufen? Wir nehmen ruhig an, was uns an Verſtärkung

geboten wird, ‚Viel oder Wenig‛, unter einſtweiligem Verzichte auf

das, was uns nicht geboten wird. Ob wir uns die Verfaſſungs¬

beſtimmungen, die der König mit in den Kauf zu nehmen hat,

auf die Dauer gefallen laſſen können, das kann nur die Erfahrung

lehren. Geht es nicht, ‚ſo ziehn wir den Degen und jagen die

Kerls zum Teufel‘.“ Ich kann nicht leugnen, daß dieſer mili¬

täriſche Schluß ſeiner Auseinanderſetzung mir einen ſehr gewinnen¬

den Eindruck machte, hatte aber meine Zweifel, ob die Allerhöchſte

Entſchließung im entſcheidenden Augenblicke nicht mehr von andern

Einflüſſen abhängen würde als von dieſem ritterlichen Generale.

Sein tragiſches Ende hat meine Zweifel beſtätigt 1).

Auch Herr von Manteuffel war von dem Könige zu dem Ver¬

ſuche veranlaßt worden, die preußiſche äußerſte Rechte für Unter¬

ſtützung der Regirungspolitik zu gewinnen und in dieſem Sinne

1)

Nach Sybel II 3 f. iſt die Erzählung, Brandenburg ſei an „gebrochenem

Herzen“ über die ihm in Warſchau zu Theil gewordene übermüthige Behand¬

lung und die ihm aufgezwungene friedliche Politik geſtorben, gegenüber den

aktenmäßigen Feſtſtellungen als legendär zu bezeichnen.

[67/0094]

Brandenburg für die Erfurter Politik. H. v. Gagern.

eine Verſtändigung zwiſchen uns und der Gagern'ſchen Partei

anzubahnen. Er that das in der Weiſe, daß er Gagern und mich

allein zu Tiſch einlud und uns beide, während wir noch bei der

Flaſche ſaßen, allein ließ, ohne uns eine vermittelnde oder ein¬

leitende Andeutung zu hinterlaſſen. Gagern wiederholte mir, nur

minder genau und verſtändlich, was uns als Programm ſeiner

Partei und etwas abgemindert als Regirungsvorlage bekannt war.

Er ſprach, ohne mich anzublicken, ſchräg weg gegen den Himmel

ſehend. Auf meine Aeußerung, wir royaliſtiſche Preußen befürch¬

teten in erſter Linie, daß mit dieſer Verfaſſung die monarchiſche

Gewalt nicht ſtark genug bleiben werde, verſank er nach der langen

und declamatoriſchen Darlegung in ein geringſchätziges Schweigen,

was den Eindruck machte, den man mit Roma locuta est über¬

ſetzen kann. Als Manteuffel wieder eintrat, hatten wir mehre

Minuten ſchweigend geſeſſen, ich, weil ich Gagern's Erwiderung

erwartete, er, weil er in der Erinnerung an ſeine Frankfurter

Stellung es unter ſeiner Würde hielt, mit einem preußiſchen Land¬

junker anders als maßgebend zu verhandeln. Er war eben mehr

zum parlamentariſchen Redner und Präſidenten als zum politiſchen

Geſchäftsmann veranlagt und hatte ſich in das Bewußtſein eines

Jupiter tonans hineingelebt. Nachdem er ſich entfernt hatte, fragte

Manteuffel mich, was er geſagt habe. „Er hat mir eine Rede

gehalten, als ob ich eine Volksverſammlung wäre,“ antwortete ich.

Es iſt merkwürdig, daß in den beiden Familien, welche da¬

mals in Deutſchland und in Preußen den nationalen Liberalismus

vertraten, Gagern und Auerswald, je drei Brüder vorhanden

waren, unter denen je ein General, daß dieſe beiden Generale die

praktiſcheren Politiker unter ihren Brüdern waren und beide in

Folge der revolutionären Bewegungen ermordet wurden, deren

Entwicklung jeder von ihnen in ſeinem Wirkungskreiſe in gutem

patriotiſchen Glauben gefördert hatte. Der General von Auers¬

wald, der am 18. September 1848 bei Frankfurt ermordet wurde,

wie man ſagt, weil er für Radowitz gehalten wurde, hatte ſich zur

[68/0095]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

Zeit des Erſten Vereinigten Landtags gerühmt, daß er als Oberſt

eines Kavallerie-Regiments hunderte von Meilen zu Pferde zurück¬

gelegt habe, um oppoſitionelle Wahlen der Bauern zu fördern 1).

Im November 1850 wurde ich gleichzeitig als Landwehr-

Offizier zu meinem Regimente und als Abgeordneter zu der be¬

vorſtehenden Kammerſeſſion einberufen 2). Auf dem Wege über

Berlin zu dem Marſchquartier des Regiments meldete ich mich

bei dem Kriegsminiſter von Stockhauſen, der mir perſönlich be¬

freundet und für kleine perſönliche Dienſte dankbar war. Nach¬

dem ich den Widerſtand des alten Portiers überwunden und vor¬

gelaſſen war, gab ich meiner durch die Einberufung und den Ton

der Oeſtreicher etwas erregten kriegeriſchen Stimmung Ausdruck.

Der Miniſter, ein alter, ſchneidiger Soldat, deſſen moraliſcher und

phyſiſcher Tapferkeit ich ſicher war, ſagte mir in der Hauptſache

Folgendes:

„Wir müſſen für den Augenblick den Bruch nach Möglichkeit

vermeiden Wir haben keine Macht, welche hinreichte, die Oeſt¬

reicher, auch wenn ſie ohne ſächſiſche Unterſtützung bei uns ein¬

brechen, aufzuhalten. Wir müſſen ihnen Berlin preisgeben und

1)

General Friedrich von Gagern wurde bekanntlich am 20. April 1848

von den Kugeln indiſcher Freiſchärler bei Kandern getödtet, als er von einer

erfolgloſen Unterredung mit Hecker zu ſeiner Truppe zurückritt.

2)

Nach einer Randbemerkung im Manuſkripte beabſichtigte Fürſt Bis¬

marck an dieſer Stelle ein Erlebniß einzuſchalten, deſſen er wiederholt in ſeinen

Tiſchgeſprächen gedacht hat. Ich gebe die Erzählung, wie ſie mir im Gedächtniß

haftet. Als Bismarck ſich mit der Einberufungsordre in der Taſche auf dem

Wege nach Berlin befand, ſtieg ein pommerſcher Schulze, des Namens Stranzke,

zu ihm in den Poſtwagen. Das Geſpräch lenkte ſich ſelbſtverſtändlich bald auf

die politiſchen Ereigniſſe. Als Stranzke von der Einberufungsordre hörte,

fragte er ganz naiv: „Wo ſteiht de Franzos?“ und war ſichtlich enttäuſcht, als

ihm Herr v. Bismarck mittheilte, daß es diesmal nicht gegen die Franzoſen,

ſondern gegen die Oeſtreicher gehn werde. „Das ſollte mir doch leid thun,

wenn wir auf die ,weißen Collets' ſchießen ſollten,“ meinte er, „und nicht

auf die Hundsfötter von Franzoſen.“ So lebendig lebte in ihm die Er¬

innerung an die Leidenszeit Preußens nach der Niederlage von Jena und an

die preußiſch-öſtreichiſche Waffenbrüderſchaft von 1813/14.

[69/0096]

Mangelnde Kriegsbereitſchaft Preußens.

in zwei Centren außerhalb der Hauptſtadt, etwa in Danzig und

in Weſtfalen, mobiliſiren; vorwärts Berlin können wir erſt in

14 Tagen etwa 70000 Mann haben, und auch die würden

nicht reichen gegen die Streitkräfte, die Oeſtreich jetzt ſchon gegen

uns in Bereitſchaft hat.“ Es ſei, fuhr er fort, vor Allem nöthig,

wenn wir ſchlagen wollten, Zeit zu gewinnen, und deshalb zu

wünſchen, daß die bevorſtehenden Verhandlungen im Abgeordneten¬

hauſe nicht den Bruch beſchleunigten durch Erörterungen und Be¬

ſchlüſſe, wie man ſich deren nach den herrſchenden Stimmen in der

Preſſe verſehn müſſe. Er bäte mich daher, in Berlin zu bleiben und

auf die bereits anweſenden und nächſtens eintreffenden befreun¬

deten Abgeordneten vertraulich im Sinne der Mäßigung einzu¬

wirken. Er klagte über die Verzettelung der Stämme, die in ihrer

Friedensformation ausgerückt und verwendet wären und ſich nun

fern von ihren Erſatzbezirken und Zeughäuſern befänden, theils im

Inlande, zum großen Theil aber im Südweſten Deutſchlands, alſo

in Oertlichkeiten, wo eine ſchleunige Mobilmachung auf Kriegsfuß

ſich ſchwer ausführen laſſe 1).

Die badiſchen Truppen hatte man damals auf wenig gang¬

baren Wegen mit Benutzung des braunſchweigiſchen Weſerdiſtricts

nach Preußen kommen laſſen — ein Beweis von der Aengſtlichkeit,

mit welcher man damals die Gebietsgrenzen der Bundesfürſten

reſpectirte, während ſonſtige Attribute ihrer Landeshoheit in den

Verfaſſungsentwürfen für das Reich und den Dreikönigsbund mit

Leichtigkeit ignorirt oder abgeſchafft wurden. Man ging in den

Entwürfen bis nahe an die Mediatiſirung, aber man wagte nicht,

ein Marſchquartier außerhalb der vertragsmäßig vorhandenen

Etappenſtraßen zu beanſpruchen. Erſt bei Ausbruch des däniſchen

Krieges 1864 wurde in Schwartau mit dieſer ſchüchternen Tradi¬

1) Vgl. die Reichstagsrede Bismarck's vom 24. Januar 1882, Politiſche

Reden IX 234; dieſe Mittheilungen geben den Schlüſſel zum richtigen Ver¬

ſtändniß der Rede vom 3. December 1850.

[70/0097]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

tion gebrochen und der niedergelaſſene oldenburgiſche Schlagbaum

von den preußiſchen Truppen beſeitigt.

Die Erwägungen eines ſachkundigen und ehrliebenden Generals,

wie Stockhauſen, konnte ich einer Kritik nicht unterziehn und ver¬

mag das auch heut noch nicht. Die Schuld an unſrer militäri¬

ſchen Gebundenheit, die er mir ſchilderte, lag nicht an ihm, ſondern

an der Planloſigkeit, mit der unſre Politik auf militäriſchem Ge¬

biete ſowohl wie auf diplomatiſchem in und ſeit den Märztagen

mit einer Miſchung von Leichtfertigkeit und Knauſerei geleitet

worden war. Auf militäriſchem namentlich war ſie von der Art,

daß man nach den getroffenen Maßregeln vorausſetzen muß, daß

eine kriegeriſche oder auch nur militäriſche Löſung der ſchwebenden

Fragen in letzter Inſtanz in Berlin überhaupt nicht in Erwägung

gezogen wurde. Man war zu ſehr mit öffentlicher Meinung, Reden,

Zeitungen und Verfaſſungsmacherei präoccupirt, um auf dem Gebiete

der auswärtigen, ſelbſt nur der außerpreußiſchen deutſchen Politik

zu feſten Abſichten und praktiſchen Zielen gelangen zu können. Stock¬

hauſen war nicht im Stande, die Unterlaſſungsſünden und die

Planloſigkeit unſrer Politik durch plötzliche militäriſche Leiſtungen

wieder gut zu machen, und gerieth ſo in eine Situation, die ſelbſt

der politiſche Leiter des Miniſteriums, Graf Brandenburg, nicht

für möglich gehalten hatte. Denn derſelbe erlag der Enttäuſchung,

welche ſein hohes patriotiſches Ehrgefühl in den letzten Tagen

ſeines Lebens erlitten hatte 1). Es iſt Unrecht, Stockhauſen der

Kleinmüthigkeit anzuklagen, und ich habe Grund zu glauben, daß

auch König Wilhelm I. zu der Zeit, da ich ſein Miniſter wurde,

meine Auffaſſung bezüglich der militäriſchen Situation im No¬

vember 1850 theilte. Wie dem auch ſei, nur fehlte damals jede

Unterlage zu einer Kritik, die ich als conſervativer Abgeordneter

einem Miniſter auf militäriſchem Gebiete, als Landwehr-Lieutenant

dem General gegenüber hätte ausüben können.

1)

S. o. S. 66 Anm. 1.

[71/0098]

Preußens militäriſche Gebundenheit. Rede vom 3. December.

Stockhauſen übernahm es, mein in der Lauſitz liegendes Regi¬

ment zu benachrichtigen, daß er dem Lieutenant von Bismarck be¬

fohlen habe, in Berlin zu bleiben. Ich begab mich zunächſt zu

meinem Landtagscollegen Juſtizrath Geppert, der damals an

der Spitze zwar nicht meiner Fraction, aber doch derjenigen Zahl¬

reichen ſtand, welche man das rechte Centrum hätte nennen können,

und die zur Unterſtützung der Regirung geneigt waren, aber die

energiſche Wahrnehmung der nationalen Aufgabe Preußens nicht

nur prinzipiell, ſondern auch durch ſofortige militäriſche Bethätigung

für angezeigt hielten. Ich ſtieß bei ihm in erſter Linie auf parla¬

mentariſche Anſichten, die mit dem Programme des Kriegsminiſters

nicht übereinſtimmten, mußte mich alſo bemühn, ihn von einer

Auffaſſung abzubringen, die ich ſelbſt vor meiner Unterredung mit

Stockhauſen in der Hauptſache getheilt hatte, und die man als

natürliches Erzeugniß eines verletzten nationalen oder preußiſch-

militäriſchen Ehrgefühls bezeichnen kann. Ich erinnere mich, daß

unſre Beſprechungen von langer Dauer waren und wiederholt

werden mußten. Ihre Wirkung auf die Fractionen der Rechten

läßt ſich aus der Adreßdebatte entnehmen. Ich ſelbſt habe am

3. December meine damalige Ueberzeugung in einer Rede aus¬

geſprochen, der die nachſtehenden Sätze entnommen ſind 1):

„Das preußiſche Volk hat ſich, wie uns Allen bekannt iſt, auf

den Ruf ſeines Königs einmüthig erhoben, es hat ſich in ver¬

trauensvollem Gehorſam erhoben, es hat ſich erhoben, um gleich

ſeinen Vätern die Schlachten der Könige von Preußen zu ſchlagen,

ehe es wußte, und, meine Herrn, merken Sie das wohl, ehe es

wußte, was in dieſen Schlachten erkämpft werden ſollte; das wußte

vielleicht Niemand, der zur Landwehr abging.

Ich hatte gehofft, daß ich dieſes Gefühl der Einmüthigkeit

und des Vertrauens wiederfinden würde in den Kreiſen der Landes¬

vertretung, in den engern Kreiſen, in denen die Zügel der Re¬

1)

Politiſche Reden l 261 ff.

[72/0099]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

girung auslaufen. Ein kurzer Aufenthalt in Berlin, ein flüchtiger

Blick in das hieſige Treiben hat mir gezeigt, daß ich mich geirrt

habe. Der Adreßentwurf nennt dieſe Zeit eine große; ich habe

hier nichts Großes gefunden als perſönliche Ehrſucht, nichts Großes

als Mißtrauen, nichts Großes als Parteihaß. Das ſind drei

Größen, die in meinem Urtheile dieſe Zeit zu einer kleinlichen

ſtempeln und dem Vaterlandsfreunde einen trüben Blick in unſre

Zukunft gewähren. Der Mangel an Einigkeit in den Kreiſen, die

ich andeutete, wird in dem Adreßentwurfe locker verdeckt durch große

Worte, bei denen ſich Jeder das Seine denkt. Von dem Ver¬

trauen, das das Land beſeelt, von dem hingebenden Vertrauen,

gegründet auf die Anhänglichkeit an Seine Majeſtät den König,

gegründet auf die Erfahrung, daß das Land mit dem Miniſterium,

welches ihm zwei Jahre lang vorſteht, gut gefahren iſt, habe ich

in der Adreſſe und in ihren Amendements nichts geſpürt. Ich

hätte dies um ſo nöthiger gefunden, als es mir Bedürfniß ſchien,

daß der Eindruck, den die einmüthige Erhebung des Landes in

Europa gemacht hat, gehoben und gekräftigt werde durch die Ein¬

heit derer, die nicht der Wehrkraft angehören, in dem Augenblicke,

wo uns unſre Nachbarn in Waffen gegenüberſtehn, wo wir in

Waffen nach unſern Grenzen eilen, in einem Augenblicke, wo ein

Geiſt des Vertrauens ſelbſt in ſolchen herrſcht, denen er ſonſt nicht

angebracht ſchien; in einem Augenblicke, wo jede Frage der Adreſſe,

welche die auswärtige Politik berührt, Krieg oder Frieden in ihrem

Schoße birgt; und, meine Herrn, welchen Krieg? Keinen Feldzug

einzelner Regimenter nach Schleswig oder Baden, keine militäriſche

Promenade durch unruhige Provinzen, ſondern einen Krieg in

großem Maßſtabe gegen zwei unter den drei großen Continental¬

mächten, während die dritte beuteluſtig an unſern Grenzen rüſtet

und ſehr wohl weiß, daß im Dome zu Köln das Kleinod zu finden

iſt, welches geeignet wäre, die franzöſiſche Revolution zu ſchließen

und die dortigen Machthaber zu befeſtigen, nämlich die franzöſiſche

Kaiſerkrone. ...

[73/0100]

Rede vom 3. December 1850.

Es iſt leicht für einen Staatsmann, ſei es in dem Cabinete

oder in der Kammer, mit dem populären Winde in die Kriegs¬

trompete zu ſtoßen und ſich dabei an ſeinem Kaminfeuer zu wärmen

oder von dieſer Tribüne donnernde Reden zu halten, und es dem

Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlaſſen, ob ſein

Syſtem Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht. Es iſt nichts leichter

als das, aber wehe dem Staatsmann, der ſich in dieſer Zeit nicht

nach einem Grunde zum Kriege umſieht, der auch nach dem Kriege

noch ſtichhaltig iſt. ...

Die preußiſche Ehre beſteht nach meiner Ueberzeugung nicht

darin, daß Preußen überall in Deutſchland den Don Quixote ſpiele

für gekränkte Kammer-Celebritäten, welche ihre locale Verfaſſung

für gefährdet halten. Ich ſuche die preußiſche Ehre darin, daß

Preußen vor Allem ſich von jeder ſchmachvollen Verbindung mit

der Demokratie entfernt halte, daß Preußen in der vorliegenden

wie in allen andern Fragen nicht zugebe, daß in Deutſchland

etwas geſchehe ohne Preußens Einwilligung, daß dasjenige, was

Preußen und Oeſtreich nach gemeinſchaftlicher unabhängiger Er¬

wägung für vernünftig und politiſch richtig halten, durch die beiden

gleichberechtigten Schutzmächte Deutſchlands gemeinſchaftlich aus¬

geführt werde. ...

Die Hauptfrage, die Krieg und Frieden birgt, die Geſtaltung

Deutſchlands, die Regelung der Verhältniſſe zwiſchen Preußen und

Oeſtreich und der Verhältniſſe von Preußen und Oeſtreich zu

den kleinern Staaten, ſoll in wenigen Tagen der Gegenſtand der

freien Conferenzen werden, kann alſo jetzt nicht Gegenſtand eines

Krieges ſein. Wer den Krieg durchaus will, den vertröſte ich

darauf, daß er in den freien Conferenzen jederzeit zu finden

iſt: in vier oder ſechs Wochen, wenn man ihn haben will. Ich

bin weit davon entfernt, in einem ſo wichtigen Augenblicke, wie

dieſer iſt, die Handlungsweiſe der Regirung durch Rathgeben

hemmen zu wollen. Wenn ich dem Miniſterium gegenüber einen

Wunſch ausſprechen wollte, ſo wäre es der, daß wir nicht eher

[74/0101]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

entwaffnen, als bis die freien Conferenzen ein poſitives Reſultat

gegeben haben; dann bleibt es noch immer Zeit, einen Krieg

zu führen, wenn wir ihn wirklich mit Ehren nicht vermeiden

können oder nicht vermeiden wollen.

Wie in der Union die deutſche Einheit geſucht werden ſoll,

vermag ich nicht zu verſtehn; es iſt eine ſonderbare Einheit, die

von Hauſe aus verlangt, im Intereſſe dieſes Sonderbundes einſt¬

weilen unſre deutſchen Landsleute im Süden zu erſchießen und

zu erſtechen; die die deutſche Ehre darin findet, daß der Schwer¬

punkt aller deutſchen Fragen nothwendig nach Warſchau und Paris

fällt. Denken Sie ſich zwei Theile Deutſchlands einander in Waffen

gegenüber, deren Machtverſchiedenheit nicht in dem Grade bedeutend

iſt, daß nicht eine Parteinahme auf einer Seite, auch von einer

geringern Macht als Rußland und Frankreich, ein entſcheidendes

Gewicht in die Wagſchale legen könnte, und ich begreife nicht, mit

welchem Recht Jemand, der ein ſolches Verhältniß ſelbſt herbei¬

führen will, ſich darüber beklagen darf, daß der Schwerpunkt der

Entſcheidung unter ſolchen Umſtänden nach dem Auslande fällt.“

Mein leitender Gedanke bei meiner Rede war, im Sinne der

Ueberzeugung des Kriegsminiſters für den Aufſchub des Krieges zu

wirken, bis wir gerüſtet ſein würden. In ſeiner Klarheit konnte

ich aber den Gedanken nicht öffentlich ausſprechen, ich konnte ihn

nur andeuten. Es wäre kein übermäßiger Anſpruch an Geſchick¬

lichkeit unſrer Diplomatie geweſen, von ihr zu verlangen, daß ſie

den Krieg nach Bedürfniß verſchieben, verhüten oder zum Ausbruch

bringen ſolle.

Zu jener Zeit, November 1850, war die ruſſiſche Auffaſſung

der revolutionären Bewegung in Deutſchland ſchon eine viel ruhigere

als bei dem erſten Ausbruche im März 1848. Ich war befreundet

mit dem ruſſiſchen Militär-Attaché Grafen Benckendorf und erhielt

1850 im vertrauten Geſpräche mit ihm den Eindruck, daß die

deutſche einſchließlich der polniſchen Bewegung im Petersburger

Cabinete nicht mehr in demſelben Maße wie bei ihrem Ausbruche

[75/0102]

Ruhigere Auffaſſung der deutſchen Revolution in Petersburg. Budberg.

in Petersburg beunruhigte und als eine militäriſche Gefahr im

Kriegsfalle aufgefaßt wurde. Im März 1848 erſchien den Ruſſen

die Entwicklung der Revolution in Deutſchland und Polen noch

als etwas Unberechenbares und Gefährliches. Der erſte ruſſiſche

Diplomat, der in Petersburg durch ſeine Berichte eine andre An¬

ſicht vertrat, war der damalige Geſchäftsträger in Frankfurt am

Main, ſpätre Geſandte in Berlin, Baron von Budberg. Seine

Berichte über die Verhandlungen und die Bedeutung der Paulskirche

waren von Hauſe aus ſatiriſch gefärbt, und die Geringſchätzung,

mit welcher dieſer junge Diplomat von den Reden der deutſchen

Profeſſoren und von der Machtſtellung der Nationalverſammlung

in ſeinen Berichten ſprach, hatte den Kaiſer Nicolaus dergeſtalt

befriedigt, daß Budberg's Carrière dadurch gemacht und er ſehr

ſchnell zum Geſandten und Botſchafter befördert wurde. Er hatte in

ihnen vom antideutſchen Standpunkte eine analoge politiſche Schätzung

zum Ausdruck gebracht, wie ſie in den altpreußiſchen Kreiſen in

Berlin, in denen er früher gelebt hatte, in landsmannſchaftlicher

und beſorgter Weiſe herrſchend war, und man kann ſagen, daß

die Auffaſſung, als deren erſter Erfinder er in Petersburg Carrière

machte, dem Berliner „Caſino“ entſprungen war. Seitdem hatte

man in Rußland nicht nur die militäriſche Stellung an der Weichſel

weſentlich verſtärkt, ſondern auch einen geringern Eindruck von

der damaligen militäriſchen Leiſtungsfähigkeit der Revolution ſowohl

wie der deutſchen Regirungen gewonnen, und die Sprache, welche

ich im November 1850 bei dem mir befreundeten ruſſiſchen Ge¬

ſandten Baron Meyendorff und ſeinen Landsleuten hörte, war eine

im ruſſiſchen Sinne vollkommen zuverſichtliche, von einer perſönlich

wohlwollenden, aber für mich verletzenden Theilnahme für die Zu¬

kunft des befreundeten Preußens durchſetzt. Sie machte mir den

Eindruck, daß man Oeſtreich für den ſtärkern und zuverläſſigern

Theil und Rußland ſelbſt für ſtark genug hielt, um die Ent¬

ſcheidung zwiſchen beiden in die Hand zu nehmen.

[76/0103]

Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.

III.

Mit den Mitteln und Gewohnheiten des auswärtigen Dienſtes

noch nicht ſo vertraut wie ſpäter, war ich doch als Laie nicht

zweifelhaft, daß der Krieg, wenn er für uns überhaupt geboten

oder annehmbar erſchien, auch nach Olmütz in den Dresdner Ver¬

handlungen jederzeit gefunden und durch Abbruch derſelben herbei¬

geführt werden konnte. Stockhauſen hatte mir gelegentlich ſechs

Wochen als die Friſt bezeichnet, deren er bedürfte, um fechten zu

können, und es wäre nach meiner Anſicht nicht ſchwer geweſen,

das Doppelte derſelben durch geſchickte Leitung der Verhandlungen

in Dresden zu gewinnen, wenn bei uns die momentane Unfertigkeit

der militäriſchen Rüſtungen der einzige Grund geweſen wäre, uns

eine kriegeriſche Löſung zu verſagen. Wenn die Dresdner Ver¬

handlungen nicht dazu benutzt worden ſind, im preußiſchen Sinne

entweder ein höheres Reſultat oder einen berechtigt erſcheinenden

Anlaß zum Kriege zu gewinnen, ſo iſt mir niemals klar geworden,

ob die auffällige Beſchränkung unſrer Ziele in Dresden von dem

Könige oder von Herrn von Manteuffel, dem neuen auswärtigen

Miniſter, ausgegangen iſt. Ich habe damals nur den Eindruck ge¬

habt, daß letztrer nach ſeinem Vorleben als Landrath, Regirungs-

Präſident und Director im Miniſterium des Innern ſich in der

Sicherheit ſeines Auftretens durch die renommirenden vornehmen

Verkehrsformen des Fürſten Schwarzenberg genirt fühlte. Schon

die häusliche Erſcheinung Beider in Dresden — Fürſt Schwarzenberg

mit Livreen, Silbergeſchirr und Champagner im erſten Stock, der

preußiſche Miniſter mit Kanzleidienern und Waſſergläſern eine Treppe

höher — war geeignet, auf das Selbſtgefühl der betheiligten Vertreter

beider Großmächte und auf ihre Einſchätzung durch die übrigen

deutſchen Vertreter nachtheilig für uns zu wirken. Die alte preußiſche

Einfachheit, die Friedrich der Große ſeinem Vertreter in London

mit der Redensart empfahl: „Sage Er, wenn Er zu Fuß geht,

[77/0104]

Geringer Erfolg der Dresdner Verhandlungen.

daß 100000 Mann hinter ihm gehn,“ bezeugt eine Renommage, die

man dem geiſtreichen Könige nur in einer der Anwandlungen

von übertriebener Sparſamkeit zutrauen kann. Heut hat jeder

100000 Mann, nur wir hatten ſie, wie es ſcheint, zur Dresdner

Zeit nicht verfügbar. Der Grundirrthum der damaligen preußiſchen

Politik war der, daß man glaubte, Erfolge, die nur durch Kampf

oder durch Bereitſchaft dazu gewonnen werden konnten, würden

ſich durch publiciſtiſche, parlamentariſche und diplomatiſche Heuche¬

leien in der Geſtalt erreichen laſſen, daß ſie als unſrer tugend¬

haften Beſcheidenheit zum Lohn oratoriſcher Bethätigung unſrer

„deutſchen Geſinnung“ aufgezwungen erſchienen. Man nannte das

ſpäter „moraliſche“ Eroberungen; es war die Hoffnung, daß Andre

für uns thun würden, was wir ſelbſt nicht wagten.

[[78]/0105]

Viertes Kapitel.

Nachdem die preußiſche Regirung ſich entſchloſſen hatte, den

von Oeſtreich reactivirten Bundestag zu beſchicken und dadurch

vollzählig zu machen, wurde der General von Rochow, der in

Petersburg accreditirt war und blieb, proviſoriſch zum Bundestags-

Geſandten ernannt. Gleichzeitig wurden zwei Legationsräthe für

die Geſandſchaft auf den Etat gebracht, ich ſelbſt und Herr

von Gruner. Mir wurde durch Se. Majeſtät und den Miniſter

von Manteuffel vor meiner Ernennung zum Legationsrath die

demnächſtige Ernennung zum Bundestags-Geſandten in Ausſicht

geſtellt. Rochow ſollte mich einführen und anlernen, konnte aber

ſelbſt nicht geſchäftsmäßig arbeiten und benutzte mich als Redacteur,

ohne mich politiſch au fait zu halten.

Das meiner Ernennung vorhergehende Geſpräch mit dem

Könige, kurz gegeben in einem Briefe meines verſtorbenen Freundes

J. L. Motley an ſeine Frau 1), verlief folgendermaßen. Nachdem

ich auf die plötzliche Frage des Miniſters Manteuffel, ob ich die

Stelle eines Bundesgeſandten annehmen wolle, einfach mit Ja

geantwortet hatte, ließ der König mich zu ſich beſcheiden und ſagte:

„Sie haben viel Muth, daß Sie ſo ohne Weitres ein Ihnen fremdes

Amt übernehmen.“ Ich erwiderte: „Der Muth iſt ganz auf Seiten

Eurer Majeſtät, wenn Sie mir eine ſolche Stellung anvertrauen,

1) S. Motley's Brief vom 27. Juli 1855, Briefwechſel von J. L. Motley,

überſetzt von Eltze (Berlin 1890) I 175.

[79/0106]

Ernennung zum Legationsrath bei der Bundesgeſandſchaft.

indeſſen ſind Eure Majeſtät ja nicht gebunden, die Ernennung

aufrecht zu erhalten, ſobald ſie ſich nicht bewährt. Ich ſelbſt kann

keine Gewißheit darüber haben, ob die Aufgabe meine Fähigkeit

überſteigt, ehe ich ihr näher getreten bin. Wenn ich mich derſelben

nicht gewachſen finde, ſo werde ich der erſte ſein, meine Abberufung

zu erbitten. Ich habe den Muth zu gehorchen, wenn Eure Majeſtät

den haben zu befehlen.“ Worauf der König: „Dann wollen wir

die Sache verſuchen.“

Am 11. Mai 1851 traf ich in Frankfurt ein. Herr von

Rochow mit weniger Ehrgeiz als Liebe zum Behagen, des Klimas

und des anſtrengenden Hoflebens in Petersburg müde, hätte lieber

den Frankfurter Poſten, in dem er alle ſeine Wünſche befriedigt

fand, dauernd behalten, arbeitete in Berlin dafür, daß ich zum

Geſandten in Darmſtadt mit gleichzeitiger Accreditirung bei dem

Herzog von Naſſau und der Stadt Frankfurt ernannt werde, und

wäre vielleicht auch nicht abgeneigt geweſen, mir den Petersburger

Poſten im Tauſch zu überlaſſen. Er liebte das Leben am Rhein

und den Verkehr mit den deutſchen Höfen. Seine Bemühungen

hatten indeſſen keinen Erfolg. Unter dem 11. Juli ſchrieb mir Herr

von Manteuffel, daß der König meine Ernennung zum Bundestags¬

geſandten genehmigt habe. „Es verſteht ſich dabei von ſelbſt,“

ſchrieb der Miniſter, „daß man Herrn von Rochow nicht brusque¬

ment wegſchicken kann; ich beabſichtige daher, ihm heut noch einige

Worte darüber zu ſchreiben, und glaube Ihres Einverſtändniſſes

gewiß zu ſein, wenn ich in dieſer Sache mit aller Rückſicht auf

Herrn von Rochow's Wünſche verfahre, dem ich es in der That

nur Dank wiſſen kann, daß er die ſchwierige und undankbare

Miſſion angenommen hat im Gegenſatz zu manchen andern Leuten,

die immer mit der Kritik bei der Hand ſind, wenn es aber auf

das Handeln ankommt, ſich zurückziehn. Daß ich Sie damit nicht

meine, brauche ich nicht zu verſichern, denn Sie ſind ja auch mit

uns in die Breſche getreten und werden ſie, ſo denke ich, auch

allein vertheidigen.“

[80/0107]

Viertes Kapitel: Diplomat.

Unter dem 15. Juli erfolgte meine Ernennung zum Bundes¬

tagsgeſandten. Ungeachtet der Rückſicht, mit welcher er behandelt

wurde, war Herr von Rochow verſtimmt und ließ mich die Ver¬

eitelung ſeines Wunſches entgelten, indem er Frankfurt eines

Morgens früh verließ, ohne mich von ſeiner Abreiſe unterrichtet

und mir die Geſchäfte und die Akten übergeben zu haben. Von

andrer Seite benachrichtigt, kam ich zur rechten Zeit nach dem

Bahnhofe, um ihm meinen Dank für das mir bewieſene Wohl¬

wollen auszudrücken. — Ueber meine Thätigkeit und meine Wahr¬

nehmungen am Bundestage iſt ſo viel Amtliches und Privates ver¬

öffentlicht worden 1), daß mir nur eine Nachleſe übrig bleibt.

Ich fand in Frankfurt zwei preußiſche Commiſſarien aus der

Zeit des Interim, den Oberpräſidenten von Boetticher, deſſen Sohn

ſpäter als Staatsſekretär und Miniſter mein Beiſtand ſein ſollte,

und den General von Peucker, der mir Gelegenheit zu meinen

erſten Studien über das Ordensweſen gab. Er war ein geſcheidter,

tapferer Offizier von hoher wiſſenſchaftlicher Bildung, die er ſpäter

als Generalinſpecteur des Militär-Erziehungs- und Bildungsweſens

verwerthen konnte. Im Jahre 1812 in dem York'ſchen Corps

dienend, hatte er durch Diebſtahl ſeinen Mantel eingebüßt, den

Rückzug in der knappen Uniform machen müſſen, ſich die Zehen

erfroren und durch die Kälte anderweitige Schäden erlitten. Trotz

ſeiner äußerlichen Unſchönheit gewann dieſer kluge und tapfere

Offizier die Hand einer hübſchen Gräfin Schulenburg, durch welche

ſpäter das reiche Erbe des Hauſes Schenck von Flechtingen in der

Altmark an ſeinen Sohn gelangte. In merkwürdigem Contraſt

mit ſeiner geiſtigen Bedeutung ſtand ſeine Schwäche für Aeußer¬

lichkeiten, die den Berliner Jargon um einen Ausdruck bereicherte.

1)

Preußen im Bundestage 1851–1859. Documente der K. Preuß.

Bundestags-Geſandtſchaft. Herausgegeben von Dr. Ritter v. Poſchinger. 4 Bde.

Lpz. 1882–1884. — Bismarck's Briefe an den General Leopold v. Gerlach.

Herausgegeben von H. Kohl. Berlin 1896. — Bismarckbriefe. Herausgegeben

von H. Kohl. 7. Auflage. Bielefeld 1898 S. 106 ff.

[81/0108]

Ernennung nach Frankfurt. General v. Peucker. Ordensweſen.

Von Jemand, der zu viele Orden gleichzeitig trug, ſagte man „er

peuckert“.

Bei einem Morgenbeſuche fand ich ihn vor einem Tiſche

ſtehend, auf welchem ſeine wohlverdienten, zuerſt auf dem Schlacht¬

felde gewonnenen Orden ausgebreitet lagen, deren herkömmliche

Ordnung auf der Bruſt durch die eben erfolgte Verleihung eines

neuen Sternes geſtört war. Nach der Begrüßung ſprach er mir

nicht etwa von Oeſtreich und Preußen, ſondern verlangte mein

Urtheil von dem Standpunkte künſtleriſchen Geſchmacks über die

Stelle, wo der neue Stern einzuſchieben ſei. Die Gefühle anhäng¬

licher Achtung, die ich aus meinen Kinderjahren für den hoch¬

verdienten General überkommen hatte, beſtimmten mich, in voller

Ernſthaftigkeit auf das Thema einzugehn und ſeine Erledigung

herbeizuführen, ehe wir auf Geſchäfte zu ſprechen kamen.

Ich geſtehe, daß ich mich, als ich (1842) meine erſte Auszeich¬

nung, die Rettungsmedaille, erhielt, erfreut und gehoben fühlte, weil

ich damals ein in dieſer Beziehung nicht blaſirter Landjunker war.

Im Staatsdienſte habe ich dieſe Urſprünglichkeit der Empfindung

ſchnell verloren; ich erinnere mich nicht, bei ſpätern Decorirungen

ein objectives Vergnügen empfunden zu haben, ſondern nur die

ſubjective Freude über die äußerliche Bethätigung des Wohlwollens,

mit welchem mein König meine Anhänglichkeit erwiderte, oder

andre Monarchen mir den Erfolg meiner politiſchen Werbung

um ihr Vertrauen und ihr Wohlwollen beſtätigten. Unſer Geſandter

von Jordan in Dresden antwortete auf den ſcherzhaften Vorſchlag,

eine ſeiner vielen Decorationen abzutreten: „Je vous les cède

toutes, pourvu que vous m'en laisserez une pour couvrir mes

nudités diplomatiques.“ In der That gehört ein grand cordon

zur Toilette eines Geſandten, und wenn es nicht der des eignen

Hofes iſt, ſo bleibt die Möglichkeit, wechſeln zu können, für elegante

Diplomaten ebenſo erwünſcht, wie für Damen bezüglich der Kleider.

In Paris habe ich erlebt, daß unverſtändige Gewaltthaten gegen

Menſchenmaſſen plötzlich ſtockten, weil ſie auf „un monsieur décoré“

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 6

[82/0109]

Viertes Kapitel: Diplomat.

ſtießen. Orden zu tragen iſt für mich, außer in Petersburg und

Paris, niemals ein Bedürfniß geweſen; an beiden Orten muß man

auf der Straße irgend ein Band am Rock zeigen, wenn man

polizeilich und bürgerlich mit der wünſchenswerthen Höflichkeit be¬

handelt werden will. Sonſt habe ich in jedem Falle nur die durch

die Gelegenheit gebotenen Decorationen angelegt; es iſt mir immer

als eine Chinoiſerie erſchienen, wenn ich wahrnahm, wie krankhaft

der Sammlertrieb in Bezug auf Orden bei meinen Collegen und

Mitarbeitern in der Bürokratie entwickelt war, wie Geheime Räthe,

welche ſchon die ihnen aus der Bruſt quellende Ordenscascade nicht

mehr gut beherrſchen konnten, den Abſchluß irgend eines kleinen

Vertrages anbahnten, weil ſie zur Vervollſtändigung ihrer Samm¬

lung noch des Ordens des mitcontrahirenden Staates bedurften.

Die Mitglieder der Kammern, welche 1849/50 die octroyirte

Verfaſſung zu revidiren hatten, entwickelten eine ſehr anſtrengende

Thätigkeit; es gab von 8 bis 10 Uhr Commiſſionsſitzungen, von

10 bis 4 Plenarſitzungen, die zuweilen auch noch in ſpäter Abend¬

ſtunde wiederholt wurden und mit den langdauernden Fractions¬

ſitzungen abwechſelten. Ich konnte daher mein Bewegungsbedürf¬

niß nur des Nachts befriedigen und erinnere mich, manche Nacht

zwiſchen dem Opernhauſe und dem Brandenburger Thore in der

Mitte der Linden auf- und abgewandelt zu ſein. Durch einen Zufall

wurde ich damals auf den geſundheitlichen Nutzen des Tanzens auf¬

merkſam, das ich mit 27 Jahren aufgegeben hatte in dem Gefühle,

daß dieſes Vergnügen nur „der Jugend“ anſtehe. Auf einem der

Hofbälle bat mich eine mir befreundete Dame, ihren abhanden

gekommnen Tänzer für den Cotillon zu ſuchen und, da ich ihn nicht

fand, zu erſetzen. Nachdem ich die erſte Schwindelbeſorgniß auf dem

glatten Parket des Weißen Saales überwunden hatte, tanzte ich mit

Vergnügen und fand nachher einen ſo geſunden Schlaf, wie ich ihn

lange nicht genoſſen hatte. In Frankfurt tanzte alle Welt, voran

der 65jährige franzöſiſche Geſandte Monſieur Marquis de Tallenay,

nach Proclamirung des Kaiſerthums in Frankreich: Monſieur le

[83/0110]

Ordensjäger. Tanzluſt Frankfurter Diplomaten. Wiener Miſſion.

Marquis de Tallenay, und ich fand mich leicht in dieſe Gewohn¬

heit, obſchon es mir am Bunde nicht an Zeit zum Gehn und

Reiten fehlte. Auch in Berlin, als ich Miniſter geworden war,

verſagte ich mich nicht, wenn ich von befreundeten Damen aufge¬

fordert oder von Prinzeſſinnen zu einem Tanze befohlen wurde,

bekam aber ſtets ſarkaſtiſche Bemerkungen des Königs darüber zu

hören, der mir zum Beiſpiel ſagte: „Man macht es mir zum Vor¬

wurf, einen leichtſinnigen Miniſter gewählt zu haben. Sie ſollten

den Eindruck nicht dadurch verſtärken, daß Sie tanzen.“ Den

Prinzeſſinnen wurde dann unterſagt, mich zum Tänzer zu wählen.

Auch die andauernde Tanzfähigkeit des Herrn von Keudell hat mir,

wenn es ſich um ſeine Beförderung handelte, bei Seiner Majeſtät

Schwierigkeit gemacht. Es entſprach das der beſcheidenen Natur

des Kaiſers, der ſeine Würde auch durch Vermeiden unnöthiger

Aeußerlichkeiten, welche die Kritik herausfordern könnten, zu wahren

gewöhnt war. Ein tanzender Staatsmann fand in ſeinen Vor¬

ſtellungen nur in fürſtlichen Ehrenquadrillen Platz; im raſchen

Walzer verlor er bei ihm an Vertrauen auf die Weisheit ſeiner

Rathſchläge.

Nachdem ich mich auf dem Frankfurter Terrain zu Hauſe

gemacht hatte, nicht ohne harte Zuſammenſtöße mit dem öſtreichi¬

ſchen Vertreter, zunächſt in der Flottenangelegenheit, in welcher er

Preußen autoritativ und finanziell zu verkürzen und für die Zu¬

kunft lahm zu legen ſuchte, beſchied der König mich nach Potsdam

und eröffnete mir am 28. Mai 1852, daß er ſich entſchloſſen habe,

mich nunmehr auf die hohe Schule der Diplomatie nach Wien zu

ſchicken, zunächſt als Vertreter, demnächſt als Nachfolger des ſchwer

erkrankten Grafen Arnim 1). Zu dem Zwecke übergab er mir das

nachſtehende Einführungsſchreiben an Se. Majeſtät den Kaiſer Franz

Joſeph vom 5. Juni:

1)

Heinrich Friedrich Graf von Arnim-Heinrichsdorf-Werbelow, geb.

geſt. 1859.

[84/0111]

Viertes Kapitel: Diplomat.

„Eure Kaiſerliche Majeſtät wollen es mir gütig geſtatten,

daß ich den Ueberbringer dieſes Blattes mit einigen eigenhändigen

Schriftzügen an Ihrem Hoflager introduzire. Es iſt der Herr von

Bismarck-Schönhauſen. Er gehört einem Rittergeſchlecht an, welches

länger als mein Haus in unſern Marken ſeßhaft, von jeher und

beſonders in ihm ſeine alten Tugenden bewährt hat. Die Erhal¬

tung und Stärkung der erfreulichen Zuſtände unſres platten Landes

verdanken wir mit ſeinem furchtloſen und energiſchen Mühen in

den böſen Tagen der jüngſt verfloſſenen Jahre. Ew. Majeſtät wiſſen,

daß Herr von Bismarck die Stellung meines Bundesgeſandten be¬

kleidet. Da jetzt der Geſundheitszuſtand meines Geſandten an

Ew. Majeſtät kaiſerlichem Hofe, des Grafen von Arnim, deſſen zeit¬

weilige Abweſenheit nöthig gemacht hat, das Verhältniß unſrer

Höfe aber eine ſubalterne Vertretung nicht zuläßt (meiner Auf¬

faſſung zufolge), ſo habe ich Herrn von Bismarck auserſehen, die

Vices für Graf Arnim während deſſen Abweſenheit zu verſehen. Es

iſt mir ein befriedigender Gedanke, daß Ew. Majeſtät einen Mann

kennen lernen, der bei uns im Lande wegen ſeines ritterlich-freien

Gehorſams und ſeiner Unverſöhnlichkeit gegen die Revolution bis

in ihre Wurzeln hinein von Vielen verehrt, von Manchen gehaßt

wird. Er iſt mein Freund und treuer Diener und kommt mit

dem friſchen lebendigen ſympathiſchen Eindruck meiner Grundſätze,

meiner Handlungsweiſe, meines Willens und ich ſetze hinzu meiner

Liebe zu Oeſtreich und zu Ew. Majeſtät nach Wien. Er kann,

wenn es der Mühe werth gefunden wird, Ew. Majeſtät und Ihren

höchſten Räthen über viele Gegenſtände Rede und Antwort geben,

wie es wohl Wenige im Stande ſind; denn wenn nicht unerhörte,

langvorbereitete Mißverſtändniſſe zu tief eingewurzelt ſind, was

Gott in Gnaden verhüte, kann die kurze Zeit ſeiner Amtsführung

in Wien wahrhaft ſegensreich werden. Herr von Bismarck kommt

aus Frankfurt, wo das, was die rheinbundſchwangeren Mittel¬

ſtaaten mit Entzücken die Differenzen Oeſtreichs und Preußens

nennen, jederzeit ſeinen ſtärkſten Wiederhall und oft ſeine Quelle

[85/0112]

Einführungsſchreiben des Königs. Aufnahme in Wien.

gehabt hat, und er hat dieſe Dinge und das Treiben daſelbſt mit

ſcharfem und richtigem Blick betrachtet. Ich habe ihm befohlen,

jede darauf gerichtete Frage Ew. Majeſtät und Ihrer Miniſter ſo

zu beantworten, als hätte ich ſie ſelbſt an ihn gerichtet. Sollte es

Ew. Majeſtät gefallen, von ihm Aufklärung über meine Auffaſſung

und meine Behandlung der Zollvereins-Angelegenheit zu verlangen,

ſo lebe ich der Gewißheit, daß mein Betragen in dieſen Dingen,

wenn auch vielleicht nicht das Glück Ihres Beifalls, doch ſicher

Ihrer Achtung erringen wird. Die Anweſenheit des theuren herr¬

lichen Kaiſers Nicolaus iſt mir eine wahre Herzſtärkung geweſen.

Die gewiſſe Beſtätigung meiner alten und ſtarken Hoffnung, daß

Ew. Majeſtät und ich vollkommen einig in der Wahrheit ſind: daß

unſre dreifache, unerſchütterliche, gläubige und thatkräftige Ein¬

tracht allein Europa und das unartige und doch ſo geliebte

Teutſche Vaterland aus der jetzigen Kriſe retten könne, erfüllt mich

mit Dank gegen Gott und ſteigert meine alte treue Liebe zu

Ew. Majeſtät. Bewahren auch Sie, mein theuerſter Freund, mir

Ihre Liebe aus den fabelhaften Tagen von Tegernſee, und ſtärken

Sie Ihr Vertrauen und Ihre ſo wichtige und ſo mächtige, dem

gemeinſamen Vaterlande ſo unentbehrliche Freundſchaft zu mir!

Dieſer Freundſchaft empfehle ich mich aus der Tiefe meines Herzens,

allertheuerſter Freund, als Ew. Kaiſerlichen Majeſtät treu und innigſt

ergebenſter Onkel, Bruder und Freund.“

Ich fand in Wien das „einſylbige“ Miniſterium Buol, Bach,

Bruck c., keine Preußenfreunde, aber liebenswürdig für mich, in

dem Glauben an meine Empfänglichkeit für hohes Wohlwollen

und meine Gegenleiſtung dafür auf geſchäftlichem Gebiete. Ich

wurde äußerlich ehrenvoller, als ich erwarten konnte, aufgenommen;

aber geſchäftlich, d. h. bezüglich der Zollſachen, blieb meine Miſ¬

ſion erfolglos. Oeſtreich hatte ſchon damals die Zolleinigung mit

uns im Auge, und ich hielt es weder damals noch ſpäter für

rathſam, dieſem Streben entgegenzukommen. Zu den nothwen¬

digen Unterlagen einer Zollgemeinſchaft gehört ein gewiſſer Grad

[86/0113]

Viertes Kapitel: Diplomat.

von Gleichartigkeit des Verbrauchs; ſchon die Unterſchiede der

Intereſſen innerhalb des deutſchen Zollvereins zwiſchen Nord und

Süd, Oſt und Weſt ſind ſchwer und nur mit dem guten Willen

zu überwinden, der der nationalen Zuſammengehörigkeit entſpringt;

zwiſchen Ungarn und Galizien einerſeits und dem Zollverein andrer¬

ſeits iſt die Verſchiedenheit des Verbrauchs zollpflichtiger Waaren

zu ſtark, um eine Zollgemeinſchaft durchführbar erſcheinen zu laſſen.

Der Vertheilungsmaßſtab für die Zollverträge würde ſtets für

Deutſchland nachtheilig bleiben, auch wenn die Ziffern es für

Oeſtreich zu ſein ſchienen. Letztres lebt in Cis- und mehr noch

in Trans-Leithanien vorwiegend von eignen, nicht von importirten

Erzeugniſſen. Außerdem hatte ich damals allgemein und habe ich

auch heut noch ſporadiſch nicht das nöthige Vertrauen zu undeut¬

ſchen Unterbeamten im Oſten.

Unſer einziger Legationsſekretär in Wien empfing mich mit

Verſtimmung darüber, daß er nicht Geſchäftsträger wurde, und

ſuchte in Berlin Urlaub nach. Derſelbe wurde von dem Miniſter

verweigert, von mir aber demnächſt bewilligt. So kam es, daß

ich mich auf den mir von früher her befreundeten hanöverſchen

Geſandten Graf Adolf Platen behufs der Vorſtellung bei den

Miniſtern und der Einführung in die diplomatiſche Geſellſchaft an¬

gewieſen fand.

In vertraulichem Geſpräch fragte er mich gelegentlich, ob auch

ich glaubte, daß ich zu Manteuffel's Nachfolger beſtimmt ſei.

Ich erwiderte, das läge einſtweilen nicht in meinen Wünſchen.

Ich glaubte allerdings, daß der König mich in ſpätrer Zeit ein¬

mal zu ſeinem Miniſter zu machen gedenke und mich dazu er¬

ziehn wolle, in dieſer Abſicht auch mir die mission extra¬

ordinaire nach Oeſtreich übertragen habe. Mein Wunſch aber

wäre, noch etwa zehn Jahre lang in Frankfurt oder an verſchiednen

Höfen als Geſandter die Welt zu ſehn und dann gern etwa zehn

Jahre lang, womöglich mit Ruhm, Miniſter zu ſein, dann auf

dem Lande über das Erlebte nachzudenken und wie mein alter Onkel

[87/0114]

Schwierigkeiten einer Zolleinigung mit Oeſtreich. Verdächtigungen.

in Templin bei Potsdam Obſtbäume zu pfropfen 1). Dieſes ſcherzende

Geſpräch war von Platen nach Hanover berichtet worden und dort

zur Kenntniß des General-Steuerdirectors Klentze gekommen, der mit

Manteuffel über Zollſachen verhandelte und in mir den Junker im

Sinne der liberalen Bürokraten haßte. Er hatte nichts Eiligeres

zu thun, als entſtellte Angaben aus Platen's Bericht an Manteuffel

mitzutheilen in dem Sinne, als ob ich an deſſen Sturze arbeitete.

Bei meiner Rückkehr von Wien nach Berlin (8. Juli) hatte ich an

Aeußerlichem die Wirkung dieſer Einbläſerei wahrzunehmen. Sie

beſtand in einer Abkühlung meiner Beziehungen zu meinem Chef,

und ich wurde nicht mehr wie bis dahin gebeten, bei ihm zu

wohnen, wenn ich nach Berlin kam. Verdacht wurden mir dabei

auch meine freundſchaftlichen Beziehungen zu dem General von

Gerlach.

Die Geneſung des Grafen Arnim geſtattete mir, meinem

Wiener Aufenthalte ein Ende zu machen, und vereitelte einſtweilen

die Abſicht des Königs, mich zum Nachfolger Arnim's zu ernennen.

Aber auch wenn dieſe Geneſung nicht eingetreten wäre, würde ich

den dortigen Poſten nicht gern übernommen haben, weil ich ſchon

damals das Gefühl hatte, durch mein Auftreten in Frankfurt

persona ingrata in Wien geworden zu ſein. Ich hatte die Be¬

fürchtung, daß man dort fortfahren würde, mich als gegneriſches

Element zu behandeln, mir den Dienſt zu erſchweren und mich am

Berliner Hofe zu discreditiren, was durch Hofcorreſpondenz, wenn

ich in Wien fungirte, noch leichter geweſen wäre als über Frankfurt.

Aus ſpätrer Zeit ſind mir Unterredungen erinnerlich, welche ich

auf langen Eiſenbahnfahrten unter vier Augen mit dem Könige über

Wien hatte. Ich nahm dann die Stellung, zu ſagen „Wenn Eure

Majeſtät befehlen, ſo gehe ich dahin, aber freiwillig nicht, ich habe

mir die Abneigung des öſtreichiſchen Hofes in Frankfurt im Dienſte

1)

Vgl. den Brief Bismarck's an Manteuffel vom 23. Juli 1852 in

Preußen im Bundestage IV 99 ff.

[88/0115]

Viertes Kapitel: Diplomat.

Eurer Majeſtät zugezogen, und ich werde das Gefühl haben, meinen

Gegnern ausgeliefert zu ſein, wenn ich Geſandter in Wien werden

ſollte. Jede Regirung kann jeden Geſandten, der bei ihr beglaubigt

iſt, mit Leichtigkeit ſchädigen und durch Mittel, wie ſie die öſt¬

reichiſche Politik in Deutſchland anwendet, ſeine Stellung verderben.“

Die Erwiderung des Königs pflegte zu ſein: „Befehlen will ich

nicht. Sie ſollen freiwillig hingehn und mich darum bitten; es iſt

das eine hohe Schule für Ihre diplomatiſche Ausbildung, und Sie

ſollten mir dankbar ſein, wenn ich dieſe Ausbildung, weil es bei

Ihnen der Mühe lohnt, übernehme.“

Auch die Miniſterſtellung lag damals außerhalb meiner Wünſche.

Ich war überzeugt, daß ich dem Könige gegenüber als Miniſter eine

für mich haltbare Stellung nicht erlangen würde. Er ſah in

mir ein Ei, was er ſelbſt gelegt hatte und ausbrütete, und würde

bei Meinungsverſchiedenheiten immer die Vorſtellung gehabt haben,

daß das Ei klüger ſein wolle als die Henne. Daß die Ziele der

preußiſchen auswärtigen Politik, welche mir vorſchwebten, ſich mit

denen des Königs nicht vollſtändig deckten, war mir klar, ebenſo die

Schwierigkeit, welche ein verantwortlicher Miniſter dieſes Herrn zu

überwinden hatte bei deſſen ſelbſtherrlichen Anwandlungen mit oft

jähem Wechſel der Anſichten, bei der Unregelmäßigkeit in Geſchäften

und bei der Zugänglichkeit für unberufene Hintertreppen-Einflüſſe

von politiſchen Intriganten, wie ſie von den Adepten unſrer Kur¬

fürſten bis auf neuere Zeiten in dem regirenden Hauſe, ſogar bei

dem ſtrengen und hausbacknen Friedrich Wilhelm I. Zutritt ge¬

funden haben — pharmacopolae, balatrones, hoc genus omne 1).

Die Schwierigkeit, gleichzeitig gehorſamer und verantwortlicher

Miniſter zu ſein, war damals größer als unter Wilhelm I.

Im September 1853 wurde mir in Hanover die Ausſicht,

Miniſter zu werden, eröffnet. Nach Beendigung meiner Badekur in

Norderney wurde ich von dem eben aus dem Miniſterium Schele

1

) Horat. Sat. I 2, 1 f.

[89/0116]

Abneigung gegen den Wiener Poſten und die Miniſterſtellung. Bei Georg V.

ausgetretenen Miniſter Bacmeiſter ſondirt, ob ich Miniſter des

Königs Georg werden wolle. Ich ſprach mich dahin aus, daß ich

in der auswärtigen Politik Hanover nur dienen könne, wenn der

König vollſtändig Hand in Hand mit Preußen gehn wolle; ich könnte

mein Preußenthum nicht ausziehn wie einen Rock. Auf dem Wege

zu den Meinigen nach Villeneuve am Genfer See, den ich von

Norderney über Hanover nahm, hatte ich mehre Conferenzen mit

dem Könige. Eine derſelben fand ſtatt in einem, zwiſchen ſeinem

Schlafzimmer und dem der Königin gelegnen Cabinet im Erd¬

geſchoß des Schloſſes. Der König wollte, daß die Thatſache unſrer

Beſprechung nicht bekannt werde, hatte mich aber um fünf Uhr zur

Tafel befohlen. Er kam auf die Frage, ob ich ſein Miniſter werden

wolle, nicht zurück, ſondern verlangte nur von mir als Sachkundigem

in bundestäglichen Geſchäften einen Vortrag über die Art und

Weiſe, wie die Verfaſſung von 1848 mit Hülfe von Bundes¬

beſchlüſſen revidirt werden könne. Nachdem ich meine Anſicht ent¬

wickelt hatte, verlangte er eine ſchriftliche Redaction derſelben und

zwar auf der Stelle. Ich ſchrieb alſo in der ungeduldigen Nach¬

barſchaft des an demſelben Tiſche ſitzenden Königs die Hauptzüge

des Operationsplans nieder unter den erſchwerenden Umſtänden,

die ein ſelten gebrauchtes Schreibzeug bereitete: Tinte dick, Feder

ſchlecht, Papier rauh, Löſchblatt nicht vorhanden; die von mir ge¬

lieferte vier Seiten lange Staatsſchrift mit ihren Tintenflecken war

nicht als ein kanzleimäßiges Mundum anzuſehn. Der König ſchrieb

überhaupt nur ſeine Unterſchrift, und auch dieſe ſchwerlich in dem

Gemach, in welchem er des Geheimniſſes wegen mich empfangen

hatte. Das Geheimniß wurde freilich dadurch durchbrochen, daß

es darüber ſechs Uhr geworden war und der auf fünf befohlenen

Tiſchgeſellſchaft die Urſache der Verſpätung nicht entgehn konnte.

Als die hinter dem Könige ſtehende Uhr ſchlug, ſprang er auf und

ging wortlos und mit einer bei ſeiner Blindheit überraſchenden

Schnelligkeit und Sicherheit durch das mit Möbeln beſetzte Gemach

in das benachbarte Schlaf- oder Ankleidezimmer. Ich blieb allein,

[90/0117]

Viertes Kapitel: Diplomat.

ohne Direction, ohne Kenntniß der Localität des Schloſſes, nur

durch eine Aeußerung des Königs unterrichtet, daß die eine der

drei Thüren in das Schlafzimmer der an den Maſern krank liegenden

Königin führte. Nachdem ich mir hatte ſagen müſſen, daß Niemand

kommen werde, mich zu geleiten, trat ich durch die dritte Thür

hinaus und fand mich einem Lakaien gegenüber, der mich nicht

kannte und über mein Erſcheinen in dieſem Theile den Schloſſes

erſchrocken und aufgeregt war, ſich jedoch beruhigte, als ich dem

Accente ſeiner mißtrauiſchen Frage entſprechend engliſch antwortete

und zu der königlichen Tafel geführt zu werden verlangte.

Am Abende, ich weiß nicht, ob deſſelben oder des folgenden

Tages, hatte ich wieder eine lange Audienz ohne Zeugen. Während

derſelben nahm ich mit Erſtaunen wahr, wie nachläſſig der blinde

Herr bedient war. Die ganze Beleuchtung den großen Zimmers

beſtand in einem Doppelleuchter mit zwei Wachskerzen, an denen

ſchwere, metallene Lichtſchirme angeklemmt waren. Der eine fiel

in Folge Niederbrennens der Kerze mit einem Geräuſch, wie der

Schlag auf ein Gong, zu Boden; es erſchien aber Niemand, befand

ſich auch Niemand im Nebenzimmer, und ich mußte mir von dem

hohen Herrn die Stelle der Klingel bezeichnen laſſen, die ich zu

ziehn hatte. Dieſe Verlaſſenheit den Königs war mir um ſo auf¬

fälliger, als der Tiſch, an dem wir ſaßen, mit allen möglichen

amtlichen oder privaten Papieren ſo bedeckt war, daß einzelne bei

Bewegungen des Königs herunterfielen und von mir aufgehoben

werden mußten. Nicht weniger auffällig war es, daß der blinde

Herr mit einem fremden Diplomaten, wie ich, ohne jede miniſterielle

Kenntnißnahme Stunden lang verhandelte.

Die Erwähnung meinen damaligen Aufenthalts in Hanover

erinnert mich an einen Vorgang, der mir nie klar geworden iſt.

Dem preußiſchen Commiſſarius, der in Hanover über die ſchweben¬

den Zollangelegenheiten zu verhandeln hatte, war von Berlin aus

ein Conſul Spiegelthal zur Aushülfe beigeordnet worden. Als ich

deſſelben als eines preußiſchen Beamten im Geſpräche mit dem mir

[91/0118]

Verlaſſenheit Georgs V. Ein preuß. Conſul als öſtr. Agent.

befreundeten Miniſter von Schele erwähnte, gab dieſer lachend ſein

Erſtaunen zu erkennen: „Er hätte den Mann nach ſeiner Thätigkeit

für einen öſtreichiſchen Agenten gehalten.“ Ich telegraphirte chiffrirt

an den Miniſter von Manteuffel und rieth, das Gepäck des Spiegel¬

thal, der in den nächſten Tagen nach Berlin zurückreiſen wollte,

bei der Zollreviſion an der Grenze unterſuchen und ſeine Papiere

in Beſchlag nehmen zu laſſen. Meine Erwartung, in den folgenden

Tagen davon zu leſen oder zu hören, erfüllte ſich nicht. Während

ich die letzten Octobertage in Berlin und Potsdam zubrachte, erzählte

der General von Gerlach mir u. A.: „Manteuffel habe zuweilen

ganz ſonderbare Einfälle; ſo habe er vor Kurzem verlangt, daß der

Conſul Spiegelthal zur königlichen Tafel gezogen werde, und unter

Stellung der Cabinetsfrage ſein Verlangen durchgeſetzt.“

[[92]/0119]

Fünftes Kapitel.

Wochenblattspartei. Krimkrieg.

I.

Für die deutſche Sache behielt man in den dem Königthum

widerſtrebenden Kreiſen eine kleine Hoffnung auf Hebelkräfte im

Sinne des Herzogs von Coburg, auf engliſchen und ſelbſt fran¬

zöſiſchen Beiſtand, in erſter Linie aber auf liberale Sympathien

des deutſchen Volks. Die praktiſch wirkſame Bethätigung dieſer

Hoffnungen beſchränkte ſich auf den kleinen Kreis der Hof-Oppoſition,

die unter dem Namen der Fraction Bethmann-Hollweg den

Prinzen von Preußen für ſich und ihre Beſtrebungen zu gewinnen

ſuchte. Es war dies eine Fraction, die an dem Volke garkeinen

und an der damals als „Gothaer“ bezeichneten nationalliberalen

Richtung geringen Anhalt hatte. Ich habe dieſe Herrn nicht grade

für nationaldeutſche Schwärmer gehalten, im Gegentheil. Der

einflußreiche, noch heut (1891) lebende langjährige Adjutant des

Kaiſers Wilhelm, Graf Karl von der Goltz, der einen ſtets offnen

Zugang für ſeinen Bruder und deſſen Freunde abgab, war ur¬

ſprünglich ein eleganter und geſcheidter Garde-Offizier, Stockpreuße

und Hofmann, der an dem außerpreußiſchen Deutſchland nur ſo viel

Intereſſe nahm, als ſeine Hofſtellung es mit ſich brachte. Er war

ein Lebemann, Jagdreiter, ſah gut aus, hatte Glück bei Damen

und wußte ſich auf dem Hofparket geſchickt zu benehmen; aber die

Politik ſtand bei ihm nicht in erſter Linie, ſondern galt ihm erſt,

[93/0120]

Fraction Bethmann-Hollweg und der Prinz v. Preußen. R. Goltz.

wenn er ihrer bei Hofe bedurfte. Daß die Erinnerung an

Olmütz das Mittel war, den Prinzen zum Bundesgenoſſen für den

Kampf gegen Manteuffel zu gewinnen, das konnte Niemand beſſer

wiſſen als er, und dieſen Stachel für die Empfindung des

Prinzen in Wirkſamkeit zu erhalten, hatte er auf Reiſen und zu

Hauſe ſtets gute Gelegenheit.

Die ſpäter nach Bethmann-Hollweg benannte Partei, richtiger

Coterie, ſtützte ſich urſprünglich auf den Grafen Robert von der Goltz,

einen Mann von ungewöhnlicher Befähigung und Thätigkeit. Herr

von Manteuffel hatte das Ungeſchick gehabt, dieſe ſtrebſame Capacität

ſchlecht zu behandeln; der dadurch ſtellungslos gewordene Graf

wurde der Impreſario für die Truppe, welche zuerſt als höfiſche

Fraction und ſpäter als Miniſterium des Regenten auf der Bühne

erſchien. Sie begann in der Preſſe, beſonders durch das von ihr

gegründete „Preußiſche Wochenblatt“, und durch perſönliche Wer¬

bungen in politiſchen und Hofkreiſen ſich Geltung zu ſchaffen. Die

„Finanzirung“, wie die Börſe ſich ausdrückt, wurde durch die großen

Vermögen Bethmann-Hollweg's und der Grafen Fürſtenberg-Stamm¬

heim und Albert Pourtalès, und die politiſche Aufgabe, als deren

Ziel zunächſt der Sturz Manteuffel's geſtellt war, von den geſchickten

Händen der Grafen Goltz und Pourtalès beſorgt. Beide ſchrieben

ein elegantes Franzöſiſch in geſchickter Diction, während Herr

von Manteuffel in der Herſtellung diplomatiſcher Aktenſtücke haupt¬

ſächlich auf die hausbackne Tradition ſeiner Beamten von der

franzöſiſchen Kolonie in Berlin angewieſen war. Auch Graf

Pourtalès war von dem Miniſterpräſidenten im Dienſte verſtimmt

und von dem Könige als Rival Manteuffel's ermuthigt worden.

Goltz wollte ohne Zweifel, wenn nicht der unmittelbare Nach¬

folger Manteuffel's, doch früher oder ſpäter Miniſter werden. Er

hatte auch das Zeug dazu, viel mehr als Harry von Arnim, weil

er weniger Eitelkeit und mehr Patriotismus und Charakter beſaß;

freilich auch mehr Zorn und Galle, die ſich vermöge der ihm inne¬

wohnenden Energie als Subtrahenda von ſeiner praktiſchen Leiſtung

[94/0121]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

geltend machten. Ich habe zu ſeiner Ernennung nach Petersburg,

ſpäter nach Paris mitgewirkt und Harry von Arnim aus der un¬

wichtigen Stellung, in welcher ich ihn fand, ſchnell und nicht ohne

Widerſpruch in dem Cabinete befördert, aber an dieſen beiden

befähigtſten unter meinen diplomatiſchen Mitarbeitern daſſelbe erlebt,

wie Yglano an Anſelmo in dem Chamiſſoſchen Gedichte 1).

Auch Rudolf von Auerswald hatte ſich der Fraction zurück¬

haltend angeſchloſſen, kam aber im Juni 1854 zu mir nach Frank¬

furt, um mir zu ſagen, daß er ſeinen Feldzug der letzten Jahre

für verloren halte, ſich herauszuziehn wünſche und, wenn er den

Geſandten-Poſten in Braſilien erhielte, verſprechen wolle, ſich um

innere Politik nicht mehr zu kümmern 2). Obwohl ich Manteuffel

empfahl, in ſeinem Intereſſe darauf einzugehn und einen ſo feinen

Kopf, erfahrnen und achtbaren Mann und Freund des Prinzen

von Preußen auf dieſe ehrliche Weiſe zu neutraliſiren, ſo war ſein

und des Generals von Gerlach Mißtrauen oder Abneigung gegen

Auerswald doch ſo ſtark, daß der Miniſter ſeine Ernennung ab¬

lehnte. Manteuffel und Gerlach waren überhaupt, obſchon nicht

untereinander, doch gegen die Partei Bethmann-Hollweg einig.

Auerswald blieb im Lande und einer der Hauptträger der Be¬

ziehungen zwiſchen dieſen anti-Manteuffel'ſchen Elementen und dem

Prinzen.

Graf Robert Goltz, mit dem ich aus der Jugend her befreundet

war, verſuchte in Frankfurt auch mich für die Fraction zu gewinnen.

Ich lehnte den Beitritt, ſoweit Mitwirkung zum Sturze Manteuffel's

von mir gefordert würde, mit der Motivirung ab, daß ich, wie

damals der Fall war, mit vollem Vertrauen Manteuffel's den Poſten

in Frankfurt angetreten hätte und es nicht für ehrlich halten würde,

meine Stellung zum Könige zum Sturze Manteuffel's zu benutzen,

ſolange Letztrer mich nicht in die Nothwendigkeit verſetzte, mit ihm

1)

Vetter Anſelmo.

2)

S. Brief an Leopold v. Gerlach vom 6. Juni 1854, Ausgabe von

H. Kohl, S. 156.

[95/0122]

R. Goltz. R. v. Auerswald. Olmütz im Empfinden des Prinzen.

zu brechen, und daß ich in dem Falle ihm die Fehde und den

Grund derſelben vorher offen anſagen würde. Graf Goltz wollte

ſich damals verheirathen und bezeichnete mir als ſein nächſtes Ver¬

langen den Geſandſchaftspoſten in Athen. „Man ſoll mir,“ ſetzte

er mit Bitterkeit hinzu, „ſchon einen Poſten geben und einen guten;

davor iſt mir nicht bange.“

Die ſcharfe Kritik der Politik Olmütz, die in der That nicht

ſo ſehr die Schuld des preußiſchen Unterhändlers als der, um das

Wenigſte zu ſagen, ungeſchickten Leitung der preußiſchen Politik bis

zu ſeiner Zuſammenkunft mit dem Fürſten Schwarzenberg war,

und die Schilderung ihrer Folgen, das war die erſte Waffe, mit

welcher Manteuffel von Goltz angegriffen und die Sympathie des

Prinzen von Preußen gewonnen wurde. In dem ſoldatiſchen Ge¬

fühle des Letztern war Olmütz ein wunder Punkt, in Bezug auf

welchen nur die militäriſche und royaliſtiſche Diſciplin dem Könige

gegenüber die Empfindung der Kränkung und des Schmerzes be¬

herrſchte. Trotz ſeiner großen Liebe zu ſeinen ruſſiſchen Ver¬

wandten, die zuletzt in der innigen Freundſchaft mit Alexander II.

zum Ausdrucke kam, behielt er das Gefühl einer Demüthigung, die

Preußen durch den Kaiſer Nicolaus erlitten hatte, und dieſe

Empfindung wurde um ſo ſtärker, je mehr ſeine Mißbilligung

der Manteuffel'ſchen Politik und der öſtreichiſchen Einflüſſe ihn

der ihm früher ferner liegenden deutſchen Aufgabe Preußens

näher rückte.

Im Sommer 1853 ſchien es, daß Goltz ſich ſeinem Ziele

nähern, zwar nicht Manteuffel verdrängen, aber doch Miniſter

werden werde. Der General Gerlach ſchrieb mir am 6. Juli:

„Von Manteuffel hörte ich, daß Goltz ihm erklärt hat, nur

dann in das Miniſterium eintreten zu können, wenn die Umgebung

des Königs geändert, d. h. ich fortgeſchickt würde. Ich glaube

übrigens, ja ich könnte ſagen, ich weiß es, daß Manteuffel Goltz

als Rath in das Auswärtige Miniſterium hat haben wollen, um

gegen andre Perſonen dort, wie Le Coq (wohl eher gegen Gerlach

[96/0123]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

und deſſen Freunde am Hofe) u. ſ. w. ein Gegengewicht zu haben,

was nun, Gott ſei Dank, durch Goltzens Trotz vereitelt iſt. — Ich

denke mir, daß ein Plan im Werke iſt — ob in allen zum Mit¬

handeln beſtimmten Perſonen bewußt oder unbewußt, halb oder ganz,

laſſe ich dahingeſtellt ſein — ein Miniſterium unter den Auſpicien

des Prinzen von Preußen zu formiren, in dem — nach Entfernung

von Raumer, Weſtphalen, Bodelſchwingh — Manteuffel als Präſes,

Ladenberg als Cultus, Goltz als Auswärtiger functioniren ſoll

und welches ſich die Kammermajorität verſchafft, was ich nicht für

ſehr ſchwierig halte. Damit ſitzt der arme König zwiſchen der

Kammermajorität und ſeinem Nachfolger und kann ſich nicht rühren.

Alles was Weſtphalen und Raumer zu Stande gebracht, und ſie

ſind die einzigen Menſchen, die etwas gethan, würde wieder ver¬

loren gehn, von den übrigen Folgen zu ſchweigen. Manteuffel

als doppelter Novembermann wäre wie ſchon jetzt inévitable.“

Der Gegenſatz der verſchiedenen Elemente, welche die Ent¬

ſchließungen des Königs zu beſtimmen ſuchten, ſteigerte ſich, der

Angriff der Bethmann-Hollweg'ſchen Fraction auf Manteuffel be¬

lebte ſich während des Krimkrieges. Der Miniſterpräſident hat

ſeine Abneigung gegen den Bruch mit Oeſtreich und gegen eine

Politik, wie ſie nach den böhmiſchen Schlachtfeldern führte, am

nachdrücklichſten in allen für unſre Freundſchaft mit Oeſtreich kri¬

tiſchen Momenten bethätigt. In der Zeit des Fürſten Schwarzen¬

berg, demnächſt des Krimkrieges und der Ausbeutung Preußens

für die öſtreichiſche Orientpolitik erinnerte unſer Verhältniß zu

Oeſtreich an das zwiſchen Leporello und Don Juan. In Frank¬

furt, wo zur Zeit des Krimkriegs die übrigen Bundesſtaaten

außer Oeſtreich verſuchsweiſe verlangten, daß Preußen ſie der öſt¬

reichiſch-weſtmächtlichen Vergewaltigung gegenüber vertrete, konnte

ich als Träger der preußiſchen Politik mich einer Beſchämung und

Erbitterung nicht erwehren, wenn ich ſah, wie wir gegenüber den

nicht einmal in höflichen Formen vorgebrachten Zumuthungen Oeſt¬

reichs jede eigne Politik und jede ſelbſtändige Anſicht opferten, von

[97/0124]

Das Bündniß mit Oeſtreich vom 20. April 1854.

Poſten zu Poſten zurückwichen, und unter dem Druck der In¬

feriorität, in Furcht vor Frankreich und in Demuth vor England,

im Schlepptau Oeſtreichs Deckung ſuchten. Der König war nicht

unempfänglich für dieſen meinen Eindruck, aber nicht geneigt, ihn

durch eine Politik im großen Stile abzuſchütteln.

Nachdem England und Frankreich am 28. März 1854 Ru߬

land den Krieg erklärt hatten, waren wir mit Oeſtreich das Schutz-

und Trutzbündniß vom 20. April eingegangen, das Preußen ver¬

pflichtete, unter Umſtänden 100000 Mann in Zeit von 36 Tagen

zu concentriren, ein Drittel in Oſtpreußen, die beiden andern zu

Poſen oder zu Breslau, und ſein Heer, wenn die Umſtände es

erheiſchten, auf 200000 Mann zu bringen und ſich behufs alles

deſſen mit Oeſtreich zu verſtändigen.

Unter dem 3. Mai ſchrieb mir Manteuffel folgenden pikirten

Brief:

„General von Gerlach theilt mir ſoeben mit, daß des Königs

Majeſtät Euer Hochwohlgeboren behufs Beſprechung über die Be¬

handlung des öſtreichiſch-preußiſchen Bündniſſes am Bunde hier an¬

weſend zu ſehen befohlen und daß der Herr General in dieſem

Sinne Euer Hochwohlgeboren bereits geſchrieben habe 1). In Ge¬

mäßheit dieſes Allerhöchſten Befehls, von dem mir übrigens vorher

nichts bekannt geweſen, darf ich keinen Anſtand nehmen. Euer Hoch¬

wohlgeboren ganz ergebenſt zu veranlaſſen, ſich unverzüglich hierher

zu verfügen. Mit Rückſicht auf die beim Bundestage bevorſtehenden

Verhandlungen dürfte Ihr Aufenthalt hierſelbſt nicht von langer

Dauer ſein können.“

Bei Beſprechung des Vertrages vom 20. April ſchlug ich

dem Könige vor, dieſe Gelegenheit zu benutzen, um uns und die

preußiſche Politik aus der ſecundären und, wie mir ſchien, un¬

würdigen Lage herauszuheben und eine Stellung einzunehmen,

1)

Dieſer Brief iſt veröffentlicht im Briefwechſel des Generals Leopold

v. Gerlach mit dem Bundestagsgeſandten Otto v. Bismarck S. 166.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 7

[98/0125]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

welche uns die Sympathie und die Leitung der deutſchen Staaten

gewonnen hätte, die mit uns und durch uns in unabhängiger

Neutralität zu verbleiben wünſchten. Ich hielte dies für erreich¬

bar, wenn wir, ſobald Oeſtreich die Truppenaufſtellung verlangte,

freundlich und bereitwillig darauf eingingen, aber die Aufſtellung

der 66000 und factiſch mehr Mann nicht bei Liſſa, ſondern in

Oberſchleſien machten, ſo daß unſre Truppen in der Lage ſeien,

die ruſſiſche oder die öſtreichiſche Grenze mit gleicher Leichtigkeit

zu überſchreiten, namentlich wenn wir uns nicht genirten, die

Ziffer 100000 uneingeſtanden zu überſchreiten. Mit 200000 Mann

würde Se. Majeſtät in dieſem Augenblick Herr der geſammten

europäiſchen Situation werden, den Frieden dictiren und in Deutſch¬

land eine Preußens würdige Stellung gewinnen können 1). Frank¬

reich war nicht im Stande, neben der Leiſtung, mit der es in der

Krim beſchäftigt war, bedrohlich an unſrer Weſtgrenze aufzutreten.

Oeſtreich hatte ſeine diſponiblen Kräfte in Oſt-Galizien ſtehn, wo

ſie von Krankheiten mehr Verluſte erlitten als auf den Schlacht¬

feldern. Sie waren feſtgenagelt durch die, auf dem Papier

wenigſtens, 200000 Mann ſtarke ruſſiſche Armee in Polen, deren

Marſch nach der Krim die dortige Situation entſchieden haben

würde, wenn die öſtreichiſche Grenzaufſtellung ihn hätte zuläſſig

erſcheinen laſſen. Es gab ſchon damals Diplomaten, welche die

Herſtellung Polens unter öſtreichiſchem Patronat in ihr Programm

aufgenommen hatten. Jene beiden Armeen ſtanden einander gegen¬

über feſt, und es war für Preußen möglich, durch ſeinen Beiſtand

einer von ihnen die Oberhand zu gewähren. Die Wirkung einer

engliſchen Blokade, welche unſre Küſte hätte treffen können, würde

nicht gefährlicher geweſen ſein als die wenige Jahre früher mehr¬

mals ausgeſtandene, uns ebenſo vollſtändig abſchließende däniſche,

und aufgewogen worden ſein durch die Erlangung unſrer und der

deutſchen Unabhängigkeit von dem Drucke und der Drohung einer

1) Vgl. die Aeußerung Bismarck's in der Reichstagsrede vom 6. Febr.

1888, Politiſche Reden XII 459.

[99/0126]

Preußens günſtige Lage im Krimkriege. „Liebeken, das is ſehr ſchöne!“

öſtreichiſch-franzöſiſchen Allianz und Vergewaltigung der zwiſchen¬

liegenden Mittelſtaaten. Während des Krimkrieges ſagte mir der

alte König Wilhelm von Würtemberg in vertraulicher Audienz am

Kamin in Stuttgart: „Wir deutſchen Südſtaaten können nicht gleich¬

zeitig die Feindſchaft Oeſtreichs und Frankreichs auf uns nehmen,

wir ſind zu nahe unter der Ausfallpforte Straßburg und vom

Weſten her occupirt, bevor uns von Berlin Hülfe kommen kann.

Würtemberg wird überfallen, und wenn ich ehrlich mich in das

preußiſche Lager zurückziehe, ſo werden die Klagen meiner vom

Feinde bedrückten Unterthanen mich zurückrufen; das würtember¬

giſche Hemd iſt mir näher als der Rock des Bundes“ 1).

Die nicht unbegründete Hoffnungsloſigkeit, welche in dieſer

Aeußerung den geſcheidten alten Herrn lag, und die mehr oder

weniger zornige Empfindung in andern Bundesſtaaten — nur

nicht in Darmſtadt, wo Herr von Dalwigk-Coehorn ſicher auf

Frankreich baute — dieſe Stimmungen würden ſich wohl geändert

haben, wenn ein nachdrückliches Auftreten Preußens in Oberſchleſien

den Beweis lieferte, daß weder Oeſtreich noch Frankreich uns

damals überlegnen Widerſtand zu leiſten vermochten, wenn wir

ihre entblößte und gefährdete Situation entſchloſſen benutzten. Der

König war nicht unempfänglich für die überzeugte Stimmung, in

welcher ich ihm die Sachlage und die Eventualitäten darſtellte; er

lächelte wohlgefällig und ſagte im Berliner Dialekt: „Liebeken,

das is ſehr ſchöne, aber es is mich zu theuer. Solche Gewalt¬

ſtreiche kann ein Mann von der Sorte Napoleon wohl machen,

ich aber nicht.“

II.

Der zögernde Beitritt der deutſchen Mittelſtaaten, die ſich in

Bamberg berathen hatten, zu dem Vertrage vom 20. April, die

1)

Vgl. die Aeußerungen Bismarck's in den Reden vom 22. Januar 1864

und 2. Mai 1871, Politiſche Reden II 276, V 52.

[100/0127]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

Bemühungen des Grafen Buol, einen Kriegsfall zu ſchaffen, die

durch die Räumung der Wallachei und Moldau ſeitens der Ruſſen

vereitelt wurden, die von ihm beantragte und im Geheimniß vor

Preußen abgeſchloſſene Allianz mit den Weſtmächten vom 2. December,

die vier Punkte der Wiener Conferenz und der weitre Verlauf

bis zu dem Pariſer Frieden vom 30. März 1856 ſind von Sybel

aus den Archiven dargeſtellt, und meine amtliche Stellungnahme

zu allen dieſen Fragen ergiebt ſich aus dem Werke „Preußen im

Bundestage“, Ueber das, was in dem Cabinet vorging, über die

Erwägungen und Einflüſſe, die den König in den wechſelnden

Phaſen beſtimmten, erhielt ich von dem General von Gerlach Mit¬

theilungen, von denen ich die intereſſanteren einflechte. Wir hatten

für dieſe Correſpondenz ſeit Herbſt 1855 eine Art von Chiffre ver¬

abredet, in welchem die Staaten durch die Namen uns bekannter

Dörfer, die Perſonen nicht ohne Humor durch Figuren aus Shake¬

ſpeare bezeichnet waren 1).

„Berlin, den 24. April 1854.

Manteuffel hat ſeinen Abſchluß mit (dem Feldzeugmeiſter)

Heß zu Stande gebracht und zwar auf eine Art, die ich nicht

anders als eine verlorne Bataille bezeichnen kann. Alle meine

militäriſchen Berechnungen, alle Ihre Briefe, die entſchieden be¬

wieſen, daß Oeſterreich nie wagen würde, ohne uns zu einem be¬

ſtimmten Abſchluß mit den Weſtmächten zu kommen, haben nichts

geholfen; man hat ſich von den Furchtſamen furchtſam machen

laſſen, und ſo weit muß ich Manteuffel Recht geben, daß es gar

nicht unmöglich iſt, daß eben aus Furcht Oeſterreich den kühnen

Sprung nach Weſten hätte machen können.

Doch dem ſei wie ihm wolle, dieſer Abſchluß iſt ein fait

1)

S. den Schlüſſel in den Briefen Bismarck's an General L. v. Gerlach,

herausg. von H. Kohl S. 351 f. (doch iſt S. 352 Z. 4 zu leſen: Fortinbras,

Z. 8: Trinkulo). — Zum erſten Male bediente ſich der Chiffre Bismarck im

Briefe vom 21. December 1855, Gerlach im Briefe vom 15. Januar 1856

(Bismarck-Jahrbuch II 212 ff.).

[101/0128]

Auszüge aus Briefen des Generals L. v. Gerlach.

accompli, und man muß jetzt wie nach einer verlorenen Schlacht

die zerſtreuten Kräfte ſammeln, um dem Gegner ſich wieder ent¬

gegen ſtellen zu können, und da iſt denn das Nächſte, daß in dem

Vertrage alles auf gegenſeitiges Einverſtändniß geſtellt iſt. Aber

eben deshalb wird die nächſte und auch ſehr üble Folge ſein, daß

wir, ſobald wir die uns richtig ſcheinende Auslegung geltend

machen, der Doppelzüngigkeit und Wortbrüchigkeit angeklagt werden.

Dagegen müſſen wir uns zunächſt dickfellig machen, dann aber

dergleichen zuvorkommen, indem wir unſre Auslegung des Ver¬

trages ſofort ausſprechen, ſowohl in Wien als in Frankfurt, noch

bevor eine Colliſion eingetreten iſt. Denn die Dinge ſtehen ſo,

daß noch immer einem kräftigen, muthigen auswärtigen Miniſter

die Hände nicht gebunden ſind. Wir machen alle Schritte in

Petersburg ſelbſtſtändig, können alſo in der Conſequenz bleiben

und können ſtets noch die Einigung erlangen und bei derſelben

Reciprocität und Alles, was in dem Vertrage fehlt, geltend machen.

Budberg habe ich nach Kräften zu beſchwichtigen geſucht; Niebuhr

iſt ſehr thätig und eifrig auf dieſem Felde und hat ſich wie immer

geſchickt und vortrefflich benommen. Was hilft aber dieſe Flickerei,

die zuletzt doch eine undankbare Arbeit iſt. Es liegt in der Natur

des Menſchen, alſo auch unſres Herrn, daß wenn er mit einem

Diener einen Bock oder vielmehr eine Ricke geſchoſſen hat, er

dieſen zunächſt hält und die beſonnenen und treuen Freunde

ſchlecht behandelt. In der Lage bin ich jetzt, und ſie iſt wahrlich

nicht beneidenswerth 1). ...

Sansſouci, den 1. Juli 1854.

... Die Dinge haben ſich einmal wieder furchtbar verwickelt,

ſtehen aber doch wieder ſo, daß man, wenn alles klappt, ein gutes

Ende für möglich halten kann. ... Wenn wir Oeſterreich nicht

ſo lange als möglich feſthalten, ſo laden wir eine ſchwere Schuld

auf uns, rufen die Trias ins Leben, welche der Anfang des Rhein¬

1)

Vgl. Briefwechſel Gerlach-Bismarck S. 163 f.

[102/0129]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

bundes iſt und den franzöſiſchen Einfluß bis unter die Thore von

Berlin bringt. Jetzt haben die Bamberger es verſucht, ſich unter

dem Protectorate von Rußland als Trias zu conſtituiren, wohl

wiſſend, daß es ein leichtes iſt, ein Protectorat zu wechſeln, um ſo

mehr, da die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz doch das Ende vom Liede

iſt, wenn England nicht bald die Augen aufgehen über die Thor¬

heit des Krieges und des Bündniſſes mit Frankreich 1). ...

Sansſouci, den 22. Juli 1854.

Für die deutſche Diplomatie, in ſo weit ſie jetzt von Preußen

ausgeht, öffnet ſich ein glänzendes Schlachtfeld, denn leider ſcheint

es, daß Prokeſch nicht Unrecht hat, wenn er für ſeinen Kaiſer die

Kriegstrompete bläſt. Die Wiener Nachrichten ſind gar nicht be¬

ſonders, obſchon ich es doch noch nicht aufgebe, daß in der elften

Stunde Buol und der Kaiſer auseinander gehen werden. ... Es wäre

der größeſte Fehler, den man machen könnte, wenn man den mir noch

nicht ganz verſtändlichen antifranzöſiſchen Enthuſiasmus von Bayern,

Würtemberg, Sachſen und Hannover, ſo ganz ungenutzt vorüber¬

gehen ließe. Sobald man mit Oeſterreich im Klaren iſt, d. h. ſowie

deſſen weſtmächtliche Sympathien klar hervortreten, müſſen die leb¬

hafteſten Verhandlungen mit den deutſchen Mächten beginnen, und

wir müſſen einen Fürſtenbund ſchließen, ganz anders und feſter

als der von Friedrich II. war 2). ...

Charlottenburg, den 9. Auguſt 1854.

... Manteuffel iſt bis jetzt ganz vernünftig, aber wie Sie wiſſen,

unzuverläſſig. Ich glaube, daß Sie die Aufgabe haben, nach zwei

Seiten hin für den richtigen Weg zu wirken. Einmal, daß Sie

Ihrem Freunde Prokeſch die richtige Politik über dem Kopfe weg¬

nehmen und ihm zu verſtehen geben, daß jetzt jeder Vorwand weg¬

1)

Vgl. a. a. O. S. 174 f.

2)

a. a. O. 178 f.

[103/0130]

Auszüge aus Briefen des Generals v. Gerlach. Brief Niebuhrs.

fällt, Oeſterreich in ſeinem Kriegsgelüſte gegen Rußland nachzu¬

gehen, und dann, daß Sie den deutſchen Mächten den Weg weiſen,

den ſie zu gehen haben. ... Es iſt ein eigen Unglück, daß der

Aufenthalt (des Königs Friedrich Wilhelm) in München wieder an

gewiſſer Stelle germanomaniſchen Enthuſiasmus erregt hat. Eine

deutſche Reſervearmee, er an der Spitze, iſt der confuſe Gedanke,

der eine nicht gute Einwirkung auf die Politik macht. Ludwig XIV.

ſagte l'état c'est moi. Mit viel mehr Recht kann Se. Majeſtät

ſagen l'Allemagne c'est moi. L. v. G.“ 1)

Daneben gewährte der nachſtehende Brief des Cabinetsraths

Niebuhr an mich einen weitern Einblick in die Stimmungen am

Hofe.

„Puttbus, den 22. Auguſt 1854.

Ich verkenne gewiß nicht gute Intentionen, wenn ſie auch

meiner Ueberzeugung nach nicht an der (richtigen) Stelle und noch

weniger richtig ausgeführt ſind, und ebenſowenig das Recht von

Intereſſen, wenn ſie auch demjenigen, was ich für richtig halten muß,

ſchnurſtracks widerſprechen. Aber ich verlange Wahrheit und Klar¬

heit, und deren Mangel kann mich zur Deſperation bringen. Mangel

an Wahrheit nach außen kann ich unſrer Politik nun nicht

zum Vorwurf machen: wohl aber Unwahrheit gegen uns ſelbſt.

Wir würden ganz anders daſtehen, und Vieles unterlaſſen haben,

wenn wir uns die eigentlichen Motive dazu eingeſtanden hätten,

ſtatt uns beſtändig vorzuſpiegeln, daß die einzelnen Acte unſrer

Politik Conſequenzen der richtigen Grundgedanken derſelben ſeien.

Die fortgeſetzte Theilnahme an den Wiener Conferenzen nach dem

Einlaufen der engliſch-franzöſiſchen Flotte in die Dardanellen und

jetzt zuletzt die Unterſtützung der weſtmächtlich-öſterreichiſchen For¬

derungen in Petersburg, haben ihren wahren Grund in der kin¬

diſchen Furcht, ,aus dem Concert européen hinausgedrängt zu

1)

Briefwechſel S. 181 f.

[104/0131]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

werden‘ und ,die Stellung als Großmacht zu verlieren‘. Die

größten Albernheiten, die zu denken ſind: denn von einem Concert

européen zu ſprechen, wenn zwei Mächte mit einer dritten im

Kriege ſind, iſt doch geradezu ein hölzernes Eiſen, und unſre

Stellung als Großmacht verdanken wir doch wahrhaftig nicht der

Gefälligkeit von London, Paris und Wien, ſondern unſrem guten

Schwerte. Ueberdem aber ſpielt überall eine Empfindlichkeit gegen

Rußland mit, die ich vollkommen begreife, und auch theile, der man

aber jetzt nicht nachgeben kann, ohne zugleich uns ſelbſt zu züchtigen.

Wo man nicht wahr gegen ſich ſelbſt iſt, iſt man allemal auch

nicht klar. Und ſo leben und handeln wir zwar nicht in ſolcher

Unklarheit, wie in Wien, wo man wie ein Schlaftrunkener alle

Augenblicke handelt, als ob man ſchon im Kriege mit Rußland

wäre: aber wie man neutral und Friedensvermittler ſein, und zu¬

gleich Propoſitionen, wie die letzten der Seemächte empfehlen kann,

verſtehe ich mit meinen ſchwachen Verſtandeskräften nicht.“

Die folgenden Brieffragmente ſind wieder von Gerlach.

„Sansſouci, 13. October 1854.

... Seitdem ich alles geleſen und nach Kräften gegen einander

abgewogen habe, halte ich es für ſehr wahrſcheinlich, daß die

zwei Drittel Stimmen Oeſterreich nicht entgehen werden. Hannover

ſpielt ein falſches Spiel, Braunſchweig iſt weſtmächtlich, die Thü¬

ringer ebenſo, Bayern iſt in allen Zuſtänden und des Königs

Majeſtät iſt ein ſchwankendes Rohr. Selbſt über Beuſt gehen zweifel¬

hafte Nachrichten ein. Hierzu kommt, daß man in Wien zum Kriege

entſchloſſen ſcheint. Man ſieht ein, daß die expectative bewaffnete

Stellung nicht länger durchzuführen iſt, ſchon finanziell nicht, und

hält das Umkehren für gefährlicher als das Vorwärtsgehen. Leicht

iſt das Umkehren auch wirklich nicht, und ich ſehe auch nicht ein,

woher dem Kaiſer dazu die Entſchloſſenheit kommen ſoll. Oeſter¬

reich kann ſich für das Erſte und oberflächlich leichter mit den

revolutionären Plänen der Weſtmächte verſtändigen als Preußen,

[105/0132]

Ein Brief Niebuhrs. Auszüge aus Gerlachs Briefen.

z. B. mit einer Reſtauration von Polen, einem rückſichtsloſen Ver¬

fahren gegen Rußland u. ſ. w., ſowie es keinem Zweifel unter¬

liegt, daß Frankreich und England ihm auf der andern Seite noch

leichter als uns Verlegenheiten bereiten können, ſowohl in Ungarn

als in Italien. Der Kaiſer iſt in den Händen ſeiner Polizei und

was das heißt, habe ich in den letzten Jahren gelernt *), hat ſich

vorlügen laſſen, Rußland habe Koſſuth aufgehetzt u. ſ. w. Er hat

damit ſein Gewiſſen beſchwichtigt, und was die Polizei nicht ver¬

mag, das leiſtet der Ultramontanismus, die Wuth gegen die ortho¬

doxe Kirche und gegen das protéſtantiſche Preußen. Daher iſt auch

ſchon jetzt von einem Königreich Polen unter einem öſterreichiſchen

Erzherzoge die Rede. ... Aus allem dieſem folgt, daß man ſehr

auf ſeiner Hut ſein und auf alles, ſelbſt auf einen Krieg gegen

die mit Oeſterreich verbündeten Weſtmächte gefaßt ſein muß, daß

den deutſchen Fürſten nicht zu trauen iſt u. ſ. w. Der Herr möge

uns geben, daß wir nicht ſchwach befunden werden, aber ich müßte

eine Unwahrheit ſagen, wenn ich den Leitern unſrer Geſchicke feſt

vertraute. Halten wir daher eng zuſammen. Anno 1850 hatte

Radowitz uns etwa auf denſelben Punkt gebracht wie Buol jetzt

paſſiv von drüben her 1). ...

Sansſouci, den 15. November 1854.

... Was Oeſterreich anbetrifft ſo iſt mir durch die letzten Ver¬

handlungen endlich die dortige Politik klar geworden. In meinem

Alter iſt man von ſchweren Begriffen. Die öſterreichiſche Politik

*)

Gerlach hat dabei wohl an Ohm und Hantge gedacht, auch an die Be¬

richte, welche der phantaſiereiche und gut bezahlte Oeſtreicher Tauſenau aus

London über gefährliche Anſchläge der deutſchen Flüchtlinge erſtattete. Der

König muß über die Zuverläſſigkeit dieſer Meldungen zweifelhaft geworden

ſein; er beauftragte direct aus ſeinem Cabinet den Geſandten Bunſen, von der

engliſchen Polizei Erkundigung einzuziehn, die dahin ausfiel, daß die deutſchen

Flüchtlinge in London zu viel mit dem Erwerb ihres Lebensunterhaltes zu thun

hätten, um an Attentate zu denken.

1)

Briefwechſel S. 191 ff.

[106/0133]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

iſt keine ultramontane der Hauptſache nach, wie es ſich Se. Majeſtät

conſtruirt, obſchon ſie den Ultramontanismus nach den Umſtänden

gebraucht; ſie hat keine großen Pläne von Eroberungen im Orient,

obſchon ſie auch davon etwas mitnimmt; ſie denkt auch nicht an

die deutſche Kaiſerkrone. Alles das iſt viel zu erhaben und wird nur

hin und wieder als Mittelchen zum Zweck benutzt. Die öſter¬

reichiſche Politik iſt eine Politik der Furcht, baſirt auf die ſchwie¬

rige innere und äußere Lage in Italien, Ungarn, in den Finanzen,

in dem zerſtörten Recht, in der Furcht vor Bonaparte, in der Angſt

vor ruſſiſcher Rache, auch in der Furcht vor Preußen, dem man

viel mehr Böſes zutraut, als irgend Jemand je hier gedacht hat.

Meyendorff ſagt: ‚Mein Schwager Buol iſt ein politiſcher Hunds¬

fott; er fürchtet jeden Krieg, aber allerdings mehr einen Krieg mit

Frankreich als mit Rußland.‘ Dieſes Urtheil iſt ganz richtig, und

dieſe Furcht iſt das, was Oeſterreich beſtimmt. ...

Ich glaube, wenn man betrachtet, daß es immer ein gefähr¬

liches Ding iſt, allein zu ſtehen, daß die Dinge hier im Lande ſo

ſind, daß es auch gefährlich iſt, ſie auf die Spitze zu treiben; da

weder Manteuffel noch — zuverläſſig ſind, ſo ſcheint es mir der

Klugheit angemeſſen, Oeſterreich ſo weit als irgend möglich nach¬

zugehen. Ueber dieſe Möglichkeit hinaus liegt aber jede Allianz mit

Frankreich, die wir weder moraliſch, noch finanziell, noch militäriſch

vertragen können. Sie wäre unſer Tod, wir verlören unſern Ruhm

von 1813–1815, von dem wir leben, wir würden den mit Recht

mistrauiſchen Alliirten Feſtungen einräumen, wir würden ſie er¬

nähren müſſen. Bonaparte l'élu de sept millions würde bald

einen König von Polen finden, der auf demſelben Rechtstitel ſtände

und dem man mit Leichtigkeit die Wähler in beliebiger Anzahl

finden würde 1). ...

Potsdam, den 4. Januar 1855.

... Ich glaube, daß wir einig ſein würden, wenn Sie hier

wären, das heißt in dem was zu thun iſt, wenn auch nicht im

1)

a. a. O. 203 ff.

[107/0134]

Auszüge aus Briefen des Generals v. Gerlach.

Princip, denn ich halte mich an die heilige Schrift, daß man nicht

Böſes thun darf, daß Gutes daraus werde, weil derer, die das thun,

Verdammniß ganz recht iſt. Mit Bonaparte und dem Liberalismus

buhlen iſt aber böſe, im gegebenen Falle aber außerdem auch meines

Erachtens unweiſe. Sie vergeſſen (ein Fehler, in den Jeder fällt,

der eine Weile von hier fort iſt) die Perſönlichkeiten, welche doch

das Entſcheidende ſind. Wie können Sie ſolche indirecten Finaſſe¬

rien mit einem völlig principienloſen, unzuverläſſigen Miniſter, der

in den falſchen Weg unwillkürlich hineingezogen wird, und mit

einem, um nicht mehr zu ſagen, unberechenbar eigenthümlichen

Herrn machen. Bedenken Sie doch, daß Manteuffel principaliter

Bonapartiſt iſt, denken Sie an ſein Benehmen bei dem coup d'état,

an die von ihm damals patroniſirte Quehl'ſche Schrift, und wenn

Sie etwas Neueres haben wollen, ſo kann ich Ihnen ſagen, daß

er jetzt an Werther (damals Geſandter in Petersburg) die thörichte

Anſicht geſchrieben hat, daß wenn man Rußland nützen wolle,

man dem Vertrage vom 2. December beitreten müſſe, um bei den

Verhandlungen mitzuſprechen.

Nehmen die Verhandlungen in Wien einen Charakter an, ſo

daß man auf einen Erfolg rechnen könnte, ſo wird man uns ſchon

zuziehen und uns mit unſern 300000 Mann nicht ignoriren. Schon

jetzt wäre das nicht möglich, wenn man ſich nicht durch Hinken,

nicht wie das oft geſchehen nach zwei, ſondern, was ſelten ge¬

ſchehen, nach drei Seiten, um alles Vertrauen und alle Einflößung

von Furcht gebracht hätte.

Ich wünſche ſehr, daß Sie, wenn auch nur auf einige Tage,

herkämen, um ſich zu orientiren. Ich weiß aus eigner Erfahrung,

wie ſchnell man bei einer irgend längeren Abweſenheit desorientirt

iſt. Denn eben wegen ihrer personalissimen Eigenſchaft iſt es

ſo ſchwer, unſre Zuſtände durch Schreiben verſtändlich zu machen,

beſonders wenn unzuverläſſige principienloſe Charaktere im Spiele

ſind. Mir iſt immer ſehr unheimlich, wenn Se. Majeſtät mit

Manteuffel Geheimniſſe haben, denn wenn der König ſeiner Sache

[108/0135]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

vor Gott und ſeinem Gewiſſen gewiß iſt, ſo iſt er gegen Viele,

nicht etwa blos gegen mich, offener als gegen Manteuffel. Bei

jenen Heimlichkeiten aber entſteht ein Gebräu von Schwäche und

Finaſſerie auf der einen und von animoſem Servilismus auf der

andern Seite, was in der Regel etwas ſehr Unglückliches zur Welt

bringt 1).

Berlin, den 23. Januar 1855.

... Was mich ganz niederſchlägt, iſt der allgemein verbreitete

Bonapartismus und die Indifferenz und der Leichtſinn, womit

man dieſe größte aller Gefahren auf ſich zukommen ſieht. Iſt es

denn ſo ſchwer zu erkennen, wohin dieſer Menſch will? ... Und

wie ſtehen hier die Sachen? The king can do no wrong. Von

dem ſchweige ich; Manteuffel iſt völlig Bonapartiſt. Bunſen mit¬

ſammt Uſedom ſind keine Preußen. Hatzfeld in Paris hat eine

bonapartiſtiſche Frau und iſt ſo eingeſeift, daß ſein hieſiger Schwager

den alten Bonaparte im Vergleich mit dem jetzigen für einen

Eſel hält. Was ſoll daraus werden, und wie darf man dem

Könige Vorwürfe machen, wenn er ſo bedient iſt. Von den irregu¬

lären Rathgebern zu ſchweigen. L. v. G.“ 2)

Bei Manteuffel hatte eine active und unternehmende anti¬

öſtreichiſche Politik noch weniger Ausſicht auf Anklang als bei

dem Könige. Mein damaliger Chef machte mir in der Diſcuſſion

der Frage unter vier Augen wohl den Eindruck, als theile er

meine boruſſiſche Entrüſtung über die geringſchätzige und verletzende

Art der Behandlung, die wir von der Politik Buol-Prokeſch er¬

fuhren. War aber die Situation bis zum Handeln gediehn, kam

es darauf an, einen wirkſamen diplomatiſchen Schritt in anti¬

öſtreichiſcher Richtung zu thun oder auch nur die Fühlung mit

1)

Vgl. Briefwechſel 216 ff.

2)

a. a. O. 222 ff. — Die weiteren Briefe Gerlach's aus den Jahren

1855–1860 ſind veröffentlicht im Bismarck-Jahrbuch II 191 ff., IV 158 ff.,

VI 83 ff.

[109/0136]

Auszüge aus Gerlachs Briefen. Miniſterkriſen.

Rußland ſo weit feſtzuhalten, daß wir dieſem bis dahin befreundeten

Nachbar gegenüber nicht direct feindlich auftraten, dann ſpitzte

ſich die Sache in der Regel dahin zu, daß eine Cabinetskriſis

zwiſchen dem Könige und dem Miniſterpräſidenten entſtand und

der erſtre dem letztern gelegentlich mit mir oder auch mit dem

Grafen Alvensleben drohte, in einem Falle auch, im Winter 1854,

mit dem Grafen Albert Pourtalès aus der Bethmann-Hollwegſchen

Coterie, obſchon deſſen Auffaſſung der auswärtigen Politik die

entgegengeſetzte von der meinigen und auch mit der des Grafen

Alvensleben ſchwerlich verträglich war.

Das Ende der Kriſis führte den König und den Miniſter ſtets

wieder zuſammen. Von den drei Gegencandidaten hatte Graf Alvens¬

leben ziemlich öffentlich erklärt, er würde unter dieſem Monarchen

nie wieder ein Amt annehmen. Der König wollte mich zu ihm

nach Erxleben ſchicken; ich rieth davon ab, weil Alvensleben mir

vor kurzem obige Erklärung mit Bitterkeit in Frankfurt wiederholt

hatte. Als wir uns ſpäter wiederſahen, war ſeine Verſtimmung

gehoben, er war geneigt, einer Aufforderung Sr. Majeſtät ent¬

gegen zu kommen, und wünſchte, daß ich in dem Falle mit ihm

eintreten möge. Der König iſt aber mir gegenüber nicht auf

Alvensleben zurückgekommen, vielleicht weil in der Zeit nach mei¬

nem Beſuche in Paris (Auguſt 1855) eine Erkältung am Hofe,

und namentlich bei Ihrer Majeſtät der Königin mir gegenüber ein¬

getreten war. Graf Pourtalès war dem Könige wegen ſeines Reich¬

thums „zu unabhängig“ 1). Der König war der Meinung, daß arme

und auf Gehalt angewieſene Miniſter gehorſamer wären. Ich

ſelbſt entzog mich der verantwortlichen Stellung unter dieſem Herrn,

wie ich konnte, und ſöhnte ihn immer wieder mit Manteuffel aus,

den ich zu dieſem Zwecke auf dem Lande (Drahnsdorf) beſuchte 2).

1)

S. u. S. 138.

2)

Vgl. die Aeußerung in der Reichstagsrede vom 6. Febr. 1888, Poli¬

tiſche Reden XII 448 f.

[110/0137]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

III.

In dieſer Situation trieb die Wochenblattspartei, wie ſie auch

genannt wurde, ein merkwürdiges Doppelſpiel. Ich erinnere mich

der umfangreichen Denkſchriften, welche die Herrn unter ſich aus¬

tauſchten und durch deren Mittheilung ſie mitunter auch mich für

ihre Sache zu gewinnen ſuchten. Darin war als ein Ziel auf¬

geſtellt, nach dem Preußen als Vorkämpfer Europas zu ſtreben

hätte, die Zerſtückelung Rußlands, der Verluſt der Oſtſeeprovinzen

mit Einſchluß von Petersburg an Preußen und Schweden, des

Geſammtgebiets der Republik Polen in ihrer größten Ausdehnung

und die Zerſetzung des Ueberreſtes durch Theilung zwiſchen Groß-

und Klein-Ruſſen, abgeſehn davon, daß faſt die Mehrheit der

Klein-Ruſſen ſchon dem Maximalgebiet der Republik Polen gehört

hatte. Zur Rechtfertigung dieſes Programms wurde mit Vor¬

liebe die Theorie des Freiherrn von Haxthauſen-Abbenburg (Studien

über die inneren Zuſtände, das Volksleben und insbeſondere die

ländlichen Einrichtungen Rußlands) benutzt, daß die drei Zonen

mit ihren einander ergänzenden Producten den hundert Millionen

Ruſſen, wenn ſie vereinigt blieben, das Uebergewicht über Europa

ſichern müßten.

Aus dieſer Theorie wurde die Nothwendigkeit der Pflege des

natürlichen Bündniſſes mit England entwickelt, mit dunkeln An¬

deutungen, daß England, wenn Preußen ihm mit ſeiner Armee

gegen Rußland diene, ſeinerſeits die preußiſche Politik in dem

Sinne, den man damals den „Gothaer“ nannte, fördern würde.

Von der angeblichen öffentlichen Meinung des engliſchen Volkes

im Bunde bald mit dem Prinzen Albert, welcher dem Könige und

dem Prinzen von Preußen unerbetene Lectionen ertheilte, bald mit

Lord Palmerſton, der im November 1851 gegen eine Deputation

radicaler Vorſtädter England als den einſichtigen Sekundanten

(judicious bottleholder) jedes für ſeine Freiheit kämpfenden Volkes

[111/0138]

Doppelſpiel der Wochenblattspartei.

bezeichnete und ſpäter in Flugſchriften den Prinzen Albert als den

gefährlichſten Gegner ſeiner befreienden Anſtrengungen denunciren

ließ, von dieſen Hülfen wurde die Geſtaltung der deutſchen Zu¬

ſtände mit Sicherheit vorhergeſagt, welche ſpäter von der Armee

des Königs Wilhelm auf den Schlachtfeldern erkämpft worden iſt.

Die Frage, ob Palmerſton oder ein andrer engliſcher Miniſter

geneigt ſein würde, Arm in Arm mit dem gothaiſirenden Liberalis¬

mus und mit der Fronde am preußiſchen Hofe Europa zu einem

ungleichen Kampfe herauszufordern und engliſche Intereſſen auf

dem Altar der deutſchen Einheitsbeſtrebungen zu opfern, — die

weitere Frage, ob England dazu ohne andern continentalen Bei¬

ſtand als den einer in coburgiſche Wege geleiteten preußiſchen

Politik im Stande ſein würde — dieſe Fragen bis an's Ende

durchzudenken, fühlte niemand den Beruf, am allerwenigſten die

Fürſprecher derartiger Experimente. Die Phraſe und die Bereit¬

willigkeit, im Partei-Intereſſe jede Dummheit hinzunehmen, deckten

alle Lücken in dem windigen Bau der damaligen weſtmächtlichen

Hofnebenpolitik. Mit dieſen kindiſchen Utopien ſpielten ſich die

zweifellos klugen Köpfe der Bethmann-Hollwegſchen Partei als

Staatsmänner aus, hielten es für möglich, den Körper von ſechzig

Millionen Groß-Ruſſen in der europäiſchen Zukunft als ein caput

mortuum zu behandeln, das man nach Belieben mißhandeln

könne, ohne daraus einen ſichern Bundesgenoſſen jedes zukünftigen

Feindes von Preußen zu machen und ohne Preußen in jedem fran¬

zöſiſchen Kriege zur Rückendeckung gegen Polen zu nöthigen, da

eine Polen befriedigende Auseinanderſetzung in den Provinzen

Preußen und Poſen und ſelbſt noch in Schleſien unmöglich iſt,

ohne den Beſtand Preußens aufzulöſen. Dieſe Politiker hielten

ſich damals nicht nur für weiſe, ſondern wurden in der liberalen

Preſſe als ſolche verehrt.

Von den Leiſtungen des Preußiſchen Wochenblatts iſt mir unter

andern eine in der Erinnerung geblieben, ein Memoire, das an¬

geblich unter dem Kaiſer Nicolaus in dem Auswärtigen Amte in

[112/0139]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

Petersburg behufs Unterweiſung des Thronfolgers ausgearbeitet

war, die in dem apokryphen, ungefähr um das Jahr 1810 in

Paris entſtandenen, Teſtamente Peters des Großen niedergelegten

Grundzüge der ruſſiſchen Politik auf die Gegenwart anwendet und

Rußland mit einer gegen alle Staaten gerichteten Minirarbeit zum

Zwecke der Weltherrſchaft beſchäftigt erſcheinen läßt. Es iſt mir

ſpäter mitgetheilt worden, daß dieſes in die ausländiſche, nament¬

lich die engliſche Preſſe übergegangene Elaborat von Conſtantin

Frantz geliefert war.

Während Goltz und ſeine Berliner Genoſſen ihre Sache mit

einem gewiſſen Geſchick betrieben, von welchem der erwähnte Artikel

eine Probe iſt, war Bunſen, Geſandter in London, ſo unvorſichtig,

im April 1854 dem Miniſter Manteuffel eine lange Denkſchrift

einzuſenden, welche die Herſtellung Polens, die Ausdehnung Oeſt¬

reichs bis in die Krim, die Verſetzung der Erneſtiniſchen Linie auf

den ſächſiſchen Königsthron und dergleichen mehr forderte und die

Mitwirkung Preußens für dieſes Programm empfahl. Gleichzeitig

hatte er nach Berlin gemeldet, die engliſche Regirung würde mit

der Erwerbung der Elbherzogthümer durch Preußen einverſtanden

ſein, wenn letztres ſich den Weſtmächten anſchließen wolle, und in

London hatte er zu verſtehn gegeben, daß die preußiſche Regirung

dazu unter der bezeichneten Gegenleiſtung bereit ſei 1). Zu beiden Er¬

klärungen war er nicht ermächtigt. Das war denn doch dem Könige,

als er dahinter kam, zu viel, ſo ſehr er Bunſen liebte. Er ließ ihn

durch Manteuffel anweiſen, einen langen Urlaub zu nehmen, der

dann in den Ruheſtand überging. In der von der Familie heraus¬

gegebenen Biographie Bunſen's iſt jene Denkſchrift, mit Weglaſſung

der ärgſten Stellen, aber ohne Andeutung von Lücken, abgedruckt

und die amtliche Correſpondenz, die mit der Beurlaubung endigte,

in einſeitiger Färbung wiedergegeben. Ein im Jahre 1882 in die

Preſſe gelangter Brief des Prinzen Albert an den Freiherrn von Stock¬

1)

Vgl. Sybel, Die Begründung des Deutſchen Reichs II 181.

[113/0140]

Ein gefälſchtes Memoire. Denkſchrift Bunſens.

mar, in welchem „der Sturz Bunſens“ aus einer ruſſiſchen Intrigue

erklärt und das Verhalten des Königs ſehr abfällig beurtheilt wird,

gab Veranlaſſung, den vollſtändigen Text der Denkſchrift und, immer

noch mit Schonung, den wahren Hergang der Sache nach den

Akten zu veröffentlichen („Deutſche Revue“ 1882, S. 152 ff.).

In die Pläne der Ausſchlachtung Rußlands hatte man den

Prinzen von Preußen nicht eingeweiht. Wie es gelungen, ihn für

eine Wendung gegen Rußland zu gewinnen, ihn, der vor 1848

ſeine Bedenken gegen die liberale und nationale Politik des Königs

nur in den Schranken brüderlicher Rückſicht und Unterordnung

geltend gemacht hatte, zu einer ziemlich activen Oppoſition gegen

die Regirungspolitik zu bewegen, trat in einer Unterredung her¬

vor, die ich mit ihm in einer der Kriſen hatte, in welchen mich

der König zum Beiſtande gegen Manteuffel nach Berlin berufen

hatte. Ich wurde gleich nach meiner Ankunft zu dem Prinzen be¬

fohlen, der mir in einer durch ſeine Umgebung erzeugten Gemüths¬

erregung den Wunſch ausſprach, ich ſolle dem Könige im weſt¬

mächtlichen und antiruſſiſchen Sinne zureden. Er ſagte: „Sie

ſehn ſich hier zwei ſtreitenden Syſtemen gegenüber, von denen das

eine durch Manteuffel, das andre, ruſſenfreundliche, durch Gerlach

und den Grafen Münſter in Petersburg vertreten iſt. Sie kommen

friſch hierher, ſind von dem Könige gewiſſermaßen als Schiedsmann

berufen. Ihre Meinung wird daher den Ausſchlag geben, und ich

beſchwöre Sie, ſprechen Sie ſich ſo aus, wie es nicht nur die

europäiſche Situation, ſondern auch ein richtiges Freundesintereſſe

für Rußland erfordert. Rußland ruft ganz Europa gegen ſich auf

und wird ſchließlich unterliegen. Alle dieſe prächtigen Truppen,“ —

es war dies nach den für die Ruſſen nachtheiligen Schlachten vor

Sebaſtopol — „alle unſre Freunde, die dort geblieben ſind,“ —

er nannte mehre — „würden noch leben, wenn wir richtig ein¬

gegriffen und Rußland zum Frieden gezwungen hätten.“ Es würde

damit enden, daß Rußland, unſer alter Freund und Bundesgenoſſe,

vernichtet oder in gefährlicher Weiſe geſchädigt würde. Unſre, von

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 8

[114/0141]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

der Vorſehung gegebene Aufgabe ſei es, den Frieden dictatoriſch

herbeizuführen und unſern Freund auch gegen ſeinen Willen zu

retten.

In dieſer Form etwa hatten Goltz, Albert Pourtalès und

Uſedom in ihrer auf den Sturz Manteuffel's berechneten Politik die

Preußen gegen Rußland zugedachte Rolle dem Prinzen annehmbar

gemacht, wobei die Abneigung der Prinzeſſin, ſeiner Gemalin, gegen

Rußland ihnen behülflich geweſen ſein wird.

Um ihn aus dieſem Gedankenkreiſe loszumachen, ſtellte ich ihm

vor, daß wir abſolut keinen eignen Kriegsgrund gegen Rußland

hätten und kein Intereſſe an der orientaliſchen Frage, das einen

Krieg mit Rußland oder auch nur das Opfer unſrer langjährigen

guten Beziehungen zu Rußland rechtfertigen könnte; im Gegentheil,

jeder ſiegreiche Krieg gegen Rußland unter unſrer nachbarlichen

Betheiligung belade uns nicht nur mit dem dauernden Revanche¬

gefühl Rußlands, das wir ohne eignen Kriegsgrund angefallen,

ſondern zugleich mit einer ſehr bedenklichen Aufgabe, nämlich die

polniſche Frage in einer für Preußen erträglichen Form zu löſen.

Wenn eigne Intereſſen keinenfalls für, eher gegen einen Bruch

mit Rußland ſprächen, ſo würden wir den bisherigen Freund und

immerwährenden Nachbar, ohne daß wir provocirt wären, ent¬

weder aus Furcht vor Frankreich oder im Liebesdienſte Englands

und Oeſtreichs angreifen. Wir würden die Rolle eines indiſchen

Vaſallenfürſten übernehmen, der im engliſchen Patronat engliſche

Kriege zu führen hat, oder die des York'ſchen Corps beim Aus¬

marſch zum Kriege 1812, wo die damals berechtigte Furcht vor

Frankreich uns zu deſſen gehorſamen Bundesgenoſſen zwangsweis

gemacht hatte.

Den Prinzen verletzte mein Ausdruck, mit zorniger Röthe unter¬

brach er mich mit den Worten: „Von Vaſallen und Furcht iſt

hier garkeine Rede.“ Er brach aber die Unterredung nicht ab.

Wer einmal ſein Vertrauen hatte und in ſeiner Gnade ſtand,

konnte ihm gegenüber ſehr frei von der Leber ſprechen, ſogar heftig

[115/0142]

Unterredung mit dem Prinzen v. Preußen. Depeſchendiebſtahl.

werden. Ich nahm an, daß es mir nicht gelungen ſei, die Auf¬

faſſung, der ſich der Prinz unter häuslichem, engliſchem und

Bethmann-Hollwegſchem Einfluß ehrlich überlaſſen hatte, zu er¬

ſchüttern. Gegen den Einfluß der letztern Partei wäre ich auch

bei ihm wohl durchgedrungen, aber gegen den der Frau Prinzeſſin

konnte ich nicht aufkommen.

Während des Krimkrieges und, wenn ich mich recht erinnere,

aus Anlaß deſſelben wurde ein lange betriebener Depeſchendiebſtahl

ruchbar. Ein verarmter Polizeiagent 1), der vor Jahren ſeine Ge¬

ſchicklichkeit dadurch bewieſen hatte, daß er, während der Graf

Breſſon franzöſiſcher Geſandter in Berlin war, Nachts durch die

Spree geſchwommen, in die Villa des Grafen in Moabit ein¬

gebrochen war und ſeine Papiere abgeſchrieben hatte, wurde von

dem Miniſter Manteuffel dazu angeſtellt, ſich durch beſtochne Diener

Zugang zu den Mappen zu verſchaffen, in denen die eingegangnen

Depeſchen und die durch deren Leſung veranlaßte Correſpondenz zwi¬

ſchen dem Könige, Gerlach und Niebuhr hin und her ging, und

von dem Inhalte derſelben Abſchrift zu nehmen. Von Manteuffel

mit preußiſcher Sparſamkeit bezahlt, ſuchte er nach weitrer Ver¬

werthung ſeiner Bemühungen und fand eine ſolche durch Vermitt¬

lung des Agenten Haſſenkrug zunächſt bei dem franzöſiſchen Ge¬

ſandten Mouſtier, dann auch bei andern Leuten 2).

Zu den Kunden des Agenten gehörte auch der Polizeipräſident

von Hinckeldey. Dieſer kam eines Tages zu dem General von

Gerlach mit der Abſchrift eines Briefes, in welchem dieſer an

Jemanden, wahrſcheinlich an Niebuhr, geſchrieben hatte: „Nun der

König mit hohem Beſuch in Stolzenfels ſei, hätten ſich die und die,

darunter Hinckeldey, dorthin begeben; die Bibel ſage, wo das Aas

iſt, da ſammeln ſich die Adler; jetzt könne man ſagen, wo der

Adler iſt, da ſammelt ſich das Aas.“ Hinckeldey ſtellte den General

1)

Tächen.

2)

Vgl. Gerlach's Denkwürdigkeiten II 346 ff.

[116/0143]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

zur Rede und antwortete auf des Generals Frage, wie er zu

dieſem Briefe komme: „Der Brief koſtet mich 30 Thaler.“ — „Wie

verſchwenderiſch!“ erwiderte Gerlach, „für 30 Thaler hätte ich

Ihnen zehn ſolche Briefe geſchrieben!“

IV.

Meine amtlichen Aeußerungen über die Theilnahme Preußens

an den Friedensverhandlungen in Paris (Preußen im Bundestage

Theil II, S. 312–317, 337–339, 350) werden ergänzt durch

folgendes Schreiben an Gerlach.

„Frankfurt, 11. Februar 1856.

Ich hatte immer noch gehofft, daß wir eine feſtere Stellung

annehmen würden, bis man ſich entſchlöſſe, uns zu den Conferenzen

einzuladen, und daß wir in einer ſolchen verharren würden, wenn

die Einladung garnicht erfolgt. Es war dieß meines Erachtens

das einzige Mittel, unſre Zuziehung durchzuſetzen. Nach den mir

geſtern zugegangnen Inſtructionen wollen wir aber d'emblée auf

eine Faſſung mit mehr oder weniger Vorbehalt eingehn, die uns

und den Bund zur Aufrechterhaltung der Präliminarien verpflichtet.

Hat man das erſt von uns in Händen, nachdem ſogar die Weſt¬

mächte und Oeſtreich bisher nur ein ‚projet‘ von Präliminarien

unterzeichnet haben, warum ſoll man ſich dann noch auf den

Conferenzen mit uns bemühn; man wird viel lieber unſre und der

übrigen Mittelſtaaten am Bunde gegebne Adhäſion in unſrer

Abweſenheit nach Bedürfniß und Belieben ausbeuten und benutzen

in dem Bewußtſein, daß man nur zu fordern braucht, und wir

geben uns. Wir ſind zu gut für dieſe Welt. Es kommt mir nicht

zu, die Entſchlüſſe Sr. Majeſtät und meines Chefs zu kritiſiren,

nachdem ſie gefaßt ſind; (12. Febr.) aber die Kritik vollzieht ſich

in mir ohne mein Zuthun; ich habe die erſten 24 Stunden nach

[117/0144]

Ein Brief an L. v. Gerlach.

Empfang jener Chamade ſchlagenden Inſtruction unter fortwähren¬

den Anfällen gallichten Erbrechens gelitten, und ein mäßiges Fieber

verläßt mich keinen Augenblick. Ich finde nur in der Erinnerung

an den Frühling 1848 das Analogon meiner körperlichen und

geiſtigen Stimmung, und je mehr ich mir die Situation klar mache,

um ſo weniger entdecke ich etwas, woran mein Preußiſches Ehr¬

gefühl ſich aufrichten könnte. Vor acht Tagen ſchien mir noch alles

nied- und nagelfeſt, und ich ſelbſt bat Manteuffel, Oeſtreich die

Auswahl zwiſchen zwei für uns annehmbaren Vorſchlägen zu

laſſen, ließ mir aber nicht träumen, daß Graf Buol ſie beide

verwerfen und uns auf ſeine eigne Vorlage auch die Antwort

vorſchreiben werde, die wir zu geben haben. Ich hatte gehofft,

daß wir, wie auch ſchließlich unſre Antwort ausfallen möge, uns

doch nicht gefangen geben würden, bevor unſre Zuziehung zu den

Conferenzen geſichert wäre. Wie ſtellt ſich aber unſre Lage jetzt

heraus? Viermal hat Oeſtreich in zwei Jahren das Spiel gegen

uns durchgeführt, daß es den ganzen Grund, auf dem wir ſtanden,

von uns forderte und wir nach einigem Sperren die Hälfte oder

ſo etwas abtraten. Jetzt geht es aber um den letzten Quadrat¬

fuß, auf dem noch eine Preußiſche Aufſtellung möglich blieb.

Durch ſeine Erfolge übermüthig gemacht, fordert Oeſtreich nicht

nur, daß wir, die wir uns eine Großmacht nennen und auf dua¬

liſtiſche Gleichberechtigung Anſpruch machen, ihm dieſen letzten Reſt

von unabhängiger Stellung opfern, ſondern ſchreibt uns auch den

Ausdruck vor, in dem wir unſre Abdication unterzeichnen ſollen,

gebietet uns eine unanſtändige nach Stunden bemeſſene Eile und

verſagt uns jedes Aequivalent, welches ein Pflaſter für unſre

Wunden abgeben könnte. Nicht einmal ein Amendement in der

Erklärung, die Preußen und Deutſchland geben ſollen, getrauen wir

uns entſchieden aufzuſtellen. Pfordten macht die Sache mit Oeſt¬

reich ab, indem er glaubt, Preußens Einverſtändniß vorausſetzen

zu dürfen, und wenn Baiern geſprochen hat, ſo iſt es für Preußen

res judicata. Bei ähnlichen Gelegenheiten der letzten beiden Jahre

[118/0145]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

ſtellten wir, wenigſtens von Hauſe aus, bei den deutſchen Höfen

ein Preußiſches Programm auf, und keiner von ihnen entſchied

ſich, bevor wir uns nicht mit Oeſtreich verſtändigt hatten. Jetzt

verſtändigt ſich Baiern mit Wien, und wir fügen uns im Rummel

mit Darmſtadt und Oldenburg. Damit geben wir das letzte her,

was man einſtweilen von uns braucht, und hat man den Bundes¬

beſchluß einſchließlich des Preußiſchen Votums erſt in der Taſche,

ſo werden wir bald ſehn, wie Buol mit achſelzuckendem Bedauern

von der Unmöglichkeit ſpricht, den Widerſpruch der Weſtmächte

gegen unſre Zulaſſung zu überwinden. Auf Rußlands Unterſtützung

können wir dabei, meinem Gefühl nach, nicht rechnen, denn den

Ruſſen wird die Verſtimmung ganz lieb ſein, die bei uns folgen

muß, wenn wir den letzten Reſt unſrer Politik für ein Entree-

Billet zu den Conferenzen hergegeben haben. Außerdem fürchten

die Ruſſen ſich offenbar mehr vor unſrer „vermittelnden“ Unter¬

ſtützung der gegneriſchen Politik, als daß ſie irgend einen Bei¬

ſtand von uns auf den Conferenzen erwarteten. Meine Geſpräche

mit Brunnow und Petersburger Briefe, die ich geſehn, laſſen mir

darüber, trotz aller diplomatiſchen Schlauheit des erſtern, keinen

Zweifel.

Das einzige Mittel, unſre Theilnahme an den Conferenzen

durchzuſetzen, iſt und bleibt die Zurückhaltung unſrer Erklärung

über die öſtreichiſche Vorlage hier. Was ſoll man noch mit einem

preußiſchen Quärulanten auf den Conferenzen, wenn man den

Bundesbeſchluß und damit uns, erſt in der Taſche hat? Oeſtreich

wird ihn ſchon auszulegen wiſſen, wenn nur nicht da ſind. Aus

der öſtreichiſchen Regirungspreſſe und aus dem Verhalten Rech¬

berg's geht klar hervor, daß ſie ſchon jetzt den dürftigen Vorbehalt

in dem Oeſtreichiſch-Bairiſchen Entwurf ausdrücklich auf Artikel V *)

*)

Les puissances belligérantes réservent le droit qui leur appartient

de produire dans un intérêt européen des conditions particulières en sus

des quatre conditions.

[119/0146]

Brief an L. v. Gerlach.

einſchränken. Ueber die conditions particulières, welche von den

kriegführenden Mächten werden aufgeſtellt werden, bleibt uns

und dem Bunde das freie Urtheil vorbehalten, in Betreff der von

Oeſtreich aufzuſtellenden aber nicht, und was die Interpretation der

4 Punkte anbelangt, ſo iſt die Annahme, daß darüber Preußen

und Deutſchland ſich im Voraus der Auffaſſung ihrer ſie ver¬

tretenden Schutzmacht Oeſtreich anſchließen, dadurch gerechtfertigt,

daß unſer früher deßhalb begehrter Vorbehalt von Baiern und

Oeſtreich abgelehnt iſt, und nur uns dabei beruhigt haben.

Dieſe ganze Berechnung zerreißen wir, wenn wir hier jetzt

ablehnen, uns auszuſprechen, bis unſrer Anſicht nach die Zeit dazu

gekommen ſein wird. So lange wir dieſe Haltung annehmen,

bedarf man unſer noch und wird um uns werben. Man wird

hier auch ſchwerlich den Verſuch machen, uns zu majoriſiren; ſelbſt

Sachſen und Baiern ſtehn nur in der ,Vorausſeßung‘ unſres Ein¬

verſtändniſſes zu dem dermaligen öſtreichiſchen Entwurfe; ſie haben

ſich daran gewöhnt, daß wir ſchließlich nachlaſſen, und deßhalb er¬

lauben ſie ſich ſolche Vorausſetzungen. Wenn wir aber den Muth

unſrer Meinung haben, wird man es auch der Mühe werth finden,

bei Entſcheidungen über deutſche Politik die Erklärung Preußens

abzuwarten. Wenn wir feſt auf Aufſchub des Beſchluſſes ver¬

harren und das den deutſchen Höfen erklären, ſo ſteht uns noch

heut eine gute Majorität zur Seite, ſelbſt wenn, was nicht der

Fall ſein wird, Sachſen und Baiern ſich ſchon mit Kopf und

Kragen an Buol verkauft hätten.

Wollen wir es darauf nicht ankommen laſſen, ſo müſſen wir

uns auch darauf gefaßt machen, daß Sardinien und die Türkei

in Paris ſelbſtändig über die Wahrung der deutſchen Intereſſen

in den beiden vom Bunde angeeigneten Punkten berathen, während

wir durch Oeſtreich dabei vertreten werden. Und wir werden nicht

einmal die erſten in dem Schweife Oeſtreichs ſein, denn Graf Buol

wird ſich bei Erfüllung ſeines präſumtiven Mandats für Deutſch¬

land noch eher bei Pfordten und Beuſt Rath holen, als bei Man¬

[120/0147]

Fünftes Kapitel: Wochenblattspartei. Krimkrieg.

teuffel, den er perſönlich haßt, und wenn er Sachſen und Baiern

für ſich hat, ſo wird er auf Widerſpruch Preußens nach dem

Bundesbeſchluß noch weniger rechnen als vorher.

Wäre es ſolchen Eventualitäten nicht bei weitem vorzuziehn,

daß wir als europäiſche Macht direct mit Frankreich und England

über unſern Beitritt unterhandelt hätten, als daß wir es wie einer,

der nicht sui juris iſt, unter Oeſtreichs Vormundſchaft thun und

nur noch als Pfeil in Buol's Köcher auf der Conferenz in Rech¬

nung kommen? 1)... v. B.“

Der Eindruck, daß wir in den Formen wie in der Sache von

Oeſtreich geringſchätzig behandelt wurden, wie er ſich in vorſtehen¬

dem Schreiben ausſpricht, und daß wir uns dieſe geringſchätzige

Behandlung nicht gefallen laſſen dürften, iſt nicht ohne Folgen

geblieben für die ſpätere Geſtaltung der preußiſch-öſtreichiſchen Be¬

ziehungen.

1)

Fortſetzung ſ. in Horſt Kohl, Bismarcks Briefe an den General Leo

pold v. Gerlach S. 281 f.

[[121]/0148]

Sechſtes Kapitel.

Sansſouci und Coblenz.

Daß die Denkſchriften, welche die Goltzſche Fraction als

Kampfmittel gegen Manteuffel bei dem Könige und dem Prinzen

von Preußen verwerthen und dann in der Preſſe und durch fremde

Diplomaten ausnutzen ließ, nicht ohne Eindruck auf den Prinzen

geblieben waren, erkannte ich unter Anderm daran, daß ich bei ihm

auf die Haxthauſenſche Theorie von den drei Zonen 1)ſtieß.

Wirkſamer noch als durch die politiſchen Argumentationen der

Bethmann-Hollwegſchen Coterie wurde der Prinz von ſeiner Ge¬

malin im weſtmächtlichen Sinne beeinflußt und in eine Art von

Oppoſitionsſtellung gegen den Bruder gebracht, die ſeinen mili¬

täriſchen Inſtincten fern lag. Die Prinzeſſin Auguſta hat aus

ihrer weimariſchen Jugendzeit bis an ihr Lebensende den Eindruck

bewahrt, daß franzöſiſche und noch mehr engliſche Autoritäten und

Perſonen den einheimiſchen überlegen ſeien. Sie war darin echt

deutſchen Blutes, daß ſich an ihr unſre nationale Art bewährte,

welche in der Redensart ihren ſchärfſten Ausdruck findet: „Das

iſt nicht weit her, taugt alſo nichts.“ Trotz Goethe, Schiller und

allen andern Größen in den elyſeiſchen Gefilden von Weimar war

doch dieſe geiſtig hervorragende Reſidenz nicht frei von dem Alp,

der bis zur Gegenwart auf unſerm Nationalgefühl gelaſtet hat:

daß ein Franzoſe und vollends ein Engländer durch ſeine Natio¬

1)

S. o. S. 110.

[122/0149]

Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz.

nalität und Geburt ein vornehmeres Weſen ſei als der Deutſche,

und daß der Beifall der öffentlichen Meinung von Paris und

London ein authentiſcheres Zeugniß des eignen Werthes bilde, als

unſer eignes Bewußtſein. Die Kaiſerin Auguſta iſt trotz ihrer

geiſtigen Begabung und trotz der Anerkennung, welche die Bethäti¬

gung ihres Pflichtgefühls auf verſchiednen Gebieten bei uns ge¬

funden hat, doch von dem Druck dieſes Alps niemals vollſtändig

frei geworden; ein ſichrer Franzoſe mit geläufigem Franzöſiſch *)

imponirte ihr, und ein Engländer hatte bis zum Gegenbeweiſe die

Vermuthung für ſich, daß er in Deutſchland als vornehmer Mann

zu behandeln ſei. So ward es in Weimar vor 70 Jahren gehalten,

und der Nachgeſchmack davon hat ſich mir in meiner amtlichen

Thätigkeit oft genug fühlbar gemacht. Wahrſcheinlich hat in der

Zeit, von der die Rede iſt, auch das Streben nach der engliſchen

Heirath ihres Sohnes die Prinzeſſin von Preußen in der Richtung

beſtärkt, in welche Goltz und ſeine Freunde ihren Gemal zu ziehn

ſuchten.

Der Krimkrieg brachte die von Kind auf gewurzelte, früher

äußerlich nicht hervorgetretene Abneigung der Prinzeſſin gegen alles

Ruſſiſche zur Erſcheinung. Auf den Bällen Friedrich Wilhelm's III.,

wo ich ſie als junge und ſchöne Frau zuerſt geſehn habe, pflegte

ſie in der Wahl der Tänzer Diplomaten, wohl auch ruſſiſche, zu

begünſtigen und unter ihnen ſolche, welche mehr für die Unter¬

haltung als für den Tanz begabt waren, die Glätte des Parkets

verſuchen zu laſſen. Ihre ſpäter ſichtbar und wirkſam gewordene

Abneigung gegen Rußland iſt pſychologiſch ſchwer zu erklären. Die

Erinnerung an die Ermordung ihres Großvaters, des Kaiſers Paul,

hatte ſchwerlich ſo nachhaltig gewirkt. Näher liegt die Vermuthung

der Nachwirkung eines Diſſenſes zwiſchen der hochbegabten, ſocial

und politiſch ruſſiſchen Mutter, der Großherzogin von Weimar,

und ihren ruſſiſchen Beſuchern und dem lebhaften Temperament

*)

Ihr Vorleſer (Gérard) galt als franzöſiſcher Spion!

[123/0150]

Prinzeſſin Auguſta, Sympathien und Antipathien.

einer erwachſenen und zur Uebernahme der Führung in ihrem Kreiſe

geneigten Tochter; vielleicht auch die Vermuthung einer Idioſynkraſie

gegen die präpotente Perſönlichkeit des Kaiſers Nicolaus. Gewiß

iſt, daß der antiruſſiſche Einfluß dieſer hohen Frau auch in den

Zeiten, wo ſie Königin und Kaiſerin war, mir die Durchführung

der von mir für nothwendig erkannten Politik bei Sr. Majeſtät

häufig erſchwert hat.

Weſentliche Hülfe leiſtete der Bethmann-Hollwegſchen Fraction

Herr von Schleinitz, der Specialpolitiker der Prinzeſſin, der auch

ſeinerſeits zum Kampfe gegen Manteuffel dadurch veranlaßt war,

daß er aus dem gutſituirten, aber nicht ſehr fleißig beſorgten Poſten

von Hanover aus dienſtlichen Gründen unter Umſtänden der Art

entlaſſen war, daß ihm das Wartegeld als Geſandter erſt, nachdem

er Miniſter geworden, nachträglich ausgezahlt wurde. Als Sohn

eines braunſchweigiſchen Miniſters und als gewerbsmäßiger Diplo¬

mat an das Hofleben und die äußern Vorzüge des auswärtigen

Dienſtes gewöhnt, ohne Vermögen, dienſtlich verſtimmt, bei der

Prinzeſſin aber in Gnaden ſtehend, wurde er natürlich von den

Gegnern Manteuffel's geſucht und ſchloß ſich ihnen bereitwillig an.

Er wurde der erſte auswärtige Miniſter der neuen Aera und ſtarb

als Hausminiſter der Kaiſerin Auguſta.

Beim Frühſtück — und dieſe Gewohnheit des Prinzen wurde

auch vom Kaiſer Wilhelm beibehalten — hielt die Prinzeſſin ihrem

Gemal Vortrag unter Vorlegung von Briefen und Zeitungsartikeln,

die zuweilen ad hoc redigirt worden waren. Andeutungen, die ich

mir gelegentlich geſtattete, daß gewiſſe Briefe auf Veranſtaltung

der Königin durch Herrn von Schleinitz hergeſtellt und beſchafft

ſein könnten, trugen mir eine ſehr ſcharfe Zurückweiſung zu. Der

König trat mit ſeinem ritterlichen Sinne unbedingt für ſeine Ge¬

malin ein, auch wenn der Anſchein einleuchtend gegen ſie war.

Er wollte gewiſſermaßen verbieten, dergleichen zu glauben, auch

wenn es wahr wäre.

Ich habe es nie für die Aufgabe eines Geſandten bei befreun¬

[124/0151]

Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz.

deten Höfen gehalten, jedes verſtimmende Detail nach Hauſe zu

melden; namentlich als ich in Petersburg mit einem Vertrauen

beehrt wurde, welches ich fremden Diplomaten in Berlin zu ge¬

währen für bedenklich gehalten haben würde. Jede zur Erregung

von Verſtimmung zwiſchen uns und Rußland geeignete Meldung

würde bei der damals und in der Regel antiruſſiſchen Politik der

Königin zur Lockerung unſrer ruſſiſchen Beziehungen ausgenutzt

worden ſein, ſei es aus Abneigung gegen Rußland und aus vor¬

übergehenden Popularitätsrückſichten, ſei es aus Wohlwollen für

England und in der Vorausſetzung, daß Wohlwollen für England

und ſelbſt für Frankreich einen höhern Grad von Civiliſation und

Bildung anzeige als Wohlwollen für Rußland.

Nachdem der Prinz von Preußen im Jahre 1849 als Gouver¬

neur der Rheinprovinz ſeine Reſidenz dauernd nach Coblenz verlegt

hatte, conſolidirte ſich allmählich die gegenſeitige Stellung der beiden

Höfe von Sansſouci und Coblenz zu einer occulten Gegnerſchaft,

in welcher auch auf der königlichen Seite das weibliche Element

mitſpielte, jedoch in geringerem Maße als auf der prinzlichen. Der

Einfluß der Königin Eliſabeth zu Gunſten Oeſtreichs, Baierns,

Sachſens war ein unbefangner und unverhehlter, ein Ergebniß der

Solidarität, welche die Uebereinſtimmung der Anſchauungen und

die verwandſchaftlichen Familienſympathien naturgemäß hervor¬

brachten. Zwiſchen der Königin und dem Miniſter von Manteuffel

beſtand keine perſönliche Sympathie, wie ſchon die Verſchiedenheit

der Temperamente es mit ſich brachte; gleichwohl ging die Ein¬

wirkung Beider auf den König nicht ſelten und namentlich in

kritiſchen Momenten gleichmäßig in der Richtung des öſtreichiſchen

Intereſſes, doch von Seiten der Königin in entſcheidenden Augen¬

blicken nur bis zu gewiſſen Grenzen, welche die eheliche und fürſt¬

liche Empfindung im Intereſſe der Krone des Gemals ihr zogen.

Die Sorge für des Königs Anſehn trat namentlich in kritiſchen

Momenten hervor, wenn auch weniger in der Geſtalt einer Ermuthi¬

gung zum Handeln, als in der einer weiblichen Scheu vor den

[125/0152]

Gegnerſchaft der Höef von Sansſouci und Coblenz.

Conſequenzen der eignen Anſchauungen und daraus hervorgehender

Enthaltſamkeit von fernerer Einwirkung.

In der Prinzeſſin entwickelte ſich während der Coblenzer Zeit

noch eine Neigung, welche bei ihrer politiſchen Thätigkeit mitwirkte

und ſich bis an ihr Lebensende erhielt.

Der für den norddeutſchen und namentlich für den Gedanken¬

kreis einer kleinen Stadt in Mitten rein proteſtantiſcher Bevölkerung

fremdartige Katholicismus hatte etwas Anziehendes für eine Fürſtin,

die überhaupt das Fremde mehr intereſſirte, als das Näherliegende,

Alltägliche, Hausbackne. Ein katholiſcher Biſchof erſchien vornehmer

als ein General-Superintendent. Ein gewiſſes Wohlwollen für die

katholiſche Sache, welches ihr ſchon früher eigen und z. B. in der

Wahl ihrer männlichen Umgebung und Dienerſchaft erkennbar war,

wurde durch ihren Aufenthalt in Coblenz vollends entwickelt. Sie

gewöhnte ſich daran, die localen Intereſſen des alten Krummſtab-

Landes und ſeiner Geiſtlichkeit als ihrer Fürſorge beſonders zu¬

gewieſen anzuſehn und zu vertreten. Das moderne confeſſionelle

Selbſtgefühl auf dem Grunde geſchichtlicher Tradition, das in dem

Prinzen die proteſtantiſche Sympathie nicht ſelten mit Schärfe

hervortreten ließ, war ſeiner Gemalin fremd. Welchen Erfolg ihr

Bemühn um Popularität im Rheinlande gehabt hatte, zeigte ſich

u. A. darin, daß der Graf v. d. Recke-Volmerſtein mir am 9. Oc¬

tober 1863 ſchrieb, wohlgeſinnte Leute am Rhein riethen, der König

möge nicht zum Dombaufeſt kommen, ſondern lieber I. Majeſtät

ſchicken, „die mit Enthuſiasmus würde empfangen werden“. Ein

Beiſpiel der wirkſamen Energie, mit der ſie die Wünſche der Geiſt¬

lichkeit vertrat, lieferte die Modification, zu welcher der Bau der

ſogenannten Metzer Eiſenbahn genöthigt wurde, weil die Geiſt¬

lichkeit ſich eines katholiſchen Kirchhofs, der berührt werden ſollte,

angenommen hatte und darin von der Kaiſerin ſo erfolgreich unter¬

ſtützt wurde, daß die Richtung geändert und ſchwierige Bauten

ad hoc hergeſtellt wurden.

Unter dem 27. October 1877 ſchrieb mir der Staatsſekretär

[126/0153]

Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz.

von Bülow, die Kaiſerin habe von dem Miniſter Falk eine Reiſe¬

unterſtützung für einen ultramontanen Maler verlangen laſſen, der

nicht nur ſelbſt nicht darum bitten wolle, ſondern mit Gemälden

zur Verherrlichung von Marpingen beſchäftigt ſei. Unter dem

25. Januar 1878 berichtete er mir: „Vor ſeiner Abreiſe (nach

Italien) hat der Kronprinz eine ſehr heftige Scene mit der Kaiſerin

gehabt, welche verlangte, daß er, der künftige Herrſcher über acht

Millionen Katholiken, den alten ehrwürdigen Papſt beſuchen ſolle.

Als der Kronprinz nach der Rückkehr ſich beim Kaiſer meldete, war

auch die Kaiſerin (aus ihren Zimmern) hinuntergekommen. Als

das Geſpräch eine Wendung nahm, die ihr nicht gefiel, betreffend

die Stellung des Königs Humbert, und dann ſtockte, iſt ſie mit

den Worten aufgeſtanden: ,Il paraît que je suis de trop ici‘,

und der Kaiſer hatte dann ganz wehmüthig zum Kronprinzen ge¬

ſagt: ,Ueber dieſe Dinge iſt Deine Mutter in dieſer Zeit wieder

unzurechnungsfähig.‘“

Zu den Nebenwirkungen, durch welche dieſe höfiſchen Kämpfe

complicirt wurden, gehörte auch das Mißverhältniß, in das die

Prinzeſſin mit dem Oberpräſidenten von Kleiſt-Retzow gerieth, der

das Erdgeſchoß des Schloſſes unter der prinzlichen Wohnung inne

hatte und an ſich, als äußre Erſcheinung, als Redner der äußerſten

Rechten und durch ſeine ländliche Gewohnheit, häusliche Andachten

mit Geſang täglich mit ſeinen Hausgenoſſen abzuhalten, der Prin¬

zeſſin läſtig fiel. Mehr an amtliche als an höfiſche Beziehungen

gewöhnt, betrachtete der Oberpräſident ſeine Exiſtenz im Schloſſe

und im Schloßgarten als eine Vertretung der königlichen Prärogative

im Gegenhalt zu angeblichen Uebergriffen des prinzlichen Haushalts

und glaubte ehrlich, dem Könige, ſeinem Herrn, etwas zu ver¬

geben, wenn er der Gemalin des Thronerben gegenüber in Betreff

der wirthſchaftlichen Nutzung häuslicher Locale die oberpräſidialen

Anſprüche gegen die des prinzlichen Hofes nicht energiſch vertrat.

Der Chef des Generalſtabs von Sansſouci war, nachdem der

General von Rauch geſtorben, Leopold von Gerlach, und ſeine Bei¬

[127/0154]

Gegnerſchaft der Höfe von Sansſouci und Coblenz.

ſtände, aber nicht immer, mitunter auch ſeine Rivalen, waren der

Cabinetsrath Niebuhr und Edwin von Manteuffel, während des

Krimkrieges auch der Graf Münſter. Zu der Camarilla waren

außerdem zu rechnen der Graf Anton Stolberg, der Graf Friedrich

zu Dohna und der Graf von der Gröben.

An dem prinzlichen Hofe hatte das ſtaatliche Intereſſe in der

Abwehr von Schädigungen durch weibliche Einflüſſe einen feſten

und klugen Vertreter an Guſtav von Alvensleben, der an dem

Frieden zwiſchen beiden Höfen nach Kräften arbeitete, ohne mit

den politiſchen Maßregeln der Regirung einverſtanden zu ſein.

Er theilte meine Anſicht von der Nothwendigkeit, die Frage der

preußiſch-öſtreichiſchen Rivalität auf dem Schlachtfelde zu ent¬

ſcheiden, weil ſie in andrer Weiſe unlösbar ſei. Er, der das

vierte Corps bei Beaumont und Sedan führte, und ſein Bruder

Conſtantin, deſſen ſelbſtändig gefaßten Entſchlüſſe bei Vionville

und Mars la Tour die franzöſiſche Rheinarmee vor Metz zum Stehn

brachten, waren Muſterbilder von Generalen. Wenn ich ihn ge¬

legentlich nach ſeiner Meinung über den Ausgang einer erſten

Hauptſchlacht zwiſchen uns und den Oeſtreichern fragte, ſo ant¬

wortete er: „Wir laufen ſie über, daß ſie die Beine gen Himmel

kehren.“ Und ſeine Zuverſicht hat dazu beigetragen, mir in den

ſchwierigen Entſchließungen von 1864 und 1866 den Muth zu

ſtärken. Der Antagonismus, in dem ſein lediglich durch ſtaat¬

liche und patriotiſche Erwägungen beſtimmter Einfluß auf den

Prinzen mit dem der Prinzeſſin ſtand, brachte ihn zuweilen in eine

Erregung, der er in Worten Luft machte, die ich nicht wieder¬

holen will, die aber die ganze Entrüſtung des patriotiſchen Sol¬

daten über politiſirende Damen in einer die Strafgeſetze ſtreifenden

Sprache zum Ausdruck brachten. Daß der Prinz dieſen ſeinen Ad¬

jutanten ſeiner Gemalin gegenüber hielt, war ein Ergebniß der

Eigenſchaft, die er auch als König und Kaiſer bewährte, daß er

für treue Diener ein treuer Herr war.

[[128]/0155]

Siebentes Kapitel.

Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

I.

Die Entfremdung die zwiſchen dem Miniſter Manteuffel und

mir nach meiner Wiener Miſſion und infolge der Zuträgerei von

Klentze und Andern entſtanden war, hatte die Folge, daß der König

mich immer häufiger zur „Territion“ kommen ließ, wenn der Miniſter

ihm nicht zu Willen ſein wollte. Ich habe auf den Reiſen zwiſchen

Frankfurt und Berlin über Guntershauſen in einem Jahre 2000 Meilen

gemacht, damals ſtets die neue Cigarre an der vorhergehenden ent¬

zündend oder gut ſchlafend. Der König erforderte nicht nur meine

Anſicht über Fragen der deutſchen und der auswärtigen Politik,

ſondern beauftragte mich auch gelegentlich, wenn ihm Entwürfe

des Auswärtigen Amtes vorlagen, mit der Ausarbeitung von Gegen¬

projecten. Ich beſprach dieſe Aufträge und meine entſprechenden

Redactionen dann mit Manteuffel, der es in der Regel ablehnte,

Aenderungen daran vorzunehmen, wenn auch unſre politiſchen An¬

ſichten auseinander gingen. Er hatte mehr Entgegenkommen für

die Weſtmächte und die öſtreichiſchen Wünſche, während ich, ohne

ruſſiſche Politik zu vertreten, keinen Grund ſah, unſern langjährigen

Frieden mit Rußland für andre als preußiſche Intereſſen in Frage

zu ſtellen, und ein etwaiges Eintreten Preußens gegen Rußland

für Intereſſen, die uns fern lagen, als das Ergebniß unſrer Furcht

vor den Weſtmächten und unſres beſcheidenen Reſpects vor Eng¬

[129/0156]

Manteuffels Stellung zum Könige. Marquis Mouſtier.

land betrachtete. Manteuffel vermied es, durch ſchärferes Vertreten

ſeiner Auffaſſung den König noch mehr zu verſtimmen oder durch

Eintreten für meine angeblich ruſſiſche Auffaſſung die Weſtmächte

und Oeſtreich zu reizen, er effacirte ſich lieber. Marquis Mouſtier

kannte dieſe Stellung, und mein Chef überließ ihm gelegentlich die

Aufgabe, mich zur weſtmächtlichen Politik und zur Vertretung der¬

ſelben beim Könige zu bekehren. Bei einem Beſuche, den ich Mouſtier

machte, riß ihn die Lebhaftigkeit ſeines Temperaments zu der be¬

drohlichen Aeußerung hin: „La politique que vous faites, va vous

conduire à Jéna.“ Worauf ich antwortete: „Pourquoi pas à Leipzig

ou à Rossbach?“ Mouſtier war eine ſo unabhängige Sprache in

Berlin nicht gewohnt und wurde ſtumm und bleich vor Zorn. Nach

einigem Schweigen ſetzte ich hinzu: „Enfin toute nation a perdu

et gagné des batailles. Je ne suis pas venu pour faire avec

vous un cours d'histoire.“ Die Unterhaltung kam nicht wieder in

Fluß. Mouſtier beſchwerte ſich über mich bei Manteuffel, der die

Beſchwerde an den König brachte. Dieſer aber lobte mich Man¬

teuffel gegenüber, ſpäter auch direct, wegen der richtigen Antwort,

die ich dem Franzoſen gegeben hatte.

Die leiſtungsfähigen Kräfte der Bethmann-Hollwegſchen Partei,

Goltz, Pourtalès, zuweilen Uſedom, wurden durch den Prinzen von

Preußen auch bei dem Könige zu einer gewiſſen Geltung gebracht.

Es kam vor, daß nothwendige Depeſchen nicht von Manteuffel,

ſondern von dem Grafen Albert Pourtalès entworfen wurden, daß

der König mir deſſen Entwürfe zur Reviſion gab, daß ich über

die Amendirung wieder mit Manteuffel Fühlung nahm, daß der

den Unterſtaatsſekretär Le Coq zuzog, daß dieſer die Faſſung aber

lediglich von dem Standpunkte franzöſiſcher Stiliſtik prüfte und

eine Tage lange Verzögerung mit der Anführung rechtfertigte, er

habe den genau angemeſſenen franzöſiſchen Ausdruck noch nicht ge¬

funden, der zwiſchen dunkel, unklar, zweifelhaft und bedenklich die

richtige Mitte hielte, — als ob es auf ſolche Lappalien damals

angekommen wäre.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 9

[130/0157]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

II.

Ich ſuchte mich der Rolle, welche der König mich ſpielen ließ,

in ſchicklicher Weiſe zu entziehn und die Verſtändigung zwiſchen

ihm und Manteuffel nach Möglichkeit anzubahnen; ſo in den

ernſten Zerwürfniſſen, welche über Rhino Quehl entſtanden. Nach¬

dem durch Wiederherſtellung des Bundestages nationale Sonder¬

beſtrebungen Preußens einſtweilen behindert waren, ging man in

Berlin an eine Reſtauration der innern Zuſtände, mit welcher

der König gezögert hatte, ſo lange er darauf bedacht war, ſich die

Liberalen in den übrigen deutſchen Staaten nicht zu entfremden.

Ueber das Ziel und die Gangart der Reſtauration zeigte ſich aber

ſofort zwiſchen dem Miniſter Manteuffel und der „kleinen aber

mächtigen Partei“ eine Meinungsverſchiedenheit, die ſich merk¬

würdigerweiſe in einen Streit über Halten oder Fallenlaſſen einer

verhältnißmäßig untergeordneten Perſönlichkeit zuſpitzte und zu

einem ſcharfen, öffentlichen Ausbruch führte. In demſelben Briefe

vom 11. Juli 1851, durch welchen er mich von meiner Ernennung

zum Bundestagsgeſandten benachrichtigte, ſchrieb Manteuffel:

„Was unſre inneren Verhältniſſe, namentlich die ſtändiſchen

Dinge betrifft, ſo würde die Sache ganz leidlich gehen, wenn man

darin mit etwas mehr Maß und Geſchick verführe. Weſtphalen

iſt in der Sache vortrefflich, ich ſchätze ihn ſehr hoch und wir ſind

im Weſentlichen einverſtanden; die Fehde von Klützow 1)ſcheint mir

keine recht glückliche zu ſein, und es ſind in der Form wohl manche

nicht nothwendige Verſtöße vorgekommen. Weit ſchlimmer aber

noch iſt die Attitude, welche dabei die Kreuzzeitung einnimmt. Nicht

allein triumphirt ſie in ungeſchickter und aufregender Weiſe, ſondern

ſie will auch zu Extremen drängen, die ihr wahrſcheinlich ſelber

nicht behagen würden. Wenn es z. B. möglich wäre und gelänge,

1)

Es handelte ſich um Meinungsverſchiedenheiten in der Frage über die

Bildung der erſten Kammer.

[131/0158]

Streit über Rhino Quehl.

den Vereinigten Landtag mit allen ſeinen Conſequenzen pure wieder

herzuſtellen — und weiter könnte man doch nicht gehen — was

wäre damit wohl gewonnen? Ich finde die Poſition der Regierung

viel günſtiger, wenn ſie, bis eine gründliche organiſche Umgeſtaltung

ſich als nothwendig ergeben hat, die Sache gewiſſermaßen in der

Schwebe hält. Ich hoffe und wünſche, daß man dann auch von

den Provinzialſtänden bis etwa auf Communalſtände nach alten

hiſtoriſchen Begrenzungen, die auch in der Rheinprovinz noch nicht

verwiſcht und in allen alten Provinzen noch ſehr erkennbar ſind,

zurückkommen und aus dieſen die Landesvertretung hervorgehen

laſſen wird. Das ſind aber Dinge, die man nicht im Sprunge

machen kann, wenigſtens nicht ohne große Stöße, die man doch

zu vermeiden Anlaß hat. Die Kreuzzeitung hat mir nun förmlich

Fehde ankündigen und als Preis und Zeichen der Unterwerfung

die Entlaſſung des c. Quehl fordern laſſen, ohne zu bedenken,

daß ſelbſt, wenn ich einen fleißigen und aufopfernden Menſchen

preisgeben wollte, was nicht meine Abſicht iſt, ich es unter ſolchen

Verhältniſſen gar nicht könnte.“

Rhino Quehl war ein Journaliſt, durch den Manteuffel ſchon

während des Erfurter Parlaments ſeine Politik in der Preſſe hatte

vertreten laſſen, voller Ideen und Anregungen, richtigen und falſchen,

eine ſehr geſchickte Feder führend, aber mit einer zu ſtarken Hypothek

von Eitelkeit belaſtet. Die weitre Entwicklung des Conflicts

zwiſchen Manteuffel und Quehl auf der einen, der Kreuzzeitung

und der Camarilla auf der andern Seite, und die ganze innere

Situation wird aus den nachſtehenden brieflichen Aeußerungen von

Gerlach erſichtlich:

„Potsdam, 17. Mai 1852.

Ich halte Manteuffel für einen braven Mann, aber ein ſonder¬

bares politiſches Leben iſt das ſeinige doch. Er hat die December¬

verfaſſung unterzeichnet, ſich zur Unionspolitik bekannt, Gemeinde¬

ordnung und Ablöſungsgeſetz mit Rückſichtsloſigkeit durchgeſetzt, den

Bonapartismus amneſtirt u. ſ. w. Daß er in dieſen Dingen nicht

[132/0159]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

conſequent geweſen, gereicht ihm zum Ruhme, aber wenn auch

Se. Majeſtät einmal ſagten, die Conſequenz ſei die elendeſte

aller Tugenden, ſo iſt die Manteuffel'ſche Inconſequenz doch etwas

ſtark. Man ſpricht gegen die Kammern und gegen den Con¬

ſtitutionalismus. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis jetzt

aber ſind alle Regierungen revolutionär geweſen, außer England

bis zur Reform und Preußen in geringen Unterbrechungen, 1823

und 1847. Die Kreuzzeitung hat in ihren kleinen Apologien der

Kammern in Wahrheit nicht Unrecht, und doch ſehnt ſich unſer

Premier nach dem Bonapartismus, der doch ganz gewiß keine

Zukunft hat.

Manteuffel ſagte übrigens geſtern, er wolle Sie herbeſcheiden,

wenn Sie nur noch zur rechten Zeit kämen, um den Kaiſer und

den Grafen Neſſelrode kennen zu lernen. Wichtiger als alles das

iſt, daß Sie Manteuffel von Quehl befreien, denn er iſt jetzt noch

unentbehrlich und mit Quehl nicht zu halten. Es wird ihn nichts

koſten zu behaupten, er wiſſe nichts von dem Artitel der ‚Zeit‘,

ja, daß dieſes Blatt ihn nichts anginge, aber damit kann man

ſich nicht abfertigen laſſen, da Thile, der Redacteur, durch Quehl

und Manteuffel angeſtellt iſt. Ich fürchte auch die abſolutiſtiſchen

Velleitäten von Manteuffel jun. 1).

19. Mai 1852.

Infolge des Zeitungsartikels, von dem Ihr letztes Schreiben 2)

an mich handelt, iſt wiederum von mehreren Seiten in Manteuffel

eingeredet worden, um ihn zu bewegen, ſich von Quehl zu trennen.

Ich hatte mich hierbei nicht betheiligt, weil ich ſchon einmal über

dieſen Mann mit ihm aneinander geweſen war und wir damals

gewiſſermaßen einen Vertrag geſchloſſen hatten, dieſes Thema nicht

zu berühren. Geſtern fing jedoch Manteuffel ſelbſt mit mir davon

an, vertheidigte Quehl auf das Entſchiedenſte, erklärte lieber ab¬

1)

Vgl. Briefwechſel 32 ff. (mit falſchem Datum).

2)

Bismarck's Briefe an L. v. Gerlach, S. 30 f.

[133/0160]

Streit über Rhino Quehl.

treten, als ſich von ihm trennen zu wollen, ſprach ſeinen Haß

gegen die Kreuzzeitung unverholen aus und machte auch einige

bedenkliche Aeußerungen über den Gang des Miniſteriums des

Innern und über einige uns gleichwerthige Perſönlichkeiten.

Sans-Souci, 21. Juli 1852.

Soeben erhalte ich Ihren Brief Ofen-Frankfurt vom 25. Juni

und 19. Juli 1), deſſen Anfang ſo intereſſant iſt wie das Ende. Aber

von mir verlangen Sie das Unmögliche. Ich ſoll Ihnen die

hieſige Lage der Dinge erklären, die ſo verwickelt und durcheinander

iſt, daß man ſie an Ort und Stelle nicht verſteht. Wagener's

Auftreten gegen Manteuffel iſt nicht zu rechtfertigen, wenn er ſich

nicht ganz von der Partei iſoliren will. Ein Blatt, wie die Kreuz¬

zeitung, darf nur dann gegen einen Premierminiſter auftreten,

wenn die ganze Partei in die Oppoſition geworfen iſt, wie das

bei Radowitz der Fall war. ... Ein ſolches bellum omnium contra

omnes kann nicht bleiben. Wagener wird nolens volens müſſen

mit dem Preußiſchen Wochenblatt Chorus machen, was ein großes

Uebel iſt; Hinckeldey und der kleine Manteuffel, ſonſt entſchiedene

Feinde, alliiren ſich über die Kreuzzeitung, wie Herodes und Pilatus.

Das Traurigſte iſt mir der Miniſter Manteuffel, der kaum zu

halten iſt und doch gehalten werden muß, denn ſeine präſumtiven

Nachfolger ſind ſchrecklich. Alles ſchreit, er ſoll Quehl entlaſſen.

Ich glaube, damit wird wenig gewonnen ſein, Quehl's etwaiger

Nachfolger Fr. 2)iſt vielleicht noch ſchlimmer. Wenn Manteuffel ſich

nicht zu Allianzen mit honetten Leuten entſchließt, iſt ihm nicht

zu helfen 3). ...

Sans-Souci, 8. October 1852.

... Ich habe Manteuffel's ſonderbares Benehmen mit ſeinen

Creaturen, ich habe die Anſtellung von Radowitz benutzt, um offen

1)

Bismarck's Briefe an L. v. Gerlach, S. 32 ff.

2)

Conſtantin Frantz.

3)

Vgl. Briefwechſel c., S. 37 f. (mit falſchem Datum und entſtellenden

Leſefehlern).

[134/0161]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

mit ihm zu reden, es iſt aber nichts dabei herausgekommen. Ich

habe ihm geſagt, daß ich nicht zu denen gehöre, welche Quehl in

das Elend ſchicken wollten, aber er möge ſich doch mit ordentlichen

Leuten in Verbindung ſetzen und ſich in der Gemeinſchaft mit

ihnen ſtärken. Aber vergebens. Jetzt treibt er wieder ſein Weſen

mit dem Bonapartiſten Frantz. Ich will das, was Wagener thut,

nicht rechtfertigen, beſonders nicht ſein eigenſinniges Widerſtreben

gegen jeden Rath und jede Warnung, die ihm zukommt, aber darin

hat er Recht, daß Manteuffel die conſervative Partei gründlich

zerſtört und ihn, Wagener, auf das Aeußerſte reizt. Es iſt doch

eine merkwürdige Erſcheinung, daß die Kreuzzeitung die einzige

Zeitung in Deutſchland iſt, die verfolgt und confiſcirt wird. Von

dem, was mich bei dem Allem am meiſten afficirt, von der

Wirkung dieſer Lage der Dinge auf S. M., will ich gar nicht

reden. Sinnen Sie doch auf Mittel, Menſchen heranzuziehen, die

das Miniſterium ſtärken. Kommen Sie doch einmal wieder her

und ſehen Sie ſich ſelbſt die Dinge an 1). ...

Charlottenburg, 25. Februar 1853.

Ich habe letzt S. M. darauf aufmerkſam gemacht, wie es

doch nicht gut wäre, daß Wagener, der Alles für die gute Sache

gewagt habe, nächſtens im Gefängniß ſitzen, während ſein Gegner

Quehl durch die bloße vis inertiae Geheimer Rath würde. Nie¬

buhren iſt es denn auch gelungen, den König mit Wagener aus¬

zuſöhnen, obſchon letzterer dabei bleibt, die Redaction der Kreuz¬

zeitung niederlegen zu wollen. ... Manteuffel hat eine Tendenz

nach unten, via Quehl, Levinſtein u. ſ. w., weil er an den

Wahrheiten, die von oben kommen, zweifelt, ſtatt daran zu glauben.

Er ſagt mit Pilatus: Was iſt Wahrheit? und ſucht ſie bei Quehl

und Conſorten. Er läßt ſich ja ſchon jetzt bei jeder Gelegenheit

durch Quehl zu einer ſehr üblen heimlichen und paſſiven Oppoſition

1)

Vgl. Briefwechſel c., S. 43.

[135/0162]

Streit über Rhino Quehl.

gegen Weſtphalen und deſſen Maßregeln, die doch das Muthigſte

und Beſte enthalten, was in unſrer Adminiſtration ſeit 1848

geſchehen iſt, bewegen. Er leidet, daß Quehl die Preſſe auf das

Schamloſeſte gegen Weſtphalen, Raumer u. ſ. w. benutzt und wie

man mich verſichert, ſich dafür bezahlen läßt. So kann es faſt

nicht ausbleiben, daß Quehl und Conſorten zuletzt Manteuffel's

Sturz bewirken, den ich ſchon aus dem einfachen Grunde für ein

Unglück halte, daß ich durchaus keinen möglichen Nachfolger weiß 1).

Potsdam, 28. Februar 1853.

... Ich thue mein Mögliches, die Kreuzzeitung zu erhalten oder

zunächſt vielmehr Wagenern der Kreuzzeitung zu erhalten. Er ſagt,

er könne dieſe Sache den Intriguen von Quehl gegenüber nicht fort¬

führen. Von den königlichen Geldern, über welche dieſer Menſch

durch das Vertrauen Manteuffel's disponirt, gibt er den Mitarbeitern

Wagener's bedeutende Remunerationen und entzieht ſie der Kreuz¬

zeitung; ja er ſoll die Geſandten auffordern laſſen, die auswärtigen

Correſpondenten der Kreuzzeitung zu ermitteln, um ſie ihr abſpenſtig

zu machen 2)....

20. Juni 1853.

Die innern Verhältniſſe mißfallen mir ſehr. Ich fürchte,

Quehl ſiegt über Weſtphalen und Raumer ganz einfach dadurch,

daß Mauteuffel ſich bei dem Könige als unentbehrlich geltend

macht, eine Anſicht, die S. M. aus richtigen und unrichtigen

Gründen anerkennt....

Charlottenburg, 30. Juni 1853.

... Wenn ich die verſchiedenen Nachrichten über die Quehl'ſchen

Intriguen miteinander vergleiche, wenn ich auf die Notiz etwas

1)

Vgl. Briefwechſel c., S. 72 ff. (ungenau in der Wiedergabe des

Wortlauts).

2)

Vgl. Briefwechſel c., S. 74 ff. (auch hier iſt der Text willkürlich

geändert).

[136/0163]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

gebe, daß Quehl eine Art von Vertrag mit der Hollweg'ſchen

Partei geſchloſſen, wonach Manteuffel geſchont, die andern mi߬

liebigen Miniſter Raumer, Weſtphalen, Bodelſchwingh, rückſichtslos

angegriffen würden, wenn ich ferner beachte, daß Manteuffel über

ſein Verhältniß zum Prinzen von Preußen ein böſes Gewiſſen

gegen mich hat, daß er jetzt Niebuhr dichter an ſein Herz ſchließt

als mich, während er ſich ſonſt gegen mich oft über Niebuhr be¬

klagte, wenn ich endlich beachte, daß Quehl geradezu den Prinzen

von Preußen und ſeinen Herrn Sohn als mit ſich und mit Man¬

teuffel übereinſtimmend [darſtellt] und ſich demgemäß äußert, was ich

aus der zuverläſſigſten Quelle weiß, wenn dies Alles auf Radowitz

ſieht (sic), ſo fühle ich den Boden mir unter den Füßen ſchwanken,

obſchon der König ſchwerlich für dieſe Wirthſchaft zu gewinnen iſt

und mir perſönlich dies Alles Gott ſei Dank ziemlich gleichgültig iſt.

Sie aber, mein verehrter Freund, der Sie noch jung ſind, müſſen

ſich rüſten und ſtärken, dies Lügengewebe zur paſſenden Zeit zur

Rettung des Landes zu zerreißen 1). ...

Sans-Souci, 17. Juli 1853.

... Q. wird jetzt ſchon der Hof gemacht und er hat Excellenzen

in ſeinem Vorzimmer und auf ſeinem Sopha. Auf der andern Seite

halte ich es nicht für unmöglich, daß Manteuffel eines Tags Quehl

darangibt, denn Dankbarkeit iſt keine charakteriſtiſche Eigenſchaft

dieſes zweifelnden und daher oft deſperirenden Staatsmannes.

Was ſoll aber werden, wenn Manteuffel geht? Es wäre ein Mini¬

ſterium zu finden, aber ſchwerlich eines, was auch nur 4 Wochen

mit S. M. ſich hielte. Aus dieſen Gründen und bei meiner auf¬

richtigen Achtung und Liebe, die ich für Manteuffel habe, möchte

ich es nicht auf mein Gewiſſen nehmen, ſeinen Sturz veranlaßt

zu haben. Denken Sie einmal über dieſe Dinge nach und ſchreiben

Sie mir“ 2). .

1)

Vgl. Briefwechſel S. 91 ff.

2)

a. a. O. S. 99 ff.

[137/0164]

Streit über Quehl. — Graf Alvensleben als „Schreckbild“.

Bald nach dem Datum des letzten Briefes war die Verſtim¬

mung zwiſchen dem Könige und Manteuffel ſo acut geworden, daß

der letztere ſich ſchmollend auf ſein Gut Drahnsdorf zurückzog.

Um ihn zu einem „gehorſamen Miniſter“ zu machen, benutzte der

König diesmal nicht meine Miniſtercandidatur als Schreckbild,

ſondern beauftragte mich, den Grafen Albrecht von Alvensleben,

den „alten Lerchenfreſſer“, wie er ihn nannte, in Erxleben auf¬

zuſuchen und zu fragen, ob er den Vorſitz in einem neuen Mini¬

ſterium übernehmen wolle, in dem ich das auswärtige Reſſort

erhalten ſolle. Der Graf hatte kurz vorher mir unter ſehr abfälligen

Aeußerungen über den König erklärt, daß er während der Regirung

Sr. Majeſtät unter keinen Umſtänden in irgend ein Cabinet treten

werde 1). Ich ſagte dies dem Könige, und meine Reiſe unterblieb.

Später aber, als dieſelbe Combination wieder auftauchte, hat er

ſich doch bereit erklärt, ſie zu acceptiren; der König vertrug ſich

dann aber mit Manteuffel, der inzwiſchen „Gehorſam“ gelobt

hatte. Statt der Sendung nach Erxleben reiſte ich aus eignem

Antriebe zu Manteuffel auf's Land und redete ihm zu, ſich von Quehl

zu trennen und ſtillſchweigend ohne Explication mit Sr. Majeſtät

ſeine amtliche Function wieder aufzunehmen. Er erwiderte in

dem Sinne ſeines Briefes vom 11. Juli 1851, daß er den fähigen,

ihm mit Hingebung dienenden Mann nicht fallen laſſen könne.

Da ich heraus zu hören glaubte, daß Manteuffel wohl noch andre

Gründe habe, Quehl zu ſchonen, ſo ſagte ich: „Vertrauen Sie

mir die Vollmacht an, Sie von Quehl zu erlöſen, ohne daß es zu

einem Bruche zwiſchen Ihnen beiden kommt; wenn mir das ge¬

lingt, ſo bringen Sie dem Könige die Nachricht von Quehl's Ab¬

gange und führen die Geſchäfte fort, als wenn kein Diſſenſus

zwiſchen Sr. Majeſtät und Ihnen vorgekommen wäre.“ Er ging

auf dieſen Gedanken ein, und wir verabredeten, daß er Quehl, der

ſich grade auf einer Reiſe in Frankreich befand, veranlaſſen werde,

1)

S. o. S. 109.

[138/0165]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

auf der Rückkehr mich in Frankfurt aufzuſuchen, was geſchah. Ich

benutzte die Pläne des Königs mit Alvensleben, um Quehl zu

überzeugen, daß er, wenn er nicht abginge, Schuld an dem Sturze

ſeines Gönners ſein werde, und empfahl ihm, die Macht deſſelben,

ſo lange es noch Zeit ſei, zu benutzen. Ich ſagte ihm: „Schneiden

Sie Ihre Pfeifen, wo Sie noch im Rohr ſitzen, es dauert nicht

lange mehr“, und ich brachte ihn dahin, ſeine Wünſche zu präciſiren:

das Generalconſulat in Kopenhagen mit einer ſtarken Gehalts¬

erhöhung. Ich benachrichtigte Manteuffel, und die Sache ſchien

erledigt, zog ſich aber bis zur endlichen Löſung noch einige Zeit

hin, weil man in Berlin ſo ungeſchickt geweſen war, die Sicherung

der Stellung Manteuffel's früher zu verlautbaren als das Aus¬

ſcheiden Quehl's. Letztrer hatte in Berlin ſeine und Manteuffel's

Stellung nicht ſo unſicher gefunden, wie ich ſie geſchildert hatte,

und machte dann einige Schwierigkeiten, die verbeſſernd auf ſeine

Stellung in Kopenhagen wirkten 1).

Aehnliche Verhandlungen drängten ſich mir auf mit Agenten,

welche bei dem Depeſchendiebſtahl in der franzöſiſchen Geſandſchaft

benutzt worden waren, unter Andern mit Haſſenkrug, der zur Zeit

des Proceſſes über dieſen Diebſtahl, anſcheinend mit ſeiner eignen

Zuſtimmung, in Frankreich polizeilich verhaftet und Jahr und Tag

ſequeſtrirt wurde, bis die Sache vergeſſen war.

Der König haßte damals Manteuffel, er behandelte ihn nicht mit

der ihm ſonſt eignen Höflichkeit und that beißende Aeußerungen

über ihn. Wie er überhaupt die Stellung eines Miniſters auffaßte,

zeigt ein Wort über den Grafen Albert Pourtalès, den er auch

gelegentlich als Schreckbild für Manteuffel benutzte 2): „Der wäre

ein Miniſter für mich, wenn er nicht 30000 Reichsthaler Ein¬

kommen zu viel hätte; darin ſteckt die Quelle des Ungehorſams.“

Wenn ich ſein Miniſter geworden wäre, ſo würde ich mehr als Andre

1)

Vgl. Bismarck's Briefe an L. v. Gerlach vom 6. und 13. Aug. 1853

(Ausgabe von H. Kohl S. 96, 97).

2)

S. o. S. 109.

[139/0166]

Beilegung des Conflicts mit Manteuffel.

dieſer Auffaſſung ausgeſetzt geweſen ſein, weil er mich als ſeinen

Zögling betrachtete und in meinem Royalismus als weſentlichſtes

Element den unbedingten „Gehorſam“ ſah. Jede ſelbſtändige

Meinung von mir würde ihn befremdet haben, war ihm doch ſchon

mein Sträuben gegen definitive Uebernahme des Wiener Poſtens

als eine Art von Felonie erſchienen. Eine lange nachwirkende Er¬

fahrung der Art hatte ich zwei Jahre ſpäter zu machen.

III.

Meine Berufungen nach Berlin wurden nicht immer durch

die äußere Politik veranlaßt, mitunter auch durch Vorgänge im

Landtage, in den ich bei der durch meine Ernennung zum Geſandten

nothwendig gewordenen Neuwahl am 13 October 1851 wieder¬

gewählt worden war.

Als es ſich um die Verwandlung der Erſten Kammer in das

Herrenhaus handelte, erhielt ich folgende, vom 20. April 1852

datirte Mittheilung Manteuffel's:

„Bunſen hetzt den König immer mehr in die Pairie hinein.

Er behauptet, die größten Staatsmänner in England glaubten,

daß in wenigen Jahren der Continent in zwei Theile zerfallen

würde: a) proteſtantiſche Staaten mit conſtitutionellem Syſtem,

getragen von den Säulen der Pairie, d) katholiſch-jeſuitiſch-demo¬

kratiſch-abſolutiſtiſche Staaten. In die letzte Kategorie ſtellt er

Oeſterreich, Frankreich und Rußland. Ich halte das für ganz falſch.

Solche Kategorien gibt es gar nicht. Jeder Staat hat ſeinen eignen

Entwicklungsgang. Friedrich Wilhelm I. war weder katholiſch noch

demokratiſch, nur abſolut. Aber dergleichen Dinge machen großen

Eindruck auf S. M. Das conſtitutionelle Syſtem, welches die

Majoritätenherrſchaft proclamirt, halte ich für nichts weniger als

proteſtantiſch.“

Am folgenden Tage, 21. April, ſchrieb mir der König:

[140/0167]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

„Charlottenburg, 21. April 1852.

Ich erinnere Sie daran, theuerſter Bismarck, daß ich auf

Sie und Ihre Hülfe zähle bey der nahen Verhandlung in

IIr Kammer über die Geſtaltung der Erſten. Ich thue dies um

ſo mehr, als ich leider aus allerſicherſter Quelle Kenntniß von den

ſchmutzigen Intriguen habe, die in bewußtem (?) oder unbewußtem (?)

Verein reudiger Schafe aus der Rechten und ſtänkriger Böcke

aus der Linken angeſtellt werden, um meine Abſichten zu zerſtöhren.

Es iſt dies ein trauriger Anblick unter allen Verhältniſſen, einer

,zum Haar Ausraufen‘ aber auf dem Felde der theuer angeſchafften

Lügenmaſchine des franzöſiſchen Constituzionalismus. Gott beſſ'r

es! Amen.

Friedrich Wilhelm.“

Ich ſchrieb dem General Gerlach 1), ich ſei eins der jüngſten

Mitglieder unter dieſen Leuten. Wenn ich die Wünſche Sr. Majeſtät

früher gekannt hätte, hätte ich vielleicht einen Einfluß gewinnen

können; aber der Befehl des Königs, von mir in Berlin ausgeführt

und in der conſervativen Partei beider Häuſer vertreten, würde meine

parlamentariſche Stellung, die für den König und ſeine Regirung

in andern Fragen von Nutzen ſein könnte, zerſtören, wenn ich rein

als königlicher Beauftragter, ohne eigne Gedanken zu vertreten,

meinen Einfluß in der kurzen Friſt von zwei Tagen verwerthen ſollte.

Ich fragte daher an, ob ich nicht den vom Könige erhaltenen Auf¬

trag, mit dem Prinzen von Auguſtenburg zu verhandeln, als Grund

für mein Wegbleiben von dem Landtage geltend machen dürfte.

Ich erhielt durch den Telegraphen die Antwort, mich auf das

Auguſtenburger Geſchäft nicht zu berufen, ſondern ſofort nach Berlin

zu kommen, reiſte alſo am 26. April ab. Inzwiſchen war in Berlin

auf Betrieb der conſervativen Partei ein Beſchluß gefaßt worden, der

1)

Am 23. April 1852; der Brief iſt bisher im Wortlaut noch nicht ver¬

öffentlicht; doch vgl. die Aeußerung in dem Briefe vom 23. April an Man¬

teuffel (Preußen im Bundestage IV 72).

[141/0168]

Streit über Bildung der Erſten Kammer.

den Abſichten des Königs zuwiderlief, und der von Sr. Majeſtät unter¬

nommne Feldzug ſchien damit verloren zu ſein. Als ich mich am 27.

bei dem General von Gerlach in dem Flügel des Charlottenburger

Schloſſes neben der Wache meldete, vernahm ich, daß der König un¬

gehalten über mich ſei, weil ich nicht ſofort abgereiſt ſei; wenn ich gleich

erſchienen wäre, ſo würde ich den Beſchluß haben verhindern können 1).

Gerlach ging, um mich zu melden, zum Könige und kam nach ziem¬

lich langer Zeit zurück mit der Antwort: Se. Majeſtät wolle mich nicht

ſehn, ich ſolle aber warten. Dieſer in ſich widerſprechende Beſcheid

iſt charakteriſtiſch für den König; er zürnte mir und wollte das

durch Verſagung der Audienz zu erkennen geben, aber doch auch

zugleich die Wiederannahme zu Gnaden in kurzer Friſt ſicher ſtellen.

Es war das eine Art von Erziehungsmethode, wie man in der

Schule gelegentlich aus der Klaſſe gewieſen, aber wieder hinein¬

gelaſſen wurde. Ich war gewiſſermaßen im Charlottenburger Schloſſe

internirt, ein Zuſtand, der mir durch ein gutes und elegant ſervirtes

Frühſtück erleichtert wurde. Die Einrichtung des Königlichen Haus¬

halts außerhalb Berlins, vorzugsweiſe in Potsdam und Charlotten¬

burg, war die eines Grand Seigneur auf dem Lande. Man wurde

bei jeder Anweſenheit zu den üblichen Zeiten nach Bedarf verpflegt,

und wenn man zwiſchen dieſen Zeiten einen Wunſch hatte, auch

dann. Die Wirthſchaftsführung war allerdings nicht auf ruſſiſchem

Fuße, aber doch durchaus vornehm und reichlich nach unſern Be¬

griffen, ohne in Verſchwendung auszuarten.

Nach etwa einer Stunde wurde ich durch den Adjutanten vom

Dienſt zum Könige berufen und etwas kühler als ſonſt, aber doch

nicht ſo ungnädig empfangen, wie ich befürchtet hatte. Se. Majeſtät

hatte erwartet, daß ich auf die erſte Anregung erſcheinen würde, und

darauf gerechnet, daß ich im Stande ſein würde, in den 24 Stunden

bis zur Abſtimmung die conſervative Fraction wie auf militäriſches

Commando Kehrt machen und in des Königs Richtung einſchwenken

1)

Vgl. Gerlach's Denkwürdigkeiten I 754. 756.

[142/0169]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

zu laſſen. Ich ſetzte auseinander, daß damit mein Einfluß auf

die Fraction über- und die Unabhängigkeit derſelben unterſchätzt

werde. Ich hätte in dieſer Frage perſönlich keine Ueberzeugung,

die der des Königs entgegenſtände, und ſei bereit, die letztre bei

meinen Fractionsgenoſſen zu vertreten, wenn er mir Zeit dazu laſſen

wolle und geneigt ſei, ſeine Wünſche in neuer Geſtalt nochmals

geltend zu machen. Der König, ſichtlich verſöhnt, ging darauf ein

und entließ mich mit dem Auftrage, Propaganda für ſeinen Plan

zu machen. Letztres geſchah mit mehr Erfolg, als ich ſelbſt er¬

wartet hatte; der Widerſpruch gegen die Umgeſtaltung der Körper¬

ſchaft hatte nur die Führer der Fraction zu Trägern, und ſeine

Nachhaltigkeit beruhte nicht auf der Ueberzeugung der Geſammtheit,

ſondern auf der Autorität, welche in jeder Fraction die anerkannten

Leiter zu haben pflegen — und nicht mit Unrecht, da ſie in der

Regel die beſten Redner und gewöhnlich die einzigen arbeitſamen

Geſchäftsleute ſind und den Uebrigen die Mühe abnehmen, die

vorkommenden Fragen zu ſtudiren. Ein Opponent in der Fraction,

der nicht das gleiche Anſehn hat, wird von dem Fractionsführer,

welcher gewöhnlich der ſchlagfertigere Redner iſt, ſehr leicht in einer

Weiſe abgeführt, welche ihm für die Zukunft die Luſt zur Auf¬

lehnung benimmt, wenn er nicht mit einem Mangel an Schüchtern¬

heit begabt iſt, der bei uns grade in den Klaſſen, denen die Con¬

ſervativen meiſtens angehören, nicht häufig iſt.

Ich fand unſre damals zahlreiche, ich glaube über 100 Köpfe

ſtarke Fraction unter dem Banne der von den Führern feſtgelegten

politiſchen Sätze. Ich ſelbſt hatte mich, ſeit ich mich in Frankfurt

auf der Defenſive gegen Oeſtreich, alſo auf einem von der Fractions¬

leitung nicht gebilligten Wege befand, von derſelben einigermaßen

emancipirt, und obſchon in dieſer Frage unſer Verhältniß zu Oeſt¬

reich nicht im Spiele war, ſo hatte die Meinungsverſchiedenheit

über dieſes Verhältniß meinen Glauben an die Fractionsleitung

überhaupt erſchüttert. Indeſſen überraſchte mich doch die ſofortige

Wirkung, welche mein Plaidoyer nicht ſowohl für die vorliegende

[143/0170]

Streit über Bildung der Erſten Kammer. Als Vertrauensmann des Königs.

Auffaſſung des Königs, als für das Zuſammenhalten mit ihm hatte.

Die Fractionsleitung blieb bei der Abſtimmung iſolirt; faſt die

geſammte Fraction war bereit, dem Könige auf ſeinem Wege zu

folgen.

Wenn ich heut auf dieſe Vorgänge zurückblicke, ſo ſcheint es

mir, daß die drei oder ſechs Führer, gegen welche ich die conſerva¬

tive Fraction aufwiegelte, im Grunde dem Könige gegenüber Recht

hatten. Die Erſte Kammer war zur Löſung der Aufgaben, welche

einer ſolchen im conſtitutionellen Leben zufallen, befähigter als das

heutige Herrenhaus. Sie genoß in der Bevölkerung eines An¬

ſehns, welches das Herrenhaus ſich bisher nicht erworben hat. Das

letztre hat zu einer hervorragenden politiſchen Leiſtung nur in der

Conflictszeit Gelegenheit gehabt und ſich damals durch die furcht¬

loſe Treue, mit der es zur Monarchie ſtand, auf dem defenſiven

Gebiete der Aufgabe eines Oberhauſes völlig gewachſen gezeigt.

Es iſt wahrſcheinlich, daß es in kritiſchen Lagen der Monarchie

dieſelbe tapfere Feſtigkeit beweiſen wird. Ob es aber für Ver¬

hütung ſolcher Kriſen in den ſcheinbar friedlichen Zeiten, in

denen ſie ſich vorbereiten können, denſelben Einfluß ausüben wird,

wie jene Erſte Kammer gethan hat, iſt mir zweifelhaft. Es ver¬

räth einen Fehler in der Conſtitution, wenn ein Oberhaus in der

Einſchätzung der öffentlichen Meinung ein Organ der Regirungs¬

politik oder ſelbſt der königlichen Politik wird. Nach der preußiſchen

Verfaſſung hat der König mit ſeiner Regirung an und für ſich

einen gleichwerthigen Antheil an der Geſetzgebung, wie jedes der

beiden Häuſer; er hat nicht nur ſein volles Veto, ſondern die ganze

vollziehende Gewalt, vermöge deren die Initiative in der Geſetz¬

gebung factiſch und die Ausführung der Geſetze auch rechtlich der

Krone zufällt. Das Königthum iſt, wenn es ſich ſeiner Stärke

bewußt iſt und den Muth hat, ſie anzuwenden, mächtig genug

für eine verfaſſungsmäßige Monarchie, ohne eines ihm gehorſamen

Herrenhauſes als einer Krücke zu bedürfen. Auch wenn das Herren¬

haus in der Conflictszeit ſich für die ihm zugehenden Etatsgeſetze

[144/0171]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

die Beſchlüſſe des Abgeordnetenhauſes angeeignet hätte, ſo wäre

immer, um ein Statsgeſetz nach Art. 99 zu Stande zu bringen,

die Zuſtimmung des dritten Factors, des Königs, unentbehrlich ge¬

weſen, um dem Etat Geſetzeskraft zu geben. Nach meiner Ueber¬

zeugung würde König Wilhelm ſeine Zuſtimmung auch dann

verſagt haben, wenn das Herrenhaus in ſeinen Beſchlüſſen mit

dem Abgeordnetenhauſe übereingeſtimmt hätte. Daß die „Erſte

Kammer“ das gethan haben würde, glaube ich nicht, vermuthe im

Gegentheil, daß ihre durch Sachlichkeit und Leidenſchaftsloſigkeit

überlegnen Debatten ſchon viel früher auf das Abgeordnetenhaus

mäßigend eingewirkt und deſſen Ausſchreitungen zum Theil ver¬

hindert haben würden. Das Herrenhaus hatte nicht daſſelbe Schwer¬

gewicht in der öffentlichen Meinung, man war geneigt, in ihm eine

Doublüre der Regirungsgewalt und eine parallele Ausdrucksform

des königlichen Willens zu ſehn.

Ich war ſchon damals ſolchen Erwägungen nicht unzugänglich,

hatte im Gegentheil dem Könige gegenüber, als er ſeinen Plan

wiederholt mit mir beſprach, lebhaft befürwortet, neben einer ge¬

wiſſen Anzahl erblicher Mitglieder den Hauptbeſtand des Herren¬

hauſes aus Wahlcorporationen hervorgehn zu laſſen, deren Unter¬

lage die 12000 oder 13000 Rittergüter, vervollſtändigt durch

gleichwerthigen Grundbeſitz, durch die Magiſtrate bedeutender Städte

und die Höchſtbeſteuerten ohne Grundbeſitz nach einem hohen Cenſus

abgeben ſollten, und daß der nichterbliche Theil der Mitglieder

ebenſo wie die des Abgeordnetenhauſes der Wahlperiode und der

Auflöſung unterliegen ſollte. Der König wies dieſe Anſichten ſo

weit und geringſchätzig von ſich, daß ich jede Hoffnung auf ein¬

gehende Erörterung derſelben aufgeben mußte. Auf dem mir neuen

Gebiete der Geſetzgebung hatte ich damals nicht die Sicherheit des

Glaubens an die Richtigkeit eigner Auffaſſungen, welche erforderlich

geweſen wäre, um mich in den mir gleichfalls neuen unmittel¬

baren Beziehungen zu dem Könige und in den Rückſichten auf meine

amtliche Stellung zum Feſthalten an abweichenden eignen Anſichten

[145/0172]

Erſte Kammer oder Herrenhaus? Gegenſtrömungen.

in Verfaſſungsfragen zu ermuthigen. Um mich dazu unter Um¬

ſtänden berechtigt und verpflichtet zu fühlen, hätte ich einer längern

Erfahrung in Staatsgeſchäften bedurft, als ich damals beſaß. Wenn

es ſich 20 Jahre ſpäter um die Beibehaltung der Erſten Kammer

oder Verwandlung derſelben in das Herrenhaus gehandelt hätte,

ſo würde ich aus der erſten Alternative eine Cabinetsfrage ge¬

macht haben.

IV.

Die Haltung, welche ich in der conſervativen Fraction an¬

genommen hatte, griff ſtörend in die Pläne ein, die der König

mit mir hatte oder zu haben behauptete. Als er zu Anfang des

Jahres 1854 das Ziel, mich zum Miniſter zu machen, directer in's

Auge zu faſſen begann, wurde ſeine Abſicht nicht nur von Man¬

teuffel bekämpft, ſondern auch von der Camarilla, deren Haupt¬

perſonen der General Gerlach und Niebuhr waren. Dieſe, ebenſo

wie Manteuffel, waren nicht geneigt, den Einfluß auf den König

mit mir zu theilen, und glaubten ſich mit mir im täglichen Zu¬

ſammenleben nicht ſo gut wie in der Entfernung zu vertragen.

Gerlach wurde in dieſer Vorausſetzung beſtärkt durch ſeinen Bruder,

den Präſidenten, der die Gewohnheit hatte, mich als einen Pilatus-

Charakter zu bezeichnen auf der Baſis: Was iſt Wahrheit? alſo

als einen unſichern Fractionsgenoſſen. Dieſes Urtheil über mich

kam auch in den Kämpfen innerhalb der conſervativen Fraction

und ihres intimern Comités mit Schärfe zum Ausdruck, als ich,

auf Grund meiner Stellung als Bundestagsgeſandter und weil ich

im Beſitz des Vortrags bei dem Könige über die deutſchen An¬

gelegenheiten ſei, einen größern Einfluß auf die Haltung der Frac¬

tion in der deutſchen und der auswärtigen Politik verlangte, während

der Präſident Gerlach und Stahl die abſolute Geſammtleitung nach

allen Seiten hin in Anſpruch nahmen. Ich befand mich im Wider¬

ſpruche mit Beiden, mehr aber mit Gerlach als mit Stahl, und

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 10

[146/0173]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

der Erſtere erklärte ſchon damals, vorauszuſehn, daß unſre Wege

ſich trennen und wir als Gegner enden würden. — In Ueberein¬

ſtimmung habe ich mich in den wechſelnden Phaſen der conſervativen

Fraction ſtets mit Below-Hohendorf und Alvensleben-Erxleben be¬

funden.

Im Winter 1853 zu 1854 ließ mich der König wiederholt

kommen und hielt mich oft lang feſt; ich verfiel dadurch äußer¬

lich in die Kategorie der Streber, die am Sturze Manteuffel's

arbeiteten, den Prinzen von Preußen gegen ſeinen Bruder einzu¬

nehmen, für ſich Stellen oder wenigſtens Aufträge herauszuſchlagen

ſuchten und dann und wann von dem Könige als Rivalen Man¬

teuffels cum spe succedendi behandelt wurden. Nachdem ich mehr¬

mals von dem Könige gegen Manteuffel in der Weiſe ausgeſpielt

worden war, daß ich Gegenentwürfe von Depeſchen zu machen

hatte, bat ich Gerlach, den ich in einem kleinen Vorzimmer neben

dem Cabinet des Königs in dem längs der Spree hinlaufenden

Flügel des Schloſſes fand, mir die Erlaubniß zur Rückkehr nach

Frankfurt zu erwirken. Gerlach trat in das Cabinet und ſprach,

der König rief: „Er ſoll in des Teufels Namen warten, bis ich

ihm befehle abzureiſen!“ Als Gerlach herauskam, ſagte ich lachend,

ich hätte den Beſcheid ſchon. Ich blieb alſo noch eine Zeit lang

in Berlin. Als es endlich zur Abreiſe kam, hinterließ ich den

Entwurf eines eigenhändigen, von dem Könige an den Kaiſer Franz

Joſeph zu richtenden Schreibens, den ich auf Befehl Seiner Majeſtät

ausgearbeitet und den Manteuffel dem Könige vorzulegen über¬

nommen hatte, nachdem er ſich mit mir über den Inhalt ver¬

ſtändigt haben würde. Der Schwerpunkt lag in dem Schlußſatze,

aber auch ohne dieſen bildete der Entwurf ein abgerundetes Akten¬

ſtück, freilich von weſentlich modificirter Tragweite. Ich bat den

Flügeladjutanten vom Dienſt unter Mittheilung einer Abſchrift

des Concepts, den König darauf aufmerkſam zu machen, daß

der Schlußſatz das entſcheidende Stück des Erlaſſes ſei. Dieſe

Vorſichtsmaßregel war im Auswärtigen Amte nicht bekannt;

[147/0174]

Als Redactor diplomatiſcher Depeſchen.

die Collationirung im Schloſſe ergab, daß, wie ich befürchtet

hatte, das Concept geändert und der öſtreichiſchen Politik näher

gerückt war. Während des Krimkrieges und der vorangegangnen

Verhandlungen drehten ſich die Kämpfe in den Regirungskreiſen

häufig um eine weſtmächtlich-öſtreichiſche oder eine ruſſiſche Phraſe,

die, kaum geſchrieben, keine praktiſche Bedeutung mehr hatte.

Um eine ernſtere, in den Verlauf der Dinge eingreifende

Frage der Redaction handelte es ſich im Auguſt 1854. Der König

befand ſich in Rügen; ich war auf dem Wege von Frankfurt nach

Reinfeld, wo meine Frau krank lag, als am 29. Auguſt in Stettin

ein höherer Poſtbeamter, der angewieſen war, auf mich zu fahnden,

mir eine Einladung des Königs nach Putbus ausrichtete. Ich hätte

mich gern gedrückt, der Poſtbeamte aber begriff nicht, wie ein

Mann von altem preußiſchen Schlage ſich einer ſolchen Aufforderung

entziehn wolle. Ich ging nach Rügen, nicht ohne Sorge vor neuen

Zumuthungen, Miniſter zu werden und dadurch in unhaltbare Be¬

ziehungen zum Könige zu gerathen. Der König empfing mich am

30. Auguſt gnädig und ſetzte mich von einer vorliegenden Meinungs¬

verſchiedenheit über die durch den Rückzug der Ruſſen aus den

Donaufürſtenthümern entſtandene Situation in Kenntniß. Es han¬

delte ſich um die Depeſche des Grafen Buol vom 10. Auguſt und

einen von Manteuffel vorgelegten Entwurf einer Antwort, den der

König zu öſtreichiſch fand. Auf Befehl machte ich einen andern

Entwurf, der von Sr. Majeſtät genehmigt und nach Berlin geſchickt

wurde, um im Widerſpruch mit dem leitenden Miniſter zunächſt

an den Grafen Arnim in Wien geſandt und dann den deutſchen

Regirungen mitgetheilt zu werden 1). Die durch Annahme meines

Entwurfs bekundete Stimmung des Königs zeigte ſich auch in dem

Empfang des Grafen Benckendorf, der mit Briefen und mündlichen

Aufträgen in Putbus eintraf, und den ich mit der Nachricht hatte

empfangen können, daß die Engländer und Franzoſen in der Krim

1)

Vgl. Sybel II 204 ff.

[148/0175]

Siebentes Kapitel: Unterwegs zwiſchen Frankfurt und Berlin.

gelandet ſeien. „Freut mich,“ erwiderte er, „da ſind wir ſehr

ſtark.“ Es wurde ruſſiſche Strömung. Ich glaubte, politiſch meine

Schuldigkeit gethan zu haben, hatte ſchlechte Nachrichten von meiner

Frau und bat um die Erlaubniß abzureiſen. Sie wurde mir

indirect dadurch verweigert, daß ich auf das Gefolge übertragen

wurde, ein hoher Gunſtbeweis. Gerlach warnte mich, ihn nicht

zu überſchätzen. „Bilden Sie ſich nur nicht ein,“ ſagte er, „daß

Sie politiſch geſchickter geweſen ſind als wir. Sie ſind augen¬

blicklich in Gunſt, und der König ſchenkt Ihnen dieſe Depeſche,

wie er einer Dame ein Bouquet ſchenken würde.“

Wie wahr das war, erfuhr ich ſofort, aber in vollem Um¬

fange erſt ſpäter nach und nach. Als ich darauf beſtand, abzureiſen,

und in der That am 1. September abreiſte, erfolgte eine ernſte

Ungnade des Königs; mir wäre meine Häuslichkeit doch mehr werth

als das ganze Reich, hatte er zu Gerlach geſagt. Aber wie tief

die Verſtimmung gegangen war, wurde mir erſt während und

nach meiner Pariſer Reiſe klar. Mein beifällig aufgenommener

Depeſchen-Entwurf wurde telegraphiſch angehalten und dann ge¬

ändert.

[[149]/0176]

Achtes Kapitel.

Beſuch in Paris.

I.

Im Sommer 1855 lud unſer Geſandter in Paris, Graf Hatz¬

feldt, mich zum Beſuche der Induſtrie-Ausſtellung ein 1); er theilte

noch den damals in diplomatiſchen Kreiſen verbreiteten Glauben,

daß ich eheſtens der Nachfolger Manteuffel's im Auswärtigen Amt

werden würde. Wenn der König ſich mit einem ſolchen Gedanken

abwechſelnd getragen hatte, ſo wußte man in intimen Hofkreiſen

doch damals ſchon, daß eine Wandelung vorgegangen ſei. Der

Graf Wilhelm Redern, den ich in Paris traf, ſagte mir, die Ge¬

ſandten glaubten noch immer, daß ich zum Miniſter beſtimmt ſei,

er ſelbſt habe das auch geglaubt; aber die Stimmung des Königs

ſei umgeſchlagen, Näheres wiſſe er nicht. Wohl ſeit Rügen.

Der 15. Auguſt, Napoleonstag, wurde u. A. dadurch gefeiert,

daß man ruſſiſche Gefangene durch die Straßen führte. Am 19.

traf die Königin von England ein, der zu Ehren am 25. Auguſt

ein großes Ballfeſt in Verſailles ſtattfand, auf dem ich ihr und

dem Prinzen Albert vorgeſtellt wurde.

Der Prinz in ſeiner ſchwarzen Uniform, ſchön und kühl, ſprach

höflich mit mir, aber in ſeiner Haltung lag eine gewiſſe übel¬

wollende Neugier, aus der ich abnahm, daß ihm meine antiweſt¬

1)

S. Bismarck-Jahrbuch III 86 f.

[150/0177]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

mächtliche Einwirkung auf den König nicht unbekannt war. Nach

der ihm eignen Sinnesweiſe ſuchte er die Beweggründe meines

Verhaltens nicht da, wo ſie lagen, nämlich in dem Intereſſe an

der Unabhängigkeit meines Vaterlandes von fremden Einflüſſen,

Einflüſſen, die in unſrer kleinſtädtiſchen Verehrung für England

und Furcht vor Frankreich einen empfänglichen Boden fanden, ſo¬

wie in dem Wunſche, uns von einem Kriege freizuhalten, den wir

nicht in unſerm Intereſſe, ſondern in Abhängigkeit von öſtreichiſcher

und engliſcher Politik geführt haben würden. In den Augen des

Prinzen war ich, was ich natürlich nicht dem momentanen Eindruck

bei meiner Vorſtellung, ſondern anderweitiger Sach- und Akten¬

kunde entnahm, ein reactionärer Parteimann, der ſich auf die Seite

Rußlands ſtellte, um eine abſolutiſtiſche und Junker-Politik zu för¬

dern. Es konnte nicht befremden, daß dieſe Anſicht des Prinzen

und der damaligen Parteigenoſſen des Herzogs von Coburg ſich

auf die Tochter des Erſtern, welche demnächſt unſre Kronprinzeſſin

wurde, übertragen hatte.

Schon bald nach ihrer Ankunft in Deutſchland, im Februar

1858, konnte ich durch Mitglieder des königlichen Hauſes und aus

eignen Wahrnehmungen die Ueberzeugung gewinnen, daß die Prin¬

zeſſin gegen mich perſönlich voreingenommen war. Ueberraſchend

war mir dabei nicht die Thatſache, wohl aber die Form, wie ihr

damaliges Vorurtheil gegen mich im engen Familienkreiſe zum Aus¬

druck gekommen war: ſie traue mir nicht. Auf Abneigung wegen

meiner angeblich anti-engliſchen Geſinnung und wegen Ungehorſams

gegen engliſche Einflüſſe war ich gefaßt; daß die Frau Prinzeſſin

ſich aber in der Folgezeit bei der Beurtheilung meiner Perſön¬

lichkeit von weitergehenden Verleumdungen beeinfluſſen ließ, mußte

ich vermuthen, als ſie in einem Geſpräche, das ſie mit mir, ihrem

Tiſchnachbar, nach dem 1866er Kriege führte, in halb ſcherzen¬

dem Tone ſagte: ich hätte den Ehrgeiz, König zu werden oder

wenigſtens Präſident einer Republik. Ich antwortete in demſelben

halb ſcherzenden Tone, ich ſei für meine Perſon zum Republikaner

[151/0178]

Begegnung mit Prinz Albert und Königin Victoria. Prinzeſſin Victoria.

verdorben, in den royaliſtiſchen Traditionen der Familie aufgewachſen

und bedürfe zu meinem irdiſchen Behagen einer monarchiſchen Ein¬

richtung, dankte aber Gott, daß ich nicht dazu berufen ſei, wie ein

König auf dem Präſentirteller zu leben, ſondern bis an mein Ende

ein getreuer Unterthan des Königs zu ſein. Daß dieſe meine

Ueberzeugung aber allgemein erblich ſein würde, ließe ſich nicht

verbürgen, nicht weil die Royaliſten ausgehn würden, ſondern

vielleicht die Könige. Pour faire un civet, il faut un lièvre, et

pour une monarchie, il faut un roi. Ich könnte nicht dafür gut

ſagen, daß in Ermanglung eines ſolchen die nächſte Generation

nicht republikaniſch werden könne. Indem ich mich ſo äußerte, war

ich nicht frei von Sorge in dem Gedanken an einen Thronwechſel

ohne Uebergang der monarchiſchen Traditionen auf den Nachfolger.

Die Prinzeſſin vermied indeſſen jede ernſthafte Wendung und blieb

in dem ſcherzenden Tone, liebenswürdig und unterhaltend wie

immer; ſie machte mir mehr den Eindruck, daß ſie einen poli¬

tiſchen Gegner necken wollte.

In den erſten Jahren meines Miniſteriums habe ich noch öfter

bei ähnlichen Tiſchgeſprächen beobachtet, daß es der Prinzeſſin Ver¬

gnügen machte, meine patriotiſche Empfindlichkeit durch ſcherzhafte

Kritik von Perſonen und Zuſtänden zu reizen.

Die Königin Victoria ſprach auf jenem Balle in Verſailles

mit mir deutſch. Ich hatte von ihr den Eindruck, daß ſie in mir

eine merkwürdige, aber unſympathiſche Perſönlichkeit ſah, doch war

ihre Tonart ohne den Anflug von ironiſcher Ueberlegenheit, den ich

bei dem Prinzen Albert durchzufühlen glaubte. Sie blieb freund¬

lich und höflich wie Jemand, der einen wunderlichen Kauz nicht

unfreundlich behandeln will.

Bei dem Souper war mir im Vergleich mit Berlin die Ein¬

richtung merkwürdig, daß die Geſellſchaft in drei Klaſſen mit Ab¬

ſtufungen in dem Menu ſpeiſte und denjenigen Gäſten, die über¬

haupt ſpeiſen ſollten, die Zuſicherung durch Ueberreichung einer

Karte mit der Nummer beim Eintreten gegeben wurde. Die Karten

[152/0179]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

der erſten Klaſſe enthielten auch den Namen der an dem betreffenden

Tiſche vorſitzenden Dame. Dieſe Tiſche waren auf 15 bis 20

Perſonen eingerichtet. Ich erhielt beim Eintreten eine ſolche Karte

zu dem Tiſche der Gräfin Walewska und ſpäter im Saale noch zwei

von zwei andern Patronesses-Damen der Diplomatie und des

Hofes. Es war alſo kein genauer Plan für die Placirung der

Gäſte gemacht worden. Ich wählte den Tiſch der Gräfin Walewska,

zu deren Departement ich als auswärtiger Diplomat gehörte. Auf

dem Wege zu dem betreffenden Saale ſtieß ich auf einen preu¬

ßiſchen Offizier in der Uniform eines Garde-Infanterie-Regiments,

der eine franzöſiſche Dame führte und ſich in lebhaftem Streit

mit einem der kaiſerlichen Haushofmeiſter befand, der beide, weil

ſie mit Karten nicht verſehn waren, nicht paſſiren laſſen wollte.

Nachdem mir der Offizier auf mein Befragen die Sachlage erklärt

und mir die Dame als eine Herzogin mit italieniſchem Titel aus

dem erſten Empire bezeichnet hatte, ſagte ich dem Hofbeamten, ich

hätte die Karte des Herrn, und gab ihm eine der meinigen. Der

Beamte wollte nun aber die Dame nicht paſſiren laſſen, ich gab

daher dem Offizier meine zweite Karte für ſeine Herzogin. Der Be¬

amte bedeutete mich, „mais vous ne passerez pas sans carte“;

als ich ihm die dritte vorgezeigt hatte, machte er ein verwundertes

Geſicht und ließ uns alle drei durch. Ich empfahl meinen beiden

Schützlingen, ſich nicht an die Tiſche zu ſetzen, die auf den Karten

angegeben waren, ſondern zu ſehn, wo ſie ſonſt unterkämen, habe

auch keine Reclamation über meine Kartenvertheilung zu hören be¬

kommen. Die Unregelmäßigkeit war ſo groß, daß unſer Tiſch nicht

voll beſetzt wurde, was ſich aus dem Mangel einer Verabredung

der dames patronesses erklärt. Der alte Fürſt Pückler hatte ent¬

weder keine Karte erhalten oder ſeinen Tiſch nicht finden können;

nachdem er ſich an mein ihm bekanntes Geſicht gewandt hatte,

wurde er von der Gräfin Walewska auf einen der leer gebliebenen

Plätze eingeladen. Das Souper war trotz der Dreitheilung weder

nach dem Material, noch nach der Zubereitung auf der Höhe deſſen,

[153/0180]

Pariſer Hofſitten, ein Souper in Verſailles.

was in Berlin bei ähnlichen Maſſenfeſten geleiſtet wird; nur die

Bedienung war ausreichend und prompt.

Am auffallendſten war mir der Unterſchied in den Anordnungen

für die Circulation. Das Verſailler Schloß bietet dafür eine viel

größere Leichtigkeit, als das Berliner vermöge der größern Zahl

und, abgeſehn von dem Weißen Saale, der größern Ausdehnung

der Räume. Hier war den Soupirenden Nro. 1 für ihren Rückzug

derſelbe Weg angewieſen, wie den Hungrigen Nro. 2, deren ſtürmiſcher

Anmarſch ſchon eine weniger höfiſche geſellſchaftliche Gewöhnung

verrieth. Es kamen körperliche Zuſammenſtöße der geſtickten und

bebänderten Herrn und reich eleganten Damen vor, die in Hand¬

greiflichkeiten und Verbalinjurien übergingen, wie ſie bei uns im

Schloſſe unmöglich wären. Ich zog mich mit dem befriedigenden

Eindruck zurück, daß trotz alles Glanzes des kaiſerlichen Hofes der

Hofdienſt, die Erziehung und die Manieren der Hofgeſellſchaft bei

uns, wie in Petersburg und Wien höher ſtanden als in Paris,

und daß die Zeiten hinter uns lagen, da man in Frankreich und

am Pariſer Hofe eine Schule der Höflichkeit und des guten Be¬

nehmens durchmachen konnte. Selbſt die, namentlich im Vergleich

mit Petersburg, veraltete Etikette kleiner deutſcher Höfe war würde¬

voller als die imperialiſtiſche Praxis. Freilich habe ich dieſen Ein¬

druck ſchon unter Louis Philipp gehabt, während deſſen Regirung

es in Frankreich gradezu Mode wurde, ſich in der Richtung über¬

triebener Ungenirtheit und des Verzichtes auf Höflichkeit beſonders

gegen Damen hervorzuthun. War es nun auch in dieſer Beziehung

während des zweiten Kaiſerreichs beſſer geworden, ſo blieben doch

der Ton in der amtlichen und höfiſchen Geſellſchaft und die Haltung

des Hofes ſelbſt gegen die drei öſtlichen großen Höfe zurück. Nur

in den der amtlichen Welt fremden legitimiſtiſchen Kreiſen war es

zur Zeit Louis Philipp's ſowohl, wie Louis Napoleon's anders, der

Ton tadellos, höflich und gaſtlich, mit gelegentlichen Ausnahmen

der jüngern, mehr verpariſerten Herrn, die ihre Gewohnheiten

nicht der Familie, ſondern dem Club entnahmen.

[154/0181]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

Der Kaiſer, den ich bei meiner damaligen Anweſenheit in

Paris zum erſten Male ſah, hat mir bei verſchiedenen Beſprechungen

damals nur in allgemeinen Worten ſeinen Wunſch und ſeine Abſicht

im Sinne einer franzöſiſch-preußiſchen Intimität zu erkennen ge¬

geben. Er ſprach davon, daß dieſe beiden benachbarten Staaten,

die vermöge ihrer Bildung und ihrer Einrichtungen an der Spitze

der Civiliſation ſtänden, auf einander angewieſen ſeien. Eine

Neigung, Beſchwerden, die durch unſre Verweigerung des An¬

ſchluſſes an die Weſtmächte hervorgerufen wären, mir gegenüber

zum Ausdruck zu bringen, ſtand nicht im Vordergrunde. Ich hatte

das Gefühl, daß der Druck, den England und Oeſtreich in

Berlin und Frankfurt ausübten, um uns zu Kriegsdienſten im weſt¬

mächtlichen Lager zu nöthigen, ſehr viel ſtärker, man könnte ſagen,

leidenſchaftlicher und gröber war, als die in wohlwollender Form

mir kund gegebenen Wünſche und Verſprechungen, mit denen der

Kaiſer unſre Verſtändigung ſpeciell mit Frankreich befürwortete.

Er war für unſre Sünden gegen die weſtmächtliche Politik viel

nachſichtiger, als England und Oeſtreich. Er ſprach nie Deutſch

mit mir, auch ſpäter nicht.

Daß mein Beſuch in Paris am heimathlichen Hofe mißfallen

und die gegen mich bereits vorhandene Verſtimmung beſonders bei

der Königin Eliſabeth geſteigert hatte, konnte ich Ende September

deſſelben Jahres wahrnehmen. Während der König die Rheinreiſe

zum Dombaufeſt nach Köln machte, meldete ich mich in Coblenz

und wurde mit meiner Frau von dem Könige zur Mitfahrt nach

Köln auf dem Dampfſchiff eingeladen, meine Frau aber von der

Königin an Bord und in Remagen ignorirt 1). Der Prinz von

Preußen, der das bemerkt hatte, gab meiner Frau den Arm und

führte ſie zu Tiſch. Nach Aufhebung der Tafel bat ich um die

Erlaubniß, nach Frankfurt zurückzukehren, die ich erhielt.

Erſt im folgenden Winter, während deſſen der König ſich mir

1)

Vgl. Bismarck's Brief an Gerlach vom 7. October 1855, S. 248 f.

[155/0182]

Unterredung mit Napoleon III. Verſtimmung des Königs.

wieder genähert hatte, fragte er mich einmal bei Tafel quer über

den Tiſch nach meiner Meinung über Louis Napoleon; ſein Ton

war ironiſch. Ich antwortete: „Ich habe den Eindruck, daß der

Kaiſer Napoleon ein geſcheidter und liebenswürdiger Mann, aber

ſo klug nicht iſt, wie die Welt ihn ſchätzt, die Alles, was vorgeht,

auf ſeine Rechnung ſchreibt, und wenn es in Oſtaſien zur unrechten

Zeit regnet, das aus einer übelwollenden Machination des Kaiſers

erklären will. Man hat ſich beſonders bei uns daran gewöhnt,

ihn als eine Art génie du mal zu betrachten, das immer nur

darüber nachdenke, wie es in der Welt Unfug anrichten könne 1).

Ich glaube, daß er froh iſt, wenn er etwas Gutes in Ruhe genießen

kann; ſein Verſtand wird auf Koſten ſeines Herzens überſchätzt; er

iſt im Grunde gutmüthig und es iſt ihm ein ungewöhnliches Maß

von Dankbarkeit für jeden geleiſteten Dienſt eigen.“

Der König lachte dazu in einer Weiſe, die mich verdroß und zu

der Frage veranlaßte, ob ich mir geſtatten dürfe, die augenblicklichen

Gedanken Sr. Majeſtät zu errathen. Der König bejahte und ich ſagte:

„General von Canitz hielt den jungen Offizieren in der Kriegs¬

akademie Vorträge über Napoleon's Feldzüge. Ein ſtrebſamer Zu¬

hörer fragte ihn, warum Napoleon dieſe oder jene Bewegung unter¬

laſſen haben könne. Canitz antwortete: ,Ja, ſehn Sie, wie dieſer

Napoleon eben war, ein ſeelensguter Kerl, aber dumm, dumm‘ —

was natürlich die große Heiterkeit der Kriegsſchüler erregte. Ich

fürchte, daß Eurer Majeſtät Gedanken über mich denen des Generals

von Canitz über Napoleon ähnlich ſind.“

Der König ſagte lachend: „Sie mögen Recht haben; aber ich

kenne den jetzigen Napoleon nicht hinreichend, um Ihren Eindruck

beſtreiten zu können, daß ſein Herz beſſer ſei, als ſein Kopf.“ Daß

die Königin mit meiner Anſicht unzufrieden war, konnte ich aus

den kleinen Aeußerlichkeiten entnehmen, durch welche ſich bei Hofe

die Eindrücke kenntlich machen.

1)

Vgl. die Aeußerung Bismarck's in der Reichstagsrede vom 8. Januar

1885, Politiſche Reden X 373.

[156/0183]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

II.

Das Mißvergnügen über meinen Verkehr mit Napoleon ent¬

ſprang aus dem Begriffe oder genauer geſprochen dem Worte

Legitimität, das in dem modernen Sinne von Talleyrand ge¬

prägt und 1814 und 1815 mit großem Erfolge und zum Vortheil

der Bourbonen als eine täuſchende Zauberformel benutzt worden iſt.

Ich ſchalte hier einige Stücke aus meiner Correſpondenz mit

Gerlach ein, die etwas ſpäter fallen, deren Anlaß aber ſchon in

den oben mitgetheilten Bruchſtücken ſeiner Briefe zu erkennen iſt.

„Frankfurt, den 2. Mai 1857 1).

... So einſtimmig wir in Betreff der innern Politik ſind, ſo

wenig kann ich mich in Ihre Auffaſſung der äußern hineinleben,

der ich im Allgemeinen den Vorwurf mache, daß ſie die Reali¬

täten ignorirt. Sie gehn davon aus, daß ich einem vereinzelten

Manne, der mir imponire, das Prinzip opfre. Ich lehne mich gegen

Vorder- und Nachſatz auf. Der Mann imponirt mir durchaus

nicht. Die Fähigkeit, Menſchen zu bewundern, iſt in mir nur

mäßig ausgebildet, und [es iſt] vielmehr ein Fehler meines Auges,

daß es ſchärfer für Schwächen als für Vorzüge iſt. Wenn mein

letzter Brief etwa ein lebhafteres Colorit hat, ſo bitte ich das mehr

als rhetoriſches Hülfsmittel zu betrachten, mit dem ich auf Sie

habe wirken wollen. Was aber das von mir geopferte Prinzip

betrifft, ſo kann ich mir das, was Sie damit meinen, concret nicht

recht formuliren und bitte Sie, dieſen Punkt in einer Antwort

wieder aufzunehmen, da ich das Bedürfniß habe, mit Ihnen prin¬

zipiell nicht auseinander zu gehn. Meinen Sie damit ein auf

Frankreich und ſeine Legitimität anzuwendendes Prinzip, ſo

geſtehe ich allerdings, daß ich dieſes meinem ſpecifiſch Preußi¬

ſchen Patriotismus vollſtändig unterordne; Frankreich inter¬

1)

Briefe Bismarck's an Gerlach, S. 314 ff.

[157/0184]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

eſſirt mich nur inſoweit, als es auf die Lage meines Vaterlandes

reagirt, und wir können Politik nur mit dem Frankreich treiben,

welches vorhanden iſt, dieſes aber aus den Combinationen

nicht ausſchließen. Ein legitimer Monarch wie Ludwig XIV.

iſt ein ebenſo feindſeliges Element wie Napoleon I., und wenn

deſſen jetziger Nachfolger heut auf den Gedanken käme zu abdiciren,

um ſich in die Muße des Privatlebens zurückzuziehn, ſo würde er

uns garkeinen Gefallen damit thun, und Heinrich V. würde nicht

ſein Nachfolger ſein; auch wenn man ihn auf den vacanten und

unverwehrten Thron hinaufſetzte, würde er ſich nicht darauf be¬

haupten. Ich kann als Romantiker eine Thräne für ſein Geſchick

haben, als Diplomat würde ich ſein Diener ſein, wenn ich Franzoſe

wäre, ſo aber zählt mir Frankreich, ohne Rückſicht auf die jeweilige

Perſon an ſeiner Spitze, nur als ein Stein und zwar ein unver¬

meidlicher in dem Schachſpiel der Politik, ein Spiel, in welchem

ich nur meinem Könige und meinem Lande zu dienen Beruf habe.

Sympathien und Antipathien in Betreff auswärtiger Mächte und

Perſonen vermag ich vor meinem Pflichtgefühl im auswärtigen

Dienſte meines Landes nicht zu rechtfertigen, weder an mir noch

an Andern; es iſt darin der Embryo der Untreue gegen den Herrn

oder das Land, dem man dient. Insbeſondre aber, wenn man

ſeine ſtehenden diplomatiſchen Beziehungen und die Unterhaltung

des Einvernehmens im Frieden danach zuſchneiden will, ſo hört

man m. E. auf, Politik zu treiben und handelt nach perſönlicher

Willkür. Die Intereſſen des Vaterlandes dem eignen Gefühl von

Liebe oder Haß gegen Fremde unterzuordnen, dazu hat meiner

Anſicht nach ſelbſt der König nicht das Recht, hat es aber vor Gott

und nicht vor mir zu verantworten, wenn er es thut, und darum

ſchweige ich über dieſen Punkt.

Oder finden Sie das Prinzip, welches ich geopfert habe, in

der Formel, daß ein Preuße ſtets ein Gegner Frankreichs

ſein müſſe? Aus dem Obigen geht ſchon hervor, daß ich den Ma߬

ſtab für mein Verhalten gegen fremde Regirungen nicht aus ſtag¬

[158/0185]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

nirenden Antipathien, ſondern nur aus der Schädlichkeit oder

Nützlichkeit für Preußen, welche ich ihnen beilege, entnehme. In

der Gefühlspolitik iſt garkeine Reciprocität, ſie iſt eine ausſchließlich

Preußiſche Eigenthümlichkeit; jede andre Regirung nimmt lediglich

ihre Intereſſen zum Maßſtabe ihrer Handlungen, wie ſie dieſelben

auch mit rechtlichen oder gefühlvollen Deductionen drapiren mag.

Man acceptirt unſre Gefühle, beutet ſie aus, rechnet darauf, daß

ſie uns nicht geſtatten, uns dieſer Ausbeutung zu entziehn und be¬

handelt uns danach, d. h. man dankt uns nicht einmal dafür und

reſpectirt uns nur als brauchbare dupe.

Ich glaube, Sie werden mir Recht geben, wenn ich behaupte,

daß unſer Anſehn in Europa heut nicht daſſelbe iſt wie vor 1848;

ich meine ſogar, es war größer zu jeder Zeit zwiſchen 1763 und

1848, mit Ausnahme natürlich der Zeit von 7 bis 13. Ich räume

ein, daß unſer Machtverhältniß zu andern Großmächten, namentlich

aggreſſiv, vor 1806 ein ſtärkeres war als jetzt, von 15 bis 48

aber nicht; damals waren ziemlich Alle, was ſie jetzt noch ſind,

und doch müſſen wir ſagen wie der Schäfer in Goethe's Gedicht:

,Ich bin heruntergekommen und weiß doch ſelber nicht wie.‘ Ich

will auch nicht behaupten, daß ich es weiß, aber viel liegt ohne

Zweifel in dem Umſtande: wir haben keine Bündniſſe und treiben

keine auswärtige Politik, das heißt, keine active, ſondern wir be¬

ſchränken uns darauf, die Steine, die in unſern Garten fallen,

aufzuſammeln und den Schmutz, der uns anfliegt, abzubürſten, wie

wir können. Wenn ich von Bündniſſen rede, ſo meine ich damit

keine Schutz- und Trutzbündniſſe, denn der Frieden iſt noch nicht

bedroht; aber alle die Nuancen von Möglichkeit, Wahrſcheinlichkeit

oder Abſicht, für den Fall eines Krieges dieſes oder jenes Bündniß

ſchließen, zu dieſer oder jener Gruppe gehören zu können, bleiben

doch die Baſis des Einfluſſes, den ein Staat heut zu Tage in Friedens¬

zeiten üben kann. Wer ſich in der für den Kriegsfall ſchwächern

Combination befindet, iſt nachgiebiger geſtimmt; wer ſich ganz

iſolirt, verzichtet auf Einfluß, beſonders wenn es die ſchwächſte

[159/0186]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

unter den Großmächten iſt. Bündniſſe ſind der Ausdruck gemein¬

ſamer Intereſſen und Abſichten. Ob wir Abſichten und bewußte

Ziele unſrer Politik überhaupt jetzt haben, weiß ich nicht; aber daß

wir Intereſſen haben, daran werden uns Andre ſchon erinnern.

Wir aber haben die Wahrſcheinlichkeit eines Bündniſſes bisher nur

mit denen, deren Intereſſen ſich mit den unſrigen am mannig¬

fachſten kreuzen und ihnen widerſprechen, nämlich mit den deutſchen

Staaten und Oeſtreich. Wollen wir damit unſre auswärtige Politik

abgeſchloſſen betrachten, ſo müſſen wir uns auch mit dem Gedanken

vertraut machen, in Friedenszeiten unſern europäiſchen Einfluß auf

ein Siebzehntel der Stimmen des engern Rathes im Bunde reducirt

zu ſehn und im Kriegsfalle mit der Bundesverfaſſung in der Hand

allein im Taxis'ſchen Palais übrig zu bleiben. Ich frage Sie, ob

es in Europa ein Cabinet gibt, welches mehr als das Wiener ein

gebornes und natürliches Intereſſe daran hat, Preußen nicht ſtärker

werden zu laſſen, ſondern ſeinen Einfluß in Deutſchland zu min¬

dern; ob es ein Cabinet gibt, welches dieſen Zweck eifriger und

geſchickter verfolgt, welches überhaupt kühler und cyniſcher nur

ſeine eignen Intereſſen zur Richtſchnur ſeiner Politik nimmt, und

welches uns, den Ruſſen und den Weſtmächten mehr und ſchlagen¬

dere Beweiſe von Perfidie und Unzuverläſſigkeit für Bundesgenoſſen

gegeben hat? Genirt ſich denn Oeſtreich etwa mit dem Auslande

jede ſeinem Vortheil entſprechende Verbindung einzugehn und ſogar

die Theilnehmer des Deutſchen Bundes vermöge ſolcher Verbindungen

offen zu bedrohen? Halten Sie den Kaiſer Franz Joſeph für eine

aufopfernde, hingebende Natur überhaupt und insbeſondre für außer¬

öſtreichiſche Intereſſen? Finden Sie zwiſchen ſeiner Buol-Bach'ſchen

Regirungsweiſe und der Napoleoniſchen vom Standpunkte des

,Prinzips' einen Unterſchied? Der Träger der letztern ſagte mir

in Paris, es ſei für ihn ,qui fais tous les efforts pour sortir

de ce système de centralisation trop tendue qui en dernier lieu

a pour pivot un gend'arme-sécrétaire et que je considère comme

une des causes principales des malheurs de la France‘ ſehr

[160/0187]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

merkwürdig zu ſehn, wie Oeſtreich die ſtärkſten Anſtrengungen

mache, um hinein zu gerathen. Ich frage noch weiter und bitte

Sie, mich in Antwort nicht mit einer ausweichenden Wendung ab¬

zufinden: gibt es nächſt Oeſtreich Regirungen, die weniger den

Beruf fühlen, etwas für Preußen zu thun, als die deutſchen

Mittelſtaaten? Im Frieden haben ſie das Bedürfniß, am Bunde

und im Zollverein Rollen zu ſpielen, ihre Souveränetät an unſern

Gränzen geltend zu machen, ſich mit von der Heydt zu zanken, und

im Kriege wird ihr Verhalten durch Furcht oder Mißtrauen für

oder gegen uns bedingt, und das Mißtrauen wird ihnen kein Engel

ausreden können, ſo lange es noch Landkarten gibt, auf die ſie

einen Blick werfen können. Und nun noch eine Frage: Glauben

Sie denn und glaubt Se. Majeſtät der König wirklich noch an

den Deutſchen Bund und ſeine Armee für den Kriegsfall? ich meine

nicht für den Fall eines franzöſiſchen Revolutionskrieges gegen

Deutſchland im Bunde mit Rußland, ſondern in einem Intereſſen¬

kriege, bei dem Deutſchland mit Preußen und Oeſtreich auf ihren

alleinigen Füßen zu ſtehn angewieſen wären. Glauben Sie daran,

ſo kann ich allerdings nicht weiter diſcutiren, denn unſre Prämiſſen

wären zu verſchieden. Was könnte Sie aber berechtigen, daran

zu glauben, daß die Großherzöge von Baden und Darmſtadt, der

König von Würtemberg oder Baiern den Leonidas für Preußen

und Oeſtreich machen ſollten, wenn die Uebermacht nicht auf deren

Seite iſt und niemand an Einheit und Vertrauen zwiſchen beiden,

Preußen und Oeſtreich nämlich, auch nur den mäßigſten Grund

hat zu glauben? Schwerlich wird der König Max in Fontainebleau

dem Napoleon ſagen, daß er nur über ſeine Leiche die Gränze

Deutſchlands oder Oeſtreichs paſſiren werde.

Ganz erſtaunt bin ich, in Ihrem Briefe zu leſen, daß die

Oeſtreicher behaupten, ſie hätten uns in Neuenburg mehr verſchafft

als die Franzoſen. So unverſchämt im Lügen iſt doch nur Oeſt¬

reich; wenn ſie gewollt hätten, ſo hätten ſie es nicht gekonnt und

mit Frankreich und England wahrlich keine Händel um unſert¬

[161/0188]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

willen angefangen. Aber ſie haben im Gegentheil uns in der

Durchmarſchfrage genirt, ſo viel ſie konnten, uns verleumdet, uns

Baden abwendig gemacht, und jetzt in Paris ſind ſie mit England

unſre Gegner geweſen. Ich weiß von den Franzoſen und von

Kiſſeleff, daß in allen Beſprechungen, wo Hübner ohne Hatzfeldt

geweſen iſt, und das waren grade die entſcheidenden, er ſtets der

Erſte war, ſich dem engliſchen Widerſpruch gegen uns anzuſchließen;

dann iſt Frankreich gefolgt, dann Rußland. Warum ſollte aber

überhaupt Jemand etwas für uns in Neuenburg thun und ſich

für unſre Intereſſen einſetzen? hatte denn Jemand von uns etwas

dafür zu hoffen oder zu fürchten, wenn er uns den Gefallen that

oder nicht? Daß man in der Politik aus Gefälligkeit oder aus

allgemeinem Rechtsgefühl handelt, das dürfen Andre von uns,

wir aber nicht von ihnen erwarten.

Wollen wir ſo iſolirt, unbeachtet und gelegentlich ſchlecht be¬

handelt weiter leben, ſo habe ich freilich keine Macht, es zu ändern;

wollen wir aber wieder zu Anſehn gelangen, ſo erreichen wir

es unmöglich damit, daß wir unſer Fundament lediglich auf den

Sand des Deutſchen Bundes bauen und den Einſturz in Ruhe

abwarten. So lange Jeder von uns die Ueberzeugung hat, daß

ein Theil des europäiſchen Schachbretts uns nach unſerm eignen

Willen verſchloſſen bleibt oder daß wir uns einen Arm prinzipiell

feſtbinden, während jeder Andre beide zu unſerm Nachtheil be¬

nutzt, wird man dieſe unſre Gemüthlichkeit ohne Furcht und ohne

Dank benutzen. Ich verlange ja garnicht, daß wir mit Frankreich

ein Bündniß ſchließen und gegen Deutſchland conſpiriren ſollen;

aber iſt es nicht vernünftiger, mit den Franzoſen, ſo lange ſie uns

in Ruhe laſſen, auf freundlichem als auf kühlem Fuße zu ſtehn?

Ich will nichts weiter als andern Leuten den Glauben benehmen,

ſie könnten ſich verbrüdern, mit wem ſie wollten, aber wir würden

eher Riemen aus unſrer Haut ſchneiden laſſen, als dieſelbe mit

franzöſiſcher Hülfe vertheidigen. Höflichkeit iſt eine wohlfeile Münze;

und wenn ſie auch nur dahin führt, daß die Andern nicht mehr

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 11

[162/0189]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

glauben, Frankreichs ſeien ſie gegen uns immer ſicher und wir

jeder Zeit hülfsbedürftig gegen Frankreich, ſo iſt das für Friedens¬

diplomatie ein großer Gewinn; wenn wir dieſe Hülfsmittel ver¬

ſchmähn, ſogar das Gegentheil thun, ſo weiß ich nicht, warum wir

nicht lieber die Koſten der Diplomatie ſparen oder reduciren, denn

dieſe Kaſte vermag mit allen Arbeiten nicht zu Wege zu bringen,

was der König mit geringer Mühe kann, nämlich Preußen eine

angeſehne Stellung im Frieden durch den Anſchein von freund¬

lichen Beziehungen und möglichen Verbindungen wiederzugeben.

Nicht minder vermag Se. Majeſtät durch ein [Zur]ſchautragen

kühler Verhältniſſe leicht alle Arbeit der Diplomaten zu lähmen;

denn was ſoll ich hier oder einer unſrer andern Geſandten durch¬

ſetzen, wenn wir den Eindruck machen, ohne Freunde zu ſein oder

auf Oeſtreichs Freundſchaft zu rechnen. Man muß nach Berlin

kommen, um nicht ausgelacht zu werden, wenn man von Oeſtreichs

Unterſtützung in irgend einer für uns erheblichen Frage ſprechen

will. Und ſelbſt in Berlin kenne ich doch nachgrade nur einen

ſehr kleinen Kreis, bei dem das Gefühl der Bitterkeit nicht durch¬

bräche, ſobald von unſrer auswärtigen Politik die Rede iſt. Unſer

Recept für alle Uebel iſt, uns an die Bruſt des Grafen Buol zu

werfen und ihm unſer brüderliches Herz auszuſchütten. Ich erlebte

in Paris, daß ein Graf So und So gegen ſeine Frau auf Schei¬

dung klagte, nachdem er ſie, eine ehemalige Kunſtreiterin, zum

24. Male im flagranten Ehebruch betroffen hatte; er wurde als

ein Muſter von galantem und nachſichtigem Ehemann von ſeinem

Advocaten vor Gericht gerühmt, aber gegen unſern Edelmuth mit

Oeſtreich kann er ſich doch nicht meſſen.

Unſre innern Verhältniſſe leiden unter ihren eignen Fehlern

kaum mehr, als unter dem peinlichen und allgemeinen Gefühl

unſres Verluſtes an Anſehn im Auslande und der gänzlich paſſiven

Rolle unſrer Politik. Wir ſind eine eitle Nation, es iſt uns

ſchon empfindlich, wenn wir nicht renommiren können, und einer

Regirung, die uns nach außen hin Bedeutung gibt, halten wir

[163/0190]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

vieles zu Gute und laſſen uns viel gefallen dafür, ſelbſt im Beutel.

Aber wenn wir uns für's Innre ſagen müſſen, daß wir mehr

durch unſre guten Säfte die Krankheiten ausſtoßen, welche unſre

miniſteriellen Aerzte uns einimpfen, als daß wir von ihnen geheilt

und zu geſunder Diät angeleitet würden, ſo ſucht man im Aus¬

wärtigen vergebens nach einem Troſt dafür. Sie ſind doch, ver¬

ehrteſter Freund, au fait von unſrer Politik; können Sie mir nun

ein Ziel nennen, welches dieſelbe ſich etwa vorgeſteckt hat, auch

nur einen Plan auf einige Monate hinaus; grade rebus sic stan¬

tibus weiß man da, was man eigentlich will? weiß das irgend

Jemand in Berlin und glauben Sie, daß bei den Leitern eines

andern Staates dieſelbe Leere an poſitiven Zwecken und Ideen vor¬

handen iſt? Können Sie mir ferner einen Verbündeten nennen,

auf welchen Preußen zählen könnte, wenn es heut grade zum Kriege

käme, oder der für uns ſpräche bei einem Anliegen, wie etwa das

Neuenburger, oder der für uns irgend etwas thäte, weil er auf

unſern Beiſtand rechnet oder unſre Feindſchaft fürchtet? Wir ſind

die gutmüthigſten, ungefährlichſten Politiker, und doch traut uns

eigentlich niemand; wir gelten wie unſichre Genoſſen und unge¬

fährliche Feinde, ganz als hätten wir uns im Aeußern ſo betragen

und wären im Innern ſo krank wie Oeſtreich. Ich ſpreche nicht

von der Gegenwart; aber können Sie mir einen poſitiven Plan

(abwehrende genug) oder eine Abſicht nennen, die wir ſeit dem

Radowitziſchen Dreikönigsbündniß in auswärtiger Politik gehabt

haben? Doch, den Jahdebuſen; der bleibt aber bisher ein todtes

Waſſerloch, und den Zollverein werden wir uns von Oeſtreich ganz

freundlich ausziehn laſſen, weil wir nicht den Entſchluß haben, ein¬

fach Nein zu ſagen. Ich wundre mich, wenn es bei uns noch

Diplomaten gibt, denen der Muth, einen Gedanken zu haben, denen

die ſachliche Ambition, etwas leiſten zu wollen, nicht ſchon erſtorben

iſt, und ich werde mich ebenſo gut wie meine Collegen darin finden,

einfältig meine Inſtruction zu vollziehn, den Sitzungen beizuwohnen

und mich der Theilnahme für den allgemeinen Gang unſrer Politik

[164/0191]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

zu entſchlagen; man bleibt geſünder dabei und verbraucht weniger

Tinte.

Sie werden wahrſcheinlich ſagen, daß ich aus dépit, weil

Sie nicht meiner Meinung ſind, ſchwarz ſehe und raiſonnire wie

ein Rohrſpatz; aber ich würde wahrlich ebenſogern meine Be¬

mühungen an die Durchführung fremder Ideen wie eigner ſetzen,

wenn ich nur überhaupt welche fände. So weiter zu vegetiren,

dazu bedürfen wir eigentlich des ganzen Apparates unſrer Diplo¬

matie nicht. Die Tauben, die uns gebraten anfliegen, entgehn uns

ohnehin nicht; oder doch, denn wir werden den Mund ſchwerlich

dazu aufmachen, falls wir nicht grade gähnen. Mein Streben

geht ja nur dahin, daß wir ſolche Dinge zulaſſen und nicht von

uns weiſen, welche geeignet ſind, bei den Cabinetten in Friedens¬

zeit den Eindruck zu machen, daß wir uns mit Frankreich nicht

ſchlecht ſtehn, daß man auf unſre Beiſtandsbedürftigkeit gegen

Frankreich nicht zählen und uns deßhalb drücken darf, und daß

uns, wenn man unwürdig mit uns umgehn will, alle Bündniſſe

offen ſtehn. Wenn ich nun melde, daß dieſe Vortheile gegen Höf¬

lichkeit und gegen den Schein der Reciprocität zu haben ſind, ſo

erwarte ich, daß man mir entweder nachweiſt, es ſeien keine Vor¬

theile, es entſpreche vielmehr unſern Intereſſen beſſer, wenn fremde

und deutſche Höfe berechtigt ſind, von der Annahme auszugehn,

daß wir gegen Weſten unter allen Umſtänden feindlich gerüſtet ſein

müſſen und Bündniſſe, eventuell Hülfe, dagegen bedürfen, und wenn

ſie dieſe Annahme als Baſis ihrer gegen uns gerichteten politiſchen

Operationen ausbeuten. Oder ich erwarte, daß man andre Pläne

und Abſichten hat, in deren Combination der Anſchein eines guten

Vernehmens mit Frankreich nicht paßt. Ich weiß nicht, ob die

Regirung einen Plan hat (den ich nicht kenne), ich glaube es nicht;

wenn man aber diplomatiſche Annäherungen einer großen Macht

nur deßhalb von ſich abhält und die politiſchen Beziehungen zweier

großen Mächte nur danach regelt, ob man Antipathien oder Sym¬

pathien für Zuſtände und Perſonen hat, die man doch nicht ändern

[165/0192]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

kann und will, ſo drücke ich mich mit Zurückhaltung aus, wenn

ich ſage: Ich habe dafür kein Verſtändniß als Diplomat und finde

mit der Annahme eines ſolchen Syſtems in auswärtigen Be¬

ziehungen das ganze Gewerbe der Diplomatie bis auf das Con¬

ſularweſen hinunter überflüſſig und thatſächlich caſſirt. Sie ſagen

mir, ‚der Mann iſt unſer natürlicher Feind, und daß er es iſt und

bleiben muß, wird ſich bald zeigen‘; ich könnte das beſtreiten oder

mit demſelben Rechte ſagen: ‚Oeſtreich, England ſind unſre Feinde,

und daß ſie es ſind, zeigt ſich ſchon längſt, bei Oeſtreich natür¬

licher, bei England unnatürlicher Weiſe.‘ Aber ich will das auf

ſich beruhn laſſen und annehmen, Ihr Satz wäre richtig, ſo kann

ich es auch dann noch nicht für politiſch halten, unſre Befürch¬

tungen ſchon im Frieden von andern und von Frankreich ſelbſt

erkennen zu laſſen, ſondern finde es, bis der von Ihnen vorher¬

geſehne Bruch wirklich eintritt, immer noch nützlich, die Leute

glauben zu laſſen, daß ein Krieg gegen Frankreich uns nicht noth¬

wendig über kurz oder lang bevorſteht, daß er wenigſtens nichts

von Preußens Lage Unzertrennliches, daß die Spannung gegen

Frankreich nicht ein organiſcher Fehler, eine angeborne ſchwache

Seite unſrer Natur iſt, auf die jeder Andre mit Sicherheit

ſpeculiren kann. Sobald man uns für kühl mit Frankreich hält,

wird auch der Bundescollege hier kühl für mich. ...

v. B.“

Gerlach antwortete wie folgt:

„Berlin, 6. Mai 1857.

Ihr Brief vom 2. hat auf der einen Seite mir eine große

Freude gemacht, da ich daraus ſehe, daß es Ihnen am Herzen

liegt, mit mir in Einigkeit zu bleiben oder zu kommen, woraus

ſich die meiſten Menſchen wenig machen, auf der andern Seite

aber auch zum Widerſpruch und zur eignen Rechtfertigung auf¬

gefordert.

Zunächſt bilde ich mir ein, doch immer noch im innerſten

Grunde mit Ihnen einig zu ſein. Wäre das nicht der Fall, ſo

[166/0193]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

würde ich mich auf eine gründliche Widerlegung nicht einlaſſen,

indem eine ſolche doch zu nichts führen könnte. Haben Sie das

Bedürfniß, mit mir principiell nicht auseinander zu gehen, ſo liegt

es uns doch zunächſt ob, dieſes Princip aufzuſuchen und ſich nicht

an Negationen zu halten, wie z. B. ‚Ignoriren von Realitäten‘,

‚Ausſchließen von Frankreich aus den politiſchen Combinationen‘.

Ebenſowenig dürften wir das gemeinſchaftliche Princip in dem

,preußiſchen Patriotismus‘, ‚in der Schädlichkeit und Nützlichkeit

für Preußen‘, ‚in dem ausſchließlichen Dienſt des Königs und des

Landes‘ finden, denn das ſind Dinge, die ſich von ſelbſt verſtehen

und bei denen Sie doch auf die Antwort gefaßt ſein müſſen, daß

ich dieſe Dinge in meiner Politik noch beſſer und mehr als in der

Ihrigen und in jeder andern zu finden glaube. Mir iſt aber

das Aufſuchen des Princips gerade deshalb von der größten

Wichtigkeit, weil ich, ohne ein ſolches gefunden zu haben, alle

politiſchen Combinationen für fehlerhaft, unſicher und in hohem

Grade gefährlich halte, wovon ich mich in den letzten zehn Jahren

und gerade durch den Erfolg überzeugt habe.

Jetzt muß ich etwas weit ausholen und zwar bis zu Karl dem

Großen, alſo über 1000 Jahre. Damals war das Princip der

europäiſchen Politik die Ausbreitung der chriſtlichen Kirche. Karl

der Große huldigte demſelben in ſeinen Kriegen mit den Sarazenen,

Sachſen, Avaren u. ſ. w., und ſeine Politik war wahrlich nicht

unpraktiſch. Seine Nachfolger ſtritten ſich principienlos unter ein¬

ander, und wieder waren es die großen Fürſten des Mittelalters,

welche dem alten Princip treu blieben. Die preußiſche Macht

wurde gegründet durch die Kämpfe der brandenburgiſchen Mark¬

grafen und des deutſchen Ordens gegen diejenigen Völker, welche

ſich dem Kaiſer, dem Vicarius der Kirche, nicht unterwerfen wollten,

und das dauerte, bis daß der Verfall der Kirche zu dem Territorialis¬

mus, zum Verfall des Reiches, zur Spaltung in der Kirche führte.

Seitdem war nicht mehr ein allgemeines Princip in der Chriſten¬

heit. Von dem urſprünglichen Princip war noch allein der Wider¬

[167/0194]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

ſtand gegen die gefährliche Macht der Türken übrig, und Oeſterreich

ſowie ſpäter Rußland waren wahrlich nicht unpraktiſch, als ſie

dieſem Principe gemäß die Türken bekämpften. Die Türkenkriege

begründeten die Macht dieſer Reiche, und wäre man dieſem Princip,

das türkiſche Reich zu bekämpfen, treu geblieben: Europa oder die

Chriſtenheit wären nach menſchlichen Begriffen dem Orient gegen¬

über in einer beſſeren Lage als jetzt, wo uns von dort die größten

Gefahren drohen. Vor der franzöſiſchen Revolution, dem ſchroffen und

ſehr praktiſchen Abfall von der Kirche Chriſti zunächſt in der Politik,

war eine Politik ‚der Intereſſen‛, des ſogenannten Patriotismus,

und wohin dieſe führte, haben wir geſehen. Etwas Elenderes als

die Politik Preußens von 1778 bis zur franzöſiſchen Revolution hat

es nie gegeben; ich erinnere an die Subſidien, die Friedrich II. an

Rußland zahlte, die einem Tribut gleichkamen, an den Haß gegen

England. Bei Holland hielt 1787 noch das alte Anſehen Friedrichs II.;

die Reichenbacher Convention war aber ſchon eine durch Abweichung

von dem Princip veranlaßte Blamage. Die Kriege des Großen

Kurfürſten waren im proteſtantiſchen Intereſſe, und die Kriege

Friedrich Wilhelms III. gegen Frankreich waren recht eigentlich

Kriege gegen die Revolution. Den proteſtantiſchen Charakter hatten

weſentlich auch die drei ſchleſiſchen Kriege 1740-1763, wenn auch

bei allem dieſen die Intereſſen des Territorialismus und das

Gleichgewicht mitſpielten.

Das Princip, was durch die Revolution, welche die Tour

durch Europa machte, der europäiſchen Politik gegeben wurde, iſt

das nach meiner Meinung bis heute gültige. Es war wahrlich

nicht unpraktiſch, dieſer Auffaſſung treu zu bleiben. England, was

dem Kampfe gegen die Revolution bis 1815 treu blieb und ſich

durch den alten Bonaparte nicht beirren ließ, ſtieg zur höchſten

Macht; Oeſterreich kam nach vielen unglücklichen Kriegen dennoch

gut aus der Fechtſchule; Preußen hat ſchwer an den Folgen des

Baſeler Friedens gelitten und nur durch 1813-1815 ſich rehabilitirt,

noch viel mehr Spanien, was daran zu Grunde gegangen; und

[168/0195]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

nach Ihrer eignen Anſicht ſind die deutſchen Mittelſtaaten leider

im Wiener Congreß aus Halbheit und Eiferſucht octroyirte und ge¬

ſchützte Producte der Revolution und des ihr folgenden Bonapartismus,

der Materia peccans, in Deutſchland. Hätte man principienmäßig

in Wien Belgien an Oeſterreich und die fränkiſchen Fürſtenthümer

an Preußen zurückgegeben: Deutſchland wäre in einer andern Lage

als jetzt, beſonders wenn man gleichzeitig die Mißgeburten Bayern,

Würtemberg, Darmſtadt auf ihre natürliche Größe zurückgeführt

hätte; damals aber zog man Arrondirung u. ſ. w., lauter mechaniſche

Intereſſen dem Principe vor.

Sie haben ſich aber gewiß bei meiner weitläufigen Deduction

ſchon gelangweilt, ich will daher der neueſten Zeit entgegengehen.

Finden Sie es denn eine glückliche Lage der Dinge, daß jetzt, wo

Preußen und Oeſterreich ſich feindlich entgegenſtehen, Bonaparte bis

Deſſau hin regiert und Nichts in Deutſchland geſchieht ohne bei ihm

anzufragen? Kann uns ein Bündniß mit Frankreich den Zuſtand

der Dinge erſetzen, welcher von 1815—1848 beſtanden hat, wo

ſich keine fremde Macht in die deutſchen Angelegenheiten miſchte?

Daß Oeſterreich und die deutſchen Mittelſtaaten nichts für uns thun

werden, davon bin ich wie Sie überzeugt. Ich glaube nur außer¬

dem noch, daß Frankreich, das heißt Bonaparte, auch nichts für uns

thun wird. Daß man unfreundlich und unhöflich gegen ihn iſt,

billige ich ſo wenig als Sie; daß man Frankreich aus den politiſchen

Combinationen ausſchließt, iſt Wahnſinn. Daraus folgt aber noch

nicht, daß man Bonapartes Urſprung vergißt, ihn nach Berlin ein¬

ladet und dadurch im In- und Auslande alle Begriffe verwirrt.

In der Neuſchâteler Sache hat er ſich inſofern gut benommen, daß

er den Krieg verhindert und offen geſagt hat, daß er nicht mehr

thun würde. Ob es aber nicht beſſer um dieſe Angelegenheit ſtände,

wenn wir uns nicht von einer ‚Gefühlspolitik‘ hätten leiten laſſen,

ſondern die Sache an die europäiſchen Mächte, die das Londoner

Protokoll unterzeichnet, gebracht hätten, ohne uns vorher unter die

Flügel Bonapartes geduckt zu haben, das iſt doch noch ſehr fraglich,

[169/0196]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

und das hatte Oeſterreich denn doch wirklich gewollt. Den Ge¬

fangenen, für die man ſich verwenden konnte, wäre doch kein Leid

geſchehen.

Dann klagen Sie unſre Politik der Iſolirtheit an. Dieſelbe

Anklage erhob der Freimaurer Uſedom, als er uns in den Vertrag

vom 2. December hineintreiben wollte, und Manteuffel, jetzt Uſedoms

entſchiedener Feind, war ſehr von dieſem Gedanken imponirt, Sie

damals aber Gott ſei Dank nicht. Oeſterreich ſchloß damals den

Decembervertrag mit, was hat es ihm genutzt? Es taumelt umher

nach Bündniſſen. Eine Quaſi-Allianz ſchloß es gleich nach dem

Pariſer Frieden, jetzt ſoll es eine geheime mit England geſchloſſen

haben. Ich ſehe dabei keinen Gewinn, ſondern nur Verlegenheiten.

Letztere Allianz kann nur für den Fall gültig werden, daß die

franzöſiſch-engliſche auseinandergeht, und auch nur bis dahin wird

Palmerſton ſich nicht abhalten laſſen, mit Sardinien und Italien

zu coquettiren.

Mein politiſches Princip iſt und bleibt der Kampf gegen die

Revolution. Sie werden Bonaparte nicht davon überzeugen, daß er

nicht auf der Seite der Revolution ſteht. Er will auch nirgends

anders ſtehen, denn er hat davon ſeine entſchiedenen Vortheile.

Es iſt hier alſo weder von Sympathie noch von Antipathie die

Rede. Dieſe Stellung Bonapartes iſt eine ,Realität‘, die Sie

nicht ‚ignoriren‘ können. Daraus folgt aber keineswegs, daß man

nicht höflich und nachgiebig, anerkennend und rückſichtsvoll gegen

ihn ſein, nicht daß man ſich zu beſtimmten Dingen mit ihm ver¬

binden kann. Wenn aber mein Princip wie das des Gegenſatzes

gegen die Revolution ein richtiges iſt, und ich glaube, daß Sie es

auch als ein ſolches anerkennen, ſo muß man es auch in der

Praxis ſtets feſthalten, damit wenn die Zeit kommt, wo es praktiſch

wird, und dieſe Zeit muß kommen, wenn das Princip richtig iſt,

diejenigen, die wie vielleicht bald Oeſterreich und auch England es

anerkennen müſſen, dann wiſſen, was ſie von uns zu halten haben.

Sie ſagen ſelbſt, daß man ſich auf uns nicht verlaſſen kann, und

[170/0197]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

es iſt doch nicht zu verkennen, daß nur der zuverläſſig iſt, welcher

nach beſtimmten Grundſätzen und nicht nach ſchwankenden Begriffen

von Intereſſen u. ſ. w. handelt. England und in ſeiner Art auch

Oeſterreich waren von 1793 bis 1813 völlig zuverläſſig und fanden

daher immer Verbündete trotz aller Niederlagen, welche die Fran¬

zoſen ihnen beibrachten.

Was nun unſre deutſche Politik anbetrifft, ſo glaube ich,

daß es doch unſer Beruf iſt, den kleinen Staaten die preußiſche

Ueberlegenheit zu zeigen und ſich nicht Alles gefallen zu laſſen, ſo

in den Zollvereins-Verhältniſſen und bei vielen andern Gelegen¬

heiten, bis zu den Jagdeinladungen, bis zu den Prinzen, die in

unſre Dienſte treten u. ſ. w. Hier, d. h. in Deutſchland, iſt auch

der Ort, wo man Oeſterreich, wie es mir ſcheint, entgegentreten

muß; gleichzeitig wäre aber auch jede Blöße gegen Oeſterreich zu

vermeiden. Dies wäre meine Erwiderung auf Ihren Brief.

Wenn ich aber noch über unſre außerdeutſche Politik reden

ſoll, ſo kann ich es nicht auffallend und auch nicht ängſtlich finden,

wenn wir da in einer Zeit iſolirt ſtehen, wo alle Verhältniſſe auf

den Kopf geſtellt ſind, England und Frankreich für jetzt noch ſo

eng verbunden ſind, daß Frankreich nicht den Muth hat, an Sicher¬

heiten gegen die ſchweizer Radikalen zu denken, weil England es

übel nehmen könnte, unterdeſſen aber daſſelbe England in Furcht

mit ſeinen Landungsvorbereitungen ſetzt und entſchiedene Schritte

zu einer ruſſiſchen Allianz macht; Oeſterreich in einem Bunde mit

England, was dennoch fortwährend Italien aufwiegelt u. ſ. w.

Wohin ſollen wir uns da wenden nach Ihrer Anſicht, etwa wie es

der hier anweſende Plonplon angedeutet haben ſoll, zu einer Allianz

mit Frankreich und Rußland gegen Oeſterreich und England? Aus

einer ſolchen Allianz folgt aber unmittelbar ein überwiegender Ein¬

fluß Frankreichs in Italien, die gänzliche Revolutionirung dieſes

Landes und ebenfalls ein überwiegender Einfluß von Bonaparte in

Deutſchland. An dieſem Einfluß würde man uns in den unter¬

geordneten Sphären einigen Antheil laſſen, aber keinen großen und

[171/0198]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

keinen langen. Wir haben ja ſchon einmal Deutſchland unter ruſſiſch¬

franzöſiſchem Einfluſſe geſehen 1801-1803, wo die Bisthümer

ſäculariſirt und nach Pariſer und Petersburger Vorſchriften ver¬

theilt wurden; Preußen, was ſich damals gut mit den beiden Staaten

und ſchlecht mit Oeſterreich und England ſtand, erhielt auch etwas

ab bei der Theilung, aber nicht viel und ſein Einfluß war ge¬

ringer als je. L. v. G.“

Ohne näher auf ſeinen Brief einzugehn, ſchrieb ich dem Ge¬

neral am 11. Mai:

„... Berliner Nachrichten ſagen mir, daß man mich am Hofe

als Bonapartiſten bezeichnet. Man thut mir Unrecht damit. Im

Jahre 50 wurde ich von unſern Gegnern verrätheriſcher Hin¬

neigung zu Oeſtreich angeklagt, und man nannte uns die Wiener

in Berlin; ſpäter fand man, daß wir nach Juchten rochen, und

nannte uns Spreekoſaken. Ich habe damals auf die Frage, ob

ich ruſſiſch oder weſtmächtlich ſei, ſtets geantwortet, ich bin Preußiſch,

und mein Ideal für auswärtige Politiker iſt die Vorurtheilsfrei¬

heit, die Unabhängigkeit der Entſchließungen von den Eindrücken

der Abneigung oder Vorliebe für fremde Staaten und deren Re¬

genten. Ich habe, was das Ausland anbelangt, in meinem Leben

nur für England und ſeine Bewohner Sympathie gehabt und bin

ſtundenweis noch nicht frei davon; aber die Leute wollen ſich ja von

uns nicht lieben laſſen, und ich würde, ſobald man mir nachweiſt,

daß es im Intereſſe einer geſunden und wohldurchdachten preußi¬

ſchen Politik liegt, unſre Truppen mit derſelben Genugthuung auf

die franzöſiſchen, ruſſiſchen, engliſchen oder öſtreichiſchen feuern

ſehen. In Friedenszeiten halte ich es für muthwillige Selbſt¬

ſchwächung, ſich Verſtimmungen zuzuziehn oder ſolche zu unter¬

halten, ohne daß man einen praktiſchen politiſchen Zweck damit

verbindet, und die Freiheit ſeiner künftigen Entſchließungen und

Verbindungen vagen und unerwiderten Sympathien zu opfern,

Conceſſionen, wie ſie Oeſtreich jetzt in Betreff Raſtatts von uns

[172/0199]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

erwartet, lediglich aus Gutmüthigkeit und love of approbation

zu machen. Können wir jetzt kein Aequivalent für eine Gefällig¬

keit der Art erwarten, ſo ſollten wir auch unſre Conceſſion zurück¬

halten; die Gelegenheit, ſie als Ausgleichungsobject zu verwerthen,

kommt vielleicht ſpäter einmal. Die Nützlichkeit für den Bund kann

doch nicht die ausſchließliche Richtſchnur Preußiſcher Politik ſein,

denn das Allernützlichſte für den Bund wäre ohne Zweifel, wenn

wir uns und alle deutſchen Regirungen Oeſtreich militäriſch, poli¬

tiſch und commerciell im Zollverein unterordneten; unter einheit¬

licher Leitung würde der Bund in Krieg und Frieden ganz andre

Dinge leiſten, auch wirklich haltbar werden für Kriegsfälle...“ 1).

Gerlach antwortete mir unter dem 21. Mai:

„Als ich Ihren Brief vom 11. d. M. erhielt, dachte ich ſchon,

es wäre eine Antwort auf meine verſuchte Widerlegung Ihres

ausführlichen Schreibens vom 2. d. M. Ich war daher ſehr ge¬

ſpannt, da es mir ſehr ſchwer wird, mit Ihnen verſchiedener

Meinung zu ſein, und ich auf eine Verſtändigung hoffte. Ihre

Apologie gegen den Ihnen gemachten Vorwurf des Bonapartismus

zeigt mir aber, daß wir noch weit aus einander ſind. ... Daß

Sie kein Bonapartiſt ſind, weiß ich ebenſo gewiß, als daß die

meiſten Staatsmänner, nicht allein bei uns, ſondern auch in andern

Ländern, es in Wahrheit ſind, z. B. Palmerſton, Bach, Buol u. ſ. w.;

auch weiß ich a priori, daß Sie in Frankfurt und in Deutſchland,

bald hätte ich geſagt im Rheinbund, viele Exemplare dieſer Sorte

bemerkt haben werden. Schon die Art, wie Sie die Oppoſition

des letzten Landtags anſahn, rechtfertigt Sie gegen den Vorwurf

des Bonapartismus. Aber eben deswegen iſt es mir unerklärlich,

wie Sie unſre äußere Politik anſehn.

Daß man nicht mißtrauiſch, ſteifſtellig, widerwillig gegen

Bonaparte ſein ſoll, finde ich auch, man ſoll die beſten procédés

1)

Bismarck's Briefe an L. v. Gerlach S. 324 ff.

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Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

gegen ihn haben, nur nicht ihn hierher einladen, wie Sie wollen,

weil man ſich etwas dadurch vergiebt, den guten Sinn, wo er

noch vorhanden, irre macht, Mistrauen erregt und ſeine Ehre ver¬

liert. Darum billige ich vieles in Ihrem Memoire 1); die hiſto¬

riſche Einleitung, Fol. 1–5, iſt höchſt belehrend und von dem

andern das Meiſte ſehr anwendbar; aber verzeihen Sie, es fehlt

hier Kopf und Schwanz, Princip und Ziel der Politik.

1. Können Sie leugnen, daß Napoleon III. wie Napoleon I.

den Conſequenzen ſeiner Stellung eines auf Volksſouveränität ge¬

gründeten Abſolutismus (l'élu de 7 millions) unterliegt, was er

ſo gut als der alte fühlt ...?

2. Frankreich, Rußland, Preußen eine triple alliance, in die

Preußen nur eintritt, ‚ich ſei, gewährt mir die Bitte, in eurem

Bunde der Dritte‘, und der ſchwächſte bleibt, der Oeſtreich und

England abwehrend und mistrauiſch gegenüberſteht, bewirkt un¬

mittelbar den Sieg der ‚franzöſiſchen Intereſſen‘, d. h. die

Herrſchaft in Italien zunächſt und dann in Deutſchland. 1801 bis

1804 vertheilten Rußland und Frankreich Deutſchland und gaben

Preußen ein Weniges ab.

3. Worin unterſcheidet ſich die von Ihnen empfohlene Politik

von der von Haugwitz von 1794–1805? Da war auch nur von

einem ,Defenſiv-Syſtem‘ die Rede. Thugut, Cobenzl, Lehr¬

bach waren um nichts beſſer als Buol und Bach, Perfidien fielen

Seitens Oeſtreichs auch vor, Rußland war noch unzuverläſſiger

als jetzt, dafür aber freilich England zuverläſſiger. Der König

war auch in ſeinem Herzen dieſer Politik abgeneigt. ...

Bei meiner Differenz mit Ihnen kommt mir oft der Gedanke,

daß ich mit meinen Anſichten veraltet bin, und daß, wenn ich

auch meine Politik nicht unrichtig finden kann, es doch viel¬

leicht nöthig iſt, es mit einer andern zu verſuchen, die zunächſt

durchgemacht und überwunden werden muß. 1792 war Maſſenbach

1)

An Manteuffel vom 18. Mai, ſ. Preußen im Bundestage IV 262 ff.

264 ff., einen Nachtrag dazu ſ. ebendort S. 272 ff.

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Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

für die franzöſiſche Allianz und ſchrieb darüber mitten im Kriege

eine Abhandlung, von 1794 war Haugwitz für das Defenſiv-Syſtem

oder für die Neutralität u. ſ. w. Der revolutionäre Abſolutismus

iſt ſeinem Weſen nach erobernd, da er ſich im Innern nur halten

kann, wenn rundum alles ſo wie bei ihm iſt. Palmerſton mußte

die Demonſtration gegen die Belgiſche Preſſe unterſtützen u. ſ. w.

Gegen den Schweizer Radicalismus, obſchon er Bonaparte ein¬

geſtandenermaßen ſehr unbequem iſt, war Napoleon III. ſehr ſchwach.

Nun noch eine Parallele. 1812 waren Gneiſenau, Scharnhorſt

und wenige andre gegen die franzöſiſche Allianz, die bekanntlich

durchgeſetzt und durch ein Hilfscorps zur Realität wurde. Der

Erfolg ſprach für die, welche die Allianz gewollt hatten. Ich

würde doch ſehr gern bei Gneiſenau und Scharnhorſt geſtanden

haben. 1813 war Kneſebeck für den Waffenſtillſtand, Gneiſenau

dagegen, ich damals als 22jähriger Offizier entſchieden dagegen

und getraue mir, des Erfolges ungeachtet, zu beweiſen, daß ich

Recht hatte. Victrix causa diis placuit, victa Catoni hat auch

eine Bedeutung. ...

Die Politik des Defenſiv-Syſtems in der Allianz mit Frank¬

reich und Rußland durchzuſetzen — ehemals nannte man das

Neutralitätspolitik, bei der orientaliſchen Frage wollte England

eine ſolche nicht dulden — wird Ihnen nicht ſchwer fallen, die

Manteuffels und noch viele Andre ſtehen auf Ihrer Seite (S. Maj.

im Herzen zwar nicht, aber doch mit der Paſſivität), und zwar

dieſe alle, ſolange wie der Bonapartismus hält. Was kann aber

unterdeſſen noch Alles geſchehn? Ich würde mich aber ſehr gefreut

haben, wenn Sie dann völlig unvermiſcht mit demſelben das Heft

hätten ergreifen können. Der alte Bonaparte regierte 15 Jahr,

Louis Philipp 18, glauben Sie, daß das jetzige Weſen länger halten

wird? L. v. G.“ 1)

Ich erwiderte in folgendem Briefe:

1)

Vgl. Bismarck-Jahrbuch II 242 ff.

[175/0202]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

„Frankfurt, 30. Mai 1857.

Bei Beantwortung Ihrer beiden letzten Briefe bin ich unter

dem Drucke des Gefühls der Unvollkommenheit des menſchlichen

Ausdrucks, beſonders des ſchriftlichen; jeder Verſuch ſich klar zu

machen, iſt der Vater neuer Mißverſtändniſſe; es iſt uns nicht ge¬

geben, den ganzen Menſchen zu Papier oder über die Zunge zu

bringen, und die Bruchſtücke, welche wir zu Tage fördern, können

wir Andre nicht grade ſo wahrnehmen laſſen, wie wir ſie ſelbſt

empfunden haben, theils wegen der Inferiorität der Sprache gegen

den Gedanken, theils weil die äußern Thatſachen, auf die wir Be¬

zug nehmen, ſich ſelten zwei Perſonen unter gleichem Lichte dar¬

ſtellen, ſobald der Eine nicht die Anſchauung des Andern auf

Glauben und ohne eignes Urtheil annimmt.

Den Abhaltungen, die in Geſchäften, Beſuchen, ſchönem Wetter,

Faulheit, Kinderkrankheit und eigner Krankheit lagen, kam jenes

Gefühl zu Hülfe und entmuthigte mich, Ihrer Kritik mit fernern

Argumenten gegenüber zu treten, von denen jedes ſeine Halbheiten

und Blößen an ſich tragen wird. Nehmen Sie bei der Beurthei¬

lung Rückſicht darauf, daß ich Reconvaleſcent bin und heut den

erſten Marienbader getrunken habe, und wenn meine Anſichten

von den Ihrigen abweichen, ſo ſuchen Sie die Verſchiedenheit

im Blättertrieb und nicht in der Wurzel, für welche ich vielmehr

meinen Ueberzeugungen die Gemeinſchaft mit den Ihrigen ſtets

vindicire.

Das Prinzip des Kampfes gegen die Revolution erkenne auch

ich als das meinige an, aber ich halte es nicht für richtig, Louis

Napoleon als den alleinigen oder auch nur κατ’ ἐξοχήν als den

Repräſentanten der Revolution hinzuſtellen, und halte es nicht für

möglich, das Prinzip in der Politik als ein ſolches durchzuführen,

daß die entfernteſten Conſequenzen deſſelben noch jede andre Rück¬

ſicht durchbrechen, daß es gewiſſermaßen den alleinigen Trumpf

im Spiele bildet, von dem die niedrigſte Karte noch die höchſte

jeder andern Farbe ſticht.

[176/0203]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

Wie viele Exiſtenzen giebt es noch in der heutigen politiſchen

Welt, die nicht in revolutionärem Boden wurzeln? Nehmen Sie

Spanien, Portugal, Braſilien, alle amerikaniſchen Republiken,

Belgien, Holland, die Schweiz, Griechenland, Schweden, das noch

heut mit Bewußtſein in der glorious revolution von 1688 fußende

England; ſelbſt für das Terrain, welches die heutigen deutſchen

Fürſten theils Kaiſer und Reich, theils ihren Mitſtänden, den

Standesherrn, theils ihren eignen Landſtänden abgewonnen haben,

läßt ſich kein vollſtändig legitimer Beſitztitel nachweiſen, und in

unſerm eignen ſtaatlichen Leben können wir der Benutzung revo¬

lutionärer Unterlagen nicht entgehn. Viele der berührten Zuſtände

ſind eingealtert, und wir haben uns an ſie gewöhnt; es geht uns

damit, wie mit allen den Wundern, welche uns täglich 24 Stunden

lang umgeben, deßhalb aufhören, uns wunderbar zu erſcheinen, und

niemand abhalten, den Begriff des ‚Wunders‘ auf Erſcheinungen

einzuſchränken, welche durchaus nicht wunderbarer ſind als die eigne

Geburt und das tägliche Leben des Menſchen.

Wenn ich aber ein Prinzip als oberſtes und allgemein durch¬

greifendes anerkenne, ſo kann ich das nur inſoweit, als es ſich

unter allen Umſtänden und zu allen Zeiten bewahrheitet, und der

Grundſatz quod ab initio vitiosum, lapsu temporis convalescere

nequit bleibt der Doctrin gegenüber richtig. Aber ſelbſt dann,

wenn die revolutionären Erſcheinungen der Vergangenheit noch

nicht den Grad von Verjährung hatten, daß man von ihnen

ſagen konnte, wie die Hexe im Fauſt von ihrem Höllentrank: „Hier

hab' ich eine Flaſche, aus der ich ſelbſt zuweilen naſche, die auch

nicht mehr im mind'ſten ſtinkt', hatte man nicht immer die Keuſch¬

heit, ſich liebender Berührungen zu enthalten; Cromwell wurde

von ſehr antirevolutionären Potentaten ‚Herr Bruder‘ genannt

und ſeine Freundſchaft geſucht, wenn ſie nützlich erſchien; mit den

Generalſtaaten waren ſehr ehrbare Fürſten im Bündniß, bevor ſie

von Spanien anerkannt wurden. Wilhelm von Oranien und ſeine

Nachfolger in England galten, auch während die Stuarts noch

[177/0204]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

prätendirten, unſern Vorfahren für durchaus koſcher, und den Ver¬

einigten Staaten von Nordamerika haben wir ſchon in dem Haager

Vertrage von 1785 ihren revolutionären Urſprung verziehn. Der

jetzige König von Portugal hat uns in Berlin beſucht, und mit

dem Hauſe Bernadotte hätten wir uns verſchwägert, wenn nicht

zufällige Hinderniſſe eintraten. Wann und nach welchen Kenn¬

zeichen haben alle dieſe Mächte aufgehört, revolutionär zu ſein?

Es ſcheint, daß man ihnen die illegitime Geburt verzeiht, ſobald

wir keine Gefahr von ihnen beſorgen, und daß man ſich alsdann

auch nicht prinzipiell daran ſtößt, wenn ſie fortfahren, ohne Buße,

ja mit Rühmen ſich zu ihrer Wurzel im Unrecht zu bekennen. Ich

ſehe nicht, daß vor der franzöſiſchen Revolution ein Staatsmann,

ſei er auch der chriſtlichſte und gewiſſenhafteſte, auf den Gedanken

gekommen wäre, ſein geſammtes politiſches Streben, ſein Verhalten

zur äußern wie zur innern Politik dem Prinzipe des ,Kampfes

gegen die Revolution‘ unterzuordnen und die Beziehungen ſeines

Landes zu andern lediglich an dieſem Probirſtein zu prüfen; und

doch waren die Grundſätze der amerikaniſchen Revolution und der

engliſchen Revolution, abgeſehn von dem Maße des Blutvergießens

und dem nach dem Nationalcharakter ſich verſchieden geſtaltenden

Unfug mit der Religion, ziemlich dieſelben, wie diejenigen, welche

in Frankreich die Unterbrechung der Continuität des Rechtes herbei¬

führten. Ich kann nicht annehmen, daß es vor 1789 nicht einige

ebenſo chriſtliche und conſervative Politiker, ebenſo richtige Erkenner

des Böſen gegeben hätte, wie wir ſind, und daß die Wahrheit

eines von uns als Grundlage aller Politik hinzuſtellenden Prin¬

zips ihnen entgangen ſein ſollte. Ich finde auch nicht, daß wir

auf alle revolutionäre Erſcheinungen nach 1789 das Prinzip ebenſo

rigoros anwenden wie auf Frankreich. Die analogen Rechtszuſtände

in Oeſtreich, das Proſperiren der Revolution in Portugal, Spanien,

Belgien und in dem durch und durch revolutionären heutigen Däne¬

mark, das offne Bekennen und Propagiren der revolutionären

Grundideen von Seiten der engliſchen Regirung und das Be¬

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 12

[178/0205]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

thätigen derſelben noch in dem Neuenburger Conflict, das alles

hält uns nicht ab, die Beziehungen unſres Königs zu den Monarchen

dieſer Länder milder zu beurtheilen als diejenigen zu Napoleon III.

Was ſteckt denn Beſondres in dem Letzten und in der franzö¬

ſiſchen Revolution überhaupt? Die unfürſtliche Herkunft der

Bonaparte thut viel, aber ſie findet in Schweden auch ſtatt, ohne

dieſelbe Conſequenz. Liegt dieſes ‚Beſondre‘ grade in der Familie

Bonaparte? Dieſelbe hat weder die Revolution in die Welt ge¬

bracht, noch würde die Revolution beſeitigt oder auch nur un¬

ſchädlich gemacht, wenn man dieſe Familie ausrottete. Die Revo¬

lution iſt viel älter als die Bonapartes und viel breiter in der

Grundlage als Frankreich. Wenn man ihr einen irdiſchen Urſprung

anweiſen will, ſo wäre auch der nicht in Frankreich, ſondern eher

in England zu ſuchen, wenn nicht noch früher in Deutſchland oder

in Rom, je nachdem man die Auswüchſe der Reformation oder

die der römiſchen Kirche und die Einführung des römiſchen Rechtes

in die germaniſche Welt als ſchuldig anſehn will.

Der erſte Napoleon hat damit begonnen, die Revolution in

Frankreich für ſeinen Ehrgeiz mit Erfolg zu benutzen und ſie ſpäter

ohne Erfolg und mit falſchen Mitteln zu bekämpfen geſucht; er

wäre ſie recht gern aus ſeiner Vergangenheit los geweſen, nachdem

er die Frucht davon gepflückt und in der Taſche hatte; gefördert

wenigſtens hat er ſie nicht in dem Grade, wie die drei Louis vor

ihm durch Einführung des Abſolutismus unter Louis XIV., durch

die Unwürdigkeiten der Regentſchaft und des Louis XV., durch die

Schwäche von Louis XVI., der am 14. September 1791 bei An¬

nahme der Verfaſſung die Revolution als beendigt proclamirte;

fertig war ſie allerdings. Das Haus Bourbon hat mehr für die Re¬

volution gethan als alle Bonaparten, auch wenn man ihm Philippe

Egalité nicht zur Laſt ſchreibt. Der Bonapartismus iſt nicht der Vater

der Revolution, er iſt nur wie jeder Abſolutismus ein fruchtbares

Feld für die Saat derſelben. Ich will ihn damit durchaus nicht

außerhalb des Gebietes der revolutionären Erſcheinungen ſtellen, ſon¬

[179/0206]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

dern ihn nur frei von den Zuthaten zur Anſchauung bringen, welche

ſeinem Weſen nicht nothwendig eigen ſind. Zu ſolchen rechne ich

ferner die ungerechten Kriege und Eroberungen. Dieſe ſind kein

eigenthümliches Attribut der Familie Bonaparte oder des nach ihr

benannten Regirungsſyſtems. Legitime Erben alter Throne können

das auch. Ludwig XIV. hat nach ſeinen Kräften nicht weniger

heidniſch in Deutſchland gewirthſchaftet als Napoleon, und wenn

letztrer mit ſeinen Anlagen und Neigungen als Sohn Ludwigs XVI.

geboren wäre, ſo hätte er uns vermuthlich auch das Leben ſauer

genug gemacht.

Der Trieb zum Erobern iſt England, Nordamerika, Rußland

und andern nicht minder eigen als dem Napoleoniſchen Frankreich,

und ſobald Macht und Gelegenheit dazu ſich finden, iſt es auch

bei der legitimſten Monarchie ſchwerlich die Beſcheidenheit oder die

Gerechtigkeitsliebe, welche ihm Schranken ſetzt. Bei Napoleon III.

ſcheint er als Inſtinct nicht zu dominiren; derſelbe iſt kein Feld¬

herr, und im großen Kriege, mit großen Erfolgen oder Gefahren

könnte es kaum fehlen, daß die Blicke der franzöſiſchen Armee, der

Trägerin ſeiner Herrſchaft, ſich mehr auf einen glücklichen General

als auf den Kaiſer richteten. Er wird daher den Krieg nur dann

ſuchen, wenn er ſich durch innre Gefahren dazu genöthigt glaubt.

Eine ſolche Nöthigung würde aber für den legitimen König von

Frankreich, wenn er jetzt zur Regirung käme, von Hauſe aus vor¬

handen ſein.

Weder die Erinnerung an die Eroberungsſucht des Onkels,

noch die Thatſache des ungerechten Urſprungs ſeiner Macht be¬

rechtigt mich alſo, den gegenwärtigen Kaiſer der Franzoſen als den

ausſchließlichen Repräſentanten der Revolution, als vorzugsweiſes

Object des Kampfes gegen dieſelbe zu betrachten. Den zweiten

Makel theilt er mit vielen beſtehenden Gewalten, und des erſtern

iſt er bisher nicht verdächtiger als Andre. Sie, verehrteſter Freund,

werfen ihm vor, daß er ſich nicht halten könne, wenn nicht ringsum

alles ſo ſei, wie bei ihm; wenn ich das für richtig erkännte, ſo

[180/0207]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

würde es hinreichen, meine Anſicht zu erſchüttern. Aber der Bona¬

partismus unterſcheidet ſich dadurch von der Republik, daß er nicht

das Bedürfniß hat, ſeine Regirungsgrundſätze gewaltſam zu propa¬

giren. Selbſt der erſte Napoleon hat den Ländern, welche nicht

direct oder indirect zu Frankreich geſchlagen wurden, ſeine Re¬

girungsform nicht aufzudrängen verſucht; man ahmte ſie im Wett¬

eifer freiwillig nach. Fremde Staaten mit Hülfe der Revolution

zu bedrohn, iſt heut zu Tage ſeit einer ziemlichen Reihe von Jahren

das Gewerbe Englands, und wenn Louis Napoleon ſo gewollt

hätte wie Palmerſton, ſo würden wir in Neapel ſchon vor Jahr

und Tag einen Ausbruch erlebt haben. Der franzöſiſche Kaiſer

würde durch Ausbreitung revolutionärer Inſtitutionen bei ſeinen

Nachbarn Gefahren für ſich ſelbſt ſchaffen; er wird vielmehr, im

Intereſſe der Erhaltung ſeiner Herrſchaft und Dynaſtie, und bei

ſeiner Ueberzeugung von der Fehlerhaftigkeit der heutigen Inſtitu¬

tionen Frankreichs für ſich ſelbſt feſtere Grundlagen als die der

Revolution zu gewinnen ſuchen. Ob er das kann, iſt freilich eine

andre Frage, aber er iſt keineswegs blind für die Mangelhaftigkeit

und die Gefahren des bonapartiſchen Regirungsſyſtems, denn er

ſpricht ſich ſelbſt darüber aus und beklagt ſie. Die jetzige Re¬

girungsform iſt für Frankreich nichts Willkürliches, was Louis Napo¬

leon einrichten oder ändern könnte; ſie war für ihn ein Gegebenes

und iſt wahrſcheinlich die einzige Methode, nach der Frankreich auf

lange Zeit hin regirt werden kann; für alles andre fehlt die Grund¬

lage entweder von Hauſe aus im National-Charakter, oder ſie iſt

zerſchlagen und verloren gegangen; und wenn Heinrich V. jetzt

auf den Thron gelangte, er würde, wenn überhaupt, auch nicht

anders regiren können. Louis Napoleon hat die revolutionären

Zuſtände des Landes nicht geſchaffen, die Herrſchaft auch nicht in

Auflehnung gegen eine rechtmäßig beſtehende Autorität gewonnen,

ſondern ſie als herrenloſes Gut aus dem Strudel der Anarchie

herausgefiſcht. Wenn er ſie jetzt niederlegen wollte, ſo würde er

Europa in Verlegenheit ſetzen, und man würde ihn ziemlich ein¬

[181/0208]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

ſtimmig bitten, zu bleiben; und wenn er ſie an den Herzog von

Bordeaux cedirte, ſo würde dieſer ſie ſich ebenſowenig erhalten

können, als er ſie zu erwerben vermochte. Wenn Louis Napoleon

ſich den élu de ſept millions nennt, ſo erwähnt er damit einer That¬

ſache, die er nicht wegleugnen kann; er vermag ſich keinen andern

Urſprung zu geben, als er hat; daß er aber, nachdem er im Beſitz

der Herrſchaft iſt, dem Prinzip der Volksſouveränetät practiſch zu

huldigen fortführe und von dem Willen der Maſſen das Geſetz

empfinge, wie das jetzt mehr und mehr in England einreißt, kann

man von ihm nicht ſagen.

Es iſt menſchlich natürlich, daß die Unterdrückung und ſchänd¬

liche Behandlung unſres Landes durch den erſten Napoleon in Allen,

die es erlebt haben, einen unauslöſchlichen Eindruck hinterlaſſen hat,

und daß in deren Augen das böſe Prinzip, welches wir in Ge¬

ſtalt der Revolution bekämpfen, ſich allein mit der Perſon und

dem Geſchlechte deſſen identificirt, den man l'heureux soldat héri¬

tier de la révolution nannte; aber mir ſcheint, daß Sie dem

jetzigen Napoleon zu viel aufbürden, wenn Sie grade in ihm und

nur in ihm die zu bekämpfende Revolution perſonificiren und aus

dieſem Grunde die Proſcription über ihn ausſprechen, ſo daß es

wider die Ehre ſei, mit ihm umzugehn. Jedes Kennzeichen der

Revolution, welches er an ſich trägt, finden Sie auch an andern

Stellen wieder, ohne daß Sie Ihren Haß mit derſelben Strenge

der Doctrin auch dahin richteten. Das bonapartiſtiſche Regiment im

Innern mit ſeiner rohen Centraliſation, ſeiner Vernichtung der

Selbſtändigkeiten, ſeiner Nichtachtung von Recht und Freiheit, ſeiner

offiziellen Lüge, ſeiner Corruption in Staat und Börſe, ſeinen

gefügigen und überzeugungsloſen Schreibern blüht in dem von

Ihnen mit unverdienter Vorliebe betrachteten Oeſtreich ebenſo wie

in Frankreich und wird an der Donau aus freier Machtvollkommen¬

heit mit Bewußtſein in's Leben gerufen, während Louis Napoleon

es in Frankreich als vorhandenes, ihm ſelbſt unwillkommnes, aber

nicht leicht zu änderndes Reſultat der Geſchichte vorfand.

[182/0209]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

Ich finde das ‚Beſondre‘, welches uns heut zu Tage beſtimmt,

grade die franzöſiſche Revolution vorzugsweiſe als Revolution

zu bezeichnen, nicht in der Familie Bonaparte, ſondern in der ört¬

lichen und zeitlichen Nähe der Ereigniſſe und in der Größe und

Macht des Landes, auf deſſen Boden ſie ſich zutragen. Deßhalb

ſind ſie gefährlicher, aber ich finde es deßhalb noch nicht ſchlechter,

mit Bonaparte in Beziehung zu ſtehn, als mit andern von der

Revolution erzeugten Exiſtenzen, oder mit Regirungen, welche ſich

freiwillig mit ihr identificiren, wie Oeſtreich, und für die Aus¬

breitung revolutionärer Grundſätze thätig ſind, wie England. Ich

will mit dieſem allen keine Apologie der Perſonen und Zuſtände

in Frankreich geben; ich habe für die erſtern keine Vorliebe und

halte die letztern für ein Unglück jenes Landes; ich will nur er¬

klären, wie ich dazu komme, daß es mir weder ſündlich noch ehren¬

rührig erſcheint, mit dem von uns anerkannten Souverän eines

wichtigen Landes in nähere Verbindung zu treten, wenn es der

Gang der Politik mit ſich bringt. Daß dieſe Verbindung an ſich

etwas Wünſchenswerthes ſei, ſage ich nicht, ſondern nur, daß alle

andern Chancen ſchlechter ſind, und daß wir, um ſie zu beſſern,

durch die Wirklichkeit oder den Schein intimerer Beziehungen zu

Frankreich hindurch müſſen. Nur durch dieſes Mittel können wir

Oeſtreich ſo weit zur Vernunft und zur Verzichtleiſtung auf ſeinen

überſpannten Schwarzenbergiſchen Ehrgeiz bringen, daß es die

Verſtändigung mit uns ſtatt unſrer Uebervortheilung ſucht, und

nur durch dieſes Mittel können wir die weitre Entwicklung der

directen Beziehungen der deutſchen Mittelſtaaten zu Frankreich

hemmen. Auch England wird anfangen zu erkennen, wie wichtig

ihm die Allianz Preußens iſt, wenn es erſt fürchtet, ſie an Frank¬

reich zu verlieren. Alſo auch wenn ich mich auf Ihren Stand¬

punkt der Neigung für Oeſtreich und England ſtellte, müſſen wir

bei Frankreich anfangen, um jene zur Erkenntniß zu bringen.

Sie ſehn in Ihrem Schreiben voraus, verehrteſter Freund, daß

wir in einer preußiſch-franzöſiſch-ruſſiſchen Allianz eine geringe Rolle

[183/0210]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

ſpielen werden. Ich habe eine ſolche Allianz auch nie als etwas

von uns zu Erſtrebendes hingeſtellt, ſondern als eine Thatſache,

die wahrſcheinlich früher oder ſpäter aus dem jetzigen décousu

hervorgehn wird, ohne daß wir ſie hindern können, mit der man

alſo rechnen, über deren Wirkungen wir uns klar machen müſſen.

Ich habe hinzugefügt, daß wir ſie, nachdem Frankreich um unſre

Freundſchaft wirbt, durch unſer Eingehn auf dieſe Werbung viel¬

leicht hindern, oder doch in der Wirkung modificiren, jedenfalls

vermeiden können, als ‚der Dritte‘ in dieſelbe zu treten. Ver¬

hältnißmäßig ſchwach werden wir in jeder Verbindung mit andern

Großmächten erſcheinen, ſo lange wir eben nicht ſtärker ſind, als wir

jetzt ſind. Oeſtreich und England werden, wenn wir mit ihnen

im Bunde ſind, ihre Ueberlegenheit auch nicht grade in unſerm

Intereſſe geltend machen, das haben wir auf dem Wiener Con¬

greß zu unſerm Schaden erlebt. Oeſtreich kann uns keine Be¬

deutung in Deutſchland gönnen, England keine Chancen maritimer

Entwicklung in Handel oder Flotte, und iſt neidiſch auf unſre

Induſtrie.

Sie paralleliſiren mich mit Haugwitz und der damaligen

‚Defenſiv-Politik‘. Die Verhältniſſe damals waren aber andre.

Frankreich war ſchon im Beſitz der drohendſten Uebermacht, an

ſeiner Spitze ein notoriſch gefährlicher Eroberer, und auf England

war dagegen ſicher zu rechnen. Ich habe den Muth, den Baſeler

Frieden nicht zu tadeln; mit dem damaligen Oeſtreich und ſeinen

Thugut, Lehrbach und Cobenzl war ebenſowenig ein Bündniß

auszuhalten, wie mit dem heutigen, und daß wir 1815 nur ſchlecht

fortkamen, kann ich nicht auf den Baſeler Frieden ſchieben, ſondern

wir konnten gegen die uns entgegenſtehenden Intereſſen von Eng¬

land und Oeſtreich nicht aufkommen, weil unſre phyſiſche Schwäche

im Vergleich mit den andern Großmächten nicht gefürchtet wurde.

Die Rheinbundſtaaten hatten noch ganz anders ‚gebaſelt‘ wie wir

und kamen doch in Wien vorzüglich gut fort. Daß wir aber

1805 nicht die Gelegenheit ergriffen, um Frankreichs Uebermacht

[184/0211]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

brechen zu helfen, war eine ausgezeichnete Dummheit; ſchnell, nach¬

drücklich und bis zum letzten Hauch hätten wir gegen Napoleon

eingreifen ſollen. Stillzuſitzen war noch unverſtändiger, als für

Frankreich Partei zu nehmen; nachdem wir aber dieſe Gelegenheit

hatten vorbeigehn laſſen, ſo mußten wir auch 1806 à tout prix

Friede halten und eine beſſere abwarten.

Ich bin garnicht für ‚Defenſiv-Politik‘, ich ſage nur, daß

wir ohne aggreſſive Abſichten und Verpflichtungen uns auf die

Annäherungsverſuche Frankreichs einlaſſen können, daß dieſes Ver¬

halten grade den Vortheil bietet, uns jede Thür offen, jede Wen¬

dung frei zu erhalten, bis die Lage der Dinge feſter und durch¬

ſichtiger wird, daß ich die empfohlene Richtung nicht als conſpirirend

gegen Andre, ſondern nur als vorſorglich für unſre Nothwehr

auffaſſe.

Sie ſagen, ‚Frankreich wird auch nicht mehr für uns thun

als Oeſtreich und die Mittelſtaaten‘; ich glaube, daß niemand

etwas für uns thut, der nicht zugleich ſein Intereſſe dabei findet.

Die Richtung aber, in welcher Oeſtreich und die Mittelſtaaten gegen¬

wärtig ihre Intereſſen verfolgen, iſt mit den Aufgaben, welche

für Preußen Lebensfragen ſind, ganz incompatibel, und eine

Gemeinſchaftlichkeit der Politik garnicht möglich, bevor Oeſtreich

nicht ein beſcheidneres Syſtem uns gegenüber adoptirt, wozu bisher

wenig Ausſicht. Sie ſtimmen mit mir darin überein, daß wir ,den

kleinen Staaten die Ueberlegenheit Preußens zeigen müſſen‘; aber

welche Mittel haben wir dazu innerhalb der Bundesacte? Eine

Stimme unter ſiebzehn und Oeſtreich gegen uns, damit iſt nicht

viel auszurichten.

Der Beſuch L. Napoleons bei uns würde aus den anderweit

von mir vorgetragnen Gründen unſrer Stimme an und für ſich

ſchon ein durchſchlagenderes Gewicht geben. Sie werden rückſicht¬

voll und ſelbſt anhänglich für uns ſein im genauen Verhältniß

ihrer Furcht vor uns; Vertrauen werden ſie nie zu uns haben;

jeder Blick auf die Karte benimmt es ihnen, und ſie wiſſen, daß ihre

[185/0212]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

Intereſſen und Sondergelüſte der Geſammtrichtung der preußiſchen

Politik im Wege ſtehn, daß darin eine Gefahr für ſie liegt, gegen

welche nur die Uneigennützigkeit unſres allergnädigſten Herrn eine

Sicherheit für die Gegenwart bietet. Der Beſuch des Franzoſen

bei uns würde kein Mißtrauen weiter hervorrufen, daſſelbe iſt

im Großen und Ganzen gegen Preußen ſchon vorhanden, und

die Geſinnungen des Königs, welche es entkräften könnten, werden

Sr. Majeſtät nicht gedankt, ſondern nur benutzt und ausgebeutet.

Das etwa vorhandene ,Vertrauen‘ wird im Fall der Noth nicht

Einen Mann für uns in's Feld bringen, die Furcht, wenn wir ſie

einzuflößen wiſſen, ſtellt den ganzen Bund zu unſrer Diſpoſition.

Dieſe Furcht würde durch oſtenſible Zeichen unſrer guten Be¬

ziehungen zu Frankreich eingeflößt werden. Geſchieht nichts der

Art, ſo dürfte es ſchwer ſein, diejenigen wohlwollenden Beziehungen

mit Frankreich lange durchzuführen, welche auch Sie für wünſchens¬

werth anſehn. Denn man wirbt von dort um uns, man hat das

Bedürfniß, ſich ein Relief mit uns zu geben, man hofft auf eine

Zuſammenkunft, und ein Korb von uns müßte eine auch für andre

Höfe erkennbare Abkühlung bewirken, weil ſich der ,parvenu‘ an

der empfindlichſten Seite davon betroffen fühlen würde.

Schlagen Sie mir eine andre Politik vor, und ich will ſie

ehrlich und vorurtheilsfrei mit Ihnen diſcutiren; aber eine paſſive

Planloſigkeit, die froh iſt, wenn ſie in Ruhe gelaſſen wird, können

wir in der Mitte von Europa nicht durchführen; ſie kann uns heut

ebenſo gefährlich werden, wie ſie 1805 war, und wir werden

Ambos, wenn wir nichts thun, um Hammer zu werden. Den Troſt

des ,victa causa Catoni placuit' kann ich Ihnen nicht zugeſtehn,

wenn Sie dabei Gefahr laufen, unſer gemeinſames Vaterland in

eine victa causa hineinzuziehn. ...

Wenn meine Auffaſſung keine Gnade vor Ihnen findet, ſo

brechen Sie wenigſtens nicht den Stab über meinen ganzen Men¬

ſchen, ſondern erinnern Sie ſich, daß wir Jahre lang in ſchweren

Zeiten nicht nur denſelben Boden hatten, ſondern auch dieſelben

[186/0213]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

Pflanzen darauf zogen, und daß ich ein Mann bin, der mit ſich

reden läßt und Unrecht abthut, wenn ihm die Erkenntniß davon

wird. ... v. B.“ 1)

Gerlach erwiderte:

„Sansſouci, den 5. Junius 1857.

... Zunächſt will ich gern die practiſche Seite Ihrer Anſicht

anerkennen. Neſſelrode ſagte hier mit Recht, ebenſo wie Sie, daß,

ſo lange Buol regiere (Sie nennen richtig Bach zugleich mit), es

nicht möglich wäre, ſich mit Oeſtreich zu ſtellen. Oeſtreich hätte

mit lauter Freundſchafts-Verſicherungen Europa gegen ſie (d. i.

die Ruſſen) gehetzt, ihnen das Stück Beſſarabien entriſſen und thäte

ihnen noch jetzt das gebrannte Herzeleid an. Aehnlich benimmt

es ſich mit uns und hat ſich während des orientaliſchen Krieges

ſcheuslich perfide benommen. Wenn Sie alſo ſagen, man kann

nicht mit Oeſtreich gehen, ſo hat das eine relative Wahrheit,

und würden wir in casu concreto ſchwerlich uns hierüber ver¬

uneinigen. Vergeſſen Sie aber nicht, daß die Sünde ſtets wieder

die Sünde gebiert, und daß Oeſtreich uns auch ein Sündenregiſter

ſchlimmer Art vorhalten kann, z. B. die Abwehr des Einmarſches

1849 in den Badiſchen Seekreis, was den eigentlichen Verluſt von

Neuenburg, das damals durch den Prinzen von Preußen zu er¬

obern war, bewirkt hat, dann die Radowitziſche Politik, dann die

hochmüthige Behandlung des Interim, bei dem ſelbſt Schwarzen¬

berg guten Willen hatte, und endlich eine Menge unbedeutenderer

Einzelnheiten: alles Repetitionen der Politik von 1793-1805.

Die Anſchauung aber, daß unſer ſchlechtes Verhältniß zu Oeſtreich

nur ein relatives ſein darf, wird bei jeder Gelegenheit practiſch,

indem ſie einmal die Rache von unſrer Seite, weil ſie nur zu

Unglück führen kann, verhindert und dann den Willen zur Ver¬

ſöhnung und Annäherung feſthält und daher das, was eine ſolche

Annäherung unmöglich macht, vermeidet. Beides fehlt bei uns, und

warum? weil unſre Staatsmänner donnent dans le Bonapartisme.

1)

Bismarcks Briefe an den General L. v. Gerlach S. 326 ff.

[187/0214]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

Dieſen aber zu beurtheilen, haben die Alten einen Vorzug

vor den Jungen. Die Alten auf der Bühne ſind hier aber der

König und meine Wenigkeit, die Jungen Fra Diavolo (Manteuffel)

u. ſ. w., denn F. D. war 1806 bis 1814 im Rheinbund und Sie

noch nicht geboren. Wir haben aber den Bonapartismus 10 Jahre

practiſch ſtudirt, uns iſt er eingebläut worden. Unſre ganze Diffe¬

renz liegt auch daher, da wir in der Wurzel einig ſind, allein in

der verſchiedenen Anſicht des Weſens dieſer Erſcheinung. Sie

ſagen, Ludwig XIV. war auch Eroberer, das Oeſtreichiſche Viribus

unitis ſei auch revolutionär, die Bourbons haben mehr Schuld an

der Revolution als die Bonapartes u. ſ. w. Sie erklären quod

ab initio vitiosum, lapsu temporis convalescere nequit für einen

nur doctrinär richtigen Satz (ich nicht einmal dafür, denn aus jedem

Unrecht kann Recht werden und wird es im Lauf der Zeiten;

aus dem wider Gottes Willen eingeſetzten Königthum in Iſrael

ging der Heiland hervor, die ſo ſehr anerkannte Erſtgeburt wird

bei Ruben, Abſalom u. ſ. w. durchbrochen, der mit der Ehe¬

brecherin Bathſeba erzeugte Salomo iſt der Geſegnete des Herrn

u. ſ. w. u. ſ. w.), aber es iſt ein völliges Verkennen des Weſens

des Bonapartismus, wenn Sie denſelben mit jenen Dingen in

einen Topf werfen. Bonaparte, ſowohl Napoleon I. als Napo¬

leon III., haben nicht blos einen revolutionären unrechtmäßigen

Urſprung, wie Wilhelm III. vielleicht, wie der König Oscar u. ſ. w.,

ſie ſind ſelbſt die incarnirte Revolution. Beide, No. I und No. III,

haben das als ein Uebel erkannt und empfunden, beide haben aber

nicht davon losgekonnt. Leſen Sie ein jetzt vergeſſenes Buch,

Relations et Correspondances de Nap. Bonaparte avec Jean

Fievée, da finden Sie tiefe Blicke des alten Napoleon in das

Weſen der Staaten, wie denn auch der jetzige Bonaparte mir mit

ſolchen Gedanken imponirt, z. B. mit der Feſtſtellung der Adels¬

titel, Reſtauration der Majorate, Erkenntniß der Gefahr der Cen¬

traliſation, Kampf gegen den Börſenſchwindel, Wunſch, die alten

Provinzen zu reſtauriren u. ſ. w. Das ändert aber das Weſen

[188/0215]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

ſeiner Herrſchaft nicht, ebenſowenig wie das Weſen des Hauſes

Habsburg-Lothringen durch den liberalen, ja revolutionären K.

Joſeph II. oder durch Franz Joſeph mit ſeinem hochadligen Schwarzen¬

berg und Barrikadenheld Bach geändert wird. Naturam expellas

furca, ſie kommt doch wieder. So kann ſich kein Bonaparte von

der Volksſouveränität losſagen, und er thut es auch nicht. Na¬

poleon I. gab ſeine Beſtrebungen, den revolutionären Urſprung

loszuwerden, auf, wie das oben citirte Buch beweiſet, z. B. als er

den duc d'Enghien erſchießen ließ; Napoleon III. wird es auch

thun und hat es ſchon gethan, z. B. bei den Neuenburger Ver¬

handlungen, wo ihm die beſte, unter andern Umſtänden willkommne

Gelegenheit gegeben war, die Schweiz zu reſtauriren. Er aber

fürchtete ſich vor Lord Palmerſton und der Engliſchen Preſſe, was

Walewski ehrlich eingeſtanden, Rußland fürchtet ſich vor ihm, Oeſt¬

reich vor ihm und vor England, und ſo kam dieſe ſchändliche Trans¬

action zu Stande. — Wie merkwürdig: wir aber haben Augen

und ſehn nicht, haben Ohren und hören nicht, daß unmittelbar

auf die Neuenburger Verhandlungen die Belgiſche Geſchichte folgt,

der Sieg der Liberalen über die Clericalen, die ſiegreiche Allianz

der parlamentariſchen Minorität und des Straßenaufruhrs über

die parlamentariſche Majorität. Hier darf von Seiten der legi¬

timen Mächte nicht intervenirt werden, das würde Bonaparte ge¬

wiß nicht leiden, es wird aber, wenn es nicht noch einmal be¬

ſchwichtigt wird, Seitens des Bonapartismus intervenirt werden,

ſchwerlich aber zu Gunſten der Clericalen oder der Verfaſſung,

ſondern zu Gunſten des ſouveränen Volkes.

Der Bonapartismus iſt nicht Abſolutismus, nicht einmal

Cäſarismus; erſterer kann ſich auf ein jus divinum gründen, wie

in Rußland und im Orient, er afficirt daher nicht die, welche

dieſes jus divinum nicht anerkennen, für die es nicht iſt, es ſei

denn, daß es ſolchem Autokraten einfällt, ſich wie Attila, Mahomet

oder Timur für eine Geißel Gottes zu halten, was doch eine Aus¬

nahme iſt. Der Cäſarismus iſt die Anmaßung eines Imperiums

[189/0216]

Briefwechſel mit Gerlach über Frankreich.

in einer rechtmäßigen Republik und rechtfertigt ſich durch den Noth¬

ſtand; für einen Bonaparte iſt aber, er mag wollen oder nicht,

die Revolution, d. h. die Volksſouveränität, innerlicher, und bei

jedem Conflict oder Bedürfniß auch äußerlicher Rechtstitel. Aus

dieſem Grunde kann mich Ihr Vergleich Bonapartes mit den Bour¬

bons, mit dem abſolutiſtiſchen Oeſtreich ebenſowenig als Na¬

poleons III. Individualität, die mir in vieler Hinſicht auch im¬

ponirt, beruhigen. Wenn er nicht erobert, ſo muß es ſein Nachfolger

thun, obſchon der prince impérial nicht viel mehr Ausſicht auf

den Thron hat als viele andre, und gewiß weniger als Heinrich V.

In dieſem Sinne iſt Napoleon III. ebenſo unſer natürlicher Feind,

als es Napoleon I. war, und ich verlange nur, daß Sie das im

Auge behalten, nicht aber, daß wir mit ihm ſchmollen, ihn taqui¬

niren, reizen, ſein Werben um uns abweiſen ſollen, aber wir ſind

unſrer Ehre und dem Recht eine reſervirte Stellung ihm gegen¬

über ſchuldig. Er muß wiſſen, daß wir nicht an ſeinem Sturz

arbeiten, daß wir ihm nicht feindlich ſind, es ehrlich mit ihm

meinen, aber auch, daß wir ſeinen Urſprung für gefährlich halten

(er thut es ja auch), und daß, wenn er denſelben geltend machen

will, wir uns ihm widerſetzen werden. Das muß, ohne daß wir

es zu ſagen brauchen, er uns zutrauen und das übrige Europa

auch, ſonſt legt er uns einen Kappzaum an und ſchleppt uns hin,

wohin er will. Das iſt eben das Weſen einer guten Politik, daß

man ohne Streit anzufangen, denen, mit denen man wirklich einig

iſt, Vertrauen einflößt. Dazu gehört aber, daß man offen mit den

Leuten ſpricht, und nicht wie F. D. ſie durch Schweigen und

Tückſchen erbittert. Preußen hat die ſchwere Sünde auf ſich, von

den drei Mächten der heil. Allianz Louis Philippe zuerſt anerkannt

und die andern bewogen zu haben, daſſelbe zu thun. L. Philippe

regierte vielleicht noch, wenn man aufrichtig mit ihm geweſen wäre,

ihm öfter die Zähne gewieſen und ihn dadurch an ſeine Uſur¬

pation denken gemacht hätte.

Man ſpricht von der iſolirten preußiſchen Stellung; wie kann

[190/0217]

Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.

man aber feſte Allianzen ſuchen, si, wie 1809 Kaiſer Franz auf

dem Ungariſchen Reichstage ſagte, totus mundus stultiziat? Eng¬

lands Politik ging von 1800—1813 dahin. Bonaparte auf dem

Continent zu beſchäftigen, um ihn zu verhindern, in England zu

landen, was er 1805 ernſthaft wollte. Jetzt rüſtet Napoleon in

allen ſeinen Häfen, um einſt eine Landung möglich zu machen,

und der leichtſinnige Palmerſton verfeindet ſich mit allen Con¬

tinentalmächten. Oeſtreich fürchtet mit Recht für ſein Italien und

verfeindet ſich mit Preußen und Rußland, den einzigen Mächten,

die es ihm gönnen; es nähert ſich Frankreich, was ſeit dem XIV. Jahr¬

hundert lüſtern nach Italien ſieht, es treibt Sardinien auf das

Aeußerſte, was die Thüren und Eingänge Italiens in Händen

hat, es liebäugelt mit Palmerſton, der emſig bemüht iſt, den Auf¬

ruhr dort zu erregen und zu erhalten. Rußland fängt an, im

Innern zu liberaliſiren und macht Frankreich den Hof. Mit wem

ſoll man ſich verbünden? Iſt da etwas andres als abwarten

möglich?

In Deutſchland iſt der preußiſche Einfluß ſo gering, weil der

König ſich niemals entſchließen kann, den Fürſten ſeinen Unwillen

zu zeigen. Wenn ſie ſich noch ſo nichtsnutzig betragen, ſo ſind ſie

bei Jagden und in Sansſouci gern geſehn. 1806 fing Preußen

den Krieg mit Frankreich unter ſehr ungünſtigen Auſpicien an,

und doch folgten ihm Sachſen, Kurheſſen, Braunſchweig, Weimar,

während Oeſterreich ſchon 1805 ohne allen Anhang war. ...

L. v. G.“ 1)

Ich hatte keinen Grund, durch eine Replik die an ſich ziel¬

loſe Correſpondenz fortzuſetzen.

1)

Vgl. Bismarck-Jahrbuch II 245 ff.

[[191]/0218]

Neuntes Kapitel.

Reiſen. Regentſchaft.

I.

Im folgenden Jahre, 1856, begann der König ſich mir wieder

zu nähern; Manteuffel (vielleicht auch Andre) fürchteten, ich könnte

auf ſeine und ihre Koſten Einfluß gewinnen. Unter dieſen Ver¬

hältniſſen machte mir Manteuffel den Vorſchlag, ich ſolle das

Finanzminiſterium übernehmen, er werde das Präſidium und das

auswärtige Reſſort behalten, ſpäter aber mit mir tauſchen, ſo daß

er als Vorſitzender Finanzminiſter, ich Auswärtiger würde. Er

that, als ginge der Vorſchlag von ihm aus. Obwohl mir derſelbe

ſonderbar erſchien, lehnte ich nicht grade ab, ſondern erinnerte

nur daran, daß die Zeitungen, als ich zum Bundesgeſandten er¬

nannt war, den Scherz des witzigen Dechanten von Weſtminſter

über Lord John Ruſſell auf mich angewandt hatten: der Menſch

würde auch das Commando einer Fregatte oder eine Steinoperation

übernehmen. Wenn ich Finanzminiſter würde, ſo könnten der¬

gleichen Urtheile mit mehr Geltung auftreten, obſchon ich die unter¬

ſchreibende Thätigkeit Bodelſchwingh's als Finanzminiſter allenfalls

auch würde leiſten können. Es komme alles darauf an, wie lange

das Interimiſticum dauern ſolle. In der That war der Vorſchlag

vom Könige ausgegangen; und als der Manteuffeln fragte, was

er ausgerichtet hätte, antwortete derſelbe: „Er hat mich gradezu

ausgelacht.“

[192/0219]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

Wenn der König mir wiederholt mündlich das Portefeuille

Manteuffel's nicht anbot, ſondern zu übernehmen befahl mit Worten,

wie: „Wenn Sie ſich an der Erde winden, es hilft Ihnen nichts,

Sie müſſen Miniſter werden,“ ſo behielt ich doch immer den Ein¬

druck im Hintergrunde, daß dieſe Kundgebungen dem Bedürfniß

entſprangen, Manteuffel zur Unterwerfung, zum „Gehorſam“ zu

bringen. Auch wenn es dem Könige Ernſt geweſen wäre, ſo würde

ich doch das Gefühl gehabt haben, daß ich ihm gegenüber eine

annehmbare Miniſterſtellung nicht dauernd würde haben können 1).

Im März 1857 waren in Paris die Conferenzen zur Schlich¬

tung des zwiſchen Preußen und der Schweiz ausgebrochenen Streites

eröffnet worden. Der Kaiſer, über die Vorgänge in Berliner Hof-

und Regirungskreiſen ſtets wohl unterrichtet, wußte offenbar, daß

der König mit mir auf vertrauterem Fuße ſtand, als mit andern

Geſandten und mich wiederholt als Miniſtercandidaten in's Auge

gefaßt hatte. Nachdem er in den Händeln mit der Schweiz eine

für Preußen äußerlich, und namentlich im Vergleich mit der Oeſt¬

reichs, wohlwollende Haltung beobachtet hatte, ſchien er voraus¬

zuſetzen, daß er dafür auf ein Entgegenkommen Preußens in andern

Dingen zu rechnen habe; er ſetzte mir auseinander, daß es unge¬

recht ſei, ihn zu beſchuldigen, daß er nach der Rheingrenze ſtrebe.

Das linksrheiniſche deutſche Ufer mit etwa 3 Millionen Einwohnern

würde für Frankreich Europa gegenüber eine unhaltbare Grenze

ſein; die Natur der Dinge würde Frankreich dann dahin treiben,

auch Luxemburg, Belgien und Holland zu erwerben oder doch in

eine ſichre Abhängigkeit zu bringen. Das Unternehmen hinſichtlich

der Rheingrenze würde daher Frankreich früher oder ſpäter zu einer

Vermehrung von 10 bis 11 Millionen thätiger, wohlhabender Ein¬

wohner führen. Eine ſolche Verſtärkung der franzöſiſchen Macht

würde von Europa unerträglich befunden werden, — „devrait

engendrer la coalition“, würde ſchwerer zu behalten, als zu nehmen

1)

S. o. S. 88. 138.

[193/0220]

Unterredung mit Napoleon III. über franzöſiſche Zukunftspläne.

ſein, — „un dépôt que l'Europe coalisée un jour viendrait

reprendre“; eine ſolche an Napoleon I. erinnernde Prätenſion ſei

für die gegenwärtigen Verhältniſſe zu hoch; man würde ſagen,

Frankreichs Hand ſei gegen Jedermann, und deshalb würde Jeder¬

manns Hand gegen Frankreich ſein. Vielleicht werde er unter

Umſtänden zur Befriedigung des Nationalſtolzes „une petite recti¬

fication des frontières“ verlangen, könne aber ohne ſolche leben.

Wenn er wieder eines Krieges bedürfen ſollte, würde er denſelben

eher in der Richtung nach Italien ſuchen. Einerſeits habe dieſes

Land doch immer eine große Affinität mit Frankreich, andrerſeits

ſei das letztre an Landmacht und an Siegen zu Lande reich genug.

Eine viel pikantere Befriedigung würden die Franzoſen in einer

Ausdehnung ihrer Seemacht finden. Er denke nicht daran, das

Mittelmeer grade zu einem franzöſiſchen See zu machen, „mais

à peu près“. Der Franzoſe ſei kein Seemann von Natur, ſondern

ein guter Landſoldat, und eben deshalb ſeien Erfolge zur See ihm

viel ſchmeichelhafter. Dies allein ſei das Motiv, welches ihn hätte

veranlaſſen können, zur Zerſtörung der ruſſiſchen Flotte im Schwarzen

Meere zu helfen, da Rußland, wenn dereinſt im Beſitz eines ſo

vortrefflichen Materials, wie die griechiſchen Matroſen, ein zu ge¬

fährlicher Rival im Mittelmeer werden würde. Ich hatte den Ein¬

druck, daß der Kaiſer in dieſem Punkte nicht ganz aufrichtig war,

daß ihm die Zerſtörung der ruſſiſchen Flotte eher leid that, und

daß er ſich nachträglich eine Rechtfertigung für das Ergebniß des

Krieges zurecht machte, in den England unter ſeiner Mitwirkung

nach dem Ausdruck ſeines Auswärtigen Miniſters wie ein ſteuer¬

loſes Schiff hineingetrieben war — we are drifting into war.

Als Ergebniß eines nächſten Krieges denke er ſich ein Ver¬

hältniß der Intimität und Abhängigkeit Italiens zu Frankreich,

vielleicht die Erwerbung einiger Küſtenpunkte. Zu dieſem Pro¬

gramm gehöre, daß Preußen ihm nicht entgegen ſei. Frankreich

und Preußen ſeien aufeinander angewieſen; er halte es für einen

Fehler, daß Preußen 1806 nicht wie andre deutſche Mächte zu

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 13

[194/0221]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

Napoleon gehalten hätte. Es ſei wünſchenswerth, unſer Gebiet durch

die Erwerbung Hanovers und der Elbherzogthümer zu conſoli¬

diren, um damit die Unterlage einer ſtärkern preußiſchen See¬

macht zu gewinnen. Es fehle an Seemächten zweiten Ranges, die

durch Vereinigung ihrer Streitkräfte mit der franzöſiſchen das jetzt

erdrückende Uebergewicht Englands aufhöben. Eine Gefahr für ſie

ſelbſt und für das übrige Europa könne darin nicht liegen, weil

ſie ſich ja zu einſeitig egoiſtiſch-franzöſiſchen Unternehmungen nicht

einigen würden, nur für die Freiheit der Meere von der eng¬

liſchen Uebermacht. Zunächſt wünſche er ſich der Neutralität

Preußens zu verſichern für den Fall, daß er wegen Italien mit

Oeſtreich in Krieg geriethe. Ich möge den König über dieſes Alles

ſondiren.

Ich antwortete, ich ſei doppelt erfreut, daß der Kaiſer dieſe

Andeutungen grade mir gemacht habe, erſtens, weil ich darin einen

Beweis ſeines Vertrauens ſehn dürfe, und zweitens, weil ich viel¬

leicht der einzige preußiſche Diplomat ſei, der es über ſich nehmen

würde, dieſe ganze Eröffnung zu Hauſe und auch ſeinem Souverän

gegenüber zu verſchweigen 1). Ich bäte ihn dringend, ſich dieſer

Gedanken zu entſchlagen; es läge außer aller Möglichkeit für den

König Friedrich Wilhelm IV., auf dergleichen einzugehn; eine ab¬

lehnende Antwort ſei unzweifelhaft, wenn ihm die Eröffnung ge¬

macht würde. Dabei bleibe im letztern Falle die große Gefahr

einer Indiscretion im mündlichen Verkehr der Fürſten, einer An¬

deutung darüber, welchen Verſuchungen der König widerſtanden

habe. Wenn eine andre deutſche Regirung in die Lage verſetzt

würde, über dergleichen Indiscretionen nach Paris zu berichten, ſo

werde das für Preußen ſo werthvolle gute Benehmen mit Frank¬

1)

Thatſächlich finden ſich in den Berichten an Manteuffel vom 11. und

24. April, ſowie vom 1. Mai 1857 (Preußen im Bundestage IV 257 f., III

91 ff. 94 ff.) keinerlei Mittheilungen über dieſe Unterredung, ebenſowenig in

dem Briefe an Gerlach vom 11. April 1857, Briefe Bismarck's c. S. 311 ff.;

das, er dem letztern davon erzählt hat, geht aus Gerlach's Denkwürdigkeiten

II 521 hervor.

[195/0222]

Unterredung mit Napoleon III. In Kopenhagen.

reich geſtört werden. „Mais ce ne serait plus une indiscrétion,

ce serait une trahision,“ unterbrach er mich etwas beunruhigt.

„Vous vous embourberiez!“ fuhr ich fort.

Der Kaiſer fand dieſen Ausdruck ſchlagend und anſchaulich

und wiederholte ihn. Die Unterredung ſchloß damit, daß er mir

für dieſe Offenheit ſeinen Dank ausſprach und ich ihm Schweigen

über ſeine Eröffnung zuſagte.

II.

In demſelben Jahre benutzte ich die Ferien des Bundestages

zu einem Jagdausfluge nach Dänemark und Schweden 1). In Kopen¬

hagen hatte ich am 6. Auguſt eine Audienz bei dem Könige

Friedrich VII. Er empfing mich in Uniform, den Helm auf dem

Kopfe, und unterhielt mich mit übertriebenen Schilderungen ſeiner

Erlebniſſe bei verſchiedenen Gefechten und Belagerungen, bei denen

er garnicht zugegen geweſen war. Auf meine Sondirung, ob er

glaube, daß die (zweite gemeinſchaftliche vom 2. October 1855 da¬

tirte) Verfaſſung halten werde, erwiderte er, er habe ſeinem Vater

auf dem Todtenbette zugeſchworen, ſie zu halten, wobei er vergaß,

daß dieſe Verfaſſung beim Tode ſeines Vaters (1848) noch nicht

vorhanden war. Während der Unterhaltung ſah ich in einer an¬

ſtoßenden ſonnigen Gallerie einen weiblichen Schatten an der Wand;

der König hatte nicht für mich, ſondern für die Gräfin Danner

geredet, über deren Verkehrsformen mit Sr. Majeſtät ich ſonder¬

bare Anekdoten hörte. Auch mit angeſehnen Schleswig-Holſteinern

hatte ich Gelegenheit, mich zu beſprechen. Sie wollten von einem

deutſchen Kleinſtaate nichts wiſſen; „da ſei ihnen das Bischen

Europäerthum in Kopenhagen noch lieber“.

In Schweden ſtürzte ich bei der Jagd am 17. Auguſt auf eine

1)

Vgl. die Briefe vom 6., 9., 16.–19. Aug. in den Bismarckbriefen

(7. Aufl.) S. 222 ff.

[196/0223]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

Felskante und erlitt eine ernſte Verletzung des Schienbeins, die ich

leider vernachläſſigte, um nach Kurland auf die Elchjagd zu gehn.

Auf der Rückreiſe von Kopenhagen traf ich am 26. Auguſt in

Berlin ein, machte am 3. September eine große Revue mit, auf

der ich zum erſten Male die eben eingeführte weiße Uniform des

damaligen „ſchweren Reiter“-Regiments trug, und reiſte dann nach

Kurland *).

Am 8. Juli hatte der König dem Kaiſer von Oeſtreich von

Marienbad aus einen Beſuch in Schönbrunn gemacht. Auf dem

Rückwege war er am 13. Juli zum Beſuch des Königs von

Sachſen in Pillnitz eingetroffen, wo er an demſelben Tage von

„einem Unwohlſein“ befallen wurde, das in den Bulletins der

Leibärzte aus der bei großer Hitze zurückgelegten Reiſe erklärt wurde

und die Abreiſe um mehre Tage verzögerte. Nachdem der König

am 17. nach Sansſouci zurückgekehrt war, bemerkte ſeine Umgebung

Symptome einer geiſtigen Ermüdung, namentlich Edwin Manteuffel,

der ängſtlich bemüht war, jede Unterhaltung des Königs mit Andern

zu hindern oder zu unterbrechen. Die politiſchen Eindrücke, die der

König bei ſeinen Verwandten in Schönbrunn und Pillnitz erfahren,

hatten auf ſein Gemüth deprimirend, die Diſcuſſionen angreifend

eingewirkt. Bei dem Exerciren am 27. Juli neben ihm reitend,

hatte ich im Geſpräch den Eindruck des Verſiegens der Gedanken

und Anlaß, in die Lenkung ſeines Pferdes im Schritt einzu¬

greifen.

Der Zuſtand wurde dadurch verſchlimmert, daß der König am

6. October den Kaiſer von Rußland, einen ſtarken Raucher, nach

dem Niederſchleſiſch-Märkiſchen Bahnhofe in dem kaiſerlichen ge¬

ſchloſſenen Salonwagen begleitet hatte, in Tabaksdampf, der ihm

ebenſo unerträglich war wie der Geruch des Siegellacks 1).

Es folgte, wie bekannt, ein Schlaganfall. In hohen militäri¬

*)

Daß auch ſeine eigenhändigen Schreiben nicht in ſeiner Gegenwart

geſiegelt wurden, hatte ſeine ſehr bedenkliche Seite.

1)

Vgl. Brief aus Königsberg vom 12. Sept. 1857, Bismarckbriefe S. 226.

[197/0224]

In Schweden und Kurland. Erkrankung des Königs.

ſchen Kreiſen war die Vorſtellung verbreitet, daß ein ähnlicher Zu¬

ſtand ihn ſchon in der Nacht vom 18. zum 19. März 1848 be¬

fallen habe. Die Aerzte beriethen, ob ſie einen Aderlaß machen

ſollten oder nicht, wovon ſie im erſten Falle Störungen im Gehirn,

im zweiten Tod befürchteten, und entſchieden ſich erſt nach mehren

Tagen für den Aderlaß, der den König wieder zum Bewußtſein

brachte.

Während dieſer Tage, alſo mit der Möglichkeit eines ſofortigen

Regirungsantritts vor Augen — am 19. October —, machte der

Prinz von Preußen mit mir einen langen Spaziergang durch die

neuen Anlagen und ſprach mit mir darüber, ob er, wenn er zur

Regirung komme, die Verfaſſung unverändert annehmen oder zuvor

eine Reviſion derſelben fordern ſolle. Ich ſagte, die Ablehnung

der Verfaſſung würde ſich rechtfertigen laſſen, wenn das Lehnrecht

anwendbar wäre, nach welchem ein Erbe zwar an Verfügungen

des Vaters, aber nicht des Bruders gebunden ſei. Aus Gründen

der Politik aber riethe ich, nicht an der Sache zu rühren, nicht

die mit einer, wenn auch bedingten Ablehnung verbundene Un¬

ſicherheit unſrer ſtaatlichen Zuſtände herbeizuführen. Man dürfe

nicht die Befürchtung der Möglichkeit des Syſtemwechſels bei jedem

Thronwechſel hervorrufen. Preußens Anſehn in Deutſchland und

ſeine europäiſche Actionsfähigkeit würden durch einen Zwiſt zwiſchen

der Krone und dem Landtage gemindert werden, die Parteinahme

gegen den beabſichtigten Schritt in dem liberalen Deutſchland

eine allgemeine ſein. Bei meiner Schilderung der zu befürchtenden

Folgen ging ich von demſelben Gedanken aus, den ich ihm 1866,

als es ſich um die Indemnität handelte, zu entwickeln hatte: daß

Verfaſſungsfragen den Bedürfniſſen des Landes und ſeiner politi¬

ſchen Lage in Deutſchland untergeordnet wären, ein zwingendes

Bedürfniß an der unſrigen zu rühren, jetzt nicht vorliege; daß für

jetzt die Machtfrage und innere Geſchloſſenheit die Hauptſache ſei.

Als ich nach Sansſouci zurückkam, fand ich Edwin Manteuffel

beſorglich erregt über meine lange Unterhaltung mit dem Prinzen

[198/0225]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

und die Möglichkeit weitrer Einmiſchung meinerſeits. Er fragte

mich, weshalb ich nicht auf meinen Poſten ginge, wo ich in der

gegenwärtigen Situation ſehr nöthig ſein würde. Ich erwiderte:

„Ich bin hier viel nöthiger“ 1).

Durch Allerhöchſten Erlaß vom 23. October wurde der Prinz

von Preußen zunächſt auf drei Monate mit der Stellvertretung

des Königs beauftragt, die dann noch dreimal auf je drei Monate

verlängert wurde und ohne nochmalige Verlängerung im October

1858 abgelaufen wäre. Im Sommer 1858 war ein ernſter Verſuch

im Werke, die Königin zu veranlaſſen, die Unterſchrift des Königs

zu einem Briefe an ſeinen Bruder zu beſchaffen, in dem zu ſagen

ſei, daß er ſich wieder wohl genug fühle, um die Regirung zu

übernehmen, und dem Prinzen für die geführte Stellvertretung

danke. Die letztre war durch einen Brief des Königs eingeleitet

worden, konnte alſo, ſo argumentirte man, durch einen ſolchen

wieder aufgehoben werden. Die Regirung würde dann, unter

Controlle der königlichen Unterſchrift durch Ihre Majeſtät die

Königin, von den dazu berufenen oder ſich darbietenden Herren

vom Hofe geführt werden. Zu dieſem Plan wurde mündlich auch

meine Mitwirkung in Anſpruch genommen, die ich in der Form

ablehnte, das würde eine Haremsregirung werden. Ich wurde

von Frankfurt nach Baden-Baden gerufen und ſetzte dort 2)den

Prinzen von dem Plane in Kenntniß, ohne die Urheber zu nennen.

„Dann nehme ich meinen Abſchied!“ rief der Prinz. Ich ſtellle

ihm vor, daß das Ausſcheiden aus ſeinen militäriſchen Aemtern

nichts helfen, ſondern die Sache ſchlimmer machen würde. Der

Plan ſei nur ausführbar, wenn das Staatsminiſterium dazu ſtille

hielte. Ich rieth daher, den Miniſter Manteuffel, der auf ſeinem

Gute den Erfolg des ihm bekannten Plans abwartete, telegraphiſch

zu citiren und durch geeignete Weiſungen den Faden der Intrigue

1)

Vgl. Bismarck's Brief an Gerlach vom 19. Dec. 1857, Ausg. von

H. Kohl S. 337 ff. und Gerlachs Antwort, Bismarck-Jahrbuch II 250 ff.

2)

Am 15. Juli 1858.

[199/0226]

Stellvertretung des Prinzen v. Preußen. Seine Regentſchaft.

zu zerſchneiden. Der Prinz ging darauf ein. Nach Frankfurt

zurückgekehrt, erhielt ich folgenden Brief Manteuffels:

„Berlin, den 20. Juli 1858.

Ew. Hochwohlgeboren benachrichtige ich ergebenſt, daß es

meine Abſicht iſt, nächſten Donnerſtag, den 22. ds. M., Morgens

früh 7 Uhr von hier nach Frankfurt zu gehen und am folgenden

Morgen ſo zeitig als möglich nach Baden-Baden mich zu begeben.

Es würde mir angenehm ſein, wenn es Ew. Hochwohlgeboren con¬

venirte, mich zu begleiten. Wahrſcheinlich werden mich meine Frau

und mein Sohn begleiten, welche zur Zeit noch auf dem Lande

ſind, aber morgen hier ankommen.

Ich wünſche nicht, daß in Frankfurt von meiner Durchreiſe

vorher geſprochen werde, wollte mir aber doch erlauben, Ew. Hoch¬

wohlgeboren durch dieſe Zeilen ein kleines Aviſo zu geben.“

Der weitre Verlauf der Stellvertretungsfrage erhellt aus fol¬

gendem Briefe Manteuffels:

„Berlin, den 12. October 1858.

Unſre große Haupt- und Staatsaction iſt inmittelſt wenigſtens

im erſten Akt erledigt. Die Sache hat mir viel Sorge, Unan¬

nehmlichkeit und unverdienten Verdruß gemacht. Noch geſtern

habe ich darüber von Gerlach einen ganz empfindlichen Brief er¬

halten. Er glaubt, daß damit die Souveränetät halb zum Fenſter

hinausgeworfen ſei. Ich kann das beim beſten Willen nicht er¬

kennen, meine Vorſtellung von der Sache iſt folgende:

Wir haben einen diſpoſitionsfähigen, aber regierungsunfähigen

König; derſelbe ſagt ſich ſelbſt und muß ſich ſagen, daß er ſeit

länger als Jahresfriſt nicht hat regieren können, daß die Aerzte

und er ſelbſt anerkennen müſſen, der Zeitpunkt, wo er wieder ſelbſt

werde regieren können, laſſe ſich auch entfernt nicht angeben, daß

eine unnatürliche Verlängerung der bisherigen Vollmachtsertheilung

nicht am Orte und dem Staate eine ſich ſelbſt allein verantwort¬

[200/0227]

Neuntes Kapitel: Reiſen, Regentſchaft.

liche Spitze nothwendig ſei; aus allen dieſen Erwägungen gibt der

König dem zunächſt zur Krone Berufenen den Befehl, das zu thun,

was für ſolchen Fall in der Landesverfaſſung vorgeſchrieben iſt.

Die Beſtimmungen der letzteren, welche gerade in dieſem Punkte

correct und monarchiſch abgefaßt ſind, werden demnächſt zur An¬

wendung gebracht und das, wenn auch nach der Erklärung des

Königs überflüſſige, immerhin aber in der Verfaſſung mit gutem

Grunde vorgeſchriebene Landtagsvotum wird eingeholt, aber ſtreng

auf Beantwortung der Frage beſchränkt: Iſt die Einſetzung einer

Regentſchaft nothwendig? mit andern Worten: Iſt der König mit

genügendem Grund von den Geſchäften entfernt? Wie man dieſe

Frage verneinen will, iſt mir nicht erſichtlich; immerhin wird es

noch manche, namentlich formale Schwierigkeit zu überwinden geben.

Namentlich fehlt es für die in der Verfaſſung vorgeſehene gemein¬

ſchaftliche Sitzung an einer Geſchäftsordnung. Dieſe wird man

improviſiren müſſen, indeſſen hoffe ich doch, daß man in etwa

fünf Tagen mit der Beſchlußfaſſung zu Stande ſein wird, ſo daß

dann der Prinz den Eid leiſten und die Verſammlung ſchließen

können wird. Andre Vorlagen, namentlich ſolche, welche auf

Geldbewilligungen ſich beziehen, werden natürlich für dieſe Sitzung

gar nicht beabſichtigt. Wenn Ihre Geſchäfte es erlauben, ſo würde

ich wünſchen, daß Sie Sich zum Landtage hier einfinden und wo¬

möglich vor deſſen Eröffnung hier ſind. Ich höre von wunder¬

baren Anträgen der äußerſten Rechten, die man vielleicht im

allgemeinen Intereſſe, ſowie in demjenigen dieſer Herren ver¬

hindern könnte.

Weſtphalens Entlaſſung gerade im gegenwärtigen Momente

iſt nur ſehr unerwünſcht geweſen. Einmal ſchon hatte ich, als er

ſelbige verlangte, ſie gehindert. Jetzt wollte der Prinz ſie ihm aus

ganz freier Entſchließung und ohne ſeinen Antrag ertheilen und

ſchickte mir ein darauf bezügliches Privatſchreiben an Weſtphalen

mit dem Befehle, ſofort die Ausfertigung vorzulegen. Ich that

letzteres indeß nicht, und ſandte auch das eigenhändige Schreiben

[201/0228]

Uebernahme der Regentſchaft. Entlaſſung Manteuffels.

nicht ab, ſondern machte bei dem Prinzen Gegenvorſtellungen bezüg¬

lich der Opportunität des Momentes, Gegenvorſtellungen, welche

nach nicht geringer Mühe auch durchſchlugen. Ich ward ermächtigt,

die Maßregel wenigſtens aufzuhalten und den Brief bei mir liegen

zu laſſen. Da ſchrieb Weſtphalen am 8. d. Mts. an den Prinzen

ſowohl wie an mich ein ganz wunderbares Schreiben, worin er mit

Zurücknahme früherer Erklärungen ſeine Contraſignatur der zu

erlaſſenden und bereits feſtgeſtellten Ordres davon abhängig machte,

daß auch noch die vom Prinzen zu erlaſſenden Ordres ſpeciell dem

Könige zur Genehmigung vorgelegt würden, ein Verlangen, welches

in der That mit Rückſicht auf den in den letzten Tagen verſchlim¬

merten geiſtigen Zuſtand des Königs an Widerſinnigkeit grenzt.

Da verlor der Prinz die Geduld und machte mir Vorwürfe, nicht

ſogleich ſein Schreiben abgeſchickt zu haben, und die Sache war

nun nicht mehr zu halten. Flottwells Wahl iſt ohne all' mein

Zuthun aus dem Prinzen ſelbſtſtändig hervorgegangen, ſie hat, wie

Manches gegen ſich, ſo auch Manches für ſich.“

Ich ſtellte mich zu dem Landtage ein und trat in einer Fractions¬

ſitzung gegen die Herrn, von welchen der Verſuch ausging, ſich der

verfaſſungsmäßigen Votirung der Regentſchaft zu widerſetzen, mit

Entſchiedenheit für die Annahme der Regentſchaft ein, die denn

auch ſtattfand.

Nachdem am 26. October der Prinz von Preußen die Regent¬

ſchaft übernommen hatte, fragte Manteuffel mich, was er thun

ſolle, um eine unfreiwillige Verabſchiedung zu vermeiden, und gab

mir auf mein Verlangen ſeine letzte Correſpondenz mit dem Regenten

zu leſen. Meine Antwort, es ſei ganz klar, daß der Prinz ihm

den Abſchied geben wolle, hielt er für unaufrichtig, vielleicht für

ehrgeizig. Am 6. November wurde er entlaſſen. Es folgte ihm

der Fürſt von Hohenzollern mit dem Miniſterium der „Neuen Aera“.

[202/0229]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

III.

Im Januar 1859 machte mir auf einem Balle bei Mouſtier

oder Karolyi der Graf Stillfried ſcherzhafte Anſpielungen, aus

denen ich ſchloß, daß meine ſchon mehrmals geplante Verſetzung

von Frankfurt nach Petersburg erfolgen werde, und fügte dazu

die wohlwollende Bemerkung: Per aspera ad astra. Die Wiſſen¬

ſchaft des Grafen beruhte ohne Zweifel auf ſeinen intimen Be¬

ziehungen zu allen Katholiken im Haushalte der Prinzeſſin, vom

erſten Kammerherrn bis zum Kammerdiener. Meine Beziehungen

zu den Jeſuiten waren damals noch ungetrübt, und ich beſaß noch

Stillfrieds Wohlwollen. Ich verſtand die durchſichtige Anſpielung,

begab mich am folgenden Tage (26. Januar) zu dem Regenten und

ſagte offen, ich hörte, daß ich nach Petersburg verſetzt werden ſollte,

und bat um Erlaubniß, mein Bedauern darüber auszuſprechen, in

der Hoffnung, daß es noch rückgängig gemacht werden könnte. Die

erſte Gegenfrage war: „Wer hat Ihnen das geſagt?“ Ich erwiderte,

ich würde indiscret ſein, wenn ich die Perſon nennen wollte, ich hätte

es aus dem Jeſuitenlager gehört, mit dem ich alte Fühlung hätte,

und ich bedauerte es, weil ich glaubte, in Frankfurt, in dieſem

Fuchsbau des Bundestages, deſſen Ein- und Ausgänge ich bis auf

die Nothröhren kennen gelernt hätte, brauchbarere Dienſte leiſten zu

können als irgend einer meiner Nachfolger, der die ſehr complicirte

Stellung, die auf den Beziehungen zu vielen Höfen und Miniſtern

beruhe, erſt wieder kennen lernen müſſe, da ich meine achtjährige

Erfahrung auf dieſem Gebiete, die ich in bewegten Zuſtänden ge¬

macht, nicht vererben könnte. Mir wäre jeder deutſche Fürſt und

jeder deutſche Miniſter und die Höfe der bundesfürſtlichen Reſi¬

denzen perſönlich bekannt, und ich erfreute mich, ſo weit es für

Preußen erreichbar ſei, eines Einfluſſes in der Bundesverſammlung

und an den einzelnen Höfen. Dieſes erworbene und erkämpfte

Capital der preußiſchen Diplomatie würde zwecklos zerſtört durch

[203/0230]

Unterredung mit dem Prinzen über den Petersburger Poſten.

meine Abberufung von Frankfurt. Die Ernennung von Uſedom

werde das Vertrauen der deutſchen Höfe abſchwächen, weil er unklar

liberal und mehr anekdotenerzählender Höfling als Staatsmann ſei;

und Frau von Uſedom würde uns durch ihre Excentricität Verlegen¬

heit und unerwünſchte Eindrücke in Frankfurt zuziehn.

Worauf der Regent: „Das iſt es ja eben, daß die hohe Be¬

fähigung Uſedoms ſich nirgendwo anders verwerthen läßt, weil ſeine

Frau an jedem Hofe Verlegenheiten herbeiführen würde.“ Letztres

geſchah nicht bloß an Höfen, ſondern auch in dem duldſamen Frank¬

furt, und die Unannehmlichkeiten, welche ſie in Ueberſchätzung ihrer

geſandſchaftlichen Prärogative Privatleuten bereitete, arteten bis

zu öffentlichen Scandaloſen aus. Aber Frau von Uſedom war

geborne Engländerin und fand deshalb bei der Inferiorität des

deutſchen Selbſtgefühls bei Hofe eine Nachſicht, deren ſich keine

deutſche Frau zu erfreuen gehabt haben würde.

Meine Erwiderung dem Regenten gegenüber lautete ungefähr:

„Dann iſt es alſo ein Fehler, daß ich nicht auch eine taktloſe Frau

geheirathet habe, ſonſt würde ich auf den Poſten, auf dem ich mich

heimiſch fühle, denſelben Anſpruch haben, wie Graf Uſedom.“

Darauf der Regent: „Ich begreife nicht, wie Sie die Sache

ſo bitter auffaſſen können; Petersburg hat doch immer für den

oberſten Poſten der preußiſchen Diplomatie gegolten, und Sie ſollten

es als einen Beweis hohen Vertrauens aufnehmen, daß ich Sie

dahin ſchicke.“

Darauf ich: „Sobald Ew. Königliche Hoheit mir dieſes Zeug¬

niß geben, ſo muß ich natürlich ſchweigen, kann aber doch bei der

Freiheit des Wortes, die Ew. Königliche Hoheit mir jederzeit ge¬

ſtattet haben, nicht umhin, meine Sorge über die heimiſche Situation

und ihren Einfluß auf die deutſche Frage auszuſprechen. Uſedom

iſt ein brouillon, kein Geſchäftsmann. Seine Inſtruction wird er

von Berlin erhalten; wenn Graf Schlieffen Decernent für deutſche

Sachen bleibt, ſo werden die Inſtructionen gut ſein; an ihre ge¬

wiſſenhafte Ausführung glaube ich bei Uſedom nicht.“

[204/0231]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

Gleichwohl wurde er nach Frankfurt ernannt. Daß ich ihm

mit meinem Urtheil nicht Unrecht gethan, bewies ſein ſpäteres Ver¬

halten in Turin und Florenz. Er poſirte gerne als Stratege, auch

als „verfluchter Kerl“ und tief eingeweihter Verſchwörer, hatte Ver¬

kehr mit Garibaldi und Mazzini und that ſich etwas darauf zu

Gute. In der Neigung zu unterirdiſchen Verbindungen nahm er

in Turin einen angeblichen Mazziniſten, in der That öſtreichiſchen

Spitzel, als Privatſekretär an, gab ihm die Akten zu leſen und

den Chiffre in die Hände. Er war Wochen und Monate von

ſeinem Poſten abweſend, hinterließ Blanquets, auf welche die

Legationsſekretäre Berichte ſchrieben; ſo gelangten an das Aus¬

wärtige Amt Berichte mit ſeiner Unterſchrift über Unterredungen,

die er mit den italieniſchen Miniſtern gehabt haben ſollte, ohne

daß er dieſe Herrn in der betreffenden Zeit geſehn hatte. Aber

er war ein hoher Freimaurer. Als ich im Februar 1869 die Ab¬

berufung eines ſo unbrauchbaren und bedenklichen Beamten ver¬

langte, ſtieß ich bei dem Könige, der die Pflichten gegen die Brüder

mit einer faſt religiöſen Treue erfüllte, auf einen Widerſtand, der

auch durch meine mehrtägige Enthaltung von amtlicher Thätigkeit

nicht zu überwinden war und mich zu der Abſicht brachte, meinen

Abſchied zu erbitten 1). Indem ich jetzt nach mehr als 20 Jahren

die betreffenden Papiere wieder leſe, befällt mich eine Reue darüber,

daß ich damals, zwiſchen meine Ueberzeugung von dem Staats¬

intereſſe und meine perſönliche Liebe zu dem Könige geſtellt, der

erſtern gefolgt bin und folgen mußte. Ich fühle mich heut beſchämt

von der Liebenswürdigkeit, mit welcher der König meine amtliche

Pedanterie ertrug. Ich hätte ihm und ſeinem Maurerglauben den

Dienſt in Florenz opfern ſollen. Am 22. Februar ſchrieb mir

S. M.: „Ueberbringer dieſer Zeilen [Cabinetsrath Wehrmann] hat

mir Mittheilung von dem Auftrage gemacht, den Sie ihm für Sich

gegeben haben. Wie können Sie nur daran denken, daß ich auf

1)

Vgl. Bismarck-Jahrbuch I 76 ff.

[205/0232]

Uſedomiana; das Abſchiedsgeſuch von 1869.

Ihren Gedanken eingehen könnte! Mein größtes Glück iſt es

ja, mit Ihnen zu leben und immer feſt einverſtanden zu ſein. Wie

können Sie Sich Hypochondrien darüber machen, daß meine einzige

Différenz Sie bis zum extremsten Schritt verleitet! Noch aus Varzin

ſchrieben Sie mir in der Différenz wegen der Deckung des Deficits,

daß Sie zwar andrer Meinung wie ich ſeien, daß Sie aber bei

Uebernahme Ihrer Stellung es Sich zur Pflicht gemacht hätten,

daß, wenn Sie pflichtmäßig Ihre Anſichten geäußert, Sie Sich meinen

Beſchlüſſen fügen würden. Was hat denn diesmal Ihre ſo edel

ausgeſprochene Abſicht von vor 3 Monaten ſo gänzlich verändert?

Es giebt nur eine einzige Différenz, ich wiederhole es, die in

F. a./M. 1). Die Usedomiana habe ich geſtern noch ganz eingehend

nach Ihrem Wunſch beſprochen ſchriftlich; die Hausangelegenheit

wird ſich ſchlichten; in der Stellen-Beſetzung waren wir einig, aber

die Individuen wollen nicht. Wo iſt da alſo Grund zum Extrême?

Ihr Name ſteht in Preußens Geſchichte ſchöner als der irgend

eines Preußiſchen Staatsmanns. Den ſoll ich laſſen? Niemals.

Ruhe und Gebeth wird alles ausgleichen. Ihr treuſter Freund

W.“

Von dem folgenden Tage iſt der nachſtehende Brief Roons:

„Berlin, den 23. Februar 1869.

Seit ich Sie geſtern Abend verließ, mein verehrter Freund,

bin ich unausgeſetzt mit Ihnen und Ihrer Entſchließung beſchäftigt.

Es läßt mir keine Ruhe. Ich muß Ihnen nochmals zurufen,

faſſen Sie Ihr Schreiben ſo, daß ein Einlenken möglich bleibt.

1)

Die Regierung hatte am 1. Februar 1869 im Landtage Geſetz¬

entwurf vorgelegt, betr. die Auseinanderſetzung zwiſchen Staat und Stadt

Frankfurt, die auf einem Gutachten der Kronſyndici beruhte, vom Miniſterium

berathen, vom Könige genehmigt worden war. Der Frankfurter Magiſtrat

erlangte, während die Verhandlungen über den Entwurf noch ſchwebten, vom

Könige die Zuſage, daß der Stadt Frankfurt zur vergleichsweiſen Erledigung

der von ihr erhobenen Anſprüche 2000000 Gulden aus der Staatscaſſe über¬

wieſen werden ſollten. Der Geſetzentwurf mußte entſprechend abgeändert werden.

[206/0233]

Neuntes Kapitel: Reiſen, Regentſchaft.

Vielleicht haben Sie es noch nicht abgeſchickt und können noch

daran ändern. Bedenken Sie, daß das geſtern empfangene faſt

zärtliche Billet den Anſpruch der Wahrhaftigkeit macht, ſei es auch

nicht mit voller Berechtigung. Es iſt ſo geſchrieben und mit dem

Anſpruch, nicht als falſche Münze betrachtet zu werden, ſondern

als gute und vollgültige, und erwägen Sie, daß das beigemiſchte

unächte Gut nichts andres iſt als das Kupfer der falſchen Scham,

die nicht eingeſtehen will und in Betracht der Stellung des

Schreibers auch vielleicht nicht kann: ‚Ich, ich habe ſehr Unrecht

gethan und will mich beſſern.‘

Es iſt ganz unzuläſſig, daß Sie die Schiffe verbrennen.

Sie dürfen das nicht, Sie würden Sich damit vor dem Lande

ruiniren, und Europa würde lachen. Die Motive, die Sie leiten,

würden nicht gewürdigt werden; man würde ſagen: er verzweifelte

ſein Werk zu vollenden; deshalb ging er. Ich mag mich nicht

ferner wiederholen, höchſtens noch in dem Ausdruck meiner un¬

wandelbaren und treuen Anhänglichkeit.

Ihr

von Roon.“

Nachdem ich meinen Antrag auf Verabſchiedung zurückge¬

nommen hatte, erhielt ich folgenden Brief:

„Berlin, den 26. Februar 1869.

Als ich Ihnen am 22. in meiner Beſtürzung über Wehrmanns

Mittheilung ein ſehr flüchtiges aber deſto eindringlicheres Billet

ſchrieb, um Sie von Ihrem Verderben drohenden Vorhaben ab¬

zuhalten, konnte ich annehmen, daß Ihre Antwort in Ihrem End¬

reſultat meinen Vorſtellungen Gehör geben würde — und ich habe

mich nicht geirrt. Dank, herzlichſten Dank, daß Sie meine Er¬

wartung nicht täuſchten!

Was nun die Hauptgründe betrifft, die Sie momentan an

Ihren Rücktritt denken ließen, ſo erkenne ich die Triftigkeit der¬

ſelben vollkommen an, und Sie werden Sich erinnern, in wie ein¬

[207/0234]

Uſedomiana; das Abſchiedsgeſuch von 1869.

dringlicher Art ich Sie im Dezember v. J. bei Wiederübernahme

der Geſchäfte aufforderte, Sich jede mögliche Erleichterung zu ver¬

ſchaffen, damit Sie nicht von Neuem der vorauszuſehenden Laſt

und Maſſe der Arbeit unterlägen. Leider ſcheint es, daß Sie

eine ſolche Erleichterung (nicht einmal die Abbürdung Lauenburgs)

nicht für angänglich gefunden haben und daß meine desfallſigen

Befürchtungen ſich in erhöhtem Maße bewahrheitet haben, und

zwar in einem ſolchen Grade, daß Sie zu unheilvollen Gedanken

und Beſchlüſſen gelangen ſollten. Wenn Ihrer Schilderung nach

nun noch Erſchwerniſſe in Bewältigung einzelner Geſchäftsmomente

eingetreten ſind, ſo bedauert das Niemand mehr wie ich. Eine

derſelben iſt die Stellung Sulzers 1). Schon vor längerer Zeit habe

ich die Hand zu deſſen anderweitigen Placirung gebothen, ſo daß

es meine Schuld nicht iſt, wenn dieſelbe nicht erfolgt iſt, nachdem

Eulenburg ſich ſelbſt auch von derſelben überzeugt hat. Wenn eine

ähnliche Geſchäftsvermehrung Ihnen die Uſedom'ſche Angelegenheit

verurſachte, ſo kann dies auch mir nicht zur Laſt gelegt werden,

da deſſen Vertheidigungsſchrift, die ich doch nicht veranlaſſen konnte,

eine Beleuchtung Ihrerſeits verlangte. Wenn ich nicht ſofort auf

die Erledigung des von Ihnen beantragten Gegenſtandes einging,

ſo mußten Sie wohl aus der Überraſchung, welche ich Ihrer Mit¬

theilung entgegenbrachte, als Sie mir Ihren bereits gethanen

Schritt gegen Uſedom anzeigten, darauf vorbereitet ſein. Es waren

Mitte Januar, als Sie mir dieſe Anzeige machten, kaum drei

Monate verfloſſen, ſeitdem die La Marmora'ſche Episode ſich an¬

fing zu beruhigen, ſo daß meine Ihnen im Sommer geſchriebene

Anſicht über Uſedoms Verbleiben in Turin noch dieſelbe war.

Die mir unter dem 14. Februar gemachten Mittheilungen über

Uſedoms Geſchäfts-Betrieb, der ſeine Enthebung vom Amte nun¬

mehr erfordere, wenn nicht eine disciplinar Unterſuchung gegen ihn

verhängt werden ſolle, ließ ich einige Tage ruhen, da mir in¬

1)

Unterſtaatsſekretär im Miniſterium des Innern.

[208/0235]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

zwiſchen die Mittheilung geworden war, daß Keudell mit Ihrem

Vorwiſſen Uſedom aufgefordert, einen Schritt entgegen zu thun.

Und dennoch, ehe noch eine Antwort aus Turin anlangte, befragte

ich Sie ſchon am 21. Februar, wie Sie Sich die Wiederbeſetzung

dieſes Geſandtſchaftspoſtens dächten, womit ich alſo ausſprach, daß

ich auf die Vacantwerdung deſſelben einginge. Und dennoch thaten

Sie ſchon am 22. d. M. den entſcheidenden Schritt gegen Wehr¬

mann, zu welchem die Uſedomiade mit Veranlaſſung ſein ſollte.

Eine andre Veranlaſſung wollen Sie in dem Umſtande finden,

daß ich nach Empfang des Staatsminiſterialberichts in der An¬

gelegenheit Fa/M, vor Feſtſtellung meiner Anſicht, nicht noch Ein¬

mal Ihren Vortrag verlangt hätte. Da aber Ihre und der

Staatsminiſter Gründe ſo entſcheidend durch Vorlage des Geſetz¬

entwurfs und den Begleitungsbericht dargelegt waren, ja, meine

Unterſchrift in derſelben Stunde verlangt wurde, als mir dieſe

Vorlage gemacht ward, um ſie ſofort in die Kammer zu bringen,

ſo ſchien mir nochmaliger Vortrag nicht angezeigt, um meine An¬

ſicht und Abſicht feſtzuſtellen. Wäre mir, bevor im Staats-

Miniſterium dieſer in der Fa/M Frage einzuſchlagende Weg, der

ganz von meiner früheren Kundgebung abwich, feſtgeſtellt wurde,

Vortrag gehalten worden *), ſo würde durch Idéen Aus¬

tauſch ein Ausweg aus den verſchiedenen Auffaſſungen erzielt

worden ſein und die Divergenz und der Mangel des Zu¬

ſammenwirkens, das Umarbeiten c., was Sie mit Recht ſo ſehr

bedauern, zu vermeiden geweſen. Alles was Sie bei dieſer Ge¬

legenheit über die Schwierigkeit des Imgangehaltens der constitutio¬

nellen Staatsmaſchine ſagen u. ſ. w., unterſchreibe ich durchaus, nur

kann ich die Anſicht nicht gelten laſſen, daß mein ſo nöthiges

Vertrauen zu Ihnen und den anderen Räthen der Krone mangele.

Sie ſelbſt ſagen, daß es zum erſtenmal vorkomme ſeit 1862, daß

eine Différenz eingetreten ſei zwiſchen uns, und das ſollte genügen

*)

Dazu wäre Freiheit der Zeit erforderlich geweſen.

[209/0236]

Uſedomiana. Das Entlaſſungsgeſuch von 1869.

als Beweis, daß ich kein Vertrauen zu meinen Regierungs Organen

mehr hätte? Niemand ſchlägt das Glück höher an als ich, daß in

einer 6jährigen ſo bewegten Zeit dergleichen Différenzen nicht

eingetreten ſind; aber wir ſind dadurch verwöhnt worden — ſo

daß der jetzige Moment, mehr als gerechtfertigt iſt, ein Ebranle¬

ment erzeugt. Ja, kann ein Monarch ſeinem Premier ein größeres

Vertrauen beweiſen als ich, der Ihnen zu ſo verſchiedenen Malen

und nun auch jetzt zuletzt noch privat Briefe zuſendet, die über

momentan ſchwebende Fragen ſprechen, damit Sie ſich überzeugen,

daß ich nichts der Art hinter Ihrem Rücken betreibe? Wenn ich

Ihnen den Brief des Grls von Manteuffel in der Memeler

Angelegenheit *)ſendete, weil er mir ein Novum zu enthalten

ſchien und ich deshalb Ihre Anſicht hören wollte, wenn ich Ihnen

Grls von Boyen Brief mittheilte, ebenſo einige Zeitungsaus¬

ſchnitte, bemerkend, daß dieſe Piècen genau das wiedergäben,

was ich unverändert ſeit Jahr und Tag überall und offiziel

ausgeſprochen hätte — ſo ſollte ich glauben, daß ich mein Ver¬

trauen kaum ſteigern könnte. Daß ich aber überhaupt mein Ohr

den Stimmen verſchließen ſollte, die in gewiſſen gewichtigen Augen¬

blicken ſich vertrauensvoll an mich wenden, das werden Sie ſelbſt

nicht verlangen.

Wenn ich hier einige der Punkte heraushebe, die Ihr Schrei¬

ben als Gründe anführt, die Ihre jetzige Gemüthsſtimmung her¬

beiführten, während ich andere unerörtert ließ, ſo komme ich noch

auf Ihre eigne Aeußerung zurück, daß Sie Ihre Stimmung eine

krankhafte nennen; Sie fühlen ſich müde, erſchöpft, Sehnſucht nach

Ruhe beſchleicht Sie. Das alles verſtehe ich vollkommen, denn

ich fühle es Ihnen nach; kann und darf ich deshalb daran denken

mein Amt niederzulegen? Ebenſo wenig dürfen Sie es. Sie

gehören Sich nicht allein, Sich ſelbſt an; Ihre Existenz iſt mit der

*)

Es handelte ſich um die Eiſenbahn Memel-Tilſit. Der König war

durch einen Brief des Generals von Manteuffel beſtimmt worden, von einer

auf Vortrag der Reſſortminiſter getroffenen Entſcheidung wieder abzugehen.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 14

[210/0237]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

Geſchichte Preußens, Deutſchlands, Europas zu eng verbunden, als

daß Sie ſich von einem Schauplatz zurückziehen dürfen, den Sie

mit ſchaffen halfen. Aber damit Sie ſich dieſer Schöpfung auch

ganz widmen können, müſſen Sie ſich Erleichterung der Arbeit

verſchaffen und bitte ich Sie inſtändigſt mir dieſerhalb Vorſchläge

zu machen. So ſollten Sie ſich von den Staats-Miniſterial-

Sitzungen losmachen, wenn gewöhnliche Dinge verhandelt werden.

Delbrück ſteht Ihnen ſo getreu zur Seite, daß er Ihnen Manches

abnehmen könnte. Réduciren Sie Ihre Vorträge bei mir auf das

Wichtigſte u. ſ. w. Vor Allem aber zweifeln Sie nie an meinem

unveränderten Vertrauen und an meiner unauslöſchlichen Dank¬

barkeit!

Ihr

Wilhelm.“

Uſedom wurde zur Diſpoſition geſtellt. Se. Majeſtät überwand

in dieſem Falle die Tradition der Verwaltung des Königlichen Haus¬

vermögens ſo weit, daß er ihm die finanzielle Differenz zwiſchen

dem amtlichen Einkommen und dem Wartegelde aus der Privat¬

chatoulle regelmäßig zahlen ließ.

IV.

Ich kehre zu dem Geſpräche mit dem Regenten zurück. Nach¬

dem ich mich über den bundeſtäglichen Poſten geäußert, ging ich

auf die Geſammtſituation über und ſagte: „Ew. K. H. haben im

ganzen Miniſterium keine einzige ſtaatsmänniſche Capacität, nur

Mittelmäßigkeiten, beſchränkte Köpfe.“

Der Regent: „Halten Sie Bonin für einen beſchränkten Kopf?“

Ich: „Das nicht; aber er kann nicht ein Schubfach in Ordnung

halten, viel weniger ein Miniſterium. Und Schleinitz iſt ein Höf¬

ling, kein Staatsmann.“

Der Regent empfindlich: „Halten Sie mich etwa für eine

[211/0238]

Das Miniſterium der Neuen Aera.

Schlafmütze? Mein auswärtiger Miniſter und mein Kriegsminiſter

werde ich ſelbſt ſein; das verſtehe ich.“

Ich deprecirte und ſagte: „Heut zu Tage kann der fähigſte Land¬

rath ſeinen Kreis nicht verwalten ohne einen intelligenten Kreis¬

ſekretär und wird immer auf einen ſolchen halten; die preußiſche

Monarchie bedarf des Analogen in viel höherm Maße. Ohne

intelligente Miniſter werden Ew. K. H. in dem Ergebniß keine

Befriedigung finden. Das Innere berührt mich weniger; aber

wenn ich an Schwerin denke, ſo habe ich auch meine Sorgen. Er

iſt ehrlich und tapfer und würde, wenn er Soldat wäre, wie ſein

Vorfahr bei Prag fallen; aber ihm fehlt die Beſonnenheit. Sehn

Ew. K. H. ſein Profil an; dicht über den Augenbrauen ſpringt

die Schnelligkeit der Conception hervor, die Eigenſchaft, welche die

Franzoſen mit primesautier bezeichnen, aber darüber fehlt die

Stirn, in welcher die Phrenologen die Beſonnenheit ſuchen.

Schwerin iſt ein Staatsmann ohne Augenmaß und hat mehr

Fähigkeit einzureißen als aufzubauen.“

Die Beſchränktheit der Uebrigen gab mir der Prinz zu. Im

Ganzen blieb er bei dem Beſtreben, mir meine Miſſion nach Peters¬

burg im Lichte einer Auszeichnung erſcheinen zu laſſen, und machte

mir den Eindruck, als fühle er eine Erleichterung, daß auf dieſe

Weiſe die auch für ihn unerfreuliche Frage meiner Verſetzung durch

meine Initiative der Beſprechung erledigt war. Die Audienz endete

in gnädiger Form auf Seiten des Regenten und auf meiner Seite

mit dem Gefühl ungetrübter Anhänglichkeit an den Herrn und

geſteigerter Geringſchätzung gegen die Streber, deren von der

Prinzeſſin unterſtützten Einflüſſen er damals unterlag.

In der neuen Aera hatte die hohe Frau zunächſt ein Miniſterium

vor ſich, als deſſen Begründerin und Patronin ſie ſich anſehn

durfte. Aber auch unter dieſem Cabinet blieb ihr Einfluß nicht

dauernd gouvernemental, ſondern gewann bald die Natur einer

Begünſtigung derjenigen Miniſter, welche der oberſten Staatsleitung

unbequem waren. Am meiſten war dies vielleicht der Graf

[212/0239]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

Schwerin, beeinflußt von dem nachmaligen Oberbürgermeiſter Winter

in Danzig und andern liberalen Beamten. Er trieb die miniſterielle

Unabhängigkeit gegen den Regenten ſo weit, daß er ſchriftliche Be¬

fehle ſchriftlich damit erledigend beantwortete, dieſelben ſeien nicht

contraſignirt. Als das Miniſterium den Regenten einmal zu einer

ihm widerwärtigen Unterſchrift genöthigt hatte, leiſtete er dieſelbe

in unlesbarer Geſtalt und zerſtampfte die Feder darauf. Graf

Schwerin ließ eine zweite Reinſchrift machen und beſtand auf einer

leſerlichen Unterſchrift. Der Regent unterſchrieb nun wie gewöhnlich,

knüllte aber das Blatt zuſammen und warf es in die Ecke, aus

der es hervorgeholt und, nachdem es geglättet, zu den Acten ge¬

nommen wurde. Auch an meinem Abſchiedsgeſuche von 1877 war

zu ſehn, daß der Kaiſer es zum Knäul geballt hatte, bevor er

darauf antwortete.

V.

Ich wurde am 29. Januar 1859 zum Geſandten in Peters¬

burg ernannt, verließ Frankfurt aber erſt am 6. März und ver¬

weilte bis zum 23. deſſelben Monats in Berlin. Während dieſer

Zeit hatte ich Gelegenheit, von der Verwendung der öſtreichiſchen

geheimen Fonds, der ich bis dahin nur in der Preſſe begegnet

war, einen praktiſchen Eindruck zu gewinnen. Der Bankier Levin¬

ſtein, welcher ſeit Jahrzehnten bei meinen Vorgeſetzten und in deren

vertraulichen Aufträgen in Wien und Paris mit den Leitern der

auswärtigen Politik und mit dem Kaiſer Napoleon in Perſon

verkehrt hatte, richtete am Morgen des Tages, auf den meine

Abreiſe feſtgeſetzt war, das nachſtehende Schreiben an mich:

„Ew. Excellenz erlaube ich mir noch hiemit ganz ergebenſt

gutes Glück zu Ihrer Reiſe und Ihrer Miſſion zu wünſchen, hoffend,

daß wir Sie bald wieder hier begrüßen werden, da Sie im Vater¬

lande wohl nützlicher zu wirken vermögen, als in der Ferne.

[213/0240]

Ernennung nach Petersburg. Levinſtein.

Unſre Zeit bedarf der Männer, bedarf Thatkraft, das wird

man hier vielleicht etwas zu ſpät einſehen. Aber die Ereigniſſe in

unſrer Zeit gehen raſch, und ich fürchte, daß für die Dauer doch

der Friede kaum zu erhalten ſein wird, wie man auch für einige

Monate kitten wird.

Ich habe heut eine kleine Operation gemacht, die, wie ich

hoffe, gute Früchte tragen ſoll, ich werde ſpäter die Ehre haben,

ſie Ihnen mitzutheilen. —

In Wien iſt man ſehr unbehaglich wegen Ihrer Peters¬

burger Miſſion, weil man Sie für principiellen Gegner hält.

Sehr gut wäre es, dort ausgeſöhnt zu ſein, weil doch früher

oder ſpäter jene Mächte ſich mit uns gut verſtehen werden.

Wollen Ew. Excellenz nur in einigen beliebigen Zeilen an

mich ſagen, daß Sie perſönlich nicht gegen Oeſterreich ein¬

genommen ſind, ſo würde das von unberechenbarem Nutzen ſein.

— Herr von Manteuffel ſagt immer, ich ſei zähe in der Ausführung

einer Idee und ruhe nicht, bis ich zum Ziele gekommen — doch fügte

er hinzu, ich wäre weder ehr- noch geldgeizig. Bis jetzt, Gott ſei

Dank, iſt es mein Stolz, daß noch Niemand aus einer Verbindung

mit mir irgend einen Nachtheil gehabt.

Für die Dauer Ihrer Abweſenheit biete ich Ihnen meine

Dienſte zur Beſorgung Ihrer Angelegenheiten, ſei es hier oder

ſonſt wo, mit Vergnügen an. Uneigennütziger und redlicher ſollen

Sie gewiß anderswo nicht bedient werden.

Mit aufrichtiger Hochachtung bin ich

Ew. Excellenz

ganz ergebenſter

B. 23./3. 59. Levinſtein.“

Ich ließ den Brief unbeantwortet und erhielt im Laufe des

Tages, vor meiner Abfahrt zum Bahnhofe, im Hôtel Royal, wo

ich logirte, den Beſuch des Herrn Levinſtein. Nachdem er ſich

durch Vorzeigung eines eigenhändigen Einführungsſchreibens des

[214/0241]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

Grafen Buol legitimirt hatte, machte er mir den Vorſchlag zur

Betheiligung an einem Finanzgeſchäft, welches mir „jährlich

20000 Thaler mit Sicherheit“ abwerfen würde. Auf meine Er¬

widerung, daß ich keine Capitalien anzulegen hätte, erfolgte die

Antwort, daß Geldeinſchüſſe zu dem Geſchäft nicht erforderlich

ſeien, ſondern daß meine Einlage darin beſtehn würde, daß ich

mit der preußiſchen auch die öſtreichiſche Politik am ruſſiſchen

Hofe befürwortete, weil die fraglichen Geſchäfte nur gelingen

könnten, wenn die Beziehungen zwiſchen Rußland und Oeſtreich

günſtig wären. Mir war daran gelegen, irgendwelches ſchriftliche

Zeugniß über dieſes Anerbieten in die Hand zu bekommen, um

dadurch dem Regenten den Beweis zu liefern, wie gerechtfertigt

mein Mißtrauen gegen die Politik des Grafen Buol war. Ich

hielt deshalb dem Levinſtein vor, daß ich bei einem ſo bedenk¬

lichen Geſchäft doch eine ſtärkere Sicherheit haben müßte, als ſeine

mündliche Aeußerung, auf Grund der wenigen Zeilen von der

Hand des Grafen Buol, die er an ſich behalten habe. Er wollte

ſich nicht dazu verſtehn, mir eine ſchriftliche Zuſage zu beſchaffen,

erhöhte aber ſein Anerbieten auf 30000 Thaler jährlich. Nachdem

ich mich überzeugt hatte, daß ich ſchriftliches Beweis-Material nicht

erlangen würde, erſuchte ich Levinſtein, mich zu verlaſſen, und

ſchickte mich zum Ausgehn an. Er folgte mir auf die Treppe

unter beweglichen Redensarten über das Thema: „Sehn Sie ſich

vor, es iſt nicht angenehm, die ‚Kaiſerliche Regirung‘ zum Feinde

zu haben.“ Erſt als ich ihn auf die Steilheit der Treppe und auf

meine körperliche Ueberlegenheit aufmerkſam machte, ſtieg er vor

mir ſchnell die Treppe hinab und verließ mich.

Dieſer Unterhändler war mir perſönlich bekannt geworden

durch die Vertrauensſtellung, welche er ſeit Jahren im Auswärtigen

Miniſterium eingenommen, und durch die Aufträge, welche er

von dort für mich zur Zeit Manteuffels erhielt. Er pflegte ſeine

Beziehungen in den untern Stellen durch übermäßige Trink¬

gelder.

[215/0242]

Levinſtein als Vertrauensmann Manteuffels. Corruption.

Als ich Miniſter geworden war und das Verhältniß des Aus¬

wärtigen Amts zu Levinſtein abgebrochen hatte, wurden wiederholt

Verſuche gemacht, daſſelbe wieder in Gang zu bringen, namentlich

von dem Conſul Bamberg in Paris, der mehrmals zu mir kam

und mir Vorwürfe darüber machte, daß ich einen „ſo ausgezeichneten

Mann“, der eine ſolche Stellung an den europäiſchen Höfen habe,

wie Levinſtein, ſo ſchlecht behandeln könnte.

Ich fand auch ſonſt Anlaß, Gewohnheiten, die in dem Aus¬

wärtigen Miniſterium eingeriſſen waren, abzuſtellen. Der lang¬

jährige Portier des Dienſtgebäudes, ein alter Trunkenbold, konnte

als Beamter nicht ohne Weitres entlaſſen werden. Ich brachte

ihn dahin, den Abſchied zu nehmen, durch die Drohung, ihn dafür

zur Unterſuchung zu ziehn, daß er mich „für Geld zeige“, indem

er gegen Trinkgeld Jedermann zu mir laſſe. Seinen Proteſt brachte

ich mit der Bemerkung zum Schweigen: „Haben Sie mir, als ich

Geſandter war, nicht jederzeit Herrn von Manteuffel für einen

Thaler, und, wenn das Verbot beſonders ſtreng war, für zwei Thaler

gezeigt?“ Von meiner eignen Dienerſchaft wurde mir gelegentlich

gemeldet, welche unverhältnißmäßigen Trinkgelder Levinſtein an ſie

verſchwendete. Thätige Agenten und Geldempfänger auf dieſem

Gebiete waren einige von Manteuffel und Schleinitz übernommne

Canzleidiener, unter ihnen ein für ſeine ſubalterne Amtsſtellung

hervorragender Maurer. Graf Bernſtorff hatte während ſeiner

kurzen Amtszeit der Corruption im Auswärtigen Amte kein Ende

machen können, war auch wohl geſchäftlich und gräflich zu ſtark

präoccupirt, um dieſen Dingen nahe zu treten. Ich habe meine

Begegnung mit Levinſtein, meine Meinung über ihn, ſeine Be¬

ziehungen zu dem Auswärtigen Miniſterium ſpäter dem Regenten

mit allen Details zur Kenntniß gebracht, ſobald ich die Möglich¬

keit hatte, dies mündlich zu thun, was erſt Monate ſpäter der

Fall war. Von einer ſchriftlichen Berichterſtattung verſprach ich

mir keinen Erfolg, da die Protection Levinſteins durch Herrn

von Schleinitz nicht blos zum Regenten hinauf, ſondern an die Um¬

[216/0243]

Neuntes Kapitel: Reiſen. Regentſchaft.

gebung der Frau Prinzeſſin *)hinan reichte, welche bei ihren Dar¬

ſtellungen der Sachlage keinen Beruf fühlte, die Unterlagen objectiv

zu prüfen, ſondern geneigt war, die Anwaltſchaft für meine Gegner

zu übernehmen.

*)

Vgl. was in dem Proceß gegen den Hofrath Manché, October 1891,

zur Sprache gekommen iſt.

[[217]/0244]

Zehntes Kapitel.

Petersburg .

I.

Es iſt in der Geſchichte der europäiſchen Staaten wohl kaum

noch einmal vorgekommen, daß ein Souverän einer Großmacht

einem Nachbarn dieſelben Dienſte erwieſen hat, wie der Kaiſer

Nicolaus der öſtreichiſchen Monarchie. In der gefährdeten Lage,

in welcher dieſe ſich 1849 befand, kam er ihr mit 150000 Mann

zu Hülfe, unterwarf Ungarn, ſtellte dort die königliche Gewalt wieder

her und zog ſeine Truppen zurück, ohne einen Vortheil oder eine

Entſchädigung zu verlangen, ohne die orientaliſchen und polniſchen

Streitfragen beider Staaten zu erwähnen. Dieſer unintereſſirte

Freundſchaftsdienſt auf dem Gebiet der innern Politik Oeſtreich-

Ungarns wurde von dem Kaiſer Nicolaus in der auswärtigen Politik

in den Tagen von Olmütz auf Koſten Preußens unvermindert fort¬

geſetzt. Wenn er auch nicht durch Freundſchaft, ſondern durch die

Erwägungen kaiſerlich ruſſiſcher Politik beeinflußt war, ſo war es

immerhin mehr, als ein Souverän für einen andern zu thun pflegt,

und nur in einem ſo eigenmächtigen und übertrieben ritterlichen

Autokraten erklärlich. Nicolaus ſah damals auf den Kaiſer Franz

Joſeph als auf ſeinen Nachfolger und Erben in der Führung der

conſervativen Trias. Er betrachtete die letztre als ſolidariſch der

Revolution gegenüber und hatte bezüglich der Fortſetzung der Hege¬

monie mehr Vertrauen zu Franz Joſeph als zu ſeinem eignen Nach¬

[218/0245]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

folger. Noch geringer war ſeine Meinung von der Veranlagung

unſres Königs Friedrich Wilhelm für die Führerrolle auf dem Ge¬

biete praktiſcher Politik; er hielt ihn zur Leitung der monarchiſchen

Trias für ſo wenig geeignet wie den eignen Sohn und Nachfolger.

Er handelte in Ungarn und in Olmütz in der Ueberzeugung, daß

er nach Gottes Willen den Beruf habe, der Führer des monarchiſchen

Widerſtandes gegen die von Weſten vordringende Revolution zu ſein.

Er war eine ideale Natur, aber verhärtet in der Iſolirung der ruſ¬

ſiſchen Autokratie, und es iſt wunderbar genug, daß er ſich unter

allen Eindrücken, von den Decabriſten an durch alle folgenden Er¬

lebniſſe hindurch, dieſen idealen Schwung erhalten hatte.

Wie er über ſeine Stellung zu ſeinen Unterthanen empfand,

ergibt ſich aus einer Thatſache, die mir Friedrich Wilhelm IV. ſelbſt

erzählt hat. Der Kaiſer Nicolaus bat ihn um Zuſendung von zwei

Unteroffizieren der preußiſchen Garde, behufs Ausführung gewiſſer

ärztlich vorgeſchriebener Knetungen, die auf dem Rücken des Patienten

vorgenommen werden mußten, während dieſer auf dem Bauche lag.

Er ſagte dabei: „Mit meinen Ruſſen werde ich immer fertig, wenn

ich ihnen in's Geſicht ſehn kann, aber auf den Rücken ohne Augen

möchte ich mir ſie doch nicht kommen laſſen.“ Die Unteroffiziere

wurden in discreter Weiſe geſtellt, verwendet und reich belohnt.

Es zeigt dies, wie trotz der religiöſen Hingebung des ruſſiſchen

Volks für ſeinen Zaren der Kaiſer Nicolaus doch auch dem gemeinen

Manne unter ſeinen Unterthanen ſeine perſönliche Sicherheit unter

vier Augen nicht unbeſchränkt anvertraute; und es iſt ein Zeichen

großer Charakterſtärke, daß er von dieſen Empfindungen ſich bis

an ſein Lebensende nicht niederdrücken ließ. Hätten wir damals

auf dem Throne eine Perſönlichkeit gehabt, die ihm ebenſo ſympathiſch

geweſen wäre wie der junge Kaiſer Franz Joſeph, ſo hätte er viel¬

leicht in dem damaligen Streit um die Hegemonie in Deutſchland

für Preußen ebenſo Partei genommen, wie er es für Oeſtreich

gethan hat. Vorbedingung dazu wäre geweſen, daß Friedrich

Wilhelm IV. den Sieg ſeiner Truppen im März 1848 feſtgehalten

[219/0246]

Nicolaus I. Stellung zu Oeſtreich u. Preußen. Petersburger Geſellſchaft.

und ausgenutzt hätte, was ja möglich war ohne weitre Repreſſionen

derart, wie Oeſtreich ſie in Prag und Wien durch Windiſchgrätz

und in Ungarn durch ruſſiſche Hülfe zu bewirken genöthigt war.

In der Petersburger Geſellſchaft ließen ſich zu meiner Zeit

drei Generationen unterſcheiden. Die vornehmſte, die europäiſch

und claſſiſch gebildeten Grands Seigneurs aus der Regirungszeit

Alexanders I., war im Ausſterben. Zu ihr konnte man noch rechnen

Mentſchikow, Woronzow, Bludow, Neſſelrode und, was Geiſt und

Bildung betrifft, Gortſchakow, deſſen Niveau durch ſeine übertriebene

Eitelkeit etwas herabgedrückt war im Vergleich mit den übrigen

Genannten, Leuten, die claſſiſch gebildet waren, gut und geläufig

nicht nur franzöſiſch, ſondern auch deutſch ſprachen und der crême

europäiſcher Geſittung angehörten.

Die zweite Generation, die mit dem Kaiſer Nicolaus gleich¬

altrig war oder doch ſeinen Stempel trug, pflegte ſich in der Unter¬

haltung auf Hofangelegenheiten, Theater, Avancement und mili¬

täriſche Erlebniſſe zu beſchränken. Unter ihnen ſind als der ältern

Kategorie geiſtig näher ſtehende Ausnahmen zu nennen der alte

Fürſt Orlow, hervorragend an Charakter, Höflichkeit und Zuver¬

läſſigkeit für uns; der Graf Adlerberg Vater und ſein Sohn,

der nachherige Hofmeiſter, mit Peter Schuwalow der einſichtigſte

Kopf, mit dem ich dort in Beziehungen gekommen bin und dem

nur Arbeitſamkeit fehlte, um eine leitende Rolle zu ſpielen; der

Fürſt Suworow, der wohlwollendſte für uns Deutſche, bei dem

der ruſſiſche General nicolaitiſcher Tradition ſtark, aber nicht un¬

angenehm, mit burſchikoſen Reminiſcenzen deutſcher Univerſitäten

verſetzt war; mit ihm dauernd im Streit und doch in gewiſſer

Freundſchaft Tſchewkin, der Eiſenbahn-General, von einer Schärfe

und Feinheit des Verſtändniſſes, wie ſie bei Verwachſenen mit der

ihnen eigenthümlichen klugen Kopfbildung nicht ſelten gefunden wird;

endlich der Baron Peter von Meyendorff, für mich die ſympathiſchſte

Erſcheinung unter den ältern Politikern, früher Geſandter in Berlin,

der nach ſeiner Bildung und der Feinheit ſeiner Formen mehr dem

[220/0247]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

alexandriniſchen Zeitalter angehörte und in ihm durch Intelligenz

und Tapferkeit ſich aus der Stellung eines jungen Offiziers in einem

Linienregimente, in dem er die franzöſiſchen Kriege mitgemacht, zu

einem Staatsmanne emporgearbeitet hatte, deſſen Wort bei dem

Kaiſer Nicolaus erheblich in’s Gewicht fiel. Die Annehmlichkeit

ſeines gaſtfreien Hauſes in Berlin wie in Petersburg wurde weſent¬

lich erhöht durch ſeine Gemalin, eine männlich kluge, vornehme,

ehrliche und liebenswürdige Frau, die in noch höherm Grade als

ihre Schweſter, Frau von Vrints in Frankfurt, den Beweis lieferte,

daß in der gräflich Buol’ſchen Familie der erbliche Verſtand ein

Kunkellehn war. Ihr Bruder, der öſtreichiſche Miniſter Graf Vuol,

hatte daran nicht den Antheil geerbt, der zur Leitung der Politik

einer großen Monarchie unentbehrlich iſt. Die beiden Geſchwiſter

ſtanden einander perſönlich nicht näher als die ruſſiſche und die

öſtreichiſche Politik. Als ich 1852 in beſondrer Miſſion in Wien

beglaubigt war, war das Verhältniß zwiſchen ihnen noch derart,

daß Frau von Meyendorff geneigt war, mir das Gelingen meiner

für Oeſtreich freundlichen Miſſion zu erleichtern, wofür ohne Zweifel

die Inſtructionen ihres Gemals maßgebend waren. Der Kaiſer

Nicolaus wünſchte damals unſre Verſtändigung mit Oeſtreich. Als

ein oder zwei Jahre ſpäter, zur Zeit des Krimkriegs, von meiner

Ernennung nach Wien die Rede war, fand das Verhältniß zwiſchen

ihr und ihrem Bruder in den Worten Ausdruck: ſie hoffe, daß ich

nach Wien kommen und „dem Karl ein Gallenfieber anärgern würde“.

Frau von Meyendorff war als Frau ihres Gemals patriotiſche

Ruſſin und würde auch ohnedies ſchon nach ihrem perſönlichen Ge¬

fühl die feindſelige und undankbare Politik nicht gebilligt haben,

zu welcher Graf Buol Oeſtreich bewogen hatte.

Die dritte Generation, die der jungen Herrn, zeigte in ihrem

geſellſchaftlichen Auftreten meiſt weniger Höflichkeit, mitunter ſchlechte

Manieren und in der Regel ſtärkere Abneigung gegen deutſche, ins¬

beſondre preußiſche Elemente, als die beiden ältern Generationen.

Wenn man, des Ruſſiſchen unkundig, ſie deutſch anredete, ſo waren

[221/0248]

Die Petersburger Geſellſchaft. Der Monsieur décoré in Petersburg.

ſie geneigt, ihre Kenntniß dieſer Sprache zu verleugnen, unfreund¬

lich oder garnicht zu antworten und Civiliſten gegenüber unter

das Maß von Höflichkeit herabzugehn, welches ſie in den Uniform

oder Orden tragenden Kreiſen untereinander beobachteten. Es war

eine zweckmäßige Einrichtung der Polizei, daß die Dienerſchaft der

Vertreter auswärtiger Regirungen durch Treſſen und das der

Diplomatie vorbehaltene Coſtüm eines Livree-Jägers gekennzeichnet

war. Die Angehörigen des diplomatiſchen Corps würden ſonſt,

da ſie nicht die Gewohnheit hatten, auf der Straße Uniform oder

Orden zu tragen, ſowohl von der Polizei als von Mitgliedern der

höhern Geſellſchaft denſelben zu Conflicten führenden Unannehm¬

lichkeiten ausgeſetzt geweſen ſein, welche ein ordensloſer Civiliſt,

der nicht als vornehmer Mann bekannt war, im Straßenverkehr

und auf Dampfſchiffen leicht erleben konnte.

In dem Napoleoniſchen Paris habe ich dieſelbe Beobachtung

gemacht 1). Wenn ich länger dort gewohnt hätte, ſo würde ich mich

haben daran gewöhnen müſſen, nach franzöſiſcher Sitte mich nicht ohne

Andeutung einer Decoration auf der Straße zu Fuß zu bewegen.

Ich habe auf den Boulevards erlebt, daß bei einer Feſtlichkeit

einige hundert Menſchen ſich weder vorwärts noch rückwärts be¬

wegen konnten, weil ſie infolge mangelhafter Anordnung zwiſchen

zwei in verſchiedner Richtung marſchirende Truppentheile gerathen

waren, und daß die Polizei, welche das Hemmniß nicht wahr¬

genommen hatte, auf dieſe Maſſe gewaltthätig mit Fauſtſchlägen

und den in Paris ſo üblichen coups de pied einſtürmte, bis ſie

auf einen „Monsieur décoré“ ſtieß. Das rothe Bändchen bewog

die Poliziſten, die Proteſtationen des Trägers wenigſtens anzu¬

hören und ſich endlich überzeugen zu laſſen, daß der anſcheinend

widerſpenſtige Volkshaufe zwiſchen zwei Truppentheilen eingeklemmt

war und deshalb nicht ausweichen konnte. Der Führer der auf¬

geregten Poliziſten zog ſich durch den Scherz aus der Affaire, daß

1)

S. o. S. 81.

[222/0249]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

er, auf die bis dahin von ihm nicht bemerkten, im pas gymnastique

defilirenden chasseurs de Vincennes deutend, ſagte: „Eh bien, il

faut enfoncer ça!“ Das Publikum, einſchließlich der Mißhandelten,

lachte, die von Thätlichkeiten Verſchonten entfernten ſich mit einem

dankbaren Gefühl für den décoré, deſſen Anweſenheit ſie ge¬

rettet hatte.

Auch in Petersburg würde ich es für zweckmäßig gehalten

haben, auf der Straße die Andeutung eines höhern ruſſiſchen

Ordens zu tragen, wenn die großen Entfernungen es nicht mit ſich

gebracht hätten, daß man ſich in den Straßen mehr zu Wagen

mit Treſſenlivree als zu Fuße zeigte. Schon zu Pferde, wenn in

Civil und ohne Reitknecht, lief man Gefahr, von den durch ihr

Coſtüm kenntlichen Kutſchern der höhern Würdenträger wörtlich

und thätlich angefahren zu werden, wenn man mit ihnen in un¬

vermeidliche Berührung gerieth; und wer hinreichend Herr ſeines

Pferdes war und eine Gerte in der Hand hatte, that wohl, ſich

bei ſolchen Conflicten als gleichberechtigt mit dem Inſaſſen des

Wagens zu legitimiren. Von den wenigen Reitern in der Um¬

gebung von Petersburg konnte man in der Regel annehmen, daß

ſie deutſche und engliſche Kaufleute waren und in dieſer ihrer

Stellung ärgerliche Berührungen nach Möglichkeit vermieden und

lieber ertrugen, als ſich bei den Behörden zu beſchweren. Offiziere

machten nur in ganz geringer Zahl von den guten Reitwegen

auf den Inſeln und weiter außerhalb der Stadt Gebrauch, und

die es thaten, waren in der Regel deutſchen Herkommens. Das

Bemühn höhern Ortes, den Offizieren mehr Geſchmack am Reiten

beizubringen, hatte keinen dauernden Erfolg und bewirkte nur,

daß nach einer jeden Anregung derart die kaiſerlichen Equipagen

einige Tage lang mehr Reitern als gewöhnlich begegneten. Eine

Merkwürdigkeit war es, daß als die beſten Reiter unter den

Offizieren die beiden Admiräle anerkannt waren, der Großfürſt

Conſtantin und der Fürſt Mentſchikow.

Auch abgeſehn von der Reiterei mußte man wahrnehmen, daß

[223/0250]

Petersburger Straßenleben. Geſellſchaftlicher Ton.

in guten Manieren und geſellſchaftlichem Tone die jüngere zeit¬

genöſſiſche Generation zurück ſtand gegen die vorhergehende des

Kaiſers Nicolaus und beide wieder in europäiſcher Bildung und

Geſammterziehung gegen die alten Herrn aus der Zeit Alexanders I.

Deſſenungeachtet blieb innerhalb der Hofkreiſe und der „Geſellſchaft“

der vollendete gute Ton in Geltung und in den Häuſern der Ari¬

ſtokratie, namentlich ſo weit in dieſen die Herrſchaft der Damen

reichte. Aber die Höflichkeit der Formen verminderte ſich erheblich,

wenn man mit jüngern Herrn in Situationen gerieth, welche nicht

durch den Einfluß des Hofes oder vornehmer Frauen controllirt waren.

Ich will nicht entſcheiden, wie weit das Wahrgenommne aus einer

ſocialen Reaction der jüngern Geſellſchaftsſchicht gegen die früher

wirkſam geweſenen deutſchen Einflüſſe oder aus einem Sinken der

Erziehung in der jüngern ruſſiſchen Geſellſchaft ſeit der Epoche

des Kaiſers Alexander I. zu erklären iſt, vielleicht auch aus der

Contagion, welche die ſociale Entwicklung der Pariſer Kreiſe auf

die der höhern ruſſiſchen Geſellſchaft auszuüben pflegt. Gute

Manieren und vollkommne Höflichkeit ſind in den herrſchenden

Kreiſen von Frankreich außerhalb des Faubourg St. Germain heut

nicht mehr ſo verbreitet, wie es früher der Fall war, und wie ich

ſie in Berührung mit ältern Franzoſen und mit franzöſiſchen und

noch gewinnender bei ruſſiſchen Damen jeden Alters kennen gelernt

habe. Da übrigens meine Stellung in Petersburg mich nicht zu

einem intimen Verkehr mit der jüngſten erwachſenen Generation

nöthigte, ſo habe ich von meinem dortigen Aufenthalt nur die an¬

genehme Erinnerung behalten, welche ich der Liebenswürdigkeit des

Hofes, der ältern Herrn und der Damen der Geſellſchaft verdanke.

Die antideutſche Stimmung der jüngern Generation hat ſich

demnächſt mir und Andern auch auf dem Gebiete der politiſchen

Beziehungen zu uns fühlbar gemacht, in verſtärktem Maße, ſeit

mein ruſſiſcher College, Fürſt Gortſchakow, ſeine ihn beherrſchende

Eitelkeit auch mir gegenüber herauskehrte. So lange er das Gefühl

hatte, in mir einen jüngern Freund zu ſehn, an deſſen politiſcher

[224/0251]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

Erziehung er einen Antheil beanſpruchte, war ſein Wohlwollen für

mich unbegrenzt, und die Formen, in denen er mir Vertrauen zeigte,

überſchritten die unter Diplomaten zuläſſige Grenze, vielleicht aus

Berechnung, vielleicht aus Oſtentation einem Collegen gegenüber,

an deſſen bewunderndes Verſtändniß mir gelungen war ihn glauben

zu machen. Dieſe Beziehungen wurden unhaltbar, ſobald ich als

preußiſcher Miniſter ihm die Illuſion ſeiner perſönlichen und ſtaat¬

lichen Ueberlegenheit nicht mehr laſſen konnte. Hinc irae. Sobald

ich ſelbſtändig als Deutſcher oder Preuße oder als Rival im

europäiſchen Anſehn und in der geſchichtlichen Publiciſtik aufzutreten

begann, verwandelte ſich ſein Wohlwollen in Mißgunſt.

Ob dieſe Wandlung erſt nach 1870 begann oder ob ſie ſich

vor dieſem Jahre meiner Wahrnehmung entzogen hatte, laſſe ich

dahingeſtellt. Wenn Erſtres der Fall war, ſo kann ich als ein

achtbares und für einen ruſſiſchen Kanzler berechtigtes Motiv den

Irrthum der Berechnung in Anſchlag bringen, daß die Entfremdung

zwiſchen uns und Oeſtreich auch nach 1866 dauernd fortbeſtehn

werde. Wir haben 1870 der ruſſiſchen Politik bereitwillig bei¬

geſtanden, um ſie im Schwarzen Meere von den Beſchränkungen

zu löſen, welche der Pariſer Vertrag ihr auferlegt hatte. Dieſelben

waren unnatürlich, und das Verbot der freien Bewegung an der

eignen Meeresküſte war für eine Macht wie Rußland auf die Dauer

unerträglich, weil demüthigend. Außerdem lag und liegt es nicht

in unſerm Intereſſe, Rußland in der Verwendung ſeiner über¬

ſchüſſigen Kräfte nach Oſten hin hinderlich zu ſein; wir ſollen froh

ſein, wenn wir in unſrer Lage und geſchichtlichen Entwicklung in

Europa Mächte finden, mit denen wir auf keine Art von Con¬

currenz der politiſchen Intereſſen angewieſen ſind, wie das zwiſchen

uns und Rußland bisher der Fall iſt. Mit Frankreich werden wir

nie Frieden haben, mit Rußland nie die Nothwendigkeit des Krieges,

wenn nicht liberale Dummheiten oder dynaſtiſche Mißgriffe die

Situation fälſchen.

[225/0252]

Gortſchakow als Gönner und Gegner. Kaiſerliche Gaſtlichkeit.

II.

Wenn ich in Petersburg auf einem der kaiſerlichen Schlöſſer

Sarskoe oder Peterhof anweſend war, auch nur, um mit dem da¬

ſelbſt in Sommerquartier lebenden Fürſten Gortſchakow zu con¬

feriren, ſo fand ich in der mir angewieſenen Wohnung im Schloſſe

für mich und einen Begleiter ein Frühſtück von mehren Gängen

angerichtet, mit drei oder vier Sorten hervorragend guter Weine;

andre ſind mir in der kaiſerlichen Verpflegung überhaupt niemals

vorgekommen. Gewiß wurde in dem Haushalte viel geſtohlen, aber

die Gäſte des Kaiſers litten darunter nicht; im Gegentheil, ihre

Verpflegung war auf reiche Broſamen für den „Dienſt“ berechnet.

Keller und Küche waren abſolut einwandsfrei, auch in Vorkomm¬

niſſen, wo ſie uncontrollirt blieben. Vielleicht hatten die Beamten,

denen die nicht getrunknen Weine verblieben, durch lange Er¬

fahrung ſchon einen zu durchgebildeten Geſchmack gewonnen, um

Unregelmäßigkeiten zu dulden, unter denen die Qualität der

Lieferung gelitten hätte. Die Preiſe der Lieferungen waren nach

allem, was ich erfuhr, allerdings gewaltig hoch. Von der Gaſt¬

freiheit des Haushalts bekam ich eine Vorſtellung, wenn meine

Gönnerin, die Kaiſerin-Witwe Charlotte, Schweſter unſers Königs,

mich einlud. Dann waren für die mit mir eingeladnen Herrn der

Geſandſchaft zwei, und für mich drei Diners der kaiſerlichen Küche

entnommen. In meinem Quartier wurden für mich und meine

Begleiter Frühſtücke und Diners angerichtet und berechnet, wahr¬

ſcheinlich auch gegeſſen und getrunken, als ob meine und der

Meinigen Einladung zu der Kaiſerin gar nicht erfolgt ſei. Das

Couvert für mich wurde einmal in meinem Quartier mit allem

Zubehör auf- und abgetragen, das zweite Mal an der Tafel der

Kaiſerin in Gemeinſchaft mit denen meiner Begleiter aufgelegt,

und auch dort kam ich mit ihm nicht in Berührung, da ich vor

dem Bette der kranken Kaiſerin ohne meine Begleiter in kleiner

Geſellſchaft zu ſpeiſen hatte. Bei ſolchen Gelegenheiten pflegte die

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 15

[226/0253]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

damals in der erſten Blüthe jugendlicher Schönheit ſtehende Prin¬

zeſſin Leuchtenberg, ſpäter Gemalin des Prinzen Wilhelm von

Baden, an Stelle ihrer Großmutter mit der ihr eignen Grazie

und Heiterkeit die Honneurs zu machen. Auch erinnere ich mich,

daß bei einer andern Gelegenheit eine vierjährige Großfürſtin ſich

um den Tiſch von vier Perſonen bewegte und ſich weigerte, einem

hohen General die gleiche Höflichkeit wie mir zu erweiſen. Es

war mir ſehr ſchmeichelhaft, daß dieſes großfürſtliche Kind auf die

großmütterliche Vorhaltung antwortete: in Bezug auf mich: on

milü (er iſt lieb), in Bezug auf den General aber hatte ſie die

Naivität, zu ſagen: on wonajet (er ſtinkt), worauf das großfürſt¬

liche enfant terrible entfernt wurde.

Es iſt vorgekommen, daß preußiſche Offiziere, welche lange in

einem der kaiſerlichen Schlöſſer wohnten, von ruſſiſchen guten

Freunden vertraulich befragt wurden, ob ſie wirklich ſo viel Wein

u. dergl. verbrauchten, wie für ſie entnommen werde; dann würde

man ſie um ihre Leiſtungsfähigkeit beneiden und ferner dafür ſorgen.

Dieſe vertrauliche Erkundigung traf auf Herrn von ſehr mäßigen

Gewohnheiten, mit ihrem Einverſtändniſſe wurden die von ihnen

bewohnten Gemächer unterſucht: in Wandſchränken, mit denen

ſie unbekannt waren, fanden ſich zurückgelegte Vorräthe hoch¬

werthiger Weine und ſonſtiger Bedürfniſſe in Maſſen.

Bekannt iſt, daß dem Kaiſer einmal das ungewöhnliche Quantum

von Talg aufgefallen war, welches jedes Mal in den Rechnungen

erſchien, wenn der Prinz von Preußen zum Beſuche dort war, und

daß ſchließlich ermittelt wurde, daß er bei ſeinem erſten Beſuche

ſich durchgeritten und am Abend das Verlangen nach etwas Talg

geſtellt hatte. Das verlangte Loth dieſes Stoffes hatte ſich bei

ſpätern Beſuchen in Pud verwandelt. Die Aufklärung erfolgte

zwiſchen den hohen Herrſchaften perſönlich und hatte eine Heiter¬

keit zur Folge, welche den betheiligten Sündern zu Gute kam.

Von einer andern ruſſiſchen Eigenthümlichkeit gab es bei

meiner erſten Anweſenheit in Petersburg 1859 eine Probe. In

[227/0254]

Ein enfant terrible. Ruſſiſche Unterſchleife. Ruſſiſche Beharrlichkeit.

den erſten Tagen des Frühlings machte damals die zum Hofe ge¬

hörige Welt ihren Spaziergang in dem Sommergarten zwiſchen

dem Pauls-Palais und der Newa. Dort war es dem Kaiſer auf¬

gefallen, daß in der Mitte eines Raſenplatzes ein Poſten ſtand.

Da der Soldat auf die Frage, weshalb er da ſtehe, nur die Aus¬

kunft zu geben wußte: es iſt befohlen, ſo ließ ſich der Kaiſer durch

ſeinen Adjutanten auf der Wache erkundigen, erhielt aber auch

keine andre Aufklärung, als daß der Poſten Winter und Sommer

gegeben werde. Der urſprüngliche Befehl ſei nicht mehr zu er¬

mitteln. Die Sache wurde bei Hofe zum Tagesgeſpräch und ge¬

langte auch zur Kenntniß der Dienerſchaft. Aus dieſer meldete

ſich ein alter Penſionär und gab an, daß ſein Vater ihm gelegent¬

lich im Sommergarten geſagt habe, während ſie an der Schild¬

wache vorbeigegangen: „Da ſteht er noch immer und bewacht die

Blume; die Kaiſerin Katharina hat an der Stelle einmal ungewöhn¬

lich früh im Jahre ein Schneeglöckchen wahrgenommen und be¬

fohlen, man ſolle ſorgen, daß es nicht abgepflückt werde.“ Dieſer

Befehl war durch Aufſtellung einer Schildwache zur Ausführung

gebracht worden, und ſeitdem hatte der Poſten Jahr aus Jahr ein

geſtanden. Dergleichen erregt unſre Kritik und Heiterkeit, iſt aber

ein Ausdruck der elementaren Kraft und Beharrlichkeit, auf denen

die Stärke des ruſſiſchen Weſens dem übrigen Europa gegenüber

beruht. Man erinnert ſich dabei der Schildwachen, die während

der Ueberſchwemmung in Petersburg 1825, im Schipka-Paſſe 1877

nicht abgelöſt wurden, und von denen die Einen ertranken, die

Andern auf ihren Poſten erfroren.

III.

Während des italieniſchen Krieges glaubte ich noch an die

Möglichkeit, in der Stellung eines Geſandten in Petersburg, wie

ich es von Frankfurt aus mit wechſelndem Erfolge verſucht hatte,

[228/0255]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

auf die Entſchließungen in Berlin einwirken zu können, ohne mir

klar zu machen, daß die übermäßigen Anſtrengungen, die ich mir

zu dieſem Zwecke in meiner Berichterſtattung auferlegte, ganz

fruchtlos ſein mußten, weil meine Immediatberichte und meine in

Form eigenhändiger Briefe gefaßten Mittheilungen entweder gar¬

nicht zur Kenntniß des Regenten gelangten oder mit Commentaren,

die jeden Eindruck hinderten. Meine Ausarbeitungen hatten außer

einer Complicirung der Krankheit, in welche ich durch ärztliche Ver¬

giftung gefallen war, nur die Folge, daß die Genauigkeit meiner

Berichte über die Stimmungen des Kaiſers verdächtigt wurde, und

um mich zu controlliren, der Graf Münſter, früher Militärbevoll¬

mächtigter in Petersburg, dorthin geſchickt wurde. Ich war im

Stande, dem mir befreundeten Inſpicienten zu beweiſen, daß

meine Meldungen auf der Einſicht eigenhändiger Bemerkungen des

Kaiſers am Rande der Berichte ruſſiſcher Diplomaten beruhten, die

Gortſchakow mir vorgelegt hatte, und daneben auf mündlichen Mit¬

theilungen perſönlicher Freunde, die ich in dem Cabinet und am

Hofe beſaß. Die eigenhändigen Marginalien des Kaiſers waren

mir vielleicht mit berechneter Indiscretion vorgelegt worden, damit

ihr Inhalt auf dieſem weniger verſtimmenden Wege nach Berlin

gelangen ſollte.

Dieſe und andre Formen, in denen ich von beſonders wichtigen

Mittheilungen Kenntniß erhielt, ſind charakteriſtiſch für die damaligen

politiſchen Schachzüge. Ein Herr, welcher mir gelegentlich eine

ſolche vertraute, wandte ſich beim Abſchiede in der Thür um und

ſagte: „Meine erſte Indiscretion nöthigt mich zu einer zweiten.

Sie werden die Sache natürlich nach Berlin melden, benutzen Sie

aber dazu nicht Ihren Chiffre Nr. ſo und ſo, den beſitzen wir ſeit

Jahren, und nach Lage der Dinge würde man bei uns auf mich

als Quelle ſchließen. Außerdem werden Sie mir den Gefallen

thun, den compromittirten Chiffre nicht plötzlich fallen zu laſſen,

ſondern ihn noch einige Monate lang zu unverfänglichen Tele¬

grammen zu benutzen.“ Damals glaubte ich zu meiner Beruhigung

[229/0256]

Ohne Einfluß in Berlin. Das Briefgeheimniß in Rußland u. Oeſtreich.

aus dieſem Vorgange die Wahrſcheinlichkeit zu entnehmen, daß nur

dieſer eine unſrer Chiffres ſich im ruſſiſchen Beſitze befand. Die

Sicherſtellung des Chiffres war in Petersburg beſonders ſchwierig,

weil jede Geſandſchaft ruſſiſche Diener und Subalterne nothwendig

im Innern des Hauſes verwenden mußte und die politiſche Polizei

unter dieſen ſich leicht Agenten verſchaffte.

Zur Zeit des öſtreichiſch-franzöſiſchen Krieges klagte mir der

Kaiſer Alexander in vertraulichem Geſpräche über den heftigen und

verletzenden Ton, in welchem die ruſſiſche Politik in Correſpondenzen

deutſcher Fürſten an kaiſerliche Familienglieder kritiſirt werde. Er

ſchloß die Beſchwerde über ſeine Verwandten mit den entrüſteten

Worten: „Das Beleidigende für mich in der Sache iſt, daß die

deutſchen Herrn Vettern ihre Grobheiten mit der Poſt ſchicken,

damit ſie ſicher zu meiner perſönlichen Kenntniß gelangen.“ Der

Kaiſer hatte kein Arg bei dieſem Eingeſtändniß und war unbefangen

der Meinung, daß es ſein monarchiſches Recht ſei, auch auf dieſem

Wege von der Correſpondenz Kenntniß zu erhalten, deren Trägerin

die ruſſiſche Poſt war.

Auch in Wien haben früher ähnliche Einrichtungen beſtanden.

Vor Erbauung der Eiſenbahnen hat es Zeiten gegeben, in denen

nach Ueberſchreitung der Grenze ein öſtreichiſcher Beamter zu dem

preußiſchen Courier in den Wagen ſtieg, und unter Aſſiſtenz des

Letztern die Depeſchen mit gewerbsmäßigem Geſchicke geöffnet, ge¬

ſchloſſen und excerpirt wurden, bevor ſie an die Geſandſchaft in

Wien gelangten. Noch nach dem Aufhören dieſer Praxis galt es

für eine vorſichtige Form amtlicher Mittheilung von Cabinet zu

Cabinet nach Wien oder Petersburg, wenn dem dortigen preußiſchen

Geſandten mit einfachem Poſtbriefe geſchrieben wurde. Der Inhalt

wurde von beiden Seiten als inſinuirt angeſehn, und man bediente

ſich dieſer Form der Inſinuation gelegentlich dann, wenn die

Wirkung einer unangenehmen Mittheilung im Intereſſe der Tonart

des formalen Verkehrs abgeſchwächt werden ſollte. Wie es in der

Poſt von Thurn und Taxis mit dem Briefgeheimniß beſtellt war,

[230/0257]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

wird aus meinem Briefe an den Miniſter von Manteuffel vom

11. Januar 1858 anſchaulich:

„Ich habe ſchon telegraphiſch die dringende Bitte ausgeſprochen,

meinen vertraulichen Bericht, betreffend die Beſchwerde Lord Bloom¬

field's in der Bentinck'ſchen Sache, nicht durch die Poſt an den

Grafen Flemming in Karlsruhe zu ſchicken und ſo zu Oeſtreichs

Kenntniß zu bringen. Sollte meine Bitte zu ſpät eingetroffen ſein,

ſo werde ich nach mehren Richtungen hin in unangenehme Ver¬

legenheiten gerathen, welche kaum anders als in einem perſönlichen

Conflict zwiſchen dem Grafen Rechberg und mir ihre Löſung finden

könnten. — Wie ich ihn beurtheile und wie es die öſtreichiſche

Auffaſſung des Briefgeheimniſſes überhaupt mit ſich bringt, wird

er ſich durch den Umſtand, daß dieſe Beweiſe einem geöffneten

Briefe entnommen ſind, von der Production derſelben nicht abhalten

laſſen. Ich traue ihm vielmehr zu, daß er ſich ausdrücklich darauf

beruft, die Depeſche könne nur in der Abſicht auf die Poſt gegeben

ſein, damit ſie zur Kenntniß der kaiſerlichen Regirung gelange.“

Als ich 1852 die Geſandſchaft in Wien zu leiten hatte, ſtieß

ich dort auf die Gewohnheit, wenn der Geſandte eine Mittheilung

zu machen hatte, die Inſtruction, durch die er von Berlin aus

dazu beauftragt war, dem öſtreichiſchen Miniſter des Auswärtigen

im Original einzureichen. Dieſe für den Dienſt ohne Zweifel nach¬

theilige Gewohnheit, bei der eigentlich die vermittelnde Amtsthätig¬

keit des Geſandten als überflüſſig erſchien, war dergeſtalt tief ein¬

geriſſen, daß der damalige, ſeit Jahrzehnten in Wien einheimiſche

Kanzleivorſtand der Geſandſchaft aus Anlaß des von mir er¬

gangenen Verbots mich aufſuchte, um mir vorzuſtellen, wie groß

das Mißtrauen der kaiſerlichen Staatskanzlei ſein werde, wenn wir

plötzlich in der langjährigen Gepflogenheit eine Aenderung eintreten

ließen; man würde namentlich mir gegenüber zweifelhaft werden,

ob meine Einwirkung auf den Grafen Buol wirklich dem Text

meiner Inſtructionen und alſo den Intentionen der Berliner Politik

entſpräche.

[231/0258]

Das Briefgeheimniß in der Poſt von Thurn-Taxis. Gewaltthätigkeiten.

Um ſich ſelbſt gegen Untreue der Beamten des auswärtigen

Reſſorts zu ſchützen, hat man in Wien zuweilen ſehr draſtiſche Mittel

angewandt. Ich habe einmal ein geheimes öſtreichiſches Actenſtück

in Händen gehabt, aus dem mir dieſer Satz erinnerlich geblieben iſt:

„Kaunitz ne ſachant pas démêler, lequel de ses quatre

commis l'avait trahi, les fit noyer tous les quatre dans le

Danube moyennant un bateau à soupape.“

Vom Erſäufen war auch die Rede in einer ſcherzenden Unter¬

haltung, die ich 1853 oder 1854 mit dem ruſſiſchen Geſandten in

Berlin, Baron von Budberg, hatte. Ich erwähnte, daß ich einen

Beamten im Verdacht hätte, bei den ihm aufgetragnen Geſchäften

das Intereſſe eines andern Staates zu vertreten. Budberg ſagte:

„Wenn der Mann Ihnen unbequem iſt, ſo ſchicken Sie ihn nur

einmal bis an das Aegäiſche Meer, dort haben wir Mittel, ihn

verſchwinden zu laſſen“ — und fuhr auf meine etwas ängſtliche

Frage: „Sie wollen ihn doch nicht erſäufen?“ lachend fort: „Nein,

er würde im Innern Rußlands verſchwinden, und da er anſtellig

zu ſein ſcheint, ſpäter als zufriedner ruſſiſcher Beamter wieder zum

Vorſchein kommen.“

IV.

In der erſten Hälfte des Juni 1859 machte ich einen kurzen

Ausflug nach Moskau. Bei dieſem Beſuche der alten Hauptſtadt,

der in die Zeit des italieniſchen Krieges fiel, war ich Zeuge einer

merkwürdigen Probe von dem damaligen Haſſe der Ruſſen gegen

Oeſtreich. Während der Gouverneur Fürſt Dolgoruki mich in

einer Bibliothek umherführte, bemerkte ich auf der Bruſt eines

ſubalternen Beamten unter vielen militäriſchen Decorationen auch

das eiſerne Kreuz. Auf meine Frage nach dem Erwerb deſſelben

nannte er die Schlacht von Kulm, nach welcher Friedrich Wilhelm III.

eine Anzahl etwas abweichend geſtalteter eiſerner Kreuze an ruſſiſche

Soldaten hatte vertheilen laſſen, das ſogenannte Kulmer Kreuz.

[232/0259]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

Ich beglückwünſchte den alten Soldaten, daß er nach 46 Jahren

noch ſo rüſtig ſei, und erhielt die Antwort, er würde noch jetzt,

wenn der Kaiſer es erlaubte, den Krieg mitmachen. Ich fragte,

mit wem er dann gehn würde, mit Italien oder mit Oeſtreich,

worauf er ſtramm ſtehend mit Enthuſiasmus erklärte: „Immer

gegen Oeſtreich.“ Ich machte ihn darauf aufmerkſam, daß Oeſt¬

reich doch bei Kulm unſer und Rußlands Freund und Italien

unſer Gegner geweſen ſei, worauf er, immer in militäriſch ſtrammer

Haltung und mit der lauten und weit hörbaren Stimme, die der

ruſſiſche Soldat im Geſpräch mit Offizieren hat, antwortete: „Ein

ehrlicher Feind iſt beſſer als ein falſcher Freund.“ Dieſe unver¬

frorene Antwort begeiſterte den Fürſten Dolgoruki dergeſtalt, daß

im nächſten Moment General und Unteroffizier in der Umarmung

lagen und die herzlichſten Küſſe auf beide Wangen austauſchten.

So war damals bei General und Unteroffizier die ruſſiſche Stim¬

mung gegen Oeſtreich.

Eine Erinnerung an den Ausflug nach Moskau iſt der nach¬

ſtehende Briefwechſel mit dem Fürſten Obolenſki.

Moscou, le „2“ Juin 1859.

En visitant dernièrement les antiquités de Moscou, Votre

Excellence a porté une grande attention aux monuments de

notre ancienne vie politique et morale. Les vieils édifices du

Kremlin, les objets de la vie domestique des Tzars, les précieux

manuscrits grecs de la bibliothèque des Patriarches de Russie,

— tout enfin a excité Sa curiosité éclairée. Les remarques

scientifiques de V. E. au sujet de ces monuments ont prouvé

qu'outre Ses grandes connaissances diplomatiques, Elle en

réunissent d'aussi profondes en archéologie. Une pareille at¬

tention de la part d'un étranger pour nos antiquités m'est

doublement chère, comme à un Russe et comme à un homme

qui consacre ses loisirs aux recherches archéologiques. Per¬

mettez-moi d'offrir à V. E. en souvenir de Son court séjour

[233/0260]

Ausflug nach Moskau. Briefwechſel mit Obolenſki.

à Moscou et de l'agréable connaissance que j'ai eu l'honneur

de faire avec Elle, un exemplaire du „Livre contenant la de¬

scription de l'élection et de l'avénement au trône du Tzar

Michel Feodorowitch“. Elle y verra sur des dessins quoique

peu artistiques mais curieux par leur ancienneté, les mêmes

édifices et objets qui L'intéressaient tant au Kremlin.

Agréez p. p.

P. M. Obolenski.

Pétersbourg (Juli 1859).

Je serais bien ingrat, si après toutes les bontés dont vous

m'avez comblé à Moscou, j'avais laissé quatre semaines sans

des raisons majeures s'écouler avant de répondre à la lettre

dont V. E. m'a honoré. J'ai été saisi après mon rétour d'une

maladie grave, une espèce de goutte, qui par de fortes dou¬

leurs rhumatismales m'a tenu à l'état de perclus depuis près

d'un mois avec des intervalles minimes et absorbés par les

affaires courantes restées en arrière. Encore aujourd'hui je

me trouve hors d'état de marcher, mais mieux portant du reste,

de sorte que je tâcherai d'obéir à un ordre de mon gouverne¬

ment qui m'appelle à Berlin. Pardonnez ces détails, mon Prince,

mais ils sont nécessaires pour expliquer mon silence.

J'avais espéré que par ce retard de ma réponse je serais

mis à même d'y joindre celle que j'attends de Berlin à l'envoi

dont vous avez bien voulu me charger à destination de Sa

Majesté le Roi. Je ne la tiens pas encore, mais je ne puis

partir, mon Prince, sans vous dire, combien je suis touché de

la manière digne et aimable à la fois dont vous faites les

honneurs du département que vous dirigez, et de la capitale

que vous habitez, en montrant à l'étranger un noble modèle

de l'hospitalité nationale. Le magnifique ouvrage que vous

avez bien voulu me donner, restera toujours un ornament

précieux de ma bibliothèque et un objet auquel se rattache le

[234/0261]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

souvenir d'un gentilhomme russe qui sait si bien concilier

l'illustration du savant avec les qualités qui distinguent le

grand-seigneur.

Agréez p. p.

von Bismarck.

V.

Neuling in dem Klima von Petersburg, ging ich im Juni 1859

nach anhaltendem Reiten in einer überheizten Reitbahn ohne Pelz

nach Hauſe, hielt mich auch noch unterwegs auf, um exercirenden

Rekruten zuzuſehn. Am folgenden Tage hatte ich Rheumatismus

in allen Gliedern, mit dem ich längere Zeit zu kämpfen hatte.

Als die Zeit herankam abzureiſen, um meine Frau nach Peters¬

burg zu holen, war ich übrigens wieder hergeſtellt, nur daß

ſich in dem linken Beine, das ich auf dem Jagdausflug nach

Schweden im Jahre 1857 durch einen Sturz vom Felſen beſchädigt

hatte 1), und das infolge unvorſichtiger Behandlung der locus

minoris resistentiae geworden war, ein geringfügiger Schmerz

fühlbar machte. Der durch die frühere Großherzogin von Baden

mir bei der Abreiſe empfohlne Dr. Walz erbot ſich, mir ein Mittel

dagegen zu verſchreiben, und begegnete meiner Erklärung, ich fühle

kein Bedürfniß etwas anzuwenden, da der Schmerz gering ſei, mit

der Verſicherung, die Sache könne auf der Reiſe ſchlimmer werden

und es ſei rathſam, vorzubeugen. Das Mittel ſei ein ganz leichtes;

er werde mir ein Pflaſter in die Kniekehle legen, welches in keiner

Weiſe beläſtige, nach einigen Tagen von ſelbſt abfallen und nur

eine Röthe hinterlaſſen werde. Mit der Vorgeſchichte dieſes aus

Heidelberg ſtammenden Arztes noch unbekannt, gab ich leider ſeinem

Zureden nach. Vier Stunden, nachdem ich das Pflaſter aufgelegt und

feſt geſchlafen hatte, wachte ich über heftige Schmerzen auf, riß das

Pflaſter ab, ohne ſeine Beſtandtheile von der ſchon wund gefreſſenen

1)

S. o. S. 195.

[235/0262]

Unter der Behandlung eines ruſſiſchen „Arztes“.

Kniekehle entfernen zu können. Walz kam einige Stunden ſpäter

und verſuchte mit irgend einer metalliſchen Klinge die ſchwarze

Pflaſtermaſſe aus der handgroßen Wunde durch Schaben zu ent¬

fernen. Der Schmerz war unerträglich und der Erfolg unvoll¬

kommen, die corroſive Wirkung des Giftes dauerte fort. Ich wurde

mir über die Unwiſſenheit und Gewiſſenloſigkeit meines Arztes klar

trotz der hohen Empfehlung, die mich beſtimmt hatte, ihn zu wählen.

Er ſelbſt verſicherte mit entſchuldigendem Lächeln, die Salbe ſei

wohl etwas zu ſtark gepfeffert worden; es ſei ein Verſehn des

Apothekers. Ich ließ von dem Letztern das Recept erbitten und

erhielt die Antwort, Walz habe es wieder an ſich genommen;

Letztrer beſaß es nach ſeiner Ausſage nicht mehr. Ich konnte alſo

nicht ermitteln, wer der Giftmiſcher geweſen war, und erfuhr nur

von dem Apotheker, der Hauptbeſtandtheil der Salbe ſei der Stoff

geweſen, der zur Herſtellung von ſogenannten immerwährenden

ſpaniſchen Fliegen verwendet werde, und nach ſeiner Erinnerung

ſei derſelbe allerdings in einer ungewöhnlich ſtarken Doſis ver¬

ſchrieben geweſen. Es iſt mir ſpäter die Frage geſtellt worden,

ob meine Vergiftung eine abſichtliche geweſen ſein könne; ich

ſchreibe ſie lediglich der Unwiſſenheit und Dreiſtigkeit des ärztlichen

Schwindlers zu.

Er war auf Grund einer Empfehlung der verwitweten Gro߬

herzogin Sophie von Baden Dirigent ſämmtlicher Kinderhoſpitäler

in Petersburg geworden. Meine ſpätern Ermittelungen ergaben,

daß er der Sohn des Univerſitätsconditors in Heidelberg war, als

Student nicht gearbeitet und keine Prüfung beſtanden hatte. Seine

Salbe hatte eine Vene zerſtört, und ich habe viele Jahre lang ſchwer

daran gelitten.

Um bei deutſchen Aerzten Hülfe zu ſuchen, reiſte ich im Juli

auf dem Seewege über Stettin nach Berlin; heftige Schmerzen

veranlaßten mich, den berühmten Chirurgen Pirogow, der mit

an Bord war, zu fragen; er wollte mir das Bein amputiren, und

auf meine Frage, ob über oder unter dem Kniee, bezeichnete er

[236/0263]

Zehntes Kapitel: Petersburg.

eine Stelle hoch darüber. Ich lehnte ab und wurde, nachdem in

Berlin verſchiedne Behandlungen erfolglos verſucht waren, durch

die Bäder von Nauheim unter Leitung des Profeſſors Benecke aus

Marburg ſo weit wiederhergeſtellt, daß ich gehn, auch reiten und im

October den Prinzregenten nach Warſchau zur Zuſammenkunft mit

dem Zaren begleiten konnte. Während ich auf der Rückreiſe nach

Petersburg Herrn von Below in Hohendorf im November einen

Beſuch machte, riß ſich nach ärztlicher Meinung der Trombus los,

der ſich in der zerſtörten Vene gebildet und feſtgeſetzt hatte, gerieth

in den Blutumlauf und verurſachte eine Lungenentzündung, die

von den Aerzten für tödtlich gehalten, aber in einem Monate

langen Siechthum überwunden wurde. Merkwürdig ſind mir heut

die Eindrücke, die damals ein ſterbender Preuße über Vormund¬

ſchaft hatte. Mein erſtes Bedürfniß nach meiner ärztlichen Ver¬

urtheilung war die Niederſchrift einer letztwilligen Verfügung, durch

welche jede gerichtliche Einmiſchung in die eingeſetzte Vormundſchaft

ausgeſchloſſen wurde. Hierüber beruhigt ſah ich meinem Ende mit

der Bereitwilligkeit entgegen, die unerträgliche Schmerzen gewähren.

Zu Anfang des März 1860 war ich ſo weit, nach Berlin reiſen zu

können, wo ich, meine Geneſung abwartend, an den Sitzungen des

Herrenhauſes Theil nahm und bis in den Mai verweilte.

[[237]/0264]

Elftes Kapitel.

Zwiſchenzuſtand.

I.

Während dieſer Wochen regten der Fürſt von Hohenzollern und

Rudolf von Auerswald bei dem Regenten meine Ernennung zum

Miniſter des Auswärtigen an. Es fand infolge deſſen im Palais

eine Art von Conſeil ſtatt, das aus dem Fürſten, Auerswald,

Schleinitz und mir beſtand. Der Regent leitete die Beſprechung

mit der Aufforderung an mich ein, das Programm zu entwickeln,

zu welchem ich riethe. Ich legte daſſelbe in der Richtung, die ich

ſpäter als Miniſter verfolgt habe, in ſo weit offen dar, daß ich als

die ſchwächſte Seite unſrer Politik ihre Schwäche gegen Oeſtreich

bezeichnete, von der ſie ſeit Olmütz und beſonders in den letzten

Jahren während der italieniſchen Kriſis beherrſcht geweſen ſei.

Könnten wir unſre deutſche Aufgabe im Einverſtändniß mit Oeſt¬

reich löſen, um ſo beſſer. Die Möglichkeit würde aber erſt vor¬

liegen, wenn man in Wien die Ueberzeugung hätte, daß wir im

entgegengeſetzten Falle auch den Bruch und den Krieg nicht fürch¬

teten. Die zur Durchführung unſrer Politik wünſchenswerthe

Fühlung mit Rußland zu bewahren, würde gegen Oeſtreich leichter

ſein als mit Oeſtreich. Unmöglich aber ſchiene mir das auch im

letztern Falle nicht, nach meiner in Petersburg gewonnenen Kennt¬

niß des ruſſiſchen Hofes und der dort leitenden Einflüſſe. Wir

hätten dort aus dem Krimkriege und den polniſchen Verwicklungen

[238/0265]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

her einen Saldo, welcher bei geſchickter Ausnutzung uns die Mög¬

lichkeit laſſen könnte, mit Oeſtreich uns zu verſtändigen, ohne

mit Rußland zu brechen; ich fürchtete nur, daß die Verſtändigung

mit Oeſtreich wegen der dortigen Ueberſchätzung der eignen und

Unterſchätzung der preußiſchen Macht mißlingen werde, wenigſtens

ſo lange, als man in Oeſtreich nicht von dem vollen Ernſt unſrer

eventuellen Bereitſchaft auch zu Bruch und Krieg überzeugt ſei.

Der Glaube an ſolche Möglichkeit ſei in dem letzten Jahrzehnte

unſrer Politik in Wien verloren gegangen, man habe ſich dort auf

der in Olmütz errungnen Baſis als auf einer dauernden eingelebt

und nicht gemerkt, oder vergeſſen, daß die Olmützer Convention

ihre Rechtfertigung hauptſächlich in der vorübergehenden Ungunſt

unſrer Situation fand, die durch die Verzettelung unſrer Cadres

und durch die Thatſache hervorgerufen war, daß das ganze Schwer¬

gewicht der ruſſiſchen Macht zur Zeit jener Convention in die Wag¬

ſchale Oeſtreichs gefallen war, wohin ſie nach dem Krimkriege nicht

mehr fiel. Die öſtreichiſche Politik uns gegenüber ſei aber nach

1856 ebenſo anſpruchsvoll geblieben, wie zu der Zeit, wo der

Kaiſer Nicolaus für ſie gegen uns einſtand. Wir hätten uns der

öſtreichiſchen Illuſion in einer Weiſe unterworfen, welche an das

Experiment erinnerte, ein Huhn durch einen Kreideſtrich zu feſſeln.

Die öſtreichiſche Zuverſicht, ein geſchickter Gebrauch der Preſſe, und

ein großer Reichthum an geheimen Fonds ermögliche dem Grafen

Buol die Aufrechthaltung der öſtreichiſchen Phantasmagorie und

das Ignoriren der ſtarken Stellung, in der Preußen ſich befinden

werde, ſo bald es bereit ſei, den Zauber des Kreideſtrichs zu

brechen. Worauf ſich die Erwähnung der öſtreichiſchen geheimen

Fonds bezog, war dem Regenten bekannt 1).

Nachdem ich meine Auffaſſung entwickelt hatte, erging an

Schleinitz die Aufforderung, die ſeinige gegenüber zu ſtellen. Es

geſchah das in Anknüpfung an das Teſtament Friedrich Wilhelms III.,

1)

S. o. S. 212 ff.

[239/0266]

Der Regent erklärt ſich für die von Schleinitz vertretene Politik.

alſo unter geſchickter Berührung einer Saite, die im Gemüth des

Regenten ihren Anklang nie verſagte, unter Schilderung der Be¬

denken und Gefahren, die von Weſten (Paris) und im Innern

drohten, wenn die Beziehungen zu Oeſtreich trotz aller berechtigten

Gründe zur Empfindlichkeit nicht erhalten würden. Die Gefahren

ruſſiſch-franzöſiſcher Verbindungen, die ſchon damals in der Oeffent¬

lichkeit eine Rolle ſpielten, wurden entwickelt, die Möglichkeit preu¬

ßiſch-ruſſiſcher Verbindungen als von der öffentlichen Meinung ver¬

urtheilt dargeſtellt. Charakteriſtiſch war, daß, ſobald Schleinitz ſein

letztes Wort eines geläufigen und offenbar vorbereiteten Vortrages

geſprochen hatte, der Regent wiederum das Wort nahm und in

klarer Entwicklung erklärte, daß er ſich in Erinnerung an die väter¬

lichen Traditionen für die Darſtellung des Miniſters von Schleinitz

entſcheide, und damit wurde die Erörterung kurzer Hand geſchloſſen.

Die Schnelligkeit, mit welcher er ſich entſchied, nachdem das

letzte Wort des Miniſters gefallen war, ließ mich annehmen, daß

die ganze mise en scène vorher verabredet war und nach dem

Willen der Prinzeſſin ſich entwickelt hatte, um den Anſichten des

Fürſten von Hohenzollern und Auerswalds eine äußerliche Berück¬

ſichtigung zu gewähren, während ſie ſchon damals ſich mit dieſen

Beiden und deren Neigung, das Cabinet durch meine Zuziehung zu

ſtärken, nicht im Einklang befand.

In der Politik der Prinzeſſin, welche für ihren Gemal und

für den Miniſter von erheblichem Gewicht war, gaben, wie ich an¬

nahm, eher gewiſſe Abneigungen den Ausſchlag als poſitive Ziele.

Die Abneigungen richteten ſich gegen Rußland, gegen Louis Na¬

poleon, mit dem Beziehungen zu unterhalten ich im Verdacht ſtand,

gegen mich, wegen Neigung zu unabhängiger Meinung und wegen

wiederholter Weigerung, Anſichten der hohen Frau bei ihrem Ge¬

mal als meine eignen zu vertreten. Ihre Geneigtheiten wirkten

in demſelben Sinne. Herr von Schleinitz war politiſch ihr Ge¬

ſchöpf, ein von ihr abhängiger Höfling ohne eigne politiſche Ueber¬

zeugung.

[240/0267]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

II.

Der Fürſt von Hohenzollern, der ſich überzeugte, daß die Prin¬

zeſſin und Schleinitz durch ſie ſtärker waren als er, zog ſich bald

nachher von den Geſchäften thatſächlich zurück, wenn er auch dem

Namen nach bis zum September 1862 Miniſterpräſident blieb. Die

Leitung ging damit auch äußerlich auf Auerswald über, mit dem

ich während der Zeit, die ich noch in Berlin zubrachte, in freund¬

lichem Verkehr blieb. Er war von beſonders liebenswürdigen Formen

und hervorragender politiſcher Begabung; und nachdem ich zwei

Jahr ſpäter Miniſterpräſident geworden war, leiſtete er mir einen

wohlwollenden Beiſtand, namentlich dadurch, daß er bei dem Kron¬

prinzen die Bedenken und Beſorgniſſe über die Zukunft unſres

Landes bekämpfte, die ihm von England aus gegen mich als

Ruſſenfreund beigebracht worden waren und die ſpäter zu dem

Danziger Pronunciamiento führten. Auf ſeinem Sterbebette 1)ließ

er den Kronprinzen zu ſich bitten, warnte eindringlich vor den Ge¬

fahren, welche ſeine Oppoſition der Monarchie bereiten könnte, und

bat den Prinzen, an mir feſtzuhalten 2).

Im Sommer 1861 war es innerhalb des Miniſteriums zu

einem Kampfe gekommen, der in dem nachſtehenden Brief des

Kriegsminiſters von Roon vom 27. Juni 3)geſchildert iſt:

„Berlin, den 27. Juni 1861.

Sie ſind wohl im Allgemeinen über die jetzt kritiſche Huldi¬

gungsfrage orientirt. Sie iſt zum Brechen ſcharf zugeſpitzt. Der

König kann nicht nachgeben, ohne ſich und die Krone für immer

zu ruiniren. Die Mehrzahl der Miniſter kann es ebenſo wenig;

ſie würden ſich die unmoraliſchen Bäuche aufſchlitzen, ſich politiſch

1)

R. v. Auerswald ſtarb am 15. Januar 1866.

2)

Vgl. Aus dem Leben Theodor von Bernhardis VI 227 f. 234.

3)

Bismarck-Jahrbuch VI 194 ff.

[241/0268]

Miniſterium Auerswald. Miniſterkriſis.

vernichten. Sie können nicht anders als ungehorſam ſein und

bleiben. Bis jetzt haben ich, der ich eine ganz entgegengeſetzte

Poſition zur brennenden Frage eingenommen, und (Edwin) Man¬

teuffel mit Mühe verhindert, daß der König ſich beuge. Er würde

es thun, wenn ich dazu riethe, aber ich hoffe zu Gott, daß er meine

Zunge lähme, bevor ſie zuſtimmt. Aber ich ſtehe allein, ganz allein;

Edwin Manteuffel geht heute auf die Feſtung 1). Geſtern endlich hat

mir der König erlaubt, mich für ihn nach andern Miniſtern um¬

zuſehen. Er iſt der troſtloſen Anſicht, er fände, außer bei Stahl

und Cp., keine Männer, die die Huldigung mit Eidesleiſtung für

zuläſſig erachten. Ich frage nun, ob Sie die althergebrachte Erb¬

huldigung für ein Attentat gegen die Verfaſſung halten? Ant¬

worten Sie darauf mit Ja, ſo habe ich mich getäuſcht, wenn ich

annahm, daß Sie meiner Anſicht ſeien. Treten Sie dieſer aber

bei und meinen Sie, daß es ein doctrinärer Schwindel, eine Folge

politiſcher Engagements und politiſcher Parteiſtellung ſei, wenn die

lieben Geſpielen ſich nicht in der Lage zu befinden glauben: ſo

werden Sie auch nicht Anſtand nehmen, in den Rath des Königs

einzutreten und die Huldigungsfrage in correcter Weiſe zu löſen.

Dann werden Sie auch Mittel finden, die beabſichtigte Urlaubs¬

reiſe unverzüglich anzutreten und mich ungeſäumt durch den Tele¬

graphen zu benachrichtigen. Die Worte: ‚Ja, ich komme!‘ reichen

aus, beſſer noch, wenn Sie das Datum Ihrer Ankunft hinzufügen

können. Schleinitz geht unter allen Umſtänden, ganz abgeſehen von

der Huldigungsfrage. Das ſteht feſt! Aber es iſt fraglich, ob

Sie ſein oder Schwerins Portefeuille zu übernehmen haben werden.

S. M. ſcheint für letzteres mehr, als für erſteres disponirt. Doch

iſt das cura posterior. Es kömmt darauf an, den König zu über¬

zeugen, daß er ohne affichirten Syſtemwechſel ein Miniſterium finden

kann, wie er es braucht. Ich habe außerdem ähnliche Fragen an

1)

Wegen eines Duells mit Tweſten als dem Verfaſſer der Schrift: „Was

uns noch retten kann“.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 16

[242/0269]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

Präſident von Möller und von Selchow gerichtet, bin aber noch

ohne Antwort. Es iſt eine troſtloſe Lage! Der König leidet ent¬

ſetzlich. Die Nächſten aus ſeiner Familie ſind gegen ihn und rathen

zu einem faulen Frieden. Gott verhüte, daß er nachgiebt. Thäte

er es, ſo ſteuerten wir mit vollen Segeln in das Schlamm-Meer

des parlamentariſchen Regiments.

Ich zittere vor Geſchäfts-Aufregung, denn die vermehrten Laſten

erdrücken mich faſt im Verein mit dieſer politiſchen misère, indeß —

ein braves Pferd ſtürzt, aber verſagt nicht. — Die Geſchäftsnoth

entſchuldige daher auch die Kürze dieſer Zeilen. Daher nur noch

das Eine, daß ich die Brücke hinter mir abgebrochen habe, daß ich

daher gehe, wenn der König nachgiebt, obwohl ſich dies eigentlich

von ſelbſt verſteht.

Dieſer Brief ſoll Ihnen durch den Engliſchen Courier zugehen,

wie Schlieffen verheißt. Antworten Sie mir ſogleich durch den

Telegraphen.“

Ich antwortete am 2. Juli:

„Ihr Schreiben durch den Engländer kam geſtern in Sturm

und Regen hier an, und ſtörte mich in dem Behagen, mit welchem

ich an die ruhige Zeit dachte, die ich in Reinfeld mit Kiſſinger und

demnächſt in Stolpmünde zu verbringen beabſichtigte. In den Streit

wohlthuender Gefühle für junge Auerhühner einerſeits und Wieder¬

ſehn von Frau und Kindern andrerſeits tönte Ihr Commando:

,an die Pferde‘ mit ſchrillem Mißklang. Ich bin geiſtesträge,

matt und kleinmüthig geworden, ſeit mir das Fundament der Geſund¬

heit abhanden gekommen iſt. Doch zur Sache. In dem Huldigungs¬

ſtreit verſtehe ich nicht recht, wie er ſo wichtig hat werden können,

für beide Theile. Es iſt mir rechtlich garnicht zweifelhaft, daß der

König in keinen Widerſtreit mit der Verfaſſung tritt, wenn er die

Huldigung in herkömmlicher Form annimmt. Er hat das Recht,

ſich von jedem einzelnen ſeiner Unterthanen und von jeder Cor¬

poration im Lande huldigen zu laſſen, wann und wo es ihm ge¬

[243/0270]

Briefwechſel mit Roon über die Huldigungsfrage.

fällt, und wenn man meinem Könige ein Recht beſtreitet, welches

er ausüben will und kann, ſo fühle ich mich verpflichtet es zu ver¬

fechten, wenn ich auch an ſich nicht von der practiſchen Wichtigkeit

ſeiner Ausübung durchdrungen bin. In dieſem Sinne telegraphirte

ich an Schlieffen, daß ich den ,Beſitztitel‘, auf deſſen Grund ein neues

Miniſterium ſich etabliren ſoll, für richtig halte, und ſehe die Weige¬

rung der andern Partei und die Wichtigkeit, welche ſie auf Verhütung

des Huldigungsactes legt, als doctrinäre Verbiſſenheit an. Wenn

ich hinzufügte, daß ich die ſonſtige Vermögenslage nicht kenne,

ſo meinte ich damit nicht die Perſonen und Fähigkeiten, mit denen

wir das Geſchäft übernehmen könnten, ſondern das Programm,

auf deſſen Boden wir zu wirthſchaften haben würden. Darin wird

m. E. die Schwierigkeit liegen. Meinem Eindruck nach lag der

Hauptmangel unſrer bisherigen Politik darin, daß wir liberal in

Preußen und conſervativ im Auslande auftraten, die Rechte unſres

Königs wohlfeil, die fremder Fürſten zu hoch hielten. Eine natür¬

liche Folge des Dualismus zwiſchen der conſtitutionellen Richtung

der Miniſter und der legitimiſtiſchen, welche der perſönliche Wille

Seiner Majeſtät unſrer auswärtigen Politik gab. Ich würde mich

nicht leicht zu der Erbſchaft Schwerins entſchließen, ſchon weil ich

mein augenblickliches Geſundheits-Capital dazu nicht ausreichend

halte. Aber ſelbſt wenn es der Fall wäre, würde ich auch im

Innern das Bedürfniß einer andern Färbung unſrer auswärtigen

Politik fühlen. Nur durch eine Schwenkung in unſrer, ‚auswärtigen‘

Haltung kann, wie ich glaube, die Stellung der Krone im Innern

von dem Andrang degagirt werden, dem ſie auf die Dauer ſonſt

thatſächlich nicht widerſtehn wird, obſchon ich an der Zuläng¬

lichkeit der Mittel dazu nicht zweifle. Die Preſſion der Dämpfe

im Innern muß ziemlich hoch geſpannt ſein, ſonſt iſt es garnicht

verſtändlich, wie das öffentliche Leben bei uns von Lappalien wie

Stieber, Schwark, Macdonald, Patzke, Tweſten u. dergl. ſo auf¬

geregt werden konnte, und im Auslande wird man nicht begreifen,

wie die Huldigungsfrage das Cabinet ſprengen konnte. Man ſollte

[244/0271]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

glauben, daß eine lange und ſchwere Mißregirung das Volk gegen

ſeine Obrigkeit ſo erbittert hätte, daß bei jedem Luftzug die Flamme

auſſchlägt. Politiſche Unreife hat viel Antheil an dieſem Stolpern

über Zwirnsfäden; aber ſeit vierzehn Jahren haben wir der Nation

Geſchmack an Politik beigebracht, ihr aber den Appetit nicht be¬

friedigt, und ſie ſucht die Nahrung in den Goſſen. Wir ſind faſt

ſo eitel wie die Franzoſen; können wir uns einreden, daß wir aus¬

wärts Anſehn haben, ſo laſſen wir uns im Hauſe viel gefallen;

haben wir das Gefühl, daß jeder kleine Würzburger uns hänſelt

und geringſchätzt und daß wir es dulden aus Angſt, weil wir hoffen,

daß die Reichsarmee uns vor Frankreich ſchützen wird, ſo ſehn

wir innre Schäden an allen Ecken, und jeder Preßbengel, der den

Mund gegen die Regirung aufreißt, hat Recht. Von den Fürſten¬

häuſern von Neapel bis Hanover wird uns keins unſre Liebe

danken, und wir üben an ihnen recht evangeliſche Feindesliebe, auf

Koſten der Sicherheit des eignen Thrones. Ich bin meinem Fürſten

treu bis in die Vendée, aber gegen alle andern fühle ich in keinem

Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für ſie

aufzuheben. In dieſer Denkungsweiſe fürchte ich von der unſres

allergnädigſten Herrn ſo weit entfernt zu ſein, daß er mich ſchwerlich

zum Rathe ſeiner Krone geeignet finden wird. Deshalb wird er

mich, wenn überhaupt, lieber im Innern verwenden. Das bleibt

ſich aber m. E. ganz gleich, denn ich verſpreche mir von der

Geſammtregirung keine gedeihlichen Reſultate, wenn unſre aus¬

wärtige Haltung nicht kräftiger und unabhängiger von dynaſtiſchen

Sympathien wird, an denen wir aus Mangel an Selbſtvertrauen

eine Anlehnung ſuchen, die ſie nicht gewähren können und die wir

nicht brauchen. Wegen der Wahlen iſt es Schade, daß der Bruch

ſich grade ſo geſtaltet; die gut königliche Maſſe der Wähler wird

den Streit über die Huldigung nicht verſtehn, und die Demokratie

ihn entſtellen. Es wäre beſſer geweſen, in der Militärfrage ſtramm

zu halten gegen Kühne, mit der Kammer zu brechen, ſie aufzulöſen

und damit der Nation zu zeigen, wie der König zu den Leuten

[245/0272]

Briefwechſel mit Roon über die Huldigungsfrage.

ſteht. Wird der König zu ſolchem Mittel im Winter greifen wollen,

wenn's paßt? Ich glaube nicht an gute Wahlen für dießmal, ob¬

ſchon grade die Huldigungen dem Könige manches Mittel gewähren,

darauf zu wirken. Aber rechtzeitige Auflöſung, nach handgreiflichen

Ausſchreitungen der Majorität, iſt ein ſehr heilſames Mittel, viel¬

leicht das richtigſte, zu dem man gelangen kann, um geſunden Blut¬

umlauf herzuſtellen.

Ich kann mich ſchriftlich über eine Situation, die ich nur

ungenügend kenne, nicht erſchöpfend ausſprechen, mag auch Manches

nicht zu Papier bringen, was ich ſagen möchte. Nachdem der

Urlaub heut bewilligt, reiſe ich Sonnabend zu Waſſer, und hoffe

Dienſtag früh in Lübeck zu ſein, Abend in Berlin. Früher kann

ich nicht, weil der Kaiſer mich noch ſehn will. Dieſe Zeilen nimmt

der engliſche Courier wieder mit. Mündlich alſo Näheres. Bitte

mich der Frau Gemalin herzlich zu empfehlen. In treuer Freund¬

ſchaft der Ihrige

v. Bismarck.“ 1)

Ich hatte fünf Tage lang keine Zeitungen geſehn, als ich am

9. Juli in Lübeck um fünf Uhr Morgens eintraf und aus der im

Bahnhofe allein vorhandnen ſchwediſchen Yſtädter Zeitung erſah,

daß der König und die Miniſter Berlin verlaſſen hatten, die Kriſis

alſo beigelegt ſein mußte. Am 3. Juli hatte der König das Manifeſt

erlaſſen, daß er das Herkommen der Erbhuldigung feſthalte, aber

in Betracht der Veränderungen, welche in der Verfaſſung der

Monarchie unter der Regirung ſeines Bruders eingetreten, be¬

ſchloſſen habe, anſtatt der Erbhuldigung die feierliche Krönung zu

erneuern, durch welche die erbliche Königswürde begründet ſei.

Ueber den Verlauf der Kriſis ſchrieb mir Roon am 24. Juli von

Brunnen (Kanton Schwyz) 2):

1)

Vollſtändig in den Bismarckbriefen (7. Aufl.) S. 304 ff., jetzt auch in

Roon's Denkwürdigkeiten II 4 28 ff.

2)

Bismarck-Jahrbuch VI 196 ff.

[246/0273]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

„Ich habe gelobt, Ihnen am erſten Regentage zu antworten

und muß es daher leider ſchon heute thun und zwar aus einem

verſiegenden Dintenfaß, welches ich, falls nicht andre Hülfe kommt,

auf einige Minuten zum Fenſter hinaushalten werde, um ſeiner

Armuth aufzuhelfen. — Daß wir uns immer wieder verfehlten,

halte ich kaum für providentiell, lieber für ſehr fatal. Die Depeſche

aus Frankfurt kam, Dank der Dummheit des Dienſtperſonals, erſt

am 17. nach acht Uhr früh in meine Hände und meine ſofortige

Antwort darauf nach einigen Stunden als unbeſtellbar zurück. Um

ſo bedenklicher wurde ich wegen meiner Abreiſe. Aber ich konnte

ſie nicht verſchieben. Schleinitz im Dienſte der Königin Auguſta hat

uns vor der Hand ſehr geſchadet. Das Geſchwür war reif. Schl.

ſelbſt, überzeugt von der Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Syſtems,

hat vornehmlich deshalb ſeinen Abtritt genommen, wie die Ratten

ein baufälliges Schiff zu verlaſſen pflegen. Aber er und v. d. Heydt

ſtimmten darin überein, daß man todte abgenutzte Leute nicht durch

den galvaniſchen Strich eines vermeintlichen Märtyrerthums wieder

lebendig machen dürfe, und darum gegen mich. Schl., unterſtützt

von der K. A. und der Großfürſtin Helene, haben obgeſiegt mit Hülfe

der wieder aufgenommenen Krönungsidee, für welche die Mäntel

ſchon im Februar beſtellt worden waren. Der ſchlecht maskirte

Rückzug wurde nun angetreten und die faſt fertige Miniſterliſte

ad acta gelegt. Uebrigens bin ich zu glauben ſehr geneigt, daß

Schl., wie die K. A. und ſelbſt der Fürſt Hohenzollern an den

nahen Untergang des jetzigen Lügenſyſtems glauben und ihn zu

befördern geneigt ſind. Daß Schl. ausgetreten, iſt in jeder Be¬

ziehung ein Fortſchritt, wiewohl er nicht auf dem doctrinären Boden

von Patow, Auerswald und Schwerin ſteht. Abgeſehn von ſeiner

Impotenz im Handeln ſtützte ſeine Anweſenheit das Miniſterium nach

oben. Der Mignon durfte nicht fallen; wohlan! er iſt nun im Hafen.

Wenn Graf Bernſtorff nur halb der Mann iſt, für den er von Vielen

ausgegeben wird, ſo iſt dieſer zweite Keil wirkſamer als der erſte,

oder er bleibt nicht vier Monate im Amte. Daß ich mich in der

[247/0274]

Verlauf der Miniſterkriſis.

Huldigungsfrage mit meinen Geſpielen für immer auch äußerlich

entzweit, wiſſen Sie wohl durch Manteuffel oder Alvensleben.

Wenn ich dennoch in ‚dieſer Geſellſchaft‘ bleibe, ſo geſchieht es,

weil der K. darauf beſteht und ich, unter den jetzigen Umſtänden

von jeder Rückſicht entbunden, nunmehr mit offenem Viſir fort¬

kämpfen kann. Es ſagt meiner Natur mehr zu, daß die Herren

wiſſen, ich bin gegen ihre Recepte, als daß ſie es, wie bisher,

blos glauben. Gott möge weiter helfen! ich kann wenig mehr

thun, als ein ehrlicher Mann bleiben und in meinen Reſſorts

thätig ſein und Vernünftiges wirken. — Das größte Unglück in

aller dieſer misère iſt indeß die Mattigkeit und Abgeſpanntheit

unſres Königs. Er iſt mehr wie je in der Botmäßigkeit der K.

und ihrer Gehülfen. Wird er nicht körperlich wieder friſcher, ſo

iſt Alles verloren, und wir ſchwanken weiter in das Joch des Par¬

lamentarimus und der Republik und der Präſidentſchaft Patow.

Ich ſehe keine, keine Rettung, wenn uns Gott der Herr nicht

hilft. In dem Proceß der allgemeinen Zerſetzung vermag ich nur

noch einen widerſtandsfähigen Organismus zu erkennen, die Armee.

Sie unverfault zu erhalten: das iſt die Aufgabe, die ich noch für

lösbar erachte, aber freilich nur noch auf einige Zeit. Auch ſie wird

verpeſtet werden, wenn ſie nicht zu Thaten kömmt, wenn ihr nicht

von Oben geſunde Lebensluft zugeführt wird, und das, auch das

wird alle Tage ſchwieriger. Habe ich darin Recht, und ich glaube

es, ſo kann man auch nicht tadeln, daß ich in dieſer Geſellſchaft

weiter diene. Ich will damit nicht ſagen, daß; ein Andrer mein

Amt nicht mit gleicher oder größerer Einſicht und Energie zu ver¬

walten vermöchte, aber auch der Fähigſte wird ein Jahr zu ſeiner

Orientirung brauchen und — ,die Todten reiten ſchnell‘. Wie

gern ich mich zurückzöge, brauche ich Niemand zu verſichern, der

mich genauer kennt. In meiner Natur liegt viel mehr Neigung

zur Behaglichkeit, als vor Gott Recht iſt, und dieſe würde ich mit

meiner verdienten reichlichen Penſion finden, da ich weder ver¬

wöhnt bin noch ehrbedürftig. Wie ſehr ich zur Faulheit neige,

[248/0275]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

fühle ich jetzt, nachdem ich, wie ein abgetriebenes Arbeitsroß, des

Zaumes und Geſchirrs ledig, auf die Koppel gelaſſen bin. Fällt

nichts Beſonderes vor, ſo will ich erſt in den erſten September¬

tagen in mein Joch zurückkehren. Dann, denke ich, verfehlen wir

uns nicht wieder. Zwar muß ich ſchon am 9. September wieder

nach dem Rhein zu den Manövern, aber doch nur auf zehn, elf

Tage. Ob der König, wie er will (?), auch Anfang September

auf einige Tage nach B. gehen wird, ſcheint eine offene Frage.

Mir ſcheint, es ſei unerläßlich, wenn überhaupt noch von könig¬

lichem Regiment in Preußen die Rede iſt.

Nach Ihrem Schreiben darf ich hoffen, daß Sie nicht vor der

Krönung nach Petersburg zurückkehren werden. Ich halte es für

einen großen politiſchen Fehler, daß die Kreuzzeitung das Krönungs-

Manifeſt ſo ſchonungslos kritiſirt hat *). Ein nicht geringerer

würde es ſein, wenn die Anhänger des Blatts bei der Ceremonie

fehlten. Das ſagen Sie Moritz. Man hat durch jenen unglück¬

lichen Artikel viel Terrain verloren; es muß wiedergewonnen

werden.

Zum Schluß noch die beſten Wünſche für Ihre verſchiedenen

Kuren. Möchten Sie recht geſtärkt daraus hervorgehen! Die Zeit

iſt nahe, wo Sie alle Ihre Kräfte gebrauchen werden, zum Heile

Ihres Landes. — Ihrer Frau Gemahlin meine, unſre reſpect¬

vollſten freundlichſten Grüße!

Dieſen Brief ſende ich über Zimmerhauſen und recommandirt;

er darf nicht in unrechte Hände fallen!

v. Roon.“

Auf Wunſch des Miniſters von Schleinitz begab ich mich am

10. Juli nach Baden-Baden, um mich bei dem Könige zu melden.

Er ſchien von meinem Erſcheinen unangenehm überraſcht in der

Meinung, ich komme wegen der Miniſterkriſis. Ich erwähnte, ich

*)

Der König hat ſeit jenem Artikel die Kreuzzeitung nicht wieder

geleſen.

[249/0276]

Krönung Wilhelms I. Geſpräch mit der Königin.

hätte gehört, dieſelbe ſei beigelegt, und ſagte, ich ſei nur ge¬

kommen, um ſeine perſönliche Zuſtimmung dazu zu erbitten, daß

ich meinen Urlaub bis nach der im Herbſt bevorſtehenden Krönung,

alſo über die gegebenen drei Monat hinaus ausdehnen dürfe. Der

König ſagte das in freundlicher Weiſe zu und lud mich perſönlich

zur Tafel.

Nachdem ich den Auguſt und September in Reinfeld und

Stolpmünde zugebracht hatte, traf ich am 13. October in Königs¬

berg ein, wo am 18. die Krönung vor ſich ging.

Während der Feſtlichkeiten ſah ich, daß in der Stimmung der

Königin eine Veränderung vorgegangen war, die vielleicht mit dem

inzwiſchen erfolgten Rücktritt von Schleinitz zuſammenhing. Sie

ergriff die Initiative zur Beſprechung national-deutſcher Politik

mit mir. Ich begegnete dort zum erſten Male dem Grafen Bern¬

ſtorff als Miniſter, der zu einer beſtimmten Entſchließung über

ſeine Politik noch nicht gelangt zu ſein ſchien und mir in unſern

Geſprächen den Eindruck machte, als ringe er nach einer Meinung.

Die Königin zeigte ſich gegen mich freundlicher als ſeit langen

Jahren, ſie zeichnete mich in augenfälliger Weiſe aus, offenbar

über die im Augenblick von dem Könige gewünſchte Linie hinaus.

In einem Moment, der ceremoniell für Unterhaltung kaum Zeit

bot, blieb ſie vor mir, der ich in dem Haufen ſtand, ſtehn und

begann mit mir ein Geſpräch über deutſche Politik, dem der ſie

führende König, ein Zeit lang vergebens, ein Ende zu machen

ſuchte. Das Verhalten beider Herrſchaften bei dieſer und andern

Gelegenheiten bewies, daß damals eine Meinungsverſchiedenheit

über die Behandlung der deutſchen Frage zwiſchen ihnen beſtand;

ich vermuthe, daß Graf Bernſtorff Ihrer Majeſtät nicht ſympathiſch

war. Der König vermied, mit mir über Politik zu reden, wahr¬

ſcheinlich in der Beſorgniß, durch Beziehungen zu mir in eine

reactionäre Beleuchtung zu gerathen. Dieſe Beſorgniß beherrſchte

ihn noch im Mai 1862 und ſogar noch im September 1862. Er

hielt mich für fanatiſcher als ich war. Nicht ohne Einfluß war

[250/0277]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

wohl auch die Erinnerung an meine Kritik der Befähigung des

neuen Cabinets, die ich ihm vor meinem Abgange nach Petersburg

gegeben hatte 1).

III.

Schon in der Berufung des Prinzen Adolf von Hohenlohe-

Ingelfingen zum Vertreter des Miniſterpräſidenten Fürſten Hohen¬

zollern, März 1862, lag eine Art von miniſterieller Wechſelreiterei,

die auf kurze Verfallzeit berechnet war. Der Prinz war ein kluger

Herr, liebenswürdig, dem Könige unbedingt ergeben und hatte ſich

an unſrer innern Politik, wenn auch mehr dilettantiſch, doch leb¬

hafter betheiligt, als die meiſten ſeiner Genoſſen vom ſtandesherr¬

lichen Adel; aber er war der Stelle eines Miniſterpräſidenten in

bewegten Zeiten körperlich und vielleicht auch geiſtig nicht mehr

gewachſen und ſuchte dieſen Eindruck, als ich ihn im Mai 1862 ſah,

mir gegenüber abſichtlich zu verſtärken, während er mich beſchwor,

ihn durch ſchleunige Uebernahme des Miniſteriums von ſeinem

Martyrium zu erlöſen, unter dem er zuſammenbreche.

Ich kam damals noch nicht in die Lage, ſeinen Wunſch er¬

füllen zu können, hatte auch keinen Drang dazu. Schon als ich

von Petersburg nach Berlin berufen wurde, hatte ich nach den

Windungen unſrer parlamentariſchen Politik annehmen können,

daß dieſe Frage an mich herantreten würde. Ich kann nicht ſagen,

daß mich dieſe Ausſicht angeſprochen, thatenfreudig geſtimmt hätte,

mir fehlte der Glaube an dauernde Feſtigkeit Sr. Majeſtät häuslichen

Einflüſſen gegenüber; ich erinnere mich, daß ich in Eydtkuhnen den

Schlagbaum der heimathlichen Grenze nicht mit dem freudigen

Gefühl paſſirte, wie bis dahin bei jedem ähnlichen Vorkommniß.

Ich war bedrückt von der Sorge, ſchwierigen und verantwortlichen

Geſchäften entgegen zu gehn und auf die angenehme und nicht

1)

S. o. S. 210 f.

[251/0278]

Miniſterielle Wechſelreiterei. Ernennung nach Paris.

nothwendig verantwortliche Stellung eines einflußreichen Geſandten

zu verzichten. Dabei konnte ich mir keine ſichre Berechnung machen

von dem Gewicht und der Richtung des Beiſtandes, den ich im

Kampfe mit der ſteigenden Fluth der Parlamentsherrſchaft bei dem

Könige und ſeiner Gemalin, bei den Collegen und im Lande

finden werde. Meine Lage, in Berlin im Gaſthofe wie einer der

intriguirenden Geſandten aus der Manteuffel'ſchen Zeit im Lichte

eines Bewerbers vor Anker zu liegen, widerſtrebte meinem Selbſt¬

gefühl. Ich bat den Grafen Bernſtorff, mir entweder ein Amt

oder meine Entlaſſung zu verſchaffen. Er hatte die Hoffnung,

bleiben zu können, noch nicht aufgegeben, er beantragte und erhielt

in wenig Stunden meine Ernennung nach Paris.

Am 22. Mai 1862 ernannt, übergab ich am 1. Juni in den

Tuilerien mein Beglaubigungsſchreiben. Von dem folgenden Tage

iſt nachſtehender Brief an Roon 1):

„Ich bin glücklich angekommen, wohne hier wie eine Ratte

in der leeren Scheune und bin von kühlem Regenwetter eingeſperrt.

Geſtern hatte ich feierliche Audienz, mit Auffahrt in kaiſerlichen

Wagen, Ceremonie, aufmarſchirten Würdenträgern. Sonſt kurz

und erbaulich, ohne Politik, die auf un de ces jours und Privat¬

audienz verſchoben wurde. Die Kaiſerin ſieht ſehr gut aus, wie

immer. Geſtern Abend kam der Feldjäger, brachte mir aber nichts

aus Berlin, als einige lederne Dinger von Depeſchen über Däne¬

mark. Ich hatte mich auf einen Brief von Ihnen geſpitzt. Aus

einem Schreiben, welches Bernſtorff an Reuß gerichtet hat, erſehe

ich, daß der Schreiber auf meinen dauernden Aufenthalt hier und

den ſeinigen in Berlin mit Beſtimmtheit rechnet, und daß der

König irrt, wenn er annimmt, daß jener je eher, je lieber nach

London zurück verlange. Ich begreife ihn nicht, warum er nicht

ganz ehrlich ſagt, ich wünſche zu bleiben oder ich wünſche zu gehn,

1)

Bismarckbriefe (7. Aufl.) S. 337 f., jetzt auch in Roon's Denkwürdig¬

keiten II 4 91 f.

[252/0279]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

keins von beiden iſt ja eine Schande. Beide Poſten gleichzeitig

zu behalten, iſt ſchon weniger vorwurfsfrei. Sobald ich etwas zu

berichten, d. h. den Kaiſer unter vier Augen geſprochen habe, werde

ich dem Könige eigenhändig ſchreiben. Ich ſchmeichle mir noch

immer mit der Hoffnung, daß ich Seiner Majeſtät weniger unent¬

behrlich erſcheinen werde, wenn ich ihm eine Zeit lang aus den

Augen bin, und daß ſich noch ein bisher verkannter Staatsmann

findet, der mir den Rang abläuft, damit ich hier noch etwas reifer

werde. Ich warte in Ruhe ab, ob und was über mich verfügt

wird. Geſchieht in einigen Wochen nichts, ſo werde ich um Urlaub

bitten, um meine Frau zu holen, muß dann aber doch Sicherheit

haben, wie lange ich hier bleibe. Auf achttägige Kündigung kann

ich mich hier dauernd nicht einrichten.

Der Gedanke, mir ein Miniſterium ohne Portefeuille zu geben,

wird hoffentlich Allerhöchſten Ortes nicht Raum gewinnen; bei der

letzten Audienz war davon nicht die Rede; die Stellung iſt nicht

practiſch; nichts zu ſagen und alles zu tragen haben, in alles

unberufen hineinſtänkern und von jedem abgebiſſen, wo man

wirklich mitreden will. Mir geht Portefeuille über Präſidium;

letztres iſt doch nur eine Reſerveſtellung; auch würde ich nicht gern

einen Collegen haben, der halb in London wohnt. Will er nicht

ganz dahin ziehn, ſo gönne ich ihm von Herzen zu bleiben, wo er

iſt, und halte es nicht für freundſchaftlich, ihn zu drängen.

Herzliche Grüße an die Ihrigen. Ihr treuer Freund und

bereitwilliger, aber nicht muthwilliger Kampfgenoſſe, wenn's ſein

muß; im Winter noch lieber, als bei die Hitze!“

Unter dem 4. Juni ſchrieb mir Roon von Berlin 1):

„... Am Sonntage ſprach mir Schleinitz über den Erſatz für

Hohenlohe und meinte, Ihre Zeit wäre noch nicht gekommen. Als

ich ihn fragte, wer denn als Haupt des Miniſterii fungiren

1)

Der Brief iſt vollſtändig veröffentlicht im Bismarck-Jahrbuch III

233 f., jetzt auch in Roon's Denkwürdigkeiten II 4 93 ff.

[253/0280]

Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.

ſollte, zuckte er die Achſeln, und als ich hinzuſetzte, es bliebe dann

nichts übrig, als daß er ſich ſelbſt erbarmte, ſchlüpfte er darüber

hinweg, nicht abwehrend, nicht zuſtimmend. Daß mich dies be¬

unruhigt, kann Sie nicht wundern. Ich nahm daher geſtern

Gelegenheit, an maßgebender Stelle die Miniſterpräſidenten-Frage

auf die Bahn zu bringen, und fand die alte Hinneigung zu Ihnen

neben der alten Unentſchloſſenheit. Wer kann da helfen? Und

wie ſoll dies enden? — — Keine regierungsfähige Partei! Die

Demokraten ſind ſelbſtverſtändlich ausgeſchloſſen, aber die große

Majorität beſteht aus Demokraten und ſolchen, die es werden

wollen, wenngleich ihr Adreßentwurf von Loyalitätsverſicherungen

trieft. Daneben die Conſtitutionellen, d. h. die Eigentlichen, ein

Häuflein von wenig mehr als 20 Köpfen, Vincke an der Spitze,

circa 15 Conſervative, 30 Katholiken, einige 20 Polen. Wo alſo

findet eine mögliche Regierung die nöthige Unterſtützung? Welche

Parthei kann bei dieſer Gruppirung regieren außer den Demo¬

kraten, und dieſe können es, dürfen es erſt recht nicht. Unter dieſen

Umſtänden, ſo ſagt meine Logik, muß die jetzige Regierung im

Amte bleiben, ſo ſchwierig es auch ſein mag. Und eben deshalb

muß ſie ſich mit Nothwendigkeit verſtärken und zwar je eher, je

lieber. — — Daß Graf Bernſtorff immer zwei große Poſten in

Beſchlag habe, ſcheint mir nun nicht eben durch Preußens Intereſſe

geboten zu ſein. Ich werde mich daher ſehr freuen, wenn Sie

nächſtens zum Miniſterpräſidenten ernannt werden, obgleich ich über¬

zeugt bin, daß B. dann binnen Kurzem aus ſeiner Doppelſtellung

treten und nicht länger den Koloß, 1 Fuß in Berlin, 1 in

London, ſpielen wird. Ich ſchiebe es Ihnen in's Gewiſſen, keinen

Gegenzug zu thun, da er ſchließlich dahin führen könnte und würde,

den König in die offenen Arme der Demokraten zu treiben. — —

Zum 11. ds. M. iſt Hohenlohes Urlaub um. Er wird nicht wieder¬

kommen, ſondern nur ſein Entlaſſungsgeſuch. Und dann, ja dann

hoffe ich, wird der Telegraph Sie herrufen. Alle Patrioten er¬

ſehnen dies. Wie könnten Sie da zaudern und manövriren?“

[254/0281]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

Meine Antwort lautet:

„Paris, Pfingſten 1)62.

Lieber Roon

Ich habe Ihren Brief durch Stein (damals Militär-Bevoll¬

mächtigter) richtig erhalten, offenbar unerbrochen, denn ich konnte

ihn ohne theilweiſe Zerſtörung nicht öffnen. Sie können verſichert

ſein, daß ich durchaus keine Gegenzüge und Manövers mache;

wenn ich nicht aus allen Anzeichen erſähe, daß Bernſtorff garnicht

daran denkt auszuſcheiden, ſo würde ich mit Gewißheit erwarten,

daß ich in wenig Tagen Paris verließe, um über London nach

Berlin zu gehn, und ich würde keinen Finger rühren, um dem

entgegenzuarbeiten. Ich rühre auch ſo keinen; aber ich kann doch

auch nicht den König mahnen, mir Bernſtorffs Stelle zu geben,

und wenn ich ohne Portefeuille einträte, ſo hätten wir, Schleinitz

eingerechnet, drei auswärtige Miniſter, von denen jeder Verant¬

wortung gegenüber der eine ſich ſtündlich in's Hausminiſterium,

der andre nach London zurückzuziehn bereit iſt. Mit Ihnen weiß

ich mich einig, mit Jagow glaube ich es werden zu können, die

Fachminiſterien würden mir nicht Anſtoß geben; über auswärtige

Dinge aber habe ich ziemlich beſtimmte Anſichten; Bernſtorff vielleicht

auch, aber ich kenne ſie nicht, und vermag mich in ſeine Methode

und ſeine Formen nicht einzuleben, ich habe auch kein Vertrauen

zu ſeinem richtigen Augenmaß für die politiſchen Dinge, er alſo

vermuthlich zu dem meinigen auch nicht. So ſehr lange kann

die Ungewißheit übrigens nicht mehr dauern; ich warte bis nach

dem 11., ob der König bei der Auffaſſung vom 26. v. M. 2)bleibt

oder ſich anderweit verſorgt. Geſchieht bis dahin nichts, ſo ſchreibe

ich Sr. M. in der Vorausſetzung, daß mein hieſiges Verhältniß

definitiv wird, und ich meine häuslichen Einrichtungen danach treffe,

1) 8. bez. 9. Juni, Bismarckbriefe (7. Aufl.) 339 f., Roon's Denkwürdig¬

keiten II 4 95 ff.

2)

Tag der letzten Audienz auf Schloß Babelsberg vor der Abreiſe

nach Paris.

[255/0282]

Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.

mindeſtens bis zum Winter oder länger hier zu bleiben. Meine

Sachen und Wagen ſind noch in Petersburg, ich muß ſie irgendwo

unterbringen; außerdem habe ich die Gewohnheiten eines achtbaren

Familienvaters, zu denen gehört, daß man irgendwo einen feſten

Wohnſitz hat, und der fehlt mir eigentlich ſeit Juli v. J., wo mir

Schleinitz zuerſt ſagte, daß ich verſetzt würde. Sie thun mir Unrecht,

wenn Sie glauben, daß ich mich ſträube; ich habe im Gegentheil

lebhafte Anwandlungen von dem Unternehmungsgeiſt jenes Thieres,

welches auf dem Eiſe tanzen geht, wenn ihm zu wohl wird. —

Ich bin den Adreßdebatten einigermaßen gefolgt und habe

den Eindruck, daß ſich die Regirung in der Commiſſion, vielleicht

auch im Plenum, mehr hergegeben hat, als nützlich war. Was

liegt eigentlich an einer ſchlechten Adreſſe? Die Leute glauben mit

der angenommnen einen Sieg erfochten zu haben. In einer Adreſſe

führt eine Kammer Manöver mit markirtem Feinde und Platz¬

patronen auf. Nehmen die Leute das Scheingefecht für ernſten

Sieg und zerſtreuen ſich plündernd und marodirend auf Königlichem

Rechtsboden, ſo kommt wohl die Zeit, daß der markirte Feind ſeine

Batterien demaskirt und ſcharf ſchießt. Ich vermiſſe etwas Gemüth¬

lichtkeit in unſrer Auffaſſung; Ihr Brief athmet ehrlichen Krieger¬

zorn, geſchärft von des Kampfes Staub und Hitze. Sie haben,

ohne Schmeichelei, vorzüglich geantwortet, aber es iſt eigentlich

ſchade drum, die Leute verſtehn kein Deutſch. Unſern freund¬

lichen Nachbar hier habe ich ruhig und behäbig gefunden, ſehr

wohlwollend für uns, ſehr geneigt, die Schwierigleiten der ‚deutſchen

Frage‘ zu beſprechen; er kann ſeine Sympathien keiner der be¬

ſtehenden Dynaſtien verſagen, aber er hofft, daß Preußen die große

ihm geſtellte Aufgabe mit Erfolg löſen werde, die deutſche näm¬

lich, dann werde die Regirung auch im Innern Vertrauen gewinnen.

Lauter ſchöne Worte. Um zu erklären, daß ich mich bisher nicht

recht wohnlich einrichte, ſage ich den Fragern, daß ich in Kurzem

für einige Monat Urlaub zu nehmen denke, um dann mit meiner

Frau wiederzukommen.

[256/0283]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

10. Juni. Die Antwort Sr. M. auf die Adreſſe macht in

ihrer zurückhaltenden Gemeſſenheit einen ſehr würdigen Eindruck,

und kühl, keine Gereiztheit. Anſpielungen auf Schleinitz' Eintritt

für Hohenlohe finden ſich in mehren Blättern. Ich gönne es ihm

von Herzen, und Hausminiſter bleibt er dabei doch.

Ich ſchicke dieſen Brief morgen mit dem Feldjäger, der dann

in Aachen bleibt, bis er wieder etwas aus Berlin herzubringen

bekommt. Meine Empfehlungen an Ihre Damen; den Meinigen

geht es gut. In alter Treue

Ihr

v. B.“

Am 26. Juni hatte der Kaiſer mich nach Fontainebleau ein¬

geladen und machte mit mir einen längern Spaziergang. Im

Laufe der Unterhaltung über politiſche Fragen des Tages und der

letzten Jahre fragte er mich unerwartet, ob ich glaubte, daß der

König geneigt ſein würde, auf eine Allianz mit ihm einzugehn.

Ich antwortete, der König hätte die freundſchaftlichſten Geſinnungen

für ihn, und die Vorurtheile, die früher in der öffentlichen Meinung

bei uns in Betreff Frankreichs geherrſcht hätten, ſeien ſo ziemlich

verſchwunden; aber Allianzen ſeien das Ergebniß der Umſtände,

nach denen das Bedürfniß oder die Nützlichkeit zu beurtheilen ſei.

Eine Allianz ſetze ein Motiv, einen beſtimmten Zweck voraus.

Der Kaiſer beſtritt die Nothwendigkeit einer ſolchen Vorausſetzung;

es gäbe Mächte, die freundlich zu einander ſtänden, und andre,

bei denen das weniger der Fall ſei. Angeſichts einer ungewiſſen

Zukunft müſſe man ſein Vertrauen nach irgend einer Seite richten.

Er ſpreche von einer Allianz nicht mit der Abſicht eines abenteuer¬

lichen Projects; aber er finde zwiſchen Preußen und Frankreich

eine Conformität der Intereſſen und darin die Elemente einer

entente intime et durable. Es würde ein großer Fehler ſein, die

Ereigniſſe ſchaffen zu wollen; man könne ihre Richtung und

Stärke nicht vorausberechnen, aber man könne ſich ihnen gegenüber

einrichten, se prémunir, en avisant aux moyens, pour y faire face

[257/0284]

Napoleon ſchlägt ein franzöſiſch-preußiſches Bündniß vor.

et en profiter. Dieſer Gedanke einer „diplomatiſchen Allianz“,

in welcher man die Gewohnheit gegenſeitigen Vertrauens annähme

und für ſchwierige Lagen auf einander zu rechnen lernte, wurde

von dem Kaiſer weiter ausgeſponnen. Dann plötzlich ſtehen blei¬

bend, ſagte er:

„Sie können Sich nicht vorſtellen, quelles singulières ouver¬

tures m'a fait faire l'Autriche, il y a peu de jours. Es ſcheint,

daß das Zuſammentreffen Ihrer Ernennung und der Ankunft des

Herrn von Budberg in Paris einen paniſchen Schrecken in Wien

erzeugt hat. Der Fürſt Metternich hat mir geſagt, er habe In¬

ſtructionen erhalten, die ſo weit gingen, daß er ſelbſt darüber er¬

ſchrocken ſei; er habe unbegrenzte Vollmachten, wie ſie je ein Sou¬

verain ſeinem Vertreter anvertraut, in Betreff aller und jeder Frage,

die ich anregen würde, ſich mit mir um jeden Preis zu verſtändigen.

Ich wurde durch dieſe Eröffnung in einige Verlegenheit geſetzt,

denn abgeſehn von der Unverträglichkeit der Intereſſen beider

Staaten habe ich eine faſt abergläubiſche Abneigung dagegen, mich

mit den Geſchicken Oeſtreichs zu verflechten“ 1).

Ganz aus der Luft gegriffen konnten dieſe Auslaſſungen des

Kaiſers nicht ſein, wenn er auch erwarten durfte, daß ich meine

geſellſchaftlichen Beziehungen zu Metternich nicht bis zum Bruch

des mir gewährten Vertrauens ausnutzen werde. Unvorſichtig war

dieſe Eröffnung an den Preußiſchen Geſandten jedenfalls, mochte

ſie wahr oder übertrieben ſein. Ich war ſchon in Frankfurt zu

der Ueberzeugung gelangt, daß die Wiener Politik unter Umſtänden

vor keiner Combination zurückſchrecke; daß ſie Venetien oder das

linke Rheinufer opfern würde, wenn damit auf dem rechten eine

Bundesverfaſſung mit geſichertem Uebergewicht Oeſtreichs über

Preußen zu erkaufen ſei, daß die deutſche Phraſe in der Hofburg

1)

Man vergleiche damit den faſt wörtlich übereinſtimmenden Bericht

vom 28. Juni 1862 an Bernſtorff, der dem Fürſten Bismarck bei der Auf¬

zeichnung ſeiner Erinnerungen nicht vorgelegen hat. Bismarck-Jahrbuch

VI 152 ff.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 17

[258/0285]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

ihren Cours habe, ſo lange man ſie als Leitſeil für uns oder die

Würzburger gebrauchte. Wenn eine franzöſiſch-öſtreichiſche Coa¬

lition nicht ſchon jetzt gegen uns beſtände, ſo hätten wir das nicht

Oeſtreich, ſondern Frankreich zu danken, und nicht einer etwaigen

Vorliebe Napoleons für uns, ſondern ſeinem Mißtrauen, ob Oeſt¬

reich im Stande ſein werde, mit dem zur Zeit mächtigen Winde

der Nationalität zu ſegeln. Aus alledem zog ich in dem Berichte,

den ich dem Könige erſtattete, nicht die Conſequenz, daß wir

irgend ein Bündniß mit Frankreich jetzt zu ſuchen hätten, wohl aber

die, daß wir auf treue Bundesgenoſſenſchaft Oeſtreichs gegen Frank¬

reich nicht zählen dürften und nicht hoffen könnten, die freie Zu¬

ſtimmung Oeſtreichs zur Verbeſſerung unſrer Stellung in Deutſch¬

land zu erlangen.

In Ermanglung jeder Art politiſcher Aufträge und Geſchäfte

ging ich auf kurze Zeit nach England und trat am 25. Juli eine

längere Reiſe durch das ſüdliche Frankreich an. In dieſe Zeit fällt

die nachſtehende Correſpondenz.

„Paris, 15. July 62 1).

Lieber Roon

Ich habe mir neulich viele Fragen darüber vorgelegt, warum Sie

telegraphiſch Sich erkundigten, ob ich Ihren Brief vom 26. [v. M.]

erhalten hätte. Ich habe nicht darauf geantwortet, weil ich etwas

Neues über den Hauptgegenſtand nicht geben, ſondern nur empfangen

konnte. Seitdem iſt mir ein Courier zugegangen, der mir ſeit

14 Tagen telegraphiſch angemeldet war und in deſſen Erwartung

ich 8 Tage zu früh von England zurückkam. Er brachte einen

Brief von Bernſtorff, in Antwort auf ein Urlaubsgeſuch von mir.

Ich bin hier jetzt überflüſſig, weil kein Kaiſer, kein Miniſter, kein

Geſandter mehr hier iſt. Ich bin nicht ſehr geſund, und dieſe

proviſoriſche Exiſtenz mit Spannung auf ‚ob und wie‘ ohne eigent¬

1)

Bismarckbriefe (7. Aufl.) S. 347 ff., Roon's Denkwürdigkeiten II4

[259/0286]

Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.

liche Geſchäfte beruhigt die Nerven nicht. Ich ging meiner Anſicht

nach auf 10 bis 14 Tage her, und bin nun 7 Wochen hier, ohne

je zu wiſſen, ob ich in 24 Stunden noch hier wohne. Ich will mich

dem Könige nicht aufdrängen, indem ich in Berlin vor Anker liege,

und gehe nicht nach Hauſe, weil ich fürchte, auf der Durchreiſe

durch Berlin im Gaſthof auf unbeſtimmte Zeit angenagelt zu werden.

Aus Bernſtorffs Brief 1)erſehe ich, daß es dem Könige vor der Hand

nicht gefällt, mir das Auswärtige zu übertragen, und daß Se. Ma¬

jeſtät ſich noch nicht über die Frage ſchlüſſig gemacht hat, ob ich

an Hohenlohes Stelle treten ſoll, dieſe Frage aber auch nicht durch

Ertheilung eines Urlaubs auf 6 Wochen negativ präjudiciren will.

Der König iſt, wie mir Bernſtorff ſchreibt, zweifelhaft, ob ich

während der gegenwärtigen Seſſion nützlich ſein könne und ob

nicht meine Berufung, wenn ſie überhaupt erfolgt, zum Winter

aufzuſchieben ſei. Unter dieſen Umſtänden wiederhole ich heut

mein Geſuch um 6 Wochen Urlaub 2), was ich mir wie folgt moti¬

vire. Einmal bin ich wirklich einer körperlichen Stärkung durch

Berg- und Seeluft bedürftig; wenn ich in die Galeere eintreten

ſoll, ſo muß ich etwas Geſundheitsvorrath ſammeln, und Paris iſt

mir bis jetzt ſchlecht bekommen mit dem Hunde-Bummel-Leben als

Garçon. Zweitens muß der König Zeit haben, ſich ruhig aus

eigner Bewegung zu entſchließen, ſonſt macht Se. Majeſtät für die

Folgen die verantwortlich, die ihn drängen. Drittens will Bern¬

ſtorff jetzt nicht abgehn, der König hat ihn wiederholt aufgefordert

zu bleiben, und erklärt, daß er mit mir wegen des Auswärtigen

garnicht geſprochen habe; die Stellung als Miniſter ohne Porte¬

feuille finde ich aber nicht haltbar. Viertens kann mein Eintritt,

der jetzt zwecklos und beiläufig erſcheinen würde, in einem ſpätern

Moment als eindrucksvolles Manöver verwerthet werden.

Ich denke mir, daß das Miniſterium allen Streichungen im

1)

Vom 12. Juli, Bismarck-Jahrbuch VI 155 f.

2)

Brief an Bernſtorff vom 15. Juli, Bismarck-Jahrbuch VI 156 ff.

[260/0287]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

Militäretat ruhig und deutlich opponirt, aber keine Kriſis über die¬

ſelben herbeiführt, ſondern die Kammer das Budget vollſtändig

durchberathen läßt. Das wird, wie ich annehme, im September

geſchehn ſein. Dann geht das Budget, von dem ich vorausſetze,

daß es für die Regirung nicht annehmbar iſt, an das Herrenhaus,

falls man ſicher iſt, daß die verſtümmelte Budget-Vorlage dort

abgelehnt wird. Dann, oder andernfalls ſchon vor der Berathung

im Herrenhauſe, könnte man es, mit einer Königlichen Botſchaft,

welche mit ſachlicher Motivirung die Zuſtimmung der Krone zu

einem derartigen Budgetgeſetz verweigert, an die Abgeordneten

zurückgeben, mit der Aufforderung zu neuer Berathung. Eine

30tägige Vertagung des Landtages würde vielleicht an dieſem

Punkte, oder ſchon früher, einzuſchalten ſein. Je länger ſich die

Sache hinzieht, deſto mehr ſinkt die Kammer in der öffentlichen

Achtung, da ſie den Fehler begangen hat und noch weiter begehn

wird, ſich in alberne Kleinigkeiten zu verbeißen, und da ſie keinen

Redner hat, der nicht die Langeweile des Publikums vermehrte.

Kann man ſie dahin bringen, daß ſie ſich in ſolche Lappalie wie

die Continuität des Herrenhauſes verbeißt und darüber Krieg an¬

fängt und die Erledigung der eigentlichen Geſchäfte verſchleppt, ſo

iſt es ein großes Glück. Sie wird müde werden, hoffen, daß der

Regirung der Athem ausgeht, und die Kreisrichter müſſen mit den

Koſten ihrer Stellvertretung geängſtigt werden. Wenn ſie mürbe

wird, fühlt, daß ſie das Land langweilt, dringend auf Conceſſionen

Seitens der Regirung hofft, um aus der ſchiefen Stellung erlöſt

zu werden, dann iſt m. E. der Moment gekommen, ihr durch

meine Ernennung zu zeigen, daß man weit entfernt iſt, den Kampf

aufzugeben, ſondern ihn mit friſchen Kräften aufnimmt. Das

Zeigen eines neuen Bataillons in der miniſteriellen Schlachtordnung

macht dann vielleicht einen Eindruck, der jetzt nicht erreicht würde;

beſonders wenn vorher etwas mit Redensarten von Octroyiren und

Staatsſtreicheln geraſſelt iſt, ſo hilft mir meine alte Reputation

von leichtfertiger Gewaltthätigkeit, und man denkt ‚nanu geht's

[261/0288]

Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.

los‘. Dann ſind alle Centralen und Halben zum Unterhandeln

geneigt.

Das Alles beruht mehr auf inſtinctivem Gefühl, als daß ich

beweiſen könnte, es ſei ſo; und ich gehe nicht ſo weit, zu irgend

etwas, das mir der König befiehlt, deshalb auf eigne Fauſt nein

zu ſagen. Wenn ich aber um meine Anſicht gefragt werde, ſo bin

ich dafür, noch einige Monat hinter dem Buſch gehalten zu werden.

Vielleicht iſt dieß Alles Rechnung ohne den Wirth, vielleicht

entſchließt ſich Se. Majeſtät niemals dazu, mich zu ernennen, denn

ich ſehe nicht ein, warum es überhaupt geſchehn ſollte, nachdem es

ſeit 6 Wochen nicht geſchehn iſt. Daß ich aber hier den heißen

Staub von Paris ſchlucken, in Cafés und Theatern gähnen, oder

mich in Berlin wieder als politiſcher Dilettant in's Hôtel Royal ein¬

lagern ſoll, dazu fehlt aller Grund, die Zeit iſt beſſer im Bade zu

verwenden.

Ich bin doch erſtaunt von der politiſchen Unfähigkeit unſrer

Kammern, und wir ſind doch ein ſehr gebildetes Land; ohne Zweifel

zu ſehr; die Andern ſind beſtimmt auch nicht klüger, als die Blüthe

unſrer Klaſſenwahlen, aber ſie haben nicht dieß kindliche Selbſt¬

vertrauen, mit dem die Unſrigen ihre unfähigen Schamtheile in voller

Nacktheit als muſtergültig an die Oeffentlichkeit bringen. Wie ſind

wir Deutſchen doch in den Ruf ſchüchterner Beſcheidenheit gekommen?

Es iſt Keiner unter uns, der nicht vom Kriegführen bis zum Hunde¬

flöhen alles beſſer verſtände, als ſämmtliche gelernte Fachmänner,

während es doch in andern Ländern Viele giebt, die einräumen, von

manchen Dingen weniger zu verſtehn als Andre, und deshalb ſich

beſcheiden und ſchweigen.

Den 16. Ich muß heut ſchleunig ſchließen, nachdem meine

Zeit von andern Geſchäften fortgenommen iſt.

Mit herzlichen Empfehlungen an die Ihrigen bin ich in alter

Treue

Ihr

v. B.“

[262/0289]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

Roon antwortete mir am 31. Auguſt 1862:

„Mein lieber Bismarck,

Sie werden ſich ungefähr denken können, warum ich Ihnen

bisher nicht geantwortet; ich hoffte und hoffte immer wieder auf

eine Entſcheidung oder doch auf eine Situation, welche eine akute

Löſung herbeiführen müßte. Leider haben meine, unſere Leiden

noch immer einen ganz chroniſchen Charakter. Jetzt iſt ein neues

Moment — die Freiſprechung der Verleumder von der Heydts —

hinzugetreten, aber auch das wird ſich im märkiſchen Sande ver¬

laufen. Ich habe mich der misère générale auf einige Tage ent¬

zogen, als ich bei der Abreiſe des Königs nach D(oberan) hierher

(Zimmerhauſen) floh, um Hühner zu ſchießen. Bernſtorff, den ich

vor 3-4 Wochen ganz entſchloſſen fand, ſeinen Poſten zu ver¬

laſſen, der ihm viel zu ſchwer und ſauer wird, ſagte mir vor

8 Tagen, daß er doch nicht wiſſe, ob er nach dem Schluß der

parlamentariſchen Seſſion nicht dem Wunſche des Königs (falls

er ausgeſprochen werden ſollte) werde nachgeben und bleiben müſſen,

wiewohl ſeine Sehnſucht nach Erlöſung nicht erloſchen ſei, d. h.

in die Wirklichkeit überſetzt, die Seſſion hat ſich ſo lange hinge¬

zogen, daß ihr Schluß vorausſichtlich mit der Entbindung der

Gräfin ungefähr zuſammenfallen wird; daß daher eine Verſetzungs¬

reiſe im Winter alsdann noch viel weniger paſſen würde als ohne

dies. Schon früher ſagte er mir nämlich, daß ſeine Verſetzung

nach London ſpäteſtens im September ſtattfinden müſſe, wenn ſie

für ihn annehmlich ſein ſollte. Dieſe vielleicht verdammliche Selbſt¬

ſucht auf der einen und die Unentſchloſſenheit des Königs auf der

anderen Seite, verbunden mit v. d. Heydts Anſicht, daß er ſich

zwar einen Präſidenten, nicht aber einen ſolchen aus der Zahl

jüngerer Collegen gefallen laſſen könne und werde, läßt mich zu

der früheren Behauptung zurückkehren, daß Sie als Miniſter¬

präſident und zwar vorläufig ohne Portefeuille eintreten müſſen;

letzteres wird ſich ſpäter von ſelbſt finden. Daß wir in die Winter¬

[263/0290]

Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.

ſeſſion in der bisherigen Unvollſtändigkeit und Unzulänglichkeit ein¬

treten ſollten, halte ich für ganz widerſinnig und unmöglich, und

zu dieſer Meinung habe ich mehr als eine allerhöchſte Zuſtimmung.

Gefochten muß und gefochten wird werden. An Conceſſionen und

Compromiſſe iſt gar nicht zu denken; am wenigſten iſt der König

dazu geneigt. Gefährliche Kataſtrophen ſind daher mit Sicherheit

vorauszuſehen, auch ganz abgeſehen von den Verwickelungen in

unſerer äußeren Politik, die ſchon jetzt einige recht intereſſante

Verhedderungen aufzuweiſen hat. — Ich kann mir denken, daß

Sie, mein alter Freund, ſehr disguſtirt ſind; ich kann an meinem

eigenen Ekel den Ihrigen ermeſſen. Aber ich hoffe noch immer,

daß Sie um deswillen nicht boudiren, ſondern ſich vielmehr der

altritterlichen Pflicht erinnern werden, den König herauszuhauen,

auch wenn er, wie geſchehen, ſich muthwillig in Gefahr begab.

Aber Sie ſind ein Menſch, und was mehr iſt, ein Gatte und

Familienvater. Sie wollen, neben aller Arbeit, auch eine Häus¬

lichkeit und ein Familienleben. Sie haben ein Recht darauf, c'est

convenu! Sie müſſen alſo wiſſen, bald wiſſen, wo Ihr Bett und

Ihr Schreibtiſch aufgeſtellt werden ſoll, ob in Paris oder Berlin.

Und das Wort des Königs, daß Sie ſich in Berlin nicht etabliren

ſollen, iſt bis jetzt, ſoviel ich weiß, noch nicht zurückgenommen.

Sie müſſen Gewißheit haben. Ich will das Meinige — und zwar

nicht blos aus Selbſtſucht, ſondern aus patriotiſchem Intereſſe —

dazu beitragen, daß Ihnen dieſe Gewißheit baldigſt werde. Ich

fingire daher, und zwar ſo lange, bis Sie es mir unterſagen, von

Ihnen zur Herbeiführung dieſer Gewißheit privatim beauftragt zu

ſein. Nach den letzten Unterredungen mit Serenissimo über Sie

habe ich ohnehin mein ſpezielles perſönliches Intereſſe für Sie be¬

reits verwerthen müſſen. Ich kann daher auch von Ihrer un¬

erträglichen Situation ſprechen, die beſonders darin begründet iſt,

daß Sie ausdrücklich verhindert werden, Sich in Paris zu etabliren.

Dergleichen Motive werden verſtanden, wirken daher vielleicht mehr

als politiſche Erwägungen. Ich fingire daher Ihr Einverſtändniß

[264/0291]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

und rathe, Sie einſtweilen zum Miniſter-Präſidenten ohne Porte¬

feuille zu ernennen, was ich bisher vermieden; es geht nicht anders!

Wollen Sie dies abſolut nicht, ſo desavouiren Sie mich oder ge¬

bieten Sie mir Schweigen. Ich ſpreche den Herrn am 7. in einer

ganz vertraulichen Audienz, die er mir für dieſen Tag bei ſeiner

Durchreiſe nach Carlsruhe zur Taufe (am 9./9.) zugeſagt hat. Sie

haben alſo auch noch Zeit zum Proteſtiren.

Von der allgemeinen Situation will ich heut nicht reden.

Die innere Kataſtrophe wird jetzt nicht ſtattfinden, wie ich ver¬

muthe, ſondern erſt im Frühjahr, und da müſſen Sie nothwendig

dabei ſein. Sie wird über unſere Zukunft endgültig entſcheiden. ...

Ihr

v. Roon.“ 1)

Ich erwiderte:

„Toulouſe, 12. September 62.

Meine Kreuz- und Querzüge in den Pyrenäen haben gemacht,

daß ich Ihren Brief vom 31. [Auguſt] erſt heut hier vorfinde. Ich

hatte auch auf einen von Bernſtorff gehofft, der mir vor vier

Wochen ſchrieb, daß ſich im September die Frage wegen des Perſonal¬

wechſels jedenfalls entſcheiden müſſe. Ihre Zeilen laſſen mich leider

vermuthen, daß die Ungewißheit um Weihnachten noch dieſelbe ſein

wird wie jetzt. Meine Sachen liegen noch in Petersburg und werden

dort einfrieren, meine Wagen ſind in Stettin, meine Pferde bei

Berlin auf dem Lande, meine Familie in Pommern, ich ſelbſt auf

der Landſtraße. Ich gehe jetzt nach Paris zurück, obſchon ich dort

weniger wie je zu thun habe, mein Urlaub iſt aber um. Mein

Plan iſt nun, Bernſtorff vorzuſchlagen, daß ich nach Berlin komme,

um das Weitre mündlich zu beſprechen 2). Ich habe das Bedürfniß,

einige Tage in Reinfeld zu ſein, nachdem ich die Meinigen ſeit

1) S. Bismarck-Jahrbuch III 237 f., jetzt auch Roon's Denkwürdigkeiten

II4 109 ff.

2) Geſchah in einem Briefe von Montpellier aus am gleichen Tage,

Bismarck-Jahrbuch VI 162 ff.

[265/0292]

Briefwechſel mit Roon über den Eintritt ins Miniſterium.

dem 8. Mai nicht geſehn habe. Bei der Gelegenheit muß ich in's

Klare kommen. Ich wünſche nichts lieber, als in Paris zu bleiben,

nur muß ich wiſſen, daß ich Umzug und Einrichtung nicht auf

einige Wochen oder Monate bewirke, dazu iſt mein Hausſtand zu

groß. Ich habe mich niemals geweigert, das Präſidium ohne Porte¬

feuille anzunehmen, ſobald es der König befiehlt; ich habe nur ge¬

ſagt, daß ich die Einrichtung für eine unzweckmäßige halte. Ich

bin noch heut bereit, ohne Portefeuille einzutreten, aber ich ſehe

garkeine ernſtliche Abſicht dazu. Wenn mir Se. Majeſtät ſagen

wollte: am 1. November, oder 1. Januar, oder 1. April — ſo

wüßte ich, woran ich wäre, und bin wahrlich kein Schwierigkeits¬

macher, ich verlange nur [FORMEL] der Rückſicht, die Bernſtorff ſo

reichlich gewährt wird. In dieſer Ungewißheit verliere ich alle

Luſt an den Geſchäften, und ich bin Ihnen von Herzen dankbar

für jeden Freundſchaftsdienſt, den Sie mir leiſten, um ihr ein Ende

zu machen. Gelingt dieß nicht bald, ſo muß ich die Dinge nehmen,

wie ſie liegen, und mir ſagen, ich bin des Königs Geſandter in

Paris, laſſe zum 1. October Kind und Kegel dorthinkommen und

richte mich ein. Iſt das geſchehn, ſo kann Se. Majeſtät mich

des Dienſtes entlaſſen, aber nicht mehr zwingen, nun ſofort wieder

umzuziehn; lieber gehe ich nach Hauſe aufs Land, dann weiß ich,

wo ich wohne. Ich habe in meiner Einſamkeit die alte Geſund¬

heit mit Gottes Hülfe wiedergewonnen, und befinde mich wie ſeit

10 Jahren nicht, von unſrer politiſchen Welt aber habe ich kein

Wort gehört; daß der König in Doberan war, ſehe ich heut aus

einem Briefe meiner Frau, ſonſt könnte ich das D. in dem Ihrigen

nicht deuten. Ebenſo hatte ich nicht gehört, daß er zum 13. nach

Karlsruhe geht. Ich würde Se. Majeſtät dort nicht mehr treffen,

wenn ich mich hinbegeben wollte, auch weiß ich aus Erfahrung,

daß ſolche Erſcheinungen nicht willkommen ſind; der Herr ſchließt

daraus auf ehrgeizig drängende Abſichten bei mir, die mir weiß

Gott fern liegen. Ich bin ſo zufrieden, Sr. Majeſtät Geſandter

in Paris zu ſein, daß ich nichts erbitten möchte, als die Gewißheit,

[266/0293]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

es wenigſtens bis 1875 zu ſein. Schaffen Sie mir dieſe oder jede

andre Gewißheit, und ich male Engelsflügel an Ihre Photographie! —

Was verſtehn Sie unter ‚Ende dieſer Seſſion‘? Läßt ſich

das ſo beſtimmt vorausſehn, wird ſie nicht in die Winterſeſſion

ohne Pauſe übergehn? Und kann man die Kammern ſchließen

ohne Reſultat über das Budget? Ich will die Frage nicht grade

verneinen, es kommt auf den Feldzugsplan an.

Ich reiſe eben nach Montpellier ab, von dort über Lyon nach

Paris. Bitte ſchreiben Sie mir dahin, und grüßen Sie herzlich

die Ihrigen. In treuer Freundſchaft Ihr v. B.“ 1)

In Paris erhielt ich folgendes Telegramm, deſſen Unterſchrift

auf einer Verabredung beruhte:

Berlin, le 18 Septembre.

Periculum in mora. Dépêchez-vous.

L'oncle de Maurice Henning.

Henning war der zweite Vorname Moritz Blanckenburgs, des

Neffen von Roon. Obwohl es die Faſſung zweifelhaft ließ, ob die

Aufforderung aus der eignen Initiative Roons hervorgegangen oder

von dem Könige veranlaßt war, zögerte ich nicht abzureiſen.

Am 20. September Morgens in Berlin angelangt, wurde

ich zu dem Kronprinzen beſchieden. Auf ſeine Frage, wie ich die

Situation anſähe, konnte ich nur ſehr zurückhaltend antworten,

weil ich während der letzten Wochen keine deutſchen Zeitungen ge¬

leſen und in einer Art von dépit mich über heimiſche Angelegen¬

heiten nicht informirt hatte. Meine Verſtimmung hatte ihren Grund

darin, daß der König mir in Ausſicht geſtellt hatte, mir in ſpäteſtens

ſechs Wochen Gewißheit über meine Zukunft, d. h. darüber zu geben,

ob ich in Berlin, Paris oder London mein Domizil haben ſollte,

daß darüber aber ſchon ein Vierteljahr verfloſſen war, und ich im

1)

S. Bismarckbriefe (7. Aufl.) S. 359 ff., Roon's Denkwürdigkeiten

II 4 117 ff.

[267/0294]

Berufung nach Berlin. In Babelsberg.

Herbſt noch immer nicht wußte, wo ich im Winter wohnen würde.

Ich war mit der Situation in ihren Einzelheiten nicht ſo vertraut,

daß ich dem Kronprinzen ein programmartiges Urtheil hätte abgeben

können; außerdem hielt ich mich auch nicht für berechtigt, mich

gegen ihn früher zu äußern als gegen den König. Den Eindruck,

den die Thatſache meiner Audienz gemacht hatte, erſah ich zunächſt

aus der Mittheilung Roons, daß der König mit Bezug auf mich

zu ihm geſagt habe: „Mit dem iſt es auch nichts, er iſt ja ſchon

bei meinem Sohne geweſen.“ Die Tragweite dieſer Aeußerung wurde

mir nicht ſofort verſtändlich, weil ich nicht wußte, daß der König

ſich mit dem Gedanken der Abdication trug und vorausſetzte, daß

ich davon gewußt oder etwas vermuthet hätte und mich deshalb

mit ſeinem Nachfolger zu ſtellen geſucht habe.

In der That war mir jeder Gedanke an Abdication des Königs

fremd, als ich am 22. September in Babelsberg empfangen wurde,

und die Situation wurde mir erſt klar, als Se. Majeſtät ſie un¬

gefähr mit den Worten präciſirte: „Ich will nicht regiren, wenn

ich es nicht ſo vermag, wie ich es vor Gott, meinem Gewiſſen

und meinen Unterthanen verantworten kann. Das kann ich aber

nicht, wenn ich nach dem Willen der heutigen Majorität des Land¬

tags regiren ſoll, und ich finde keine Miniſter mehr, die bereit

wären, meine Regirung zu führen, ohne ſich und mich der parla¬

mentariſchen Mehrheit zu unterwerfen. Ich habe mich deshalb

entſchloſſen, die Regirung niederzulegen, und meine Abdications¬

urkunde, durch die angeführten Gründe motivirt, bereits entworfen.“

Der König zeigte mir das auf dem Tiſche liegende Actenſtück in

ſeiner Handſchrift, ob bereits vollzogen oder nicht, weiß ich nicht.

Se. Majeſtät ſchloß, indem er wiederholte, ohne geeignete Miniſter

könne er nicht regiren.

Ich erwiderte, es ſei Sr. Majeſtät ſchon ſeit dem Mai be¬

kannt, daß ich bereit ſei, in das Miniſterium einzutreten, ich ſei

gewiß, daß Roon mit mir bei ihm bleiben werde, und ich zweifelte

nicht, daß die weitre Vervollſtändigung des Cabinets gelingen werde,

[268/0295]

Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.

falls andre Mitglieder ſich durch meinen Eintritt zum Rücktritt be¬

wogen finden ſollten. Der König ſtellte nach einigem Erwägen

und Hin- und Herreden die Frage, ob ich bereit ſei, als Miniſter

für die Militär-Reorganiſation einzutreten, und nach meiner Be¬

jahung die weitre Frage, ob auch gegen die Majorität des Land¬

tages und deren Beſchlüſſe. Auf meine Zuſage erklärte er ſchließlich:

„Dann iſt es meine Pflicht, mit Ihnen die Weiterführung des Kampfes

zu verſuchen, und ich abdicire nicht.“ Ob er das auf dem Tiſche

liegende Schriftſtück vernichtet oder in rei memoriam aufbewahrt

hat, weiß ich nicht.

Der König forderte mich auf, ihn in den Park zu begleiten.

Auf dieſem Spaziergange gab er mir ein Programm zu leſen,

das in ſeiner engen Schrift acht Folioſeiten füllte, alle Eventuali¬

täten der damaligen Regirungspolitik umfaßte und auf Details

wie die Reform der Kreistage einging. Ich laſſe es dahin ge¬

ſtellt ſein, ob dieſes Elaborat ſchon Erörterungen mit meinen Vor¬

gängern zur Unterlage gedient hatte, oder ob es zur Sicherſtellung

gegen eine mir zugetraute conſervative Durchgängerei dienen ſollte.

Ohne Zweifel war, als er damit umging mich zu berufen, eine

Befürchtung der Art in ihm von ſeiner Gemalin geweckt worden,

von deren politiſcher Begabung er urſprünglich eine hohe Meinung

hatte, die aus der Zeit datirte, wo Sr. Majeſtät nur eine kron¬

prinzliche Kritik der Regirung des Bruders, ohne Pflicht zu eigner

beſſerer Leiſtung, zugeſtanden hatte. In der Kritik war die Prin¬

zeſſin ihrem Gemal überlegen. Die erſten Zweifel an dieſer gei¬

ſtigen Ueberlegenheit waren ihm gekommen, als er genöthigt war,

nicht mehr nur zu kritiſiren, ſondern ſelbſt zu handeln und die

amtliche Verantwortung für das Beſſermachen zu tragen. Sobald

die Aufgaben beider Herrſchaften praktiſch wurden, hatte der ge¬

ſunde Verſtand des Königs begonnen, ſich allmälig von der

ſchlagfertigen weiblichen Beredſamkeit mehr zu emancipiren.

Es gelang mir, ihn zu überzeugen, daß es ſich für ihn nicht

um Conſervativ oder Liberal in dieſer oder jener Schattirung,

[269/0296]

Ernennung zum Staatsminiſter.

ſondern um Königliches Regiment oder Parlamentsherrſchaft handle,

und daß die letztre unbedingt und auch durch eine Periode der

Dictatur abzuwenden ſei. Ich ſagte: „In dieſer Lage werde ich,

ſelbſt wenn Eure Majeſtät mir Dinge befehlen ſollten, die ich nicht

für richtig hielte, Ihnen zwar dieſe meine Meinung offen ent¬

wickeln, aber wenn Sie auf der Ihrigen ſchließlich beharren, lieber

mit dem Könige untergehn, als Eure Majeſtät im Kampfe mit der

Parlamentsherrſchaft im Stiche laſſen.“ Dieſe Auffaſſung war

damals durchaus lebendig und maßgebend in mir, weil ich die

Negation und die Phraſe der damaligen Oppoſition für politiſch

verderblich hielt im Angeſicht der nationalen Aufgaben Preußens,

und weil ich für Wilhelm I. perſönlich ſo ſtarke Gefühle der Hin¬

gebung und Anhänglichkeit hegte, daß mir der Gedanke, in Ge¬

meinſchaft mit ihm zu Grunde zu gehn, als ein nach Umſtänden

natürlicher und ſympathiſcher Abſchluß des Lebens erſchien.

Der König zerriß das Programm und war im Begriff, die

Stücke von der Brücke in die trockne Schlucht im Park zu werfen,

als ich daran erinnerte, daß dieſe Papiere mit der bekannten

Handſchrift in ſehr unrechte Hände gerathen könnten. Er fand,

daß ich Recht hätte, ſteckte die Stücke in die Taſche, um ſie dem

Feuer zu übergeben, und vollzog an demſelben Tage meine Er¬

nennung zum Staatsminiſter und interimiſtiſchen Vorſitzenden des

Staatsminiſteriums, die am 23. veröffentlicht wurde. Meine Er¬

nennung zum Miniſterpräſidenten behielt der König vor, bis er

mit dem Fürſten von Hohenzollern, der ſtaatsrechtlich dieſe Stel¬

lung noch inne hatte, die desfallſige Correſpondenz beendet haben

werde 1).

1)

Vgl. Kaiſer I. und Fürſt Bismarck, Münchener Allg. Zeitung

7. October 1890 M.-A. — Die definitive Ernennung zum Miniſterpräſidenten

und Miniſter der Auswärtigen Angelegenheiten erfolgte am 8. October.

[[270]/0297]

Zwölftes Kapitel.

Rückblick auf die preußiſche Politik.

Die Königliche Autorität hatte bei uns unter dem Mangel

an Selbſtändigkeit und Energie unſrer auswärtigen und nament¬

lich unſrer deutſchen Politik gelitten; in demſelben Boden wurzelte

die Ungerechtigkeit der bürgerlichen Meinung über die Armee und

deren Offiziere und die Abneigung gegen militäriſche Vorlagen

und Ausgaben. In den parlamentariſchen Fractionen fand der

Ehrgeiz der Führer, Redner und Miniſter-Candidaten Nahrung

und Deckung hinter der nationalen Verſtimmung. Klare Ziele

hatten unſrer Politik ſeit dem Tode Friedrichs des Großen entweder

gefehlt oder ſie waren ungeſchickt gewählt oder betrieben; letztres

von 1786 bis 1806, wo unſre Politik planlos begann und traurig

endete. Man entdeckt in ihr bis zum vollen Ausbruch der fran¬

zöſiſchen Revolution keine Andeutung einer national-deutſchen Rich¬

tung. Die erſten Spuren einer ſolchen, die ſich im Fürſtenbunde

in den Ideen von einem preußiſchen Kaiſerthum, in der Demar¬

cationslinie, in der Erwerbung deutſcher Landſtriche finden, ſind

Ergebniſſe nicht nationaler, ſondern preußiſch-particulariſtiſcher Be¬

ſtrebungen. Im Jahr 1786 lag das ſtärkere Intereſſe noch nicht

auf deutſch-nationalem Gebiete, ſondern in dem Gedanken polniſcher

territorialer Erwerbungen, und bis in den Krieg von 1792 hinein

war das Mißtrauen zwiſchen Preußen und Oeſtreich weniger durch

die deutſche als durch die polniſche Rivalität beider Mächte genährt.

In den Händeln der Thugut-Lehrbach'ſchen Periode ſpielte der Streit

[271/0298]

Mängel und Schwächen der preußiſchen Politik ſeit Friedrich II.

um den Beſitz polniſcher Gebiete, namentlich Krakaus, eine mehr

in die Augen fallende Rolle als der in der zweiten Hälfte dieſes

Jahrhunderts im Vordergrunde ſtehende Streit um die Hegemonie

in Deutſchland.

Die Frage der Nationalität ſtand damals mehr im Hintergrunde;

der preußiſche Staat eignete ſich neue polniſche Unterthanen mit

gleicher, wenn nicht mit größerer Bereitwilligkeit wie deutſche an,

wenn es nur Unterthanen waren, und auch Oeſtreich trug kein

Bedenken, die Erfolge der gemeinſamen Kriegführung gegen Frank¬

reich in Frage zu ſtellen, ſobald es befürchten mußte, daß ihm zur

Wahrnehmung ſeiner polniſchen Intereſſen die nöthigen Streitkräfte

Preußen gegenüber fehlen würden, wenn es ſie an der franzöſiſchen

Grenze verwenden wollte. Es iſt ſchwer zu ſagen, ob die damalige

Situation nach Maßgabe der Anſichten und Fähigkeiten der in

Oeſtreich und Rußland leitenden Perſönlichkeiten der preußiſchen

Politik die Möglichkeit bot, nützlichere Wege einzuſchlagen als den

des Veto gegen die Orientpolitik ſeiner beiden öſtlichen Nachbarn,

wie in der Convention von Reichenbach, 27. Juli 1790, ge¬

ſchah. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieſes

Veto ein Act unfruchtbaren Selbſtgefühls nach Art des franzöſi¬

ſchen prestige war, in welchem die von Friedrich dem Großen

geerbte Autorität zwecklos verpufft wurde, ohne daß Preußen einen

andern Vortheil von dieſer Kraftleiſtung gehabt hätte, als den

einer befriedigten Eitelkeit über Bethätigung ſeiner großmächtlichen

Stellung den beiden Kaiſermächten gegenüber, show of power.

Wenn Oeſtreich und Rußland im Orient Beſchäftigung fan¬

den, ſo hätte es, möchte ich glauben, im Intereſſe ihres damals

weniger mächtigen Nachbarn gelegen, ſie darin nicht zu ſtören,

ſondern beide in der Richtung ihrer orientaliſchen Beſtrebungen

eher zu fördern und zu befeſtigen und ihren Druck auf unſre

Grenzen dadurch abzuſchwächen. Preußen war nach ſeinen mili¬

täriſchen Einrichtungen damals ſchneller ſchlagfertig als ſeine Nach¬

barn und hätte dieſe Schlagfertigkeit wie bei manchen ſpätern

[272/0299]

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.

Gelegenheiten nutzbar machen können, wenn es ſich verfrühter Partei¬

nahme enthalten und ſeiner damaligen verhältnißmäßigen Schwäche

entſprechend ſich lieber en vedette geſtellt hätte, anſtatt ſich das

prestige des Richteramtes zwiſchen Oeſtreich, Rußland und der

Pforte beizulegen.

Der Fehler in Situationen der Art hat gewöhnlich in der

Zielloſigkeit und Unentſchloſſenheit gelegen, womit an die Benutzung

und Ausbeutung herangetreten wurde. Der Große Kurfürſt und

Friedrich der Große hatten klare Vorſtellungen von der Schäd¬

lichkeit halber Maßregeln in Fällen, wo es ſich um Parteinahme

oder um ihre Androhung handelte. So lange Preußen nicht zu

einem der deutſchen Nationalität annähernd entſprechenden Staats¬

gebilde gelangt war, ſo lange es nicht nach dem Ausdruck, deſſen

ſich der Fürſt Metternich mir gegenüber bediente, zu den „ſaturir¬

ten“ Staaten gehörte, mußte es ſeine Politik mit dem angeführten

Worte Friedrichs des Großen en vedette einrichten. Nun hat

aber eine vedette eine Exiſtenzberechtigung nur mit einer ſchlag¬

fertigen Truppe hinter ſich; ohne eine ſolche und ohne den Ent¬

ſchluß, ſie activ zu verwenden, ſei es für, ſei es gegen eine der

ſtreitenden Parteien, konnte die preußiſche Politik von dem Ein¬

werfen ihres europäiſchen Gewichtes bei Gelegenheiten wie der von

Reichenbach keinen materiellen Vortheil, weder in Polen, noch in

Deutſchland, ſondern nur die Verſtimmung und das Mißtrauen

ſeiner beiden Nachbarn erzielen. Noch heut erkennt man in ge¬

ſchichtlichen Urtheilen chauviniſtiſcher Landsleute die Genugthuung,

mit welcher die ſchiedsrichterliche Rolle, die von Berlin aus auf

den Streit im Orient ausgeübt werden konnte, das preußiſche

Selbſtgefühl erfüllte; die Reichenbacher Convention gilt ihnen als

ein Höhepunkt auf dem Niveau Friedericianiſcher Politik, von

welchem an der Abſtieg und das Sinken durch die Pillnitzer Ver¬

handlungen, den Basler Frieden bis nach Tilſit erfolgte.

Wenn ich Miniſter Friedrich Wilhelms II. geweſen wäre, ſo

würde ich eher dazu gerathen haben, den Ehrgeiz Oeſtreichs und

[273/0300]

Die Reichenbacher Convention. Verſäumte Gelegenheiten.

Rußlands in der Richtung auf den Orient zu unterſtützen, aber als

Kaufpreis dafür materielle Conceſſionen zu verlangen, ſei es auch

nur auf dem Gebiet der polniſchen Frage, an welcher man damals

Geſchmack fand, und mit Recht, ſo lange man Danzig und Thorn

nicht beſaß und an die deutſche Frage noch nicht dachte. An der

Spitze von 100000 oder mehr ſchlagfertigen Soldaten mit der

Drohung, ſie nöthigenfalls in Thätigkeit zu ſetzen und den

Krieg gegen Frankreich Oeſtreich allein zu überlaſſen, würde die

preußiſche Politik in der damaligen Situation immer Beſſeres

haben erreichen können, als den diplomatiſchen Triumph von

Reichenbach.

Man findet, daß die Geſchichte des Hauſes Oeſtreich ſeit

Karl V. eine Reihe verſäumter Gelegenheiten zeigt, für welche man

in den meiſten Fällen die jedesmaligen Beichtväter der regirenden

Herrn verantwortlich macht; aber die Geſchichte Preußens, allein

innerhalb der letzten 100 Jahre, iſt nicht weniger reich an ſolchen

Verſäumniſſen. Wenn die Gelegenheit zur Zeit der Reichenbacher

Convention richtig benutzt, keinen befriedigenden, aber doch immer

einen Fortſchritt in der Laufbahn Preußens gebracht haben könnte,

ſo war eine Evolution in größerm Stile ſchon 1805 möglich, wo die

preußiſche Politik beſſer militäriſch als diplomatiſch gegen Frankreich,

für Oeſtreich und Rußland hätte eingeſetzt werden können, aber

nicht gratis. Die Bedingungen, unter denen man den Beiſtand leiſten

oder geleiſtet haben ſollte, konnte nicht ein Miniſter wie Haugwitz,

ſondern nur ein Feldherr, an der Spitze von 150000 Mann in

Böhmen oder Baiern, durchſetzen. Was 1806 post festum ge¬

ſchah, konnte 1805 von entſcheidender Wirkung ſein. Was in

Oeſtreich die Beichtväter, das haben in Preußen Cabinetsräthe

und ehrliche aber beſchränkte General-Adjutanten an verſäumten

Gelegenheiten zu Stande gebracht.

Auch die Dienſte, welche die preußiſche Politik der ruſſiſchen bei

dem Frieden von Adrianopel 1829 und bei Unterdrückung des pol¬

niſchen Aufſtandes 1831 erwieſen hat, gratis zu leiſten, lag um ſo

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 18

[274/0301]

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.

weniger Veranlaſſung vor, als die unfreundlichen Machenſchaften,

die kurz vorher zwiſchen dem Kaiſer Nicolaus und König Karl X.

ſtattgefunden hatten, dem Berliner Cabinete nicht unbekannt waren.

Die Gemüthlichkeit der fürſtlichen Familienbeziehungen war bei uns

in der Regel ſtark genug, um ruſſiſche Sünden zu decken, es fehlte

aber die Gegenſeitigkeit. Im Jahre 1813 hatte Rußland ohne

Zweifel einen Anſpruch auf preußiſche Dankbarkeit erworben;

Alexander I. war im Februar 1813 und bis zum Wiener Congreß

ſeiner Zuſage, Preußen in dem ſtatus quo ante wiederherzuſtellen,

im Großen und Ganzen treu geblieben, gewiß ohne die ruſſiſchen

Intereſſen zu vergeſſen, aber doch ſo, daß dankbare Erinnerungen

Friedrich Wilhelms III. für ihn natürlich blieben. — Solche Erinne¬

rungen waren in meinen Knabenjahren bis zum Tode Alexanders,

1825, auch in unſerm Publikum noch ſehr lebhaft; ruſſiſche Gro߬

fürſten, Generale und gelegentlich in Berlin erſcheinende Soldaten-

Abtheilungen genoſſen noch ein Erbtheil der Popularität, mit der

1813 die erſten Koſacken bei uns empfangen worden waren.

Flagrante Undankbarkeit, wie der Fürſt Schwarzenberg ſie

proclamirte, iſt in der Politik wie im Privatleben nicht nur un¬

ſchön, ſondern auch unklug. Wir haben aber unſre Schuld aus¬

geglichen, nicht nur zur Zeit der Nothlage der Ruſſen bei Adria¬

nopel 1829 und durch unſer Verhalten in Polen 1831, ſondern in

der ganzen Zeit unter Nicolaus I., der der deutſchen Romantik

und Gemüthlichkeit ferner ſtand als Alexander I., wenn er auch

mit ſeinen preußiſchen Verwandten und mit preußiſchen Offizieren

freundlich verkehrte. Unter ſeiner Regirung haben wir als ruſſiſche

Vaſallen gelebt, 1831, wo Rußland ohne uns kaum mit den Polen

fertig geworden wäre, namentlich aber in allen europäiſchen Con¬

ſtellationen von 1831 bis 1850, wo wir immer ruſſiſche Wechſel

acceptirt und honorirt haben, bis nach 1848 der junge öſtreichiſche

Kaiſer dem ruſſiſchen beſſer gefiel als der König von Preußen, wo

der ruſſiſche Schiedsrichter kalt und hart gegen Preußen und deutſche

Beſtrebungen entſchied und ſich für die Freundſchaftsdienſte von

[275/0302]

Preußen als ruſſiſcher Vaſallenſtaat. Urſache der Abhängigkeit.

1813 voll bezahlt machte, indem er uns die Olmützer Demüthigung

aufzwang. Später kamen wir Rußland gegenüber im Krimkriege,

im polniſchen Aufſtande von 1863 bedeutend in Vorſchuß, und

wenn wir in dem genannten Jahre Alexanders II. eigenhändiger Auf¬

forderung zum Kriege nicht Folge leiſteten, und er darüber und in

der däniſchen Frage Empfindlichkeit bewies, ſo zeigt dies nur, wie

weit der ruſſiſche Anſpruch ſchon über Gleichberechtigung hinaus

gediehen war und Unterordnung verlangte.

Das Deficit auf unſrer Seite war einmal durch Verwand¬

ſchafts-Gefühl, durch die Gewohnheit der Abhängigkeit, in welcher

die geringere Energie von der größern ſtand, ſodann durch den

Irrthum bedingt, als ob Nicolaus dieſelben Geſinnungen wie

Alexander I. für uns hege, und dieſelben Anſprüche auf Dankbarkeit

aus der Zeit der Freiheitskriege habe. In der That aber trat

während der Regirung des Kaiſers Nicolaus kein im deutſchen

Gemüth wurzelndes Motiv hervor, unſre Freundſchaft mit Rußland

auf dem Fuße der Gleichheit zu pflegen und mindeſtens einen

analogen Nutzen daraus zu ziehn, wie Rußland aus unſrer Dienſt¬

leiſtung. Etwas mehr Selbſtgefühl und Kraftbewußtſein würde

unſern Anſpruch auf Gegenſeitigkeit in Petersburg zur Anerkennung

gebracht haben, um ſo mehr, als 1830 nach der Juli-Revolution

Preußen, trotz der Schwerfälligkeit ſeines Landwehr-Syſtems, dieſem

überraſchenden Ereigniß gegenüber reichlich ein Jahr lang ohne

Zweifel der ſtärkſte, vielleicht der einzige zum Schlagen befähigte

Militärſtaat in Europa war. Wie ſehr nicht nur in Oeſtreich,

ſondern auch in Rußland die militäriſchen Einrichtungen in 15 Frie¬

densjahren vernachläſſigt worden waren, vielleicht mit alleiniger

Ausnahme der Garde des Kaiſers und der polniſchen Armee des

Großfürſten Conſtantin, bewies die Schwäche und Langſamkeit der

Rüſtung des gewaltigen ruſſiſchen Reichs gegen den Aufſtand des

kleinen Warſchauer Königreichs.

Aehnliche Verhältniſſe fanden damals in der franzöſiſchen

und mehr noch in der öſtreichiſchen Armee ſtatt. Oeſtreich brauchte

[276/0303]

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.

nach der Juli Revolution mehr als ein Jahr, um den Verfall ſeiner

Heereseinrichtungen ſo weit auszubeſſern, daß es eben nur ſeine

italieniſchen Intereſſen zu ſchützen im Stande war. Die öſt¬

reichiſche Politik war unter Metternich geſchickt genug, um jede

Entſchließung der drei öſtlichen Großmächte ſo lange zu verſchleppen,

bis Oeſtreich ſich hinlänglich gerüſtet fühlte, um mitzureden. Nur

in Preußen functionirte die militäriſche Maſchine, ſo ſchwerfällig

ſie war, mit voller Genauigkeit, und hätte die preußiſche Politik

eigne Entſchlüſſe zu faſſen vermocht, ſo würde ſie Kraft genug ge¬

funden haben, die Lage von 1830 in Deutſchland und den Nieder¬

landen nach ihrem Ermeſſen zu präjudiciren. Aber eine ſelbſtändige

preußiſche Politik hat in der Zeit von 1806 bis in die vierziger

Jahre überhaupt nicht beſtanden; unſre Politik wurde abwechſelnd

in Wien und in Petersburg gemacht. So weit ſie in Berlin von

1786 bis 1806 und 1842 bis 1862 ſelbſtändig ihre Wege ſuchte,

wird ſie vor der Kritik vom Standpunkte eines ſtrebſamen Preußen

kaum Anerkennung finden.

Die Eigenſchaft einer Großmacht konnten wir uns vor 1866

nur cum grano salis beimeſſen, und wir hielten nach dem Krim¬

kriege für nöthig, uns um eine äußerliche Anerkennung derſelben durch

Antichambriren im Pariſer Congreſſe zu bewerben. Wir bekannten,

daß wir eines Atteſtes andrer Mächte bedurften, um uns als Gro߬

macht zu fühlen. Dem Maßſtabe der Gortſchakow'ſchen Redensart

bezüglich Italiens „une grande puissance ne se reconnaît pas,

elle se révèle“ fühlten wir uns nicht gewachſen. Die révélation,

daß Preußen eine Großmacht ſei, war vorher zu Zeiten in Europa

anerkannt geweſen (vgl. Kapitel 5), aber ſie erlitt durch lange

Jahre kleinmüthiger Politik eine Abſchwächung, die ſchließlich

in der kläglichen Rolle, welche Manteuffel in Paris übernahm,

ihren Ausdruck fand. Seine verſpätete Zulaſſung konnte die Wahr¬

heit nicht entkräften, daß eine Großmacht zu ihrer Anerkennung vor

allen Dingen der Ueberzeugung und des Muthes, eine ſolche zu

ſein, bedarf. Ich habe es als einen bedauerlichen Mangel an

[277/0304]

Preußen antichambrirt auf dem Pariſer Congreß.

Selbſtbewußtſein angeſehn, daß wir nach allen uns widerfahrenen

Geringſchätzungen von Seiten Oeſtreichs und der Weſtmächte

überhaupt das Bedürfniß empfanden, auf dem Congreſſe zugelaſſen

zu werden und ſeinen Beſchlüſſen unſre Unterſchrift hinzuzufügen.

Unſre Stellung 1870 in den Londoner Beſprechungen über das

Schwarze Meer würde die Nichtigkeit dieſer Anſicht bezeugt haben,

wenn Preußen ſich nicht in den Pariſer Congreß in würdeloſer

Weiſe eingedrängt hätte. Als Manteuffel aus Paris zurückkehrte

und am 20. und 21. April in Frankfurt mein Gaſt war, habe ich

mir erlaubt, ihm mein Bedauern darüber auszuſprechen, daß er

nicht das victa Catoni zur Richtſchnur genommen und uns die

richtige unabhängige Stellung für die Eventualität der nach Lage

der Dinge vorauszuſehenden ruſſiſch-franzöſiſchen gegenſeitigen An¬

näherung angebahnt habe. Daß der Kaiſer Napoleon damals die

ruſſiſche Freundſchaft ſchon in Ausſicht nahm, daß für maßgebende

Kreiſe in England der Friedensſchluß verfrüht erſchien, konnte in

dem Auswärtigen Amte in Berlin nicht zweifelhaft ſein. Wie würdig

und unabhängig wäre unſre Stellung geweſen, wenn wir uns nicht

in den Pariſer Congreß in einer demüthigenden Weiſe eingedrängt,

ſondern bei mangelnder rechtzeitiger Einladung unſre Betheiligung

verſagt hätten. Bei angemeſſener Zurückhaltung würden wir in

der neuen Gruppirung umworben worden ſein, und ſchon äußerlich

wäre unſre Stellung eine würdigere geweſen, wenn wir unſre Ein¬

ſchätzung als europäiſche Großmacht nicht von diplomatiſchen

Gegnern abhängig gemacht, ſondern lediglich auf unſer Selbſt¬

bewußtſein baſirt hätten, indem wir uns des Anſpruchs auf Be¬

theiligung an europäiſchen Abmachungen enthielten, welche für

Preußen kein Intereſſe hatten, als höchſtens nach Analogie der

Reichenbacher Convention das der Eitelkeit des Preſtige und des

Mitredens in Dingen, die unſre Intereſſen nicht berührten.

Die verſäumten Gelegenheiten, welche in die beiden Zeiträume

von 1786 bis 1806 und von 1842 bis 1862 fallen, ſind den

Zeitgenoſſen nur ſelten verſtändlich geworden, noch ſeltener iſt die

[278/0305]

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.

Verantwortlichkeit dafür ſofort richtig vertheilt worden. Erſt die

Ausſchüttung der Archive und die Denkwürdigkeiten Mithandelnder

und Mitwiſſender ſetzten 50 bis 100 Jahre ſpäter die öffentliche

Meinung in den Stand, für die einzelnen Mißgriffe das πρῶτον

ψεῦδοϛ, die Gabelung auf den unrichtigen Weg zu erkennen.

Friedrich der Große hinterließ ein reiches Erbe von Autorität und

von Glauben an die preußiſche Politik und Macht. Seine Erben

konnten, wie heut der neue Curs von der Erbſchaft des alten, zwei

Jahrzehnte hindurch davon zehren, ohne ſich über die Schwächen

und Irrthümer ihrer Epigonenwirthſchaft klar zu werden; noch in

die Schlacht von Jena hinein trugen ſie ſich mit der Ueberſchätzung

des eignen militäriſchen und politiſchen Könnens. Erſt der Zu¬

ſammenbruch der folgenden Wochen brachte den Hof und das Volk

zu dem Bewußtſein, daß Ungeſchick und Irrthum in der Staats¬

leitung obgewaltet hatten. Weſſen Ungeſchick und weſſen Irrthum

aber, wer perſönlich die Verantwortlichkeit für dieſen gewaltigen

und unerwarteten Zuſammenbruch trug, darüber kann ſelbſt heut

noch geſtritten werden.

In einer abſoluten Monarchie, und Preußen war damals eine

ſolche, hat an der Verantwortlichkeit für die Politik außer dem

Souverän Niemand einen genau nachweislichen Antheil; faßt oder

genehmigt dieſer verhängnißvolle Beſchlüſſe, ſo kann Niemand

beurtheilen, ob ſie das Ergebniß eignen moraliſchen Willens oder

des Einfluſſes ſind, den die verſchiedenartigſten Perſönlichkeiten

männlichen und weiblichen Geſchlechts, Adjutanten, Höflinge und

politiſche Intriganten, Schmeichler, Schwätzer und Ohrenbläſer

auf den Monarchen geübt haben. Die Allerhöchſte Unterſchrift

deckt ſchließlich Alles; wie ſie erreicht worden iſt, erfährt kein

Menſch. Dem jedesmaligen Miniſter die Verantwortlichkeit für

das Geſchehene aufzuerlegen, iſt für monarchiſche Auffaſſungen

der nächſtliegende Ausweg. Aber ſelbſt wenn die Form des Ab¬

ſolutismus der Form der Verfaſſung Platz gemacht hat, iſt die

ſogenannte Miniſterverantwortlichkeit keine von dem Willen des

[279/0306]

Friedrichs II. Epigonen. Die Frage der Verantwortlichkeit.

unverantwortlichen Monarchen unabhängige. Gewiß kann ein Mi¬

niſter abgehn, wenn er die königliche Unterſchrift für das, was

er für nothwendig hält, nicht erlangen kann; aber er übernimmt

durch ſein Abtreten die Verantwortlichkeit für die Conſequenzen

deſſelben, die vielleicht auf andern Gebieten viel tiefgreifender ſind

als auf dem grade ſtreitigen.

Er iſt außerdem durch die collegiale Form des Staats¬

miniſteriums mit ihren Majoritätsabſtimmungen zu Compromiſſen

und zu Nachgiebigkeit ſeinen Collegen gegenüber nach der preußi¬

ſchen Miniſterverfaſſung täglich genöthigt. Eine wirkliche Verant¬

wortlichkeit in der großen Politik aber kann nur ein einzelner

leitender Miniſter, niemals ein anonymes Collegium mit Majoritäts¬

abſtimmung, leiſten. Die Entſcheidung über Wege und Abwege

liegt oft in minimalen, aber einſchneidenden Wendungen, zuweilen

ſchon in der Tonart und der Wahl der Ausdrücke eines inter¬

nationalen Actenſtückes. Schon bei geringer Abweichung von der

richtigen Linie wächſt die Entfernung von derſelben oft ſo rapid,

daß der verlaſſene Strang nicht wieder erreicht werden kann, und

die Umkehr bis zu dem Gabelpunkt, wo er verlaſſen wurde, un¬

ausführbar iſt. Das übliche Amtsgeheimniß deckt die Umſtände,

unter denen eine Entgleiſung ſtattgefunden hat, Menſchenalter

hindurch, und das Ergebniß der Unklarheit, in welcher der prag¬

matiſche Zuſammenhang der Dinge bleibt, erzeugt bei leitenden

Miniſtern, wie das bei manchen meiner Vorgänger der Fall war,

Gleichgültigkeit gegen die ſachliche Seite der Geſchäfte, ſobald die

formale durch königliche Unterſchrift oder parlamentariſche Vota

gedeckt erſcheint. Bei Andern wieder führt der Kampf zwiſchen dem

eignen Ehrgefühl und der Verſtrickung der Competenzverhältniſſe

zu tödtlichen Nervenfiebern, wie bei dem Grafen Brandenburg,

oder zu Symptomen von Geiſtesſtörung, wie in einigen frühern

Fällen.

Es iſt ſchwer zu ſagen, wie die Verantwortlichkeit für unſre

Politik während der Regirung Friedrich Wilhelms IV. mit Ge¬

[280/0307]

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.

rechtigkeit zu vertheilen ſei. Rein menſchlich geſprochen, wird ſie

in der Hauptſache auf dem Könige ſelbſt beruhn bleiben, denn er

hat überlegne, ihn und die Geſchäfte leitende Rathgeber zu keiner

Zeit gehabt. Er behielt ſich die Auswahl unter den Rathſchlägen

nicht nur jedes einzelnen Miniſters, ſondern auch unter den viel

zahlreichern vor, die ihm von mehr oder weniger geiſtreichen

Adjutanten, Cabinetsräthen, Gelehrten, unehrlichen Strebern,

ehrlichen Phantaſten und Höflingen vorgetragen wurden. Und

dieſe Auswahl behielt er ſich oft lange vor. Es iſt oft weniger

ſchädlich, etwas Unrichtiges als nichts zu thun. Ich habe nie den

Muth gehabt, die Gelegenheiten, die mir dieſer perſönlich ſo

liebenswürdige Herr mehrmals, zuweilen ſcharf und beinahe zwingend,

in den Jahren 1852 bis 1856 geboten hat, ſein Miniſter zu werden,

zu benutzen oder ihre Verwirklichung zu fördern. Wie er mich

betrachtete, hätte ich ihm gegenüber keine Autorität gehabt, und

ſeine reiche Phantaſie war flügellahm, ſobald ſie ſich auf dem

Gebiete praktiſcher Entſchlüſſe geltend machen ſollte. Mir fehlte die

ſchmiegſame Gefügigkeit zur Uebernahme und miniſteriellen Ver¬

tretung von politiſchen Richtungen, an die ich nicht glaubte, oder

für deren Durchführung ich dem Könige den Entſchluß und die

Conſequenz nicht zutraute. Er unterhielt und förderte die Elemente

des Zwieſpalts zwiſchen ſeinen einzelnen Miniſtern; die Frictionen

zwiſchen Manteuffel, Bodelſchwingh und Heydt, die in triangularem

Kampfe mit einander ſtanden, waren dem Könige angenehm und

ein politiſches Hülfsmittel in kleinen Detail-Gefechten zwiſchen könig¬

lichem und miniſteriellem Einfluß. Manteuffel hat mit vollem

Bewußtſein die Camarilla-Thätigkeit von Gerlach, Rauch, Niebuhr,

Bunſen, Edwin Manteuffel geduldet; er trieb ſeine Politik mehr

defenſiv als im Hinblick auf beſtimmte Ziele, fortwurſtelnd, wie

Graf Taaffe ſagte, und beruhigt, wenn er durch allerhöchſte Unter¬

ſchrift gedeckt war; doch hat der reine Abſolutismus ohne Parla¬

ment immer noch das Gute, daß ihm ein Gefühl der Verantwort¬

lichkeit für eigne Thaten bleibt. Gefährlicher iſt der durch gefügige

[281/0308]

Friedrich Wilhelm IV. Preußen und der italieniſche Krieg.

Parlamente unterſtützte, der keiner andern Rechtfertigung als der

Verweiſung auf Zuſtimmung der Majorität bedarf.

Die nächſte günſtige Situation nach dem Krimkriege bot unſrer

Politik der italieniſche Krieg. Ich glaube freilich nicht, daß König

Wilhelm ſchon als Regent 1859 geneigt geweſen ſein würde, in plötz¬

licher Entſchließung den Abſtand zu überſchreiten, der ſeine damalige

Politik von derjenigen trennte, welche ſpäter zur Herſtellung des

Deutſchen Reichs geführt hat. Wenn man die damalige Stellung

nach dem Maßſtabe beurtheilt, den die Haltung des auswärtigen

Miniſters von Schleinitz in dem demnächſtigen Abſchluß des Garantie¬

vertrages von Teplitz mit Oeſtreich und in der Weigerung der

Anerkennung Italiens bezeichnet, ſo kann man mit Recht be¬

zweifeln, ob es damals möglich geweſen ſein würde, den Regenten

zu einer Politik zu bewegen, welche die Verwendung der preußiſchen

Kriegsmacht von Conceſſionen in der deutſchen Bundespolitik ab¬

hängig gemacht hätte. Die Situation wurde nicht unter dem Ge¬

ſichtspunkte einer vorwärts ſtrebenden preußiſchen Politik betrachtet,

ſondern in dem gewohnheitsmäßigen Beſtreben, ſich den Beifall

der deutſchen Fürſten, des Kaiſers von Oeſtreich und zugleich der

deutſchen Preſſe zu erwerben, in dem unklaren Bemühn um einen

idealen Tugendpreis für Hingebung an Deutſchland, ohne irgend

eine klare Anſicht über die Geſtalt des Zieles, die Richtung in der,

und die Mittel, durch die es zu ſuchen wäre.

Unter dem Einfluſſe ſeiner Gemalin und der Wochenblatts¬

partei war der Regent 1859 nahe daran, ſich an dem italieniſchen

Kriege zu betheiligen. Wäre das geſchehn, ſo wurde der Krieg

vou einem öſtreichiſch-franzöſiſchen in der Hauptſache zu einem

preußiſch-franzöſiſchen am Rhein. Rußland in dem damals noch

ſehr lebendigen Haſſe gegen Oeſtreich würde mindeſtens gegen

uns demonſtrirt, und Oeſtreich, ſobald wir in Krieg mit Frank¬

reich verwickelt waren, würde, am längern Ende des politiſchen

Hebels ſtehend, erwogen haben, wie weit wir ſiegen durften. Was

zu Thuguts Zeit Polen, war damals Deutſchland auf dem Schach¬

[282/0309]

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.

brett. Mein Gedanke war, immerhin zu rüſten, aber zugleich

Oeſtreich ein Ultimatum zu ſtellen, entweder unſre Bedingungen

in der deutſchen Frage anzunehmen oder unſern Angriff zu ge¬

wärtigen. Aber die Fiction einer fortdauernden und aufopfernden

Hingebung für „Deutſchland“ nur in Worten, nie in Thaten, der

Einfluß der Prinzeſſin und ihres den öſtreichiſchen Intereſſen er¬

gebenen Miniſters von Schleinitz, dazu die damals gang und gäbe

Phraſeologie der Parlamente, der Vereine und der Preſſe, erſchwer¬

ten es dem Regenten, die Lage nach ſeinem eignen klaren und

hausbacknen Verſtande zu prüfen, während ſich in ſeiner politiſchen

und perſönlichen Umgebung Niemand befand, der ihm die Nichtig¬

keit des ganzen Phraſenſchwindels klar gemacht und ihm gegenüber

die Sache des geſunden deutſchen Intereſſes vertreten hätte. Der

Regent und ſein damaliger Miniſter glaubten an die Berechtigung

der Redensart: Il y a quequ'un, qui a plus d'esprit que Monsieur

de Talleyrand, c'est tout le monde. Tout le monde braucht

aber in der That zu viel Zeit, um das Richtige zu erkennen, und

in der Regel iſt der Moment, in dem dieſe Erkenntniß benutzt

werden konnte, ſchon vorüber, wenn tout le monde dahinter

kommt, was eigentlich hätte gethan werden ſollen.

Erſt die innern Kämpfe, die der Regent und ſpätre König

durchzumachen hatte, erſt die Ueberzeugung, daß ſeine Miniſter der

neuen Aera nicht nur nicht im Stande waren, ſeine Unterthanen

glücklich und zufrieden zu machen oder im Gehorſam zu erhalten,

und die von ihm erſtrebte und gehoffte Zufriedenheit in den Wahlen

und Parlamenten zum Ausdruck zu bringen, erſt die Schwierig¬

keiten, welche den König 1862 zu dem Entſchluſſe der Abdication

brachten, übten auf das Gemüth und das geſunde Urtheil des

Königs den nöthigen Einfluß, um ſeine monarchiſchen Auffaſſungen

von 1859 über die Brücke der däniſchen Frage zu dem Stand¬

punkte von 1866 überzuleiten, vom Reden zum Handeln, von der

Phraſe zur That.

Die Leitung der auswärtigen Politik in den an ſich ſchwie¬

[283/0310]

Quertreibereien der Königin Auguſta. Eiſen und Blut.

rigen europäiſchen Situationen wurde für einen Miniſter, der kühle

und praktiſche Politik ohne dynaſtiſche Sentimentalität und ohne

höfiſchen Byzantinismus treiben wollte, durch mächtige Quer¬

wirkungen ſehr erſchwert, welche am ſtärkſten und wirkſamſten von

der Königin Auguſta und deren Miniſter Schleinitz geübt wurden,

ſowie von andern fürſtlichen Einflüſſen und Familien-Correſpon¬

denzen neben den Inſinuationen feindlicher Elemente am Hofe,

nicht minder von den jeſuitiſchen Organen (Neſſelrode, Still¬

fried c.), von Intriganten und befähigten Rivalen, wie Goltz und

Harry Arnim, und unbefähigten, wie frühern Miniſtern, und Parla¬

mentariern, die es werden wollten. Es gehörte die ganze ehrliche

und vornehme Treue des Königs für ſeinen erſten Diener dazu,

daß er in ſeinem Vertrauen zu mir nicht wankend wurde.

In den erſten Tagen des Octobers fuhr ich dem Könige, der

ſich zum 30. September, dem Geburtstage ſeiner Gemalin, nach

Baden-Baden begeben hatte, bis Jüterbogk entgegen und erwartete

ihn in dem noch unfertigen, von Reiſenden dritter Claſſe und Hand¬

werkern gefüllten Bahnhofe, im Dunkeln auf einer umgeſtürzten

Schiebkarre ſitzend. Meine Abſicht, indem ich die Gelegenheit zu

einer Unterredung ſuchte, war, Se. Majeſtät über eine Aufſehn

erregende Aeußerung zu beruhigen, welche ich am 30. September

in der Budget-Commiſſion gethan hatte und die zwar nicht ſteno¬

graphirt, aber in den Zeitungen ziemlich getreu wiedergegeben war.

Ich hatte für Leute, die weniger erbittert und von Ehrgeiz

verblendet waren, deutlich genug geſagt, wo ich hinaus wollte.

Preußen könne — das war der Sinn meiner Rede — wie ſchon

ein Blick auf die Karte zeige, mit ſeinem ſchmalen langgeſtreckten

Leibe die Rüſtung, deren Deutſchland zu ſeiner Sicherheit be¬

dürfe, allein nicht Iänger tragen; dieſe müſſe ſich auf alle Deutſchen

gleichmäßig vertheilen. Dem Ziele würden wir nicht durch Reden,

Vereine, Majoritätsbeſchlüſſe näher kommen, ſondern es werde ein

ernſter Kampf nicht zu vermeiden ſein, ein Kampf, der nur durch

Eiſen und Blut erledigt werden könne. Um uns darin Erfolg zu

[284/0311]

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.

ſichern, müßten die Abgeordneten das möglichſt große Gewicht von

Eiſen und Blut in die Hand des Königs von Preußen legen,

damit er es nach ſeinem Ermeſſen in die eine oder die andre Wag¬

ſchale werfen könne. Ich hatte demſelben Gedanken ſchon im

Abgeordnetenhauſe 1849 Schramm gegenüber auf der Tribüne Aus¬

druck gegeben bei Gelegenheit einer Amneſtie-Debatte 1).

Roon, der zugegen war, ſprach beim Nachhauſegehn ſeine

Unzufriedenheit mit meinen Aeußerungen aus, ſagte u. A., er hielte

dergleichen „geiſtreiche Excurſe“ unſrer Sache nicht für förderlich.

Meine eignen Gedanken bewegten ſich zwiſchen dem Wunſche, Ab¬

geordnete für eine energiſche nationale Politik zu gewinnen, und

der Gefahr, den König in ſeiner vorſichtigen und gewaltſame Mittel

ſcheuenden Veranlagung mißtrauiſch gegen mich und meine Abſichten

zu machen. Um dem vermuthlichen Eindruck der Preſſe auf ihn

bei Zeiten entgegen zu wirken, fuhr ich ihm nach Jüterbogk entgegen.

Ich hatte einige Mühe, durch Erkundigungen bei kurz ange¬

bundenen Schaffnern des fahrplanmäßigen Zuges den Wagen zu

ermitteln, in dem der König allein in einem gewöhnlichen Coupé

erſter Klaſſe ſaß. Er war unter der Nachwirkung des Verkehrs

mit ſeiner Gemalin ſichtlich in gedrückter Stimmung, und als ich

um die Erlaubniß bat, die Vorgänge während ſeiner Abweſenheit

darzulegen, unterbrach er mich mit den Worten:

„Ich ſehe ganz genau voraus, wie das Alles endigen wird.

Da vor dem Opernplatz, unter meinen Fenſtern, wird man Ihnen

den Kopf abſchlagen und etwas ſpäter mir.“

Ich errieth, und es iſt mir ſpäter von Zeugen beſtätigt worden,

daß er während des achttägigen Aufenthalts in Baden mit Varia¬

tionen über das Thema Polignac, Strafford, Ludwig XVI. bearbeitet

worden war. Als er ſchwieg, antwortete ich mit der kurzen Phraſe

„Et après, sire?“ — „Ja, après, dann ſind wir todt!“ erwiderte

der König. „Ja,“ fuhr ich fort, „dann ſind wir todt, aber ſterben

1)

Vgl. Rede vom 22. März 1849, Politiſche Reden I 76 f.

[285/0312]

Wie die Muthloſigkeit des Königs überwunden ward.

müſſen wir früher oder ſpäter doch, und können wir anſtändiger

umkommen? Ich ſelbſt im Kampfe für die Sache meines Königs

und Eure Majeſtät, indem Sie Ihre königlichen Rechte von Gottes

Gnaden mit dem eignen Blute beſiegeln, ob auf dem Schaffot oder

auf dem Schlachtfelde, ändert nichts an dem rühmlichen Einſetzen

von Leib und Leben für die von Gottes Gnaden verliehenen Rechte.

Eure Majeſtät müſſen nicht an Ludwig XVI. denken; der lebte und

ſtarb in einer ſchwächlichen Gemüthsverfaſſung und macht kein gutes

Bild in der Geſchichte. Karl I. dagegen, wird er nicht immer eine

vornehme hiſtoriſche Erſcheinung bleiben, wie er, nachdem er für

ſein Recht das Schwert gezogen, die Schlacht verloren hatte, un¬

gebeugt ſeine königliche Geſinnung mit ſeinem Blute bekräftigte?

Eure Majeſtät ſind in der Nothwendigkeit zu fechten, Sie können

nicht capituliren, Sie müſſen, und wenn es mit körperlicher Gefahr

wäre, der Vergewaltigung entgegentreten.“

Je länger ich in dieſem Sinne ſprach, deſto mehr belebte ſich

der König und fühlte ſich in die Rolle des für Königthum und

Vaterland kämpfenden Offiziers hinein. Er war äußern und perſön¬

lichen Gefahren gegenüber von einer ſeltenen und ihm abſolut

natürlichen Furchtloſigkeit, auf dem Schlachtfelde, wie Attentaten

gegenüber; ſeine Haltung in jeder äußern Gefahr hatte etwas Herz¬

erhebendes und Begeiſterndes. Der ideale Typus des preußiſchen

Offiziers, der dem ſichern Tode im Dienſte mit dem einfachen Worte

„Zu Befehl“ ſelbſtlos und furchtlos entgegengeht, der aber, wenn

er auf eigne Verantwortung handeln ſoll, die Kritik des Vorgeſetzten

oder der Welt mehr als den Tod und dergeſtalt fürchtet, daß die

Energie und Richtigkeit ſeiner Entſchließung durch die Furcht vor

Verweis und Tadel beeinträchtigt wird, dieſer Typus war in ihm

im höchſten Grade ausgebildet. Er hatte ſich bis dahin auf ſeiner

Fahrt nur gefragt, ob er vor der überlegnen Kritik ſeiner Frau

Gemalin und vor der öffentlichen Meinung in Preußen mit dem

Wege, den er mit mir einſchlug, würde beſtehn können. Dem

gegenüber war die Wirkung unſrer Unterredung in dem dunklen

[286/0313]

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.

Coupé, daß er die ihm nach der Situation zufallende Rolle mehr

vom Standpunkte des Offiziers auffaßte. Er fühlte ſich bei dem

Porte-épée gefaßt und in der Lage eines Offiziers, der die Auf¬

gabe hat, einen beſtimmten Poſten auf Tod und Leben zu be¬

haupten, gleichviel, ob er darauf umkommt oder nicht. Damit war

er auf einen ſeinem ganzen Gedankengange vertrauten Weg geſtellt

und fand in wenigen Minuten die Sicherheit wieder, um die er

in Baden gebracht worden war, und ſelbſt ſeine Heiterkeit. Das

Leben für König und Vaterland einzuſetzen, war die Pflicht des

preußiſchen Offiziers, um ſo mehr die des Königs, als des erſten

Offiziers im Lande. Sobald er ſeine Stellung unter dem Ge¬

ſichtspunkte der Offiziersehre betrachtete, hatte ſie für ihn ebenſo

wenig Bedenkliches, wie für jeden normalen preußiſchen Offizier die

inſtructionsmäßige Vertheidigung eines vielleicht verlornen Poſtens.

Er war der Sorge vor der „Manöverkritik“, welche von der öffent¬

lichen Meinung, der Geſchichte und der Gemalin an ſeinem poli¬

tiſchen Manöver geübt werden könnte, überhoben. Er fühlte ſich

ganz in der Aufgabe des erſten Offiziers der Preußiſchen Monarchie,

für den der Untergang im Dienſte ein ehrenvoller Abſchluß der

ihm geſtellten Aufgabe iſt. Der Beweis der Richtigkeit meiner Be¬

urtheilung ergab ſich daraus, daß der König, den ich in Jüterbogk

matt, niedergeſchlagen und entmuthigt gefunden hatte, ſchon vor

der Ankunft in Berlin in eine heitere, man kann ſagen, fröhliche

und kampfluſtige Stimmung gerieth, die ſich den empfangenden

Miniſtern und Beamten gegenüber auf das Unzweideutigſte er¬

kennbar machte.

Wenn auch die abſchreckenden geſchichtlichen Reminiſcenzen,

die man dem Könige in Baden als Beweiſe beſchränkter Un¬

geſchicklichkeit vorgehalten hatte, auf unſre Verhältniſſe nur eine

unehrliche oder phantaſtiſche Anwendung finden konnten, ſo

war unſre Situation doch ernſt genug. Einzelne fortſchrittliche

Zeitungen hofften, mich zum Beſten des Staates Wolle ſpinnen zu

ſehn, und am 17. Februar 1863 erklärte das Abgeordnetenhaus

[287/0314]

Der König als preußiſcher Offizier. Ernſt der Lage.

mit 274 gegen 45 Stimmen die Miniſter für verfaſſungswidrige

Ausgaben mit ihrer Perſon und ihrem Vermögen haftbar. Mir

wurde der Plan ſuggerirt, meinen Grundbeſitz, um ihn zu retten,

auf meinen Bruder zu übertragen; die Ceſſion an meinen Bruder,

um das Object der bei einem Thronwechſel nicht abſolut unmög¬

lichen Confiscation meines Vermögens zu entziehn, hätte aber einen

Eindruck von Aengſtlichkeit und Geldſorge gemacht, der mir wider¬

ſtrebte. Auch war mein Sitz im Herrenhauſe an Kniephof geknüpft.

[[288]/0315]

Dreizehntes Kapitel.

Dynaſtien und Stämme.

Niemals, auch in Frankfurt nicht, bin ich darüber in Zweifel

geweſen, daß der Schlüſſel zur deutſchen Politik bei den Fürſten

und Dynaſtien lag und nicht bei der Publiciſtik in Parlament und

Preſſe oder bei der Barrikade. Die Kundgebungen der öffentlichen

Meinung der Gebildeten in Parlament und Preſſe konnten fördernd

und aufhaltend auf die Entſchließung der Dynaſtien wirken, aber

ſie förderten zugleich das Widerſtreben der letztern vielleicht häufiger,

als daß ſie eine Preſſion in nationaler Richtung ausgeübt hätten.

Schwächere Dynaſtien ſuchten Schutz in Anlehnung bei der nationalen

Sache, Herrſcher und Häuſer, die ſich zum Widerſtande fähiger

fühlten, mißtrauten der Bewegung, weil mit der Förderung der

deutſchen Einheit eine Verminderung der Unabhängigkeit zu Gunſten

der Centralgewalt oder der Volksvertretung in Ausſicht ſtand. Die

preußiſche Dynaſtie konnte vorausſehn, daß ihr die Hegemonie

mit einer Vermehrung von Anſehn und Macht im künftigen

Deutſchen Reiche ſchließlich zufallen würde. Ihr kam die von den

andern Dynaſtien befürchtete capitis deminutio vorausſichtlich zu

Gute, ſo weit ſie nicht durch ein nationales Parlament abſorbirt

wurde. Seit im Frankfurter Bundestage die dualiſtiſche Auffaſſung

Oeſtreich-Preußen, unter deren Eindruck ich dorthin gekommen

war, dem Gefühl der Nothwendigkeit Platz gemacht hatte, unſre

Stellung gegen präſidiale Angriffe und Ueberliſtungen zu wahren,

nachdem ich den Eindruck erhalten hatte, daß die gegenſeitige An¬

[289/0316]

Bedeutung der Dynaſtien. Preußens Stellung im Bunde.

lehnung von Oeſtreich und Preußen ein Jugendtraum war, ent¬

ſtanden durch Nachwirkung der Freiheitskriege und der Schule,

nachdem ich mich überzeugt hatte, daß das Oeſtreich, mit dem ich

bis dahin gerechnet, für Preußen nicht exiſtirte: gewann ich die

Ueberzeugung, daß auf der Baſis der bundestäglichen Autorität

nicht einmal die vormärzliche Stellung Preußens im Bunde zurück¬

zugewinnen, geſchweige denn eine Reform der Bundesverfaſſung

möglich ſein werde, durch die das deutſche Volk der Verwirklichung

ſeines Anſpruchs auf völkerrechtliche Exiſtenz als eine der großen

europäiſchen Nationen Ausſicht erhalten hätte.

Ich erinnere mich eines Wendepunkts, der in meinen An¬

ſichten eintrat, als ich in Frankfurt die mir bis dahin unbekannte

Depeſche des Fürſten Schwarzenberg vom 7. December 1850 zu

leſen bekam, in welcher er die Olmützer Ergebniſſe ſo darſtellt, als

ob es von ihm abgehangen hätte, Preußen „zu demüthigen“ oder

großmüthig zu pardonniren. Der mecklenburgiſche Geſandte, Herr

von Oertzen, mein ehrlicher und conſervativer Geſinnungsgenoſſe

in dualiſtiſcher Politik, mit dem ich darüber ſprach, ſuchte mein

durch dieſe Schwarzenbergiſche Depeſche verletztes preußiſches Gefühl

zu beſänftigen. Trotz der für preußiſches Gefühl demüthigenden

Inferiorität unſres Auftretens in Olmütz und Dresden war ich

noch gut öſtreichiſch nach Frankfurt gekommen; der Einblick in die

Schwarzenbergiſche Politik „avilir, puis démolir“, den ich dort

actenmäßig gewann, enttäuſchte meine jugendlichen Illuſionen. Der

gordiſche Knoten deutſcher Zuſtände ließ ſich nicht in Liebe dualiſtiſch

löſen, nur militäriſch zerhauen; es kam darauf an, den König von

Preußen, bewußt oder unbewußt, und damit das preußiſche Heer

für den Dienſt der nationalen Sache zu gewinnen, mochte man

vom boruſſiſchen Standpunkte die Führung Preußens oder auf dem

nationalen die Einigung Deutſchlands als die Hauptſache betrachten;

beide Ziele deckten einander. Das war mir klar, und ich deutete

es an, als ich in der Budgetcommiſſion (30. September 1862) die

vielfach entſtellte Aeußerung über Eiſen und Blut that (ſ. o. S. 283).

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 19

[290/0317]

Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.

Preußen war nominell eine Großmacht, jedenfalls die fünfte;

es hatte dieſe Stellung durch die geiſtige Ueberlegenheit Friedrichs

des Großen erlangt und durch die gewaltigen Leiſtungen der

Volkskraft 1813 rehabilitirt. Ohne die ritterliche Haltung des

Kaiſers Alexander I., die er von 1812 unter Steiniſchem, jeden¬

falls deutſchem Einfluß bis zum Wiener Congreß beobachtete, wäre

es fraglich geblieben, ob die nationale Begeiſterung der vier

Millionen Preußen des Tilſiter Friedens und einer andern vielleicht

gleichen Zahl von sympathizers in altpreußiſchen oder deutſchen

Ländern genügt hätte, von der damaligen Humboldtiſchen und

Hardenbergiſchen Diplomatie und der Schüchternheit Friedrich

Wilhelms III. ſo verwerthet zu werden, daß auch nur die künſt¬

liche Neubildung Preußens, ſo wie ſie 1815 geſchah, zu Stande

gekommen wäre. Das Körpergewicht Preußens entſprach damals

nicht ſeiner geiſtigen Bedeutung und ſeiner Leiſtung in den Frei¬

heitskriegen.

Deutſcher Patriotismus bedarf in der Regel, um thätig und

wirkſam zu werden, der Vermittlung dynaſtiſcher Anhänglichkeit;

unabhängig von letztrer kommt er praktiſch nur in ſeltenen Fällen

zur Hebung, wenn auch theoretiſch täglich, in Parlamenten, Zei¬

tungen und Verſammlungen; in praxi bedarf der Deutſche einer

Dynaſtie, der er anhängt, oder einer Reizung, die in ihm den

Zorn weckt, der zu Thaten treibt. Letztre Erſcheinung iſt aber

ihrer Natur nach keine dauernde Inſtitution. Als Preuße, Ha¬

noveraner, Würtemberger, Baier, Heſſe iſt er früher bereit, ſeinen

Patriotismus zu documentiren, wie als Deutſcher; und in den

untern Klaſſen und in Parlaments-Fractionen wird es noch lange

dauern, ehe das anders wird. Man kann nicht ſagen, daß die

hanöverſche, die heſſiſche Dynaſtie und andre ſich beſonders bemüht

hätten, ſich das Wohlwollen ihrer Unterthanen zu erwerben, aber

dennoch wird der deutſche Patriotismus der letztern weſentlich

bedingt durch ihre Anhänglichkeit an die Dynaſtie, nach welcher

ſie ſich nennen. Es ſind nicht Stammesunterſchiede, ſondern

[291/0318]

Preußen als Großmacht. Dynaſtiſche Anhänglichkeit in Deutſchland.

dynaſtiſche Beziehungen, auf denen die centrifugalen Elemente ur¬

ſprünglich beruhn. Es kommt nicht die Anhänglichkeit an ſchwäbiſche,

niederſächſiſche, thüringiſche Eigenthümlichkeit zur Hebung, ſondern

die durch die Dynaſtien Braunſchweig, Brabant, Wittelsbach zu

einem dynaſtiſchen Antheil an dem Körper der Nation geſonderten

Convolute der Herrſchaft einer fürſtlichen Familie. Der Zuſammen¬

hang des Königreichs Baiern beruht nicht nur auf dem bajuvari¬

ſchen Stamme, wie er im Süden Baierns und in Oeſtreich vor¬

handen iſt, ſondern der Augsburger Schwabe, der Pfälzer Alemanne

und der Mainfranke, ſehr verſchiedenen Geblüts, nennen ſich mit

derſelben Genugthuung Baiern, wie der Altbaier in München und

Landshut, lediglich weil ſie mit den letztern durch die gemeinſchaftliche

Dynaſtie ſeit drei Menſchenaltern verbunden ſind. Die am meiſten

ausgeprägten Stammeseigenthümlichkeiten, die niederdeutſche, platt¬

deutſche, ſächſiſche, ſind durch dynaſtiſche Einflüſſe ſchärfer und

tiefer als die übrigen Stämme geſchieden. Die deutſche Vater¬

landsliebe bedarf eines Fürſten, auf den ſich ihre Anhänglichkeit

concentrirt. Wenn man den Zuſtand fingirte, daß ſämmtliche

deutſche Dynaſtien plötzlich beſeitigt wären, ſo wäre nicht wahr¬

ſcheinlich, daß das deutſche Nationalgefühl alle Deutſchen in den

Frictionen europäiſcher Politik völkerrechtlich zuſammenhalten würde,

auch nicht in der Form föderirter Hanſeſtädte und Reichsdörfer.

Die Deutſchen würden feſter geſchmiedeten Nationen zur Beute

fallen, wenn ihnen das Bindemittel verloren ginge, welches in dem

gemeinſamen Standesgefühl der Fürſten liegt.

Die geſchichtlich am ſtärkſten ausgeprägte Stammeseigen¬

thümlichkeit in Deutſchland iſt wohl die preußiſche, und doch wird

Niemand die Frage mit Sicherheit beantworten können, ob der

ſtaatliche Zuſammenhang Preußens fortbeſtehn würde, wenn man

ſich die Dynaſtie Hohenzollern und jede, die ihr rechtlich nach¬

folgen könnte, verſchwunden denkt. Iſt es wohl ſicher, daß der

öſtliche und der weſtliche Theil, daß Pommern, Hanoveraner,

Holſteiner und Schleſier, daß Aachen und Königsberg, im untrenn¬

[292/0319]

Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.

baren preußiſchen Nationalſtaat verbunden, ohne die Dynaſtie ſo

weiter leben würden? Würde Baiern, iſolirt gedacht, geſchloſſen

zuſammenhalten, wenn die Wittelsbacher Dynaſtie ſpurlos ver¬

ſchwunden wäre? Einige Dynaſtien haben manche Erinnerungen,

die nicht grade geeignet ſind, die heterogenen Theile, aus denen

dieſe Staaten geſchichtlich gebildet ſind, mit Anhänglichkeit zu er¬

füllen. Das Land Schleswig-Holſtein hat garkeine dynaſtiſche

Erinnerungen, namentlich nicht im anti-gottorpiſchen Sinne, und

doch hat die Ausſicht, einen ſelbſtändigen kleinen Hof mit Miniſtern,

Hofmarſchällen und Orden neu bilden zu können, und auf Koſten

der preußiſchen und öſtreichiſchen Bundesleiſtungen eine kleinſtaat¬

liche Exiſtenz zu führen, recht ſtarke particulariſtiſche Bewegungen

in den Elbherzogthümern hervorgerufen. Das Großherzogthum

Baden hat ſeit dem Markgrafen Ludwig vor Belgrad kaum eine

dynaſtiſche Erinnerung; das raſche Anwachſen dieſes kleinen Fürſten¬

thums unter franzöſiſcher Protection im Rheinbunde, das Hofleben

der letzten Fürſten der alten Linie, die eheliche Verbindung mit dem

Hauſe Beauharnais, die Caſpar Hauſer-Geſchichte, die revolutionären

Vorgänge von 1832, die Vertreibung des bürgerfreundlichen Gro߬

herzogs Leopold, die Vertreibung des regirenden Hauſes 1849 haben

den Zwang der dynaſtiſchen Fügſamkeit im Lande nicht brechen

können, und Baden hat 1866 ſeinen Krieg gegen Preußen und die

deutſche Idee geführt, weil die dynaſtiſchen Intereſſen des regiren¬

den Hauſes es unabweislich machten.

Die andern europäiſchen Völker bedürfen einer ſolchen Ver¬

mittlung für ihren Patriotismus und ihr Nationalgefühl nicht.

Polen, Ungarn, Italiener, Spanier, Franzoſen würden unter einer

jeden Dynaſtie oder ganz ohne eine ſolche ihren einheitlichen Zu¬

ſammenhang als Nation bewahren. Die germaniſchen Stämme

des Nordens, die Schweden und Dänen, haben ſich von dynaſtiſcher

Sentimentalität ziemlich frei erwieſen, und in England gehört zwar

der äußerliche Reſpect vor der Krone zu den Erforderniſſen der

guten Geſellſchaft und wird die formale Erhaltung des König¬

[293/0320]

Dynaſtiſche Anhänglichkeit bei deutſchen Stämmen.

thums von allen den Parteien, die bisher an der Herrſchaft An¬

theil gehabt haben, für nützlich gehalten, aber ich glaube nicht,

daß das Volk zerfallen oder daß ähnliche Gefühle, wie zur Zeit

der Jacobiten, ſich thatkräftig geltend machen würden, wenn die

geſchichtliche Entwicklung einen Dynaſtiewechſel oder den Ueber¬

gang zur Republik für das britiſche Volk nöthig oder nützlich er¬

ſcheinen ließe.

Das Vorwiegen der dynaſtiſchen Anhänglichkeit und die Un¬

entbehrlichkeit einer Dynaſtie als Bindemittel für das Zuſammen¬

halten eines beſtimmten Bruchtheils der Nation unter dem Namen

der Dynaſtie iſt eine ſpecifiſch reichsdeutſche Eigenthümlichkeit. Die

beſondern Nationalitäten, die ſich bei uns auf der Baſis des

dynaſtiſchen Familienbeſitzes gebildet haben, begreifen in ſich in den

meiſten Fällen Heterogene, deren Zuſammengehörigkeit weder auf der

Gleichheit des Stammes, noch auf der Gleichheit der geſchichtlichen

Entwicklung beruht, ſondern ausſchließlich auf der Thatſache einer

in vielen Fällen anfechtbaren Erwerbung durch die Dynaſtie nach

dem Rechte des Stärkern, oder des erbrechtlichen Anfalls vermöge

der Verwandſchaft, der Erbverbrüderung, oder der bei Wahl¬

capitulationen von dem kaiſerlichen Hofe erlangten Anwartſchaft.

Welches immer der Urſprung dieſer particulariſtiſchen Zuſammen¬

gehörigkeit in Deutſchland iſt, das Ergebniß derſelben bleibt die

Thatſache, daß der einzelne Deutſche leicht bereit iſt, ſeinen deut¬

ſchen Nachbarn und Stammesgenoſſen mit Feuer und Schwert zu

bekämpfen und perſönlich zu tödten, wenn infolge von Streitig¬

keiten, die ihm ſelbſt nicht verſtändlich ſind, der dynaſtiſche Befehl

dazu ergeht. Die Berechtigung und Vernünftigkeit dieſer Eigen¬

thümlichkeit zu prüfen, iſt nicht die Aufgabe eines deutſchen Staats¬

mannes, ſo lange ſie ſich kräftig genug erweiſt, um mit ihr

rechnen zu können. Die Schwierigkeit, ſie zu zerſtören und zu

ignoriren, oder die Einheit theoretiſch zu fördern, ohne Rückſicht

auf dieſes praktiſche Hemmniß, iſt für die Vorkämpfer der Einheit

oft verhängnißvoll geweſen, namentlich bei Benutzung der günſtigen

[294/0321]

Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.

Umſtände der nationalen Bewegung von 1848 bis 1850. Ich habe

ein volles Verſtändniß für die Anhänglichkeit der heutigen welfiſchen

Partei an die alte Dynaſtie, und ich weiß nicht, ob ich ihr, wenn

ich als Alt-Hanoveraner geboren wäre, nicht angehörte. Aber ich

würde auch in dem Falle immer der Wirkung des nationalen deut¬

ſchen Gefühls mich nicht entziehn können und mich nicht wundern,

wenn die vis major der Geſammtnationalität meine dynaſtiſche

Mannestreue und perſönliche Vorliebe ſchonungslos vernichtete.

Die Aufgabe, mit Anſtand zu Grunde zu gehn, fällt in der

Politik, und nicht blos in der deutſchen, auch andern und ſtärker

berechtigten Gemüthsregungen zu, und die Unfähigkeit, ſie zu er¬

füllen, vermindert einigermaßen die Sympathie, welche die kur¬

braunſchweigiſche Vaſallentreue mir einflößt. Ich ſehe in dem

deutſchen Nationalgefühl immer die ſtärkere Kraft überall, wo ſie

mit dem Particularismus in Kampf geräth, weil der letztre, auch

der preußiſche, ſelbſt doch nur entſtanden iſt in Auflehnung gegen

das geſammtdeutſche Gemeinweſen, gegen Kaiſer und Reich, im

Abfall von Beiden, geſtützt auf päpſtlichen, ſpäter franzöſiſchen, in

der Geſammtheit welfchen Beiſtand, die alle dem deutſchen Gemein¬

weſen gleich ſchädlich und gefährlich waren. Für die welfiſchen

Beſtrebungen iſt für alle Zeit ihr erſter Merkſtein in der Geſchichte,

der Abfall Heinrichs des Löwen vor der Schlacht bei Legnano,

entſcheidend, die Deſertion vom Kaiſer und Reich im Augenblick

des ſchwerſten und gefährlichſten Kampfes, aus perſönlichem und

dynaſtiſchem Intereſſe.

Dynaſtiſche Intereſſen haben in Deutſchland inſoweit eine Be¬

rechtigung, als ſie ſich dem allgemeinen nationalen Reichsintereſſe

anpaſſen; ſie können mit dieſem ſehr wohl Hand in Hand gehn,

und ein reichstreuer Herzog im alten Sinne iſt dem Ganzen unter

Umſtänden nützlicher als direkte Beziehungen des Kaiſers zu den

herzoglichen Hinterſaſſen. So weit aber die dynaſtiſchen Inter¬

eſſen uns mit neuer Zerſplitterung und Ohnmacht der Nation

bedrohn ſollten, müßten ſie auf ihr richtiges Maß zurückgeführt

[295/0322]

Welfentreue. Inwieweit ſind dynaſtiſche Intereſſen berechtigt?

werden. Das deutſche Volk und ſein nationales Leben können

nicht unter fürſtlichen Privatbeſitz vertheilt werden. Ich bin mir

jeder Zeit klar darüber geweſen, daß dieſe Erwägung auf die

kurbrandenburgiſche Dynaſtie dieſelbe Anwendung findet, wie auf

die bairiſche, die welfiſche und andre; ich würde gegen das

brandenburgiſche Fürſtenhaus keine Waffen gehabt haben, wenn ich

ihm gegenüber mein deutſches Nationalgefühl durch Bruch und

Auflehnung hätte bethätigen müſſen; die geſchichtliche Prädeſtination

lag aber ſo, daß meine höfiſchen Talente hinreichten, um den König

und damit ſchließlich ſein Heer der deutſchen Sache zu gewinnen.

Ich habe gegen den preußiſchen Particularismus vielleicht noch

ſchwierigere Kämpfe durchzuführen gehabt als gegen den der übrigen

deutſchen Staaten und Dynaſtien, und mein angebornes Ver¬

hältniß zu dem Kaiſer Wilhelm I. hat mir dieſe Kämpfe er¬

ſchwert. Doch iſt es mir ſchließlich ſtets gelungen, trotz der ſtarken

dynaſtiſchen, aber Dank der dynaſtiſch berechtigten und in entſchei¬

denden Momenten immer ſtärker werdenden nationalen Strebungen

des Kaiſers ſeine Zuſtimmung für die deutſche Seite unſrer Ent¬

wicklung zu gewinnen, auch wenn eine mehr dynaſtiſche und par¬

ticulariſtiſche von allen andern Seiten geltend gemacht wurde. In

der Nikolsburger Situation wurde mir dies nur mit dem Beiſtande

des damaligen Kronprinzen möglich. Die territoriale Souveränetät

der einzelnen Fürſten hatte ſich im Laufe der deutſchen Geſchichte

zu einer unnatürlichen Höhe entwickelt; die einzelnen Dynaſtien,

Preußen nicht ausgenommen, hatten an ſich dem deutſchen Volke

gegenüber auf Zerſtückelung des letztern für ihren Privatbeſitz, auf

den ſouveränen Antheil am Leibe des Volkes niemals ein höheres

hiſtoriſches Recht, als unter den Hohenſtaufen und unter Karl V.

in ihrem Beſitz war. Die unbeſchränkte Staatsſouveränetät der

Dynaſtien, der Reichsritter, der Reichsſtädte und Reichsdörfer war

eine revolutionäre Errungenſchaft auf Koſten der Nation und ihrer

Einheit. Ich habe ſtets den Eindruck des Unnatürlichen von der

Thatſache gehabt, daß die Grenze, welche den niederſächſiſchen Alt¬

[296/0323]

Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.

märker bei Salzwedel von dem kurbraunſchweigiſchen Niederſachſen

bei Lüchow, in Moor und Haide dem Auge unerkennbar, trennt,

doch den zu beiden Seiten plattdeutſch redenden Niederſachſen an

zwei verſchiedene, einander unter Umſtänden feindliche völkerrechtliche

Gebilde verweiſen will, deren eines von Berlin, und das andre

früher von London, ſpäter von Hanover regirt wurde, das eine

Augen rechts nach Oſten, das andre Augen links nach Weſten bereit

ſtand, und daß friedliche und gleichartige, im Connubium verkehrende

Bauern dieſer Gegend, der eine für welfiſch-habsburgiſche, der andre

für hohenzollernſche Intereſſen auf einander ſchießen ſollten. Daß

dieß überhaupt möglich war, beweiſt die Tiefe und Gewalt des Ein¬

fluſſes dynaſtiſcher Anhänglichkeit auf den Deutſchen. Daß die Dyna¬

ſtien jederzeit ſtärker geblieben ſind als Preſſe und Parlamente,

hat ſich durch die Thatſache beſtätigt, daß 1866 Bundesländer,

deren Dynaſtien im Bereich des öſtreichiſchen Einfluſſes lagen, ohne

Rückſicht auf nationale Beſtrebungen mit Oeſtreich, und nur ſolche,

welche „unter den preußiſchen Kanonen“ lagen, mit Preußen gingen.

Von den letztern machten allerdings Hanover, Heſſen und Naſſau

Ausnahmen, weil ſie Oeſtreich für ſtark genug hielten, um alle

Zumuthungen Preußens ſiegreich abweiſen zu können. Sie haben

infolge deſſen die Zeche bezahlt, da es nicht gelang, dem Könige

Wilhelm die Vorſtellung annehmbar zu machen, daß Preußen, an

der Spitze des Norddeutſchen Bundes, einer Vergrößerung ſeines

Gebietes kaum bedürfen würde. Gewiß aber iſt, daß auch 1866

die materielle Macht der Bundesſtaaten den Dynaſtien und nicht

den Parlamenten folgte, und daß ſächſiſches, hanöverſches und

heſſiſches Blut nicht für die deutſche Einheit, ſondern dagegen ver¬

goſſen iſt.

Die Dynaſtien bildeten überall den Punkt, um den der deutſche

Trieb nach Sonderung in engern Verbänden ſeine Kryſtalle anſetzte.

[[297]/0324]

Vierzehntes Kapitel.

Conflicts-Miniſterium.

I.

Bei der Vertheilung der Miniſterien, wofür die Auswahl an

Candidaten klein war, verurſachte das Finanzminiſterium den ge¬

ringſten Aufenthalt; es wurde Herrn Karl von Bodelſchwingh —

Bruder des im März 1848 abgetretenen Miniſters des Innern,

Ernſt von Bodelſchwingh — zugetheilt, der es bereits unter Man¬

teuffel von 1851 bis 1858 gehabt hatte. Es zeigte ſich freilich

bald, daß er und der Graf Itzenplitz, dem das Handelsminiſterium

zufiel, nicht im Stande waren, ihre Miniſterien zu leiten. Beide

beſchränkten ſich darauf, die Beſchlüſſe der ſachkundigen Räthe mit

ihrer Unterſchrift zu verſehn und nach Möglichkeit die Divergenzen

zu vermitteln, in welche die Beſchlüſſe der theils liberalen, theils

in engen Reſſort-Geſichtspunkten befangenen Räthe mit der Politik

des Königs und des Staatsminiſteriums gerathen konnten. Die

ſehr ſachkundigen Mitglieder des Finanzminiſteriums gehörten inner¬

lich der Mehrzahl nach der Oppoſition gegen das Conflictsmini¬

ſterium an und betrachteten es als eine kurze Epiſode in der libe¬

ralen Fortbildung der bürokratiſchen Regirungsmaſchine; und wenn

die tüchtigſten unter ihnen zu gewiſſenhaft waren, um die Thätig¬

keit der Regirung zu hemmen, ſo leiſteten ſie doch einen paſſiven

Widerſtand, wo ihr amtliches Pflichtgefühl ihnen einen ſolchen er¬

laubte, der immerhin nicht unerheblich war. Aus dieſer Sachlage

[298/0325]

Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium.

ergab ſich das wunderliche Verhältniß, daß Herr von Bodelſchwingh,

der nach ſeiner perſönlichen Stellung die äußerſte Rechte unter

uns Miniſtern bildete, in der Regel mit ſeinem Votum die äußerſte

Linke einnahm.

Ebenſo war der Handelsminiſter Graf Itzenplitz nicht im

Stande, das Steuer ſeines überladenen miniſteriellen Fahrzeugs

ſelbſtändig zu führen, ſondern trieb in der Strömung, welche

ſeine Untergebenen ihm herſtellten. Wenn es vielleicht unmöglich

war, für die mannichfaltigen Verzweigungen des damaligen Handels¬

miniſteriums einen Chef zu finden, der in allen ihm unterſtellten

Diſciplinen zur Führung ſeiner Untergebenen befähigt geweſen

wäre, ſo ſtand der Graf Itzenplitz den von ihm zu löſenden Auf¬

gaben viel fremder gegenüber, als z. B. von der Heydt, und ver¬

fiel ziemlich hülflos der in techniſchen Fragen ſachkundigen Leitung

der Decernenten, namentlich Delbrücks. Außerdem war er eine

weiche Natur, ohne die zur Leitung eines ſo großen Reſſorts

nöthige Energie; ſelbſt den Unredlichkeiten gegenüber, die da¬

mals einzelnen hervorragenden Mitarbeitern des Handelsminiſte¬

riums ſchuldgegeben wurden und die den perſönlich ehrliebenden

Chef auf's Höchſte beunruhigten, wurde ihm das Einſchreiten ſehr

ſchwer, weil die techniſche Leiſtung der ihm ſelbſt verdächtigen Be¬

amten ihm unentbehrlich ſchien. Unterſtützung meiner Politik hatte

ich perſönlich von den in Rede ſtehenden beiden Collegen nicht zu

erwarten, weder nach ihrem Verſtändniß für dieſelbe, noch nach

dem Maß von Wohlwollen, welches ſie für mich als jüngern

und urſprünglich dem Geſchäft nicht angehörigen Präſidenten übrig

hatten.

Als Miniſter des Innern fand ich Herrn von Jagow vor,

der durch die Lebhaftigkeit ſeines Tones, ſeinen Wortreichthum und

die rechthaberiſche Färbung ſeiner Diſcuſſion ſich binnen Kurzem

die Abneigung ſeiner Collegen in dem Grade zuzog, daß er durch

den Grafen Friedrich Eulenburg erſetzt werden mußte. Charak¬

teriſtiſch für ihn iſt ein Erlebniß, das wir mit ihm hatten, nach¬

[299/0326]

Die neuen Miniſter: Bodelſchwingh, Itzenplitz, Jagow, Selchow, Eulenburg.

dem er ausgeſchieden und in die Stelle des Oberpräſidenten in

Potsdam eingerückt war. In wichtigen Angelegenheiten der Stadt

Berlin ſchwebten Verhandlungen, in denen er das reſſortmäßige

Mittelglied zwiſchen der Regirung und den Gemeindebehörden

war. Die Dringlichkeit der Sache brachte es mit ſich, daß das

Staatsminiſterium den Oberbürgermeiſter erſuchte, ſich nach Pots¬

dam zu begeben und über einen entſcheidenden Punkt die Anträge

des Oberpräſidenten mündlich einzuholen und darüber in einer zu

dem Zweck angeſagten Abendſitzung des Miniſteriums zu berichten.

Der Oberbürgermeiſter hatte eine zweiſtündige Audienz; aber zur

Berichterſtattung darüber in der Sitzung erſcheinend, erklärte er,

eine ſolche nicht machen zu können, weil er während der zwei

Stunden, die zwiſchen den beiden Zügen lagen, dem Herrn Ober¬

präſidenten gegenüber nicht zu Worte gekommen ſei. Er habe es

wiederholt und bis zur Unhöflichkeit verſucht, ſeine Frage zu ſtellen,

ſei aber von dem Vorgeſetzten ſtets und mit ſteigender Energie

mit den Worten zur Ruhe verwieſen worden: „Erlauben Sie, ich

bin noch nicht fertig, bitte mich ausreden zu laſſen.“ Dieſer Be¬

richt des Oberbürgermeiſters erzeugte einen geſchäftlichen Verdruß,

rief aber doch in der Erinnerung an eigne frühere Erlebniſſe einige

Heiterkeit hervor.

Mein landwirthſchaftlicher College von Selchow entſprach in

ſeiner Begabung nicht dem Rufe, der ihm in der Provinzial¬

verwaltung vorhergegangen war. Der König hatte ihm das zur

Zeit wichtigſte Miniſterium des Innern zugedacht. Nach einer

längern Unterredung, in der ich die Bekanntſchaft des Herrn

von Selchow machte, bat ich Se. Majeſtät, davon abzuſtehn,

weil ich ihn der Aufgabe nicht für gewachſen hielt, und ſchlug

ſtatt ſeiner den Grafen Friedrich Eulenburg vor. Beide Herrn

ſtanden mit dem Könige in maureriſchen Beziehungen und wurden

bei den Schwierigkeiten, die die Vervollſtändigung des Miniſte¬

riums hatte, erſt im December zum Eintritt bewogen. Der König

hatte Zweifel an Graf Eulenburgs Sachkunde auf dem Gebiete

[300/0327]

Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium.

des Innern, wollte ihm das Handelsminiſterium, dem Grafen

Itzenplitz die Landwirthſchaft und Selchow das Innere geben.

Ich entwickelte dem gegenüber, daß die reſſortmäßige Sachkunde

als Handelsminiſter bei Eulenburg und Selchow auf ziemlich gleicher

Stufe ſtehn und jedenfalls mehr bei ihren Räthen als bei ihnen

ſelbſt zu ſuchen ſein würde, daß ich in dieſem Falle viel mehr

Gewicht auf perſönliche Begabung, Geſchick und Menſchenkenntniß

legte, als auf techniſche Vorbildung. Ich gäbe zu, daß Eulenburg

arbeitsſcheu und vergnügungsſüchtig ſei: er ſei aber auch geſcheidt

und ſchlagfertig, und wenn er als Miniſter des Innern in der

nächſten Zeit als der Vorderſte auf der Breſche ſtehn müſſe, ſo

werde das Bedürfniß, ſich zu wehren und die Schläge, die er be¬

kommen, zu erwidern, ihn aus ſeiner Unthätigkeit heraus ſpornen.

Der König gab mir endlich nach, und ich glaube auch noch heut,

daß meine Wahl den Umſtänden nach richtig war; denn wenn ich

auch unter dem Mangel an Arbeitſamkeit und Pflichtgefühl meines

Freundes Eulenburg mitunter ſchwer gelitten habe, ſo war er doch

in den Zeiten ſeiner Arbeitsluſt ein tüchtiger Gehülfe und immer

ein feiner Kopf, nicht ohne Ehrgeiz und Empfindlichkeit, auch mir

gegenüber. Wenn die Periode der Entſagung und angeſtrengten

Arbeit länger als gewöhnlich dauerte, ſo verfiel er in nervöſe

Krankheiten. Jedenfalls waren er und Roon die Hervorragendſten

in dem Conflictsminiſterium.

Roon aber war der einzige unter meinen ſpätern Collegen,

der bei meinem Eintritt in das Amt ſich der Wirkung und des

Zweckes deſſelben und des gemeinſamen Operationsplanes bewußt

war und den letztern mit mir beſprach. Er war unerreicht in

der Treue, Tapferkeit und Leiſtungsfähigkeit, womit er vor und

nach meinem Eintritt die Kriſis überwinden half, in die der

Staat durch das Experiment der neuen Aera gerathen war. Er

verſtand ſein Reſſort und beherrſchte es, war der beſte Redner

unter uns, ein Mann von Geiſt und unerſchütterlich in der Ge¬

ſinnung eines ehrliebenden preußiſchen Offiziers. Mit vollem Ver¬

[301/0328]

v. Roon, v. Mühler.

ſtändniß für politiſche Fragen wie Eulenburg, war er conſequenter,

ſichrer und beſonnener als dieſer. Sein Privatleben war einwands¬

frei. Ich war mit ihm von meinen Kinderjahren her, als er, mit

topographiſchen Aufnahmen beſchäftigt, ſich im Hauſe meiner Eltern

aufhielt (1833), perſönlich befreundet und habe nur unter ſeinem

Jähzorn zuweilen gelitten, der ſich leicht bis zur Gefährdung ſeiner

Geſundheit ſteigerte. In der Zeit, während deren ich krankheits¬

halber das Präſidium an ihn abgegeben hatte, 1873, machten ſich

Streber, wie Harry Arnim und jüngere Militärs, dieſelben, die mit

ihren Verbündeten in der „Kreuzzeitung“ und durch die „Reichs¬

glocke“ gegen mich arbeiteten, an ihn heran und ſuchten ihn mir

zu entfremden. Seine Präſidialſtellung nahm ohne meine Mit¬

wirkung ein Ende auf die Initiative meiner übrigen Collegen,

die bei ihm, deſſen Heftigkeit ſich mit den Jahren ſteigerte und

der ſeinerſeits von unſern Mitarbeitern in Civil nicht imponirt

war, die Formen vermißten, auf welche ſie im collegialen Verkehr

Anſpruch machten, und bei mir, und durch Eulenburg vertraulich

bei dem Könige, anregten, daß ich das Präſidium wieder über¬

nehmen möchte. Daraus entſtand zu meinem Bedauern und ohne

meine Abſicht, hauptſächlich durch Zwiſchenträgereien, in Roons

letzten Jahren nicht grade eine Erkältung, doch eine Zurückhaltung,

und bei mir die Empfindung, daß mein beſter Freund und Kamerad

den Lügen und Verleumdungen, welche über mich ſyſtematiſch ver¬

breitet wurden, nicht mit der Entſchiedenheit entgegentrat, welche

ich, wie ich glaube, im umgekehrten Falle bethätigt haben würde.

Der Cultusminiſter von Mühler hatte viel Aehnlichkeit mit

ſeinem ſpätern Nachfolger, Herrn von Goßler, in der Art, wie er

ſich geſchäftlich gab, nur daß die Energie und die geſchäftliche Lieb¬

haberei ſeiner geſcheidten und, wenn ſie wollte, liebenswürdigen

Frau auf ihn wirkte und er ihrer ſtärkern Willenskraft vielleicht

unterlag; ich wußte das anfangs allerdings nicht aus direkter Wahr¬

nehmung, ſondern konnte es nur nach dem Eindrucke ſchließen, den

beide Perſönlichkeiten mir im Verkehr gemacht hatten. Ich er¬

[302/0329]

Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium.

innere mich, daß ich ſchon in Gaſtein im Auguſt 1865 bis zur

Unhöflichkeit darauf beſtehn mußte, allein mit Herrn von Mühler

über einen königlichen Befehl zu ſprechen, ehe es mir gelang, die

Frau Miniſterin zu bewegen, uns allein zu laſſen. Das Vorkommen

einer ſolchen Nöthigung hatte ſeinerſeits Verſtimmungen zur Folge,

die ſich bei ſeiner ſachkundigen Behandlung der Dinge auf mein

geſchäftliches Verhältniß zunächſt nicht übertrugen, aber doch die

Ergebniſſe unſres perſönlichen Verkehrs beeinträchtigten. Frau von

Mühler empfing ihre politiſche Direction nicht von ihrem Gemale,

ſondern von Ihrer Majeſtät, mit welcher Fühlung zu erhalten ſie

vor Allem beſtrebt war. Die Hofluft, die Rangfragen, die äußer¬

liche Kundgebung Allerhöchſter Intimität haben nicht ſelten auf

Miniſterfrauen einen Einfluß, der ſich in der Politik fühlbar macht;

die perſönliche, der Staatsraiſon in der Regel zuwiderlaufende

Politik der Kaiſerin Auguſta fand in Frau von Mühler eine be¬

reitwillige Dienerin, und Herr von Mühler, wenn auch ein ein¬

ſichtiger und ehrlicher Beamter, war doch nicht feſt genug in

ſeinen Ueberzeugungen, um nicht dem Hausfrieden Conceſſionen

auf Koſten der Staatspolitik zu machen, wenn es in unauffälliger

Weiſe geſchehn konnte.

Der Juſtizminiſter Graf zur Lippe hatte vielleicht von ſeiner

Thätigkeit als Staatsanwalt die Gewohnheit beibehalten, auch das

Schärfſte mit lächelnder Miene, mit einem höhniſchen Ausdrucke

von Ueberlegenheit zu ſagen, und verſtimmte dadurch die Parlamente

und die Collegen. Er ſtand nächſt Bodelſchwingh am weiteſten

rechts unter uns und war in Vertretung ſeiner Richtung ſchärfer

als dieſer, weil er in ſeinem Reſſort ſachkundig genug war, um

ſeiner perſönlichen Ueberzeugung folgen zu können, während Bodel¬

ſchwingh den Geſchäftsgang des Finanzminiſteriums ohne den wil¬

ligen Beiſtand ſeiner ſachkundigen Räthe nicht beherrſchen konnte,

dieſe Räthe aber in ihrer politiſchen Auffaſſung weiter links ſtanden

als ihr Chef und das ganze Miniſterium.

[303/0330]

Graf zur Lippe. Schreiben des Königs an Vincke.

II.

Die ſtaatsrechtliche Frage, um welche es ſich in dem Conflicte

handelte, und die Auffaſſung derſelben, welche das Miniſterium

gewonnen und der König gutgeheißen hatte, iſt in einem Schreiben

Sr. Majeſtät an den Oberſtlieutenant Freiherrn von Vincke auf

Olbendorf bei Grottkau dargelegt, welches ſeiner Zeit in der Preſſe

erwähnt, aber, ſo viel ich mich erinnere, nicht vollſtändig veröffent¬

licht worden iſt 1), was daſſelbe um ſo mehr verdient, als ſich daraus

die Haltung des Königs in der Frage der Indemnität erklärt.

Herr von Vincke hatte ein Glückwunſchſchreiben zu Neujahr

1863 mit folgenden Sätzen geſchloſſen: „Das Volk hängt treu an

Ew. M., aber es hält auch feſt an dem Recht, welches ihm der

Artikel 99 der Verfaſſung unzweideutig gewährt. Möge Gott die

unglücklichen Folgen eines großen Mißverſtändniſſes in Gnaden

abwenden.“

Der König antwortete am 2. Januar 1863:

„Für Ihre freundlichen Glückwünſche beim Jahreswechſel danke

ich Ihnen beſtens. Daß der Blick in das neue Jahr nicht freund¬

lich iſt, bedarf keines Beweiſes. Daß aber auch Sie in das Horn

ſtoßen, daß ich nicht die Stimmung des bei Weitem größten Theils

des Volkes kenne, iſt mir unbegreiflich, und Sie müſſen meine Ant¬

worten an die vielen Loyalitäts-Deputationen nicht geleſen haben.

Immer und immer habe ich es wiederholt, daß mein Vertrauen

zu meinem Volk unerſchüttert ſey, weil ich wüßte, daß es mir

vertraue; aber Diejenigen, welche mir die Liebe und das Vertrauen

deſſelben rauben wollten, die verdamme ich, weil ihre Pläne nur

ausführbar ſind, wenn dies Vertrauen erſchüttert wird. Und daß

zu dieſem Zwecke Jenen alle Wege recht ſind, weiß die ganze

1)

Es findet ſich veröffentlicht bei L. Schneider, Aus dem Leben

Wilhelms I. Bd. I 194/197.

[304/0331]

Vierzehntes Kapitel: Conflicts-Miniſterium.

Welt, denn nur Lüge und Trug und Lug kann ihre Pläne zur

Reife bringen.

Sie ſagen ferner: das Volk verlange die Ausführung des

§ 99 der Verfaſſung. Ich möchte wohl wiſſen, wie viele Menſchen

im Volke den § 99 kennen oder ihn je haben nennen hören!!!

Das iſt aber einerlei und thut nichts zur Sache, da für die Re¬

gierung der Paragraph exiſtirt und befolgt werden muß. Wer hat

denn aber die Ausführung des Paragraphen unmöglich gemacht? Habe

ich nicht von der Winter- zur Sommer-Session die Concession von

4 Millionen gemacht und danach das Militair-Budget — leider! —

modificirt? Habe ich nicht mehrere andere Concessionen — leider! —

gemacht, um das Entgegenkommen der Regierung dem neuen Hauſe

zu beweiſen? Und was iſt die Folge geweſen?? Daß das Ab¬

geordnetenhaus gethan hat, als hätte ich nichts gethan, um ent¬

gegenzukommen, um nur immer mehr und neue Concessionen zu

erlangen, die zuletzt dahin führen ſollten, daß die Regierung un¬

möglich würde. Wer einen ſolchen Gebrauch von ſeinem Rechte

macht, d. h. das Budget ſo reducirt, daß Alles im Staate aufhört,

der gehört in's Tollhaus! Wo ſteht es in der Verfaſſung, daß nur

die Regierung Concessionen machen ſoll und die Abgeordneten nie¬

mals??? Nachdem ich die meinigen in unerhörter Ausdehnung ge¬

macht hatte, war es am Abgeordnetenhaus, die ſeinigen zu machen.

Dies aber wollte es unter keiner Bedingung, und die ſogenannte

,Episode‘ bewies wohl mehr wie ſonnenklar, daß uns eine Falle

nach der anderen gelegt werden ſollte, in welche ſogar Ihr

Vetter Patow und Schwerin fielen durch die Schlechtigkeit des

Bockum-Dolffs. 234000 Reichsthaler ſollten noch pro 1862 ab¬

geſetzt werden, um das Budget annehmen zu können, während

der Kern der Frage erſt 1863 zur Sprache kommen ſollte; dies

lag gedruckt vor; und als ich darauf eingehe, erklärt nun erſt

Bockum-Dolffs, daß ihrerſeits, d. h. ſeiner politiſchen Freunde, dies

Eingehen nur angenommen werden könne, wenn ſofort in der

Commiſſion die Zuſage und anderen Tags im Plenum das Geſetz

[305/0332]

Schreiben des Königs an Vincke.

einer zweijährigen Dienſtzeit eingebracht werde. Und als ich darauf

nicht eingehe, verhöhnt uns B. D. durch ſeine Preſſe: ‚nun ſolle

man ſich die Unverſchämtheit der Regierung denken, dem Hauſe

zuzumuthen, um 234000 Reichsthaler Frieden anzubieten!‛ Und

doch lag nur dies Anerbieten Seitens des Hauſes vor! Iſt

jemals eine größere Infamie aufgeführt worden, um die Regierung

zu verunglimpfen und das Volk zu verwirren?

Das Abgeordnetenhaus hat von ſeinem Recht Gebrauch ge¬

macht und das Budget reducirt.

Das Herrenhaus hat von ſeinem Recht Gebrauch gemacht

und das reducirte Budget en bloc verworfen.

Was ſchreibt die Verfaſſung in einem ſolchen Falle vor?

Nichts! —

Da, wie oben gezeigt, das Abgeordnetenhaus ſein Recht zur

Vernichtung der Armée und des Landes benutzte, ſo mußte ich

wegen jenes ‚Nichts‛ suppléiren und als guter Hausvater das Haus

weiter führen und ſpätere Rechenſchaft geben. Wer hat

alſo den § 99 unmöglich gemacht??? Ich wahrlich nicht!

Wilhelm.“

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 20

[[306]/0333]

Fünfzehntes Kapitel.

Die Alvenslebenſche Convention.

Gegenüber der Bewegung in Polen, die gleichzeitig mit der

Umwälzung in Italien, und nicht ohne Zuſammenhang mit ihr,

durch die Landestrauer, die kirchliche Feier vaterländiſcher Er¬

innerungstage und die Agitation der landwirthſchaftlichen Ver¬

eine begann, war man in Petersburg ziemlich lange ſchwankend

zwiſchen Polonismus und Abſolutismus. Die den Polen freund¬

liche Strömung hing zuſammen mit dem in der höhern ruſſiſchen

Geſellſchaft laut gewordenen Verlangen nach einer Verfaſſung.

Man empfand es als eine Demüthigung, daß die Ruſſen, die doch

auch gebildete Leute wären, Einrichtungen entbehren müßten, die

bei allen europäiſchen Völkern exiſtirten, und daß ſie über ihre

eignen Angelegenheiten nicht mitzureden hätten. Der Zwieſpalt in

der Beurtheilung der polniſchen Frage erſtreckte ſich bis in die

höchſten militäriſchen Kreiſe und führte zwiſchen dem Statthalter

in Warſchau, General Graf Lambert, und dem Generalgouverneur

General Gerſtenzweig, zu einer leidenſchaftlichen Erörterung, die

mit dem nicht aufgeklärten gewaltſamen Tode des Letztern endete

(Jan. 1862). Ich wohnte ſeiner Beiſetzung in einer der evan¬

geliſchen Kirchen Petersburgs bei. Diejenigen Ruſſen, welche für

ſich eine Verfaſſung verlangten, machten zuweilen entſchuldigend

geltend, daß die Polen durch Ruſſen nicht regirbar wären und als

die Civiliſirteren erhöhten Anſpruch auf Betheiligung an ihrer Re¬

girung hätten.

[307/0334]

Polonismus und Abſolutismus am Petersburger Hofe.

Dies war die auch vom Fürſten Gortſchakow vertretene An¬

ſicht, dem parlamentariſche Einrichtungen ein Feld für europäiſche

Verwerthung ſeiner Beredſamkeit gewährt haben würden, und

den ſein Popularitätsbedürfniß widerſtandsunfähig gegen liberale

Strömungen in der ruſſiſchen „Geſellſchaft“ machte. Er war bei

der Freiſprechung von Wera Saſſulitſch (11. April 1878) der Erſte,

der zum Beifall der Zuhörer das Signal gab.

Der Kampf der Meinungen war in Petersburg recht lebhaft,

als ich im April 1862 von dort abging, und blieb ſo während

des erſten Jahres meines Miniſteramts. Ich übernahm die Leitung

des Auswärtigen Amts unter dem Eindruck, daß es ſich bei dem

am 1. Januar 1863 ausgebrochenen Aufſtande nicht blos um das

Intereſſe unſrer öſtlichen Provinzen, ſondern auch um die weiter¬

greifende Frage handelte, ob im ruſſiſchen Cabinet eine polenfreund¬

liche oder eine antipolniſche Richtung, ein Streben nach panſlaviſti¬

ſcher antideutſcher Verbrüderung zwiſchen Ruſſen und Polen oder

eine gegenſeitige Anlehnung der ruſſiſchen und der preußiſchen

Politik herrſchte. In den Verbrüderungsbeſtrebungen waren die

betheiligten Ruſſen die Ehrlicheren; von dem polniſchen Adel und

der Geiſtlichkeit wurde ſchwerlich an einen Erfolg dieſer Be¬

ſtrebungen geglaubt oder ein ſolcher als das definitive Ziel in's

Auge gefaßt. Es gab kaum einen Polen, für den die Verbrüde¬

rungspolitik mehr als eine tactiſche Evolution vorgeſtellt hätte, zu

dem Zwecke, gläubige Ruſſen zu täuſchen, ſo lange es nothwendig

oder nützlich ſein würde. Die Verbrüderung wird von dem pol¬

niſchen Adel und ſeiner Geiſtlichkeit nicht ganz, aber doch annähernd

ebenſo unwandelbar perhorreſcirt wie die mit den Deutſchen,

letztre jedenfalls ſtärker, nicht blos aus Abneigung gegen die Race,

ſondern auch in der Meinung, daß die Ruſſen in ſtaatlicher Ge¬

meinſchaft von den Polen geleitet werden würden, die Deutſchen

aber nicht.

Für Preußens deutſche Zukunft war die Haltung Rußlands

eine Frage von hoher Bedeutung. Eine polenfreundliche Richtung

[308/0335]

Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention.

der ruſſiſchen Politik war dazu angethan, die ſeit dem Pariſer

Frieden und ſchon früher gelegentlich angeſtrebte ruſſiſch-franzöſiſche

Fühlung zu beleben, und ein polenfreundliches, ruſſiſch-franzöſiſches

Bündniß, wie es vor der Julirevolution in der Luft ſchwebte, hätte

das damalige Preußen in eine ſchwierige Lage gebracht. Wir hatten

das Intereſſe, im ruſſiſchen Cabinet die Partei der polniſchen

Sympathien, auch ſolcher im Sinne Alexanders I., zu bekämpfen.

Daß Rußland ſelbſt keine Sicherheit gegen die polniſche Verbrüde¬

rung gewährte, konnte ich aus den vertraulichen Geſprächen ent¬

nehmen, die ich theils mit Gortſchakow, theils mit dem Kaiſer

ſelbſt hatte. Kaiſer Alexander war damals nicht abgeneigt, Polen

theilweis aufzugeben; er hat mir das mit dürren Worten geſagt,

wenigſtens mit Bezug auf das linke Weichſelufer, indem er, ohne

Accent darauf zu legen, Warſchau ausnahm, das immerhin als

Garniſon in der Armee ſeinen Reiz hätte und ſtrategiſch zu dem

Feſtungsdreieck an der Weichſel gehörte, Polen wäre eine Quelle

von Unruhe und europäiſchen Gefahren für Rußland, die Ruſſifi¬

cirung ſei nicht durchführbar wegen der confeſſionellen Verſchieden¬

heit und wegen des Mangels an adminiſtrativer Befähigung der

ruſſiſchen Organe. Bei uns gelinge es, das polniſche Gebiet zu

germaniſiren (?), wir hätten die Mittel dazu, weil die deutſche Be¬

völkerung gebildeter ſei als die polniſche. Der Ruſſe fühle nicht

die nöthige Ueberlegenheit, um die Polen zu beherrſchen, man

müſſe ſich auf das Minimum polniſcher Bevölkerung beſchränken,

welches die geographiſche Lage zulaſſe, alſo auf die Weichſelgrenze

und Warſchau als Brückenkopf.

Ich kann nicht darüber urtheilen, in wie weit dieſe Darlegung

des Kaiſers reiflich erwogen war. Mit Staatsmännern beſprochen

wird ſie geweſen ſein, denn eine ganz ſelbſtändige, perſönliche,

politiſche Initiative mir gegenüber habe ich vom Kaiſer nie er¬

fahren. Dieſes Geſpräch fand zu einer Zeit ſtatt, wo meine Ab¬

berufung ſchon wahrſcheinlich war, und meine nicht blos höfliche,

ſondern wahrheitsgemäße Aeußerung, daß ich meine Abberufung

[309/0336]

Alexander II. über Polen. Werth der ruſſiſchen Freundſchaft.

bedauerte und gern in Petersburg bleiben würde, veranlaßte den

Kaiſer mißverſtändlich zu der Frage, ob ich geneigt ſei, in ruſſiſche

Dienſte zu treten. Ich verneinte das höflich unter Betonung des

Wunſches, als preußiſcher Geſandter in der Nähe Sr. Majeſtät zu

bleiben. Es wäre mir damals nicht unlieb geweſen, wenn der

Kaiſer zu dem Zwecke Schritte gethan hätte, denn der Gedanke,

der Politik der neuen Aera, ſei es als Miniſter, ſei es als Ge¬

ſandter in Paris oder London ohne die Ausſicht auf Mitwirkung

an unſrer Politik, zu dienen, hatte an ſich nichts Verführeri¬

ſches. Wie ich dem Lande und meiner Ueberzeugung in London

oder Paris würde nützen können, wußte ich nicht, während

mein Einfluß bei dem Kaiſer Alexander und den hervorragenden

ſeiner Staatsmänner nicht ohne Bedeutung für unſre Intereſſen

war. Der Gedanke, Miniſter des Aeußern zu werden, war mir

unbehaglich, etwa wie der Eintritt in ein Seebad bei kaltem

Wetter; aber alle dieſe Empfindungen waren nicht ſtark genug,

um mich zu einem Eingriff in die eigne Zukunft oder zu einer

Bitte an den Kaiſer Alexander zu ſolchem Zwecke zu veranlaſſen

Nachdem ich dennoch Miniſter geworden war, ſtand zunächſt

die innere Politik mehr im Vordergrunde, als die äußere; in

dieſer aber lagen mir die Beziehungen zu Rußland Dank meiner

jüngſten Vergangenheit beſonders nahe, und ich war beſtrebt, unſrer

Politik den Beſitz an Einfluß in Petersburg, den wir dort hatten,

nach Möglichkeit zu erhalten. Es lag auf der Hand, daß die

preußiſche Politik in deutſcher Richtung damals von Oeſtreich

keine Unterſtützung zu erwarten hatte. Es war nicht wahrſchein¬

lich, daß das Wohlwollen Frankreichs für unſre Stärkung und die

deutſche Einigung auf die Dauer ehrlich ſein werde, eine Ueber¬

zeugung, die nicht hindern durfte, vorübergehende, auf irrthümlichen

Berechnungen beruhende Unterſtützung und Förderung Napoleons

utiliter anzunehmen. Mit Rußland waren wir in derſelben Lage

wie mit England, inſoweit als wir mit beiden prinzipielle diver¬

girende Intereſſen nicht hatten und durch langjährige Freundſchaft

[310/0337]

Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention.

verbunden waren. Von England konnten wir platoniſches Wohl¬

wollen und belehrende Briefe und Zeitungsartikel, aber ſchwerlich

mehr erwarten. Der zariſche Beiſtand ging, wie die ungariſche Ex¬

pedition des Kaiſers Nicolaus gezeigt hatte, unter Umſtänden über

die wohlwollende Neutralität hinaus. Daß er zu unſern Gunſten

das thun würde, darauf ließ ſich nicht rechnen, wohl aber lag es

nicht außerhalb der möglichen Rechnung, daß Kaiſer Alexander bei

franzöſiſchen Verſuchen zum Eingreifen in die deutſche Frage uns in

deren Abwehr wenigſtens diplomatiſch beiſtehn würde. Die Stim¬

mung dieſes Monarchen, die mich zu der Annahme berechtigte, hat

ſich noch 1870 erkennen laſſen, während wir damals das neutrale

und befreundete England mit ſeinen Sympathien auf franzöſiſcher

Seite fanden. Wir hatten alſo nach meiner Meinung allen Grund,

jede Sympathie, welche Alexander II. im Gegenſatz zu vielen ſeiner

Unterthanen und höchſten Beamten für uns hegte, wenigſtens in¬

ſoweit zu pflegen, als nöthig war, um Rußlands Parteinahme

gegen uns nach Möglichkeit zu verhüten. Es ließ ſich damals

nicht mit Sicherheit vorausſehn, ob und wie lange dieſes politiſche

Kapital der zariſchen Freundſchaft ſich werde praktiſch verwerthen

laſſen. Jedenfalls aber empfahl der einfache geſunde Menſchen¬

verſtand, es nicht in den Beſitz unſrer Gegner gerathen zu laſſen,

die wir in den Polen, den poloniſirenden Ruſſen und im letzten

Abſchluß wahrſcheinlich auch in den Franzoſen zu ſehn hatten.

Oeſtreich hatte damals in erſter Linie die Rivalität mit Preußen

auf deutſchem Gebiet im Auge und konnte ſich mit der polniſchen

Bewegung leichter abfinden als wir oder als Rußland, weil der

katholiſche Kaiſerſtaat ungeachtet der Reminiſcenzen von 1846 und

der auf die Köpfe polniſcher Edelleute geſetzten Preiſe doch unter

dieſen und der Geiſtlichkeit immer viel mehr Sympathie beſaß als

Preußen und Rußland.

Die Ausgleichung zwiſchen öſtreichiſch-polniſchen und ruſſiſch-

polniſchen Verbrüderungsplänen wird ſtets eine ſchwierige bleiben;

aber das Verhalten der öſtreichiſchen Politik 1863 im Bunde

[311/0338]

Preußen und Oeſtreichs Haltung im polniſchen Aufſtand.

mit den Weſtmächten zu Gunſten der polniſchen Bewegung bewies,

daß Oeſtreich die ruſſiſche Rivalität in einem wieder auferſtandenen

Polen nicht fürchtete. Hatte es doch dreimal, im April, im Juni

und unter dem 12. Auguſt mit Frankreich und England gemein¬

ſame Schritte zu Gunſten der Polen in Petersburg gethan. „Wir

haben“, heißt es in der öſtreichiſchen Note vom 18. Juni 1), „nach

den Bedingungen geforſcht, durch die dem Königreiche Polen

Ruhe und Frieden wiedergegeben werden könnten, und ſind dahin

gelangt, dieſe Bedingungen in den folgenden ſechs Punkten zu¬

ſammen zu faſſen, die wir der Erwägung des Cabinets von Sankt

Petersburg empfehlen: 1. Vollſtändige und allgemeine Amneſtie,

2. Nationale Vertretung, welche an der Geſetzgebung des Landes

theilnimmt und Mittel einer wirkſamen Controlle beſitzt, 3. Er¬

nennung von Polen zu den öffentlichen Aemtern in ſolcher Weiſe,

daß eine beſondre nationale und dem Lande Vertrauen ein¬

flößende Adminiſtration gebildet werde, 4. Volle und gänzliche Ge¬

wiſſensfreiheit und Aufhebung der die Ausübung des katholiſchen

Cultus treffenden Beſchränkungen, 5. Ausſchließlicher Gebrauch der

polniſchen Sprache als amtlicher Sprache in der Verwaltung, der

Juſtiz und dem Unterrichtsweſen, 6. Einführung eines regelmäßigen

und geſetzlichen Rekrutirungsſyſtems.“ Den Vorſchlag Gortſchakows,

daß Rußland, Oeſtreich und Preußen ſich in's Einvernehmen ſetzen

möchten, um das Loos ihrer betreffenden polniſchen Unterthanen

feſtzuſtellen, wies die öſtreichiſche Regirung mit der Erklärung

zurück, „daß das zwiſchen den drei Cabineten von Wien, London

und Paris hergeſtellte Einverſtändniß ein Band zwiſchen ihnen

bildet, von dem Oeſtreich ſich jetzt nicht loslöſen kann, um abge¬

ſondert mit Rußland zu unterhandeln“. Es war das die Situation,

in welcher Kaiſer Alexander Sr. Majeſtät in eigenhändigem

Schreiben nach Gaſtein den Entſchluß, den Degen zu ziehn, kund¬

gab und Preußens Bündniß verlangte.

1)

Im franzöſiſchen Text im Staatsarchiv V 354 ff. Nr. 887.

[312/0339]

Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention.

Es iſt nicht zu bezweifeln, daß die damalige Intimität mit

den beiden Weſtmächten zu dem Entſchluſſe des Kaiſers Franz

Joſeph mitgewirkt hat, am 2. Auguſt den Vorſtoß mit dem Fürſten¬

congreß gegen Preußen zu machen. Freilich hätte er ſich dabei in

einem Irrthum befunden und nicht gewußt, daß der Kaiſer Napoleon

der polniſchen Sache ſchon überdrüſſig und auf einen anſtändigen

Rückzug bedacht war. Graf Goltz ſchrieb mir am 31. Auguſt 1):

„Sie werden aus meiner heutigen Expedition erſehen, daß

ich mit Cäſar Ein Herz und Eine Seele bin (in der That war

er noch nie, auch zu Anfang meiner Miſſion nicht, ſo liebenswürdig

und vertraulich wie diesmal), daß Oeſterreich uns durch ſeinen

Fürſtentag, was unſre Beziehungen zu Frankreich anbetrifft, einen

großen Dienſt geleiſtet hat, und daß es nur einer befriedigenden

Beilegung der polniſchen Differenzen bedarf, um, Dank zugleich der

Abweſenheit Metternichs und der heute erfolgten Abreiſe ſeiner

hohen Freundin 2), in eine politiſche Lage zurückzugelangen, in welcher

wir den kommenden Ereigniſſen mit Zuverſicht entgegenſehen können.

Ich habe auf die Andeutungen des Kaiſers hinſichtlich der

polniſchen Angelegenheit nicht ſo weit eingehen können, als ich es

gewünſcht hätte. Er ſchien mir ein Mediationsanerbieten zu er¬

warten; aber die Aeußerungen des Königs hielten mich zurück.

Jedenfalls ſcheint es mir rathſam, das Eiſen zu ſchmieden, ſo lange

es warm iſt; der Kaiſer hat jetzt beſcheidenere Anſprüche als je,

und es iſt zu beſorgen, daß er wieder zu ſtärkeren Anforderungen

zurückkehrt, wenn etwa Oeſterreich das Frankfurter Ungeſchick durch

eine erhöhte Bereitwilligkeit in der polniſchen Frage wieder gut zu

machen bemüht ſein ſollte. Er will jetzt nur aus der Sache mit

Ehren herauskommen, erkennt die ſechs Punkte ſelbſt als ſchlecht

an und wird daher bei ihrer praktiſchen Durchführung gern ein Auge

zudrücken, weshalb es ihm vielleicht ſogar ganz recht iſt, wenn er

1)

Bismarck-Jahrbuch V 219 f.

2)

Der Kaiſerin Eugenie.

[313/0340]

Napoleon III. und die Polen. Die polniſche Frage für Preußen.

nicht vermöge einer allzu bindenden Form gezwungen wird, ihre

ſtrenge Ausführung zu überwachen. Ich fürchte nur bei der bis¬

herigen Behandlung der Sache, daß uns die Ruſſen das Verdienſt

der Beilegung nehmen, indem ſie ohne uns das thun, wozu wir (?)

ihnen zureden wollten (?). Die Reiſe des Großfürſten, der offen¬

bar nicht abberufen iſt, iſt mir in dieſer Beziehung verdächtig.

Wie, wenn der Kaiſer Alexander jetzt eine Conſtitution verkündigte

und dem Kaiſer Napoleon davon mittelſt autographen verbindlichen

Schreibens Anzeige machte? Es wäre dies immer noch beſſer als

die Fortdauer der Differenz, aber ungünſtiger für uns, als wenn

wir vorher dem Kaiſer Napoleon geſagt hätten: ,Wir ſind bereit

dazu zu rathen; würdeſt Du damit zufrieden ſein?‘“

Dieſer, ſchon 14 Tage vorher von dem General Fleury einem

Mitgliede der preußiſchen Geſandſchaft gradezu gemachten Inſinua¬

tion, dem Kaiſer Alexander zu dem bezeichneten Schritte zu rathen,

haben wir keine Folge gegeben, und der diplomatiſche Feldzug der

drei Mächte iſt im Sande verlaufen. Der ganze Plan des Grafen

Goltz ſchien mir weder politiſch richtig noch würdig, mehr im Pariſer

Sinne als in unſerm gedacht.

Oeſtreich hat der polniſchen Frage gegenüber nicht die Schwie¬

rigkeiten, die für uns in der gegenſeitigen Durchſetzung polni¬

ſcher und deutſcher Anſprüche in Polen und Weſtpreußen und in

der Lage Oſtpreußens mit der Frage einer Wiederherſtellung pol¬

niſcher Unabhängigkeit unlösbar verbunden ſind. Unſre geo¬

graphiſche Lage und die Miſchung beider Nationalitäten in den

Oſtprovinzen einſchließlich Schleſiens, nöthigen uns, die Eröffnung

der polniſchen Frage nach Möglichkeit hintanzuhalten, und ließen es

auch 1863 rathſam erſcheinen, die Eröffnung dieſer Frage durch

Rußland nicht zu fördern, ſondern, ſo viel wir konnten, zu verhüten.

Es hat vor 1863 Zeiten gegeben, da man in Petersburg auf

der Baſis der Wielopolskiſchen Theorien den Großfürſten Con¬

ſtantin mit ſeiner ſchönen Gemalin als Vicekönig von Polen in

Ausſicht nahm — die Großfürſtin trug damals polniſches Coſtüm —,

[314/0341]

Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention.

möglicherweiſe unter Herſtellung der polniſchen Verfaſſung, die,

von Alexander I. gegeben, unter dem alten Großfürſten Conſtantin

in formaler Geltung war.

Die Militärconvention, welche durch den General Guſtav

von Alvensleben im Februar 1863 in Petersburg abgeſchloſſen wurde,

hatte für die preußiſche Politik mehr einen diplomatiſchen als einen

militäriſchen Zweck 1). Sie repräſentirte einen im Cabinet des ruſſi¬

ſchen Kaiſers erfochtenen Sieg der preußiſchen Politik über die pol¬

niſche, die vertreten war durch Gortſchakow, Großfürſt Conſtantin,

Wielopolski und andre einflußreiche Perſonen. Das Ergebniß be¬

ruhte auf directer Kaiſerlicher Entſchließung im Gegenſatz zu mini¬

ſteriellen Beſtrebungen. Ein Abkommen politiſch-militäriſcher Natur,

welches Rußland mit dem germaniſchen Gegner des Panſlavismus

gegen den polniſchen „Bruderſtamm“ ſchloß, war ein entſcheidender

Schlag auf die Ausſichten der poloniſirenden Partei am ruſſiſchen

Hofe; und in dieſem Sinne hat das militäriſch ziemlich anodyne

Abkommen ſeinen Zweck reichlich erfüllt. Ein militäriſches Bedürf¬

niß war dafür an Ort und Stelle nicht vorhanden; die ruſſiſchen

Truppen waren ſtark genug, und die Erfolge der Inſurgenten exi¬

ſtirten zum großen Theil nur in den von Paris beſtellten, in Mys¬

lowitz fabrizirten, bald von der Grenze, bald vom Kriegsſchauplatze,

bald aus Warſchau datirten, zuweilen recht märchenhaften Berichten,

die zuerſt in einem Berliner Blatte erſchienen und dann ihre Runde

durch die europäiſche Preſſe machten. Die Convention war ein

gelungener Schachzug, der die Partie entſchied, die innerhalb des

ruſſiſchen Cabinets der antipolniſche monarchiſche und der poloni¬

ſirende panſlaviſtiſche Einfluß gegen einander ſpielten.

Der Fürſt Gortſchakow hatte der polniſchen Frage gegenüber

zuweilen abſolutiſtiſche, zuweilen — man kann nicht ſagen liberale

aber — parlamentariſche Anwandlungen. Er hielt ſich für einen

1)

Vgl. zum Folgenden den Brief Bismarck's an Graf Bernſtorff vom

9. März 1863, Bismarck-Jahrbuch VI 172 ff.

[315/0342]

Bedeutung der Convention. Begegnung mit Hintzpeter.

großen Redner, war das auch und gefiel ſich in der Vorſtellung,

wie Europa ſeine auf einer Warſchauer oder ruſſiſchen Tribüne

entfaltete Beredſamkeit bewundern werde. Es wurde angenommen,

daß liberale Conceſſionen, die den Polen eingeräumt würden, den

Ruſſen nicht vorenthalten werden könnten; die conſtitutionell ge¬

ſtimmten Ruſſen waren ſchon deshalb Polenfreunde.

Während die polniſche Frage die öffentliche Meinung bei uns

beſchäftigte, und die Alvenslebenſche Convention die unverſtändige

Entrüſtung der Liberalen im Landtage erregte, wurde mir in einer

Geſellſchaft bei dem Kronprinzen Herr Hintzpeter vorgeſtellt. Da

er im täglichen Verkehr mit den Herrſchaften war und ſich mir

als ein Mann von conſervativer Geſinnung zu erkennen gab, ließ

ich mich auf ein Geſpräch mit ihm ein, in dem ich ihm meine

Auffaſſung der polniſchen Frage auseinanderſetzte, in der Erwartung,

daß er hin und wieder Gelegenheit finden werde, im Sinne der¬

ſelben zu ſprechen. Einige Tage darauf ſchrieb er mir, die Frau

Kronprinzeſſin habe ihn gefragt, was ich ſo lange mit ihm ge¬

ſprochen hätte. Er habe ihr Alles erzählt und dann eine Auf¬

zeichnung ſeiner Erzählung gemacht, die er mir mit der Bitte um

Prüfung oder Berichtigung überſchickte. Ich antwortete ihm, daß

ich dieſe Bitte ablehnen müſſe; wenn ich ſie erfüllte, ſo würde ich

nach dem, was er ſelbſt meldete, nicht zu ihm, ſondern zu der Frau

Kronprinzeſſin mich ſchriftlich über die Frage äußern, was ich nur

mündlich zu thun bereit ſei.

[[316]/0343]

Sechzehntes Kapitel.

Danziger Epiſode.

I.

Kaiſer Friedrich, der Sohn des Monarchen, den ich in specie

als meinen Herrn bezeichne, hat es mir durch ſeine Liebens¬

würdigkeit und ſein Vertrauen leicht gemacht, die Gefühle, die ich

für ſeinen Herrn Vater hegte, auf ihn zu übertragen. Er war

der verfaſſungsmäßigen Auffaſſung, daß ich als Miniſter die Ver¬

antwortlichkeit für ſeine Entſchließungen trug, in der Regel zugäng¬

licher, als ſein Vater es geweſen. Auch war es ihm weniger durch

Familientraditionen erſchwert, politiſchen Bedürfniſſen im Innern

und im Auslande gerecht zu werden. Alle Behauptungen, daß

zwiſchen dem Kaiſer Friedrich und mir dauernde Verſtimmungen

exiſtirt hätten, ſind ungegründet. Eine vorübergehende entſtand

durch den Vorgang in Danzig, in deſſen Beſprechung ich mir,

ſeitdem die hinterlaſſenen Papiere Max Dunckers *)veröffentlicht

worden ſind, weniger Zurückhaltung auflege, als ſonſt geſchehn

wäre. Am 31. Mai 1863 reiſte der Kronprinz zu einer militäri¬

ſchen Inſpection nach der Provinz Preußen ab, nachdem er den

König ſchriftlich gebeten hatte, jede Octroyirung zu vermeiden.

Auf dem Zuge, mit dem er fuhr, befand ſich der Ober-Bürger¬

meiſter von Danzig, Herr von Winter, den der Prinz unterwegs

in ſein Coupé einlud und einige Tage ſpäter auf ſeinem Gute bei

*)

R. Haym, Das Leben Max Dunckers (Berlin 1891) S. 292 ff.

[317/0344]

Der Kronprinz und die Preßverordnung.

Culm beſuchte. Am 2. Juni folgte ihm die Kronprinzeſſin nach

Graudenz; am Tage vorher war die Königliche Verordnung über

die Preſſe auf Grund eines Berichtes des Staatsminiſteriums er¬

ſchienen, welcher gleichzeitig veröffentlicht wurde. Am 4. Juni

richtete Se. Kgl. Hoheit an den König ein Schreiben, in welchem

er ſich mißbilligend über dieſe Octroyirung ausſprach, ſich über

die unterlaſſene Zuziehung ſeiner zu den betreffenden Berathungen

des Staatsminiſteriums beſchwerte und über die Pflichten ausſprach,

die ihm als dem Thronfolger ſeiner Meinung nach oblägen.

Am 5. Juni fand im Rathhauſe in Danzig der Empfang der

ſtädtiſchen Behörden ſtatt, bei dem Herr von Winter ein Bedauern

darüber ausſprach, daß die Verhältniſſe es nicht geſtatteten, der

Freude der Stadt ihren vollen lauten Ausdruck zu geben. Der

Kronprinz ſagte in ſeiner Antwort unter Anderm:

„Auch ich beklage, daß ich in einer Zeit hergekommen bin,

in welcher zwiſchen Regirung und Volk ein Zerwürfniß eingetreten

iſt, welches zu erfahren mich in hohem Grade überraſcht hat. Ich

habe von den Anordnungen, die dazu geführt haben, nichts ge¬

wußt. Ich war abweſend. Ich habe keinen Theil an den Rath¬

ſchlägen gehabt, die dazu geführt haben. Aber wir Alle und ich

am meiſten, der ich die edlen und landesväterlichen Intentionen

und hochherzigen Geſinnungen Seiner Majeſtät des Königs am

beſten kenne, wir alle haben die Zuverſicht, daß Preußen unter

dem Szepter Seiner Majeſtät des Königs der Größe ſicher ent¬

gegengeht, die ihm die Vorſehung beſtimmt hat.“

Exemplare der „Danziger Zeitung“ mit einem Berichte über

den Vorgang wurden an die Redactionen Berliner und andrer

Zeitungen verſandt, die das genannte Blatt bei ſeinem weſent¬

lich localen Charakter nicht zu halten pflegten. Die Worte des

Kronprinzen erhielten daher ſofort eine weite Verbreitung und

erregten im In- und Auslande ein begreifliches Aufſehn. Aus

Graudenz überſandte er mir einen förmlichen Proteſt gegen die

Preßverordnung und verlangte Mittheilung deſſelben an das Staats¬

[318/0345]

Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.

miniſterium, die jedoch auf Befehl des Königs unterblieb. Am 7.

ging ihm eine ernſte Antwort Sr. Majeſtät auf die Beſchwerde¬

ſchrift vom 4. zu. Er bat darauf den Vater um Verzeihung wegen

eines Schrittes, den er um ſeiner und ſeiner Kinder Zukunft Willen

geglaubt hätte nicht unterlaſſen zu können, und ſtellte die Ent¬

bindung von allen ſeinen Aemtern anheim. Am 11. erhielt er

die Antwort, die ihm die erbetene Verzeihung gewährte, ſeine Be¬

ſchwerden über den Miniſter und ſein Entlaſſungsgeſuch überging

und ihm für die Zukunft Schweigen zur Pflicht machte.

Während ich die Erregung des Königs als berechtigt an¬

erkennen mußte, bemühte ich mich zu verhindern, daß er ihr

durch ſtaatliche oder auch nur öffentlich erkennbare Acte Folge

gebe. Ich mußte es mir im dynaſtiſchen Intereſſe zur Aufgabe

ſtellen, den König zu beruhigen und von Schritten, die an Friedrich

Wilhelm I. und Küſtrin erinnert hätten, abzuhalten. Es geſchah

das hauptſächlich am 10. Juni auf einer Fahrt von Babelsberg

nach dem Neuen Palais, wo Se. Majeſtät das Lehrbataillon

beſichtigte; die Unterhaltung wurde wegen der Dienerſchaft auf

dem Bocke franzöſiſch geführt. Es gelang mir in der That, die

väterliche Entrüſtung durch die Staatsraiſon zu beſänftigen, daß

in dem vorliegenden Kampfe zwiſchen Königthum und Parlament

ein Zwieſpalt innerhalb des Königlichen Hauſes abgeſtumpft,

ignorirt und todtgeſchwiegen werden, daß der Vater und König in

höherm Maße dafür Sorge tragen müſſe, daß die Intereſſen beider

nicht geſchädigt würden. „Verfahren Sie ſäuberlich mit dem Knaben

Abſalom!“ ſagte ich in Anſpielung darauf, daß ſchon Geiſtliche im

Lande über Samuelis Buch 2, Kapitel 15, Vers 3 und 4 predigten;

„vermeiden Ew. Majeſtät jeden Entſchluß ab irato, nur die Staats¬

raiſon kann maßgebend ſein“. Einen beſondern Eindruck ſchien

es zu machen, als ich daran erinnerte, daß in dem Conflicte zwiſchen

Friedrich Wilhelm I. und ſeinem Sohne dem Letztern die Sympathie

der Zeitgenoſſen und der Nachwelt gehöre, daß es nicht rathſam

ſei, den Kronprinzen zum Märtyrer zu machen.

[319/0346]

Beſchwerdeſchrift des Kronprinzen. Indiscretionen der Times.

Nachdem die Sache durch den oben erwähnten Briefwechſel

zwiſchen Vater und Sohn wenigſtens äußerlich beigelegt war, erhielt

ich ein aus Stettin vom 30. Juni datirtes Schreiben des Kron¬

prinzen, das meine ganze Politik in ſtarken Ausdrücken verurtheilte.

Sie ſei ohne Wohlwollen und Achtung für das Volk, ſtütze ſich

auf ſehr zweifelhafte Auslegungen der Verfaſſung, werde ſie dem

Volke werthlos erſcheinen laſſen und dieſes in Richtungen treiben,

die außerhalb der Verfaſſung lägen. Auf der andern Seite werde

das Miniſterium von gewagten Deutungen zu gewagteren fort¬

ſchreiten, endlich dem Könige Bruch mit derſelben anrathen. Er

werde den König bitten, ſich, ſo lange dieſes Miniſterium im Amte

ſei, der Theilnahme an den Sitzungen deſſelben enthalten zu dürfen.

Die Thatſache, daß ich, nachdem ich dieſe Aeußerung des

Thronfolgers erhalten hatte, auf dem eingeſchlagenen Wege be¬

harrte, war ein ſprechender Beweis dafür, daß mir nichts daran

lag, nach dem Thronwechſel, der ja ſehr bald eintreten konnte,

Miniſter zu bleiben. Gleichwohl nöthigte der Kronprinz mich in

einem ſpäter zu erwähnenden Geſpräche, ihm das mit ausdrück¬

lichen Worten zu ſagen.

Zur Ueberraſchung des Königs war am 16. oder 17. Juni

in der „Times“ zu leſen: „Der Prinz erlaubte ſich bei Gelegen¬

heit einer militäriſchen Dienſtreiſe mit der Politik des Souverains

in Widerſpruch zu treten und ſeine Maßregeln in Frage zu

ſtellen. Das Mindeſte, was er thun konnte, um dieſe ſchwere

Beleidigung wieder gut zu machen, war die Zurücknahme ſeiner

Aeußerungen. Dies forderte der König von ihm in einem Briefe,

hinzufügend, daß er ſeiner Würden und Anſtellungen beraubt

werden würde, wenn er ſich weigerte. Der Prinz, in Ueberein¬

ſtimmung, wie man ſagt, mit Ihrer K. H. der Prinzeſſin, ſchrieb

eine feſte Antwort auf dieſes Verlangen. Er weigerte ſich, irgend

etwas zurückzunehmen, bot die Niederlegung ſeines Commandos

und ſeiner Würden an, und bat um Erlaubniß, ſich mit ſeiner

Frau und Familie an einen Ort zurückzuziehn, wo er frei von

[320/0347]

Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.

dem Verdacht ſein könne, ſich auf irgend eine Weiſe in Staats¬

angelegenheiten zu miſchen. Dieſer Brief, ſagt man, ſei aus¬

gezeichnet, und der Prinz ſei glücklich zu preiſen im Beſitz einer

Gattin, welche nicht nur ſeine liberalen Anſichten theilt, ſondern

auch im Stande iſt, ihm in einem wichtigen und kritiſchen Augen¬

blicke ſeines Lebens ſo viel Beiſtand zu leiſten. Man könne ſich

nicht leicht eine ſchwierigere Stellung denken, als die des Prinz¬

lichen Paares ohne jeden Rathgeber, mit einem eigenwilligen

Souverain und einem verderblichen Cabinet auf einer Seite und

einem aufgeregten Volke auf der andern.“

Die Nachforſchungen nach dem Vermittler dieſes Artikels haben

zu keinem ſichern Ergebniſſe geführt. Eine Reihe von Umſtänden

ließ den Verdacht auf den Legationsrath Meyer fallen. Die aus¬

führlicheren Mittheilungen an die „Grenzboten“ und die „Süd¬

deutſche Poſt“ des Abgeordneten Brater ſcheinen durch einen kleinen

deutſchen Diplomaten *)gegangen zu ſein, der das Vertrauen der

Kronprinzlichen Herrſchaften beſaß, behielt und ein Vierteljahr¬

hundert ſpäter durch indiscrete Veröffentlichung ihm anvertrauter

Manuſcripte des Prinzen mißbraucht hat.

Der Verſicherung des Kronprinzen, um dieſe Veröffentlichung

nicht gewußt zu haben, habe ich nie einen Zweifel entgegengebracht,

auch nicht, nachdem ich geleſen, daß er in einem Briefe an Max

Duncker vom 14. Juli 1)geſchrieben hat, er wäre wenig überraſcht,

wenn man ſich Bismarckiſcher Seits in Beſitz von Abſchriften des

Briefwechſels zwiſchen ihm und dem Könige zu ſetzen gewußt hätte.

Die Urheberſchaft der Veröffentlichung glaubte ich auf der¬

ſelben Seite ſuchen zu müſſen, von woher nach meiner Ueber¬

zeugung der Kronprinz zu ſeiner Haltung beſtimmt worden war.

Wahrnehmungen während des franzöſiſchen Krieges und neuer¬

dings die Mittheilung aus Dunckers Papieren haben meine

*)

A. a. O. S. 308.

1)

Geffcken.

[321/0348]

Wer war der Urheber der Veröffentlichung?

damalige Auffaſſung beſtätigt. Wenn eine ganze Schule von

politiſchen Schriftſtellern ein Vierteljahrhundert lang das, was ſie

die engliſche Verfaſſung nannten, und wovon ſie keine eindringende

Kenntniß beſaßen, den feſtländiſchen Völkern als Muſter geprieſen

und zur Nachahmung empfohlen hatten, ſo war es erklärlich, daß

die Kronprinzeſſin und ihre Mutter das eigenthümliche Weſen des

preußiſchen Staates, die Unmöglichkeit verkannten, ihn durch wech¬

ſelnde parlamentariſche Gruppen regiren zu laſſen, war es erklärlich,

daß aus dieſem Irrthume ſich der andre erzeugte, es würden

ſich in dem Preußen des 19. Jahrhunderts die innern Kämpfe

und Kataſtrophen Englands im 17. wiederholen, wenn nicht das

Syſtem, durch welches jene Kämpfe zum Abſchluß kamen, bei uns

eingeführt werde. Ich habe nicht feſtſtellen können, ob die mir da¬

mals zugegangene Nachricht wahr iſt, daß im April 1863 die Königin

Auguſta durch den Präſidenten Ludolf Camphauſen und die Kron¬

prinzeſſin durch den Baron von Stockmar kritiſirende Denkſchriften

über die innern Zuſtände Preußens ausarbeiten ließen und zur

Kenntniß des Königs gebracht haben; daß aber die Königin, zu deren

Umgebung der Legationsrath Meyer gehörte, mit der Beſorgniß

vor Stuartiſchen Kataſtrophen erfüllt war, wußte ich und fand es

ſchon 1862 ausgeprägt in der gedrückten Stimmung, in der

der König aus Baden von der Geburtstagsfeier ſeiner Gemalin

zurückkehrte 1). Die im Kampfe mit dem Königthume liegende, von

Tag zu Tag auf den Sieg rechnende Fortſchrittspartei verſäumte

es nicht, in der Preſſe und durch die Perſonen einzelner Führer die

Situation unter die Beleuchtung zu ſtellen, welche auf weibliche Ge¬

müther beſonders wirkſam ſein mußte.

1)

S. o. S. 283 ff.

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen I. 21

[322/0349]

Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.

II.

In Gaſtein erhielt ich im Auguſt den Beſuch des Kronprinzen,

der dort von engliſchen Einflüſſen freier ſein Verhalten im Sinne

ſeines urſprünglichen Mangels an Selbſtändigkeit und ſeiner Ver¬

ehrung für den Vater, beſcheiden und liebenswürdig aus ſeiner un¬

genügenden politiſchen Vorbildung, ſeiner Fernhaltung von den Ge¬

ſchäften erklärte und ohne Rückhalt in den Formen eines Mannes

ſprach, der ſein Unrecht einſieht und mit den Einwirkungen, die

auf ihn ſtattgefunden hatten, entſchuldigt.

Im September, nachdem der König mit mir über Baden,

der Kronprinz direct von Gaſtein nach Berlin zurückgekehrt war,

gewannen die Einflüſſe und Befürchtungen wieder die Oberhand,

die ihn zu dem Auftreten im Juni bewogen hatten. Den Tag,

nachdem die Auflöſung des Abgeordnetenhauſes beſchloſſen worden,

ſchrieb er mir:

„Berlin, 3/9. 63.

Ich habe Sr. M. die Anſichten heute mitgetheilt, welche ich

Ihnen in meinem Schreiben aus Putbus [rectius Stettin] aus¬

einanderſetzte und die ich Sie bat, nicht eher dem Könige zu eröffnen,

als bis ich ſelber dies gethan. Ein folgeſchwerer Entſchluß ward

geſtern im Conſeil gefaßt; in Gegenwart der Miniſter wollte ich

Sr. M. nichts erwidern; heut iſt es geſchehen; ich habe meine Be¬

denken geäußert, habe meine ſchweren Befürchtungen für die Zu¬

kunft dargelegt. Der König weiß nunmehr, daß ich der entſchiedene

Gegner des Miniſteriums bin. Friedrich Wilhelm.“

Es kam nun auch die in dem Briefe des Kronprinzen vom

30. Juni angekündigte Bitte, von der Theilnahme an den Sitzungen

des Staatsminiſteriums diſpenſirt zu werden, zur Erörterung. Wie

das Verhältniß zwiſchen den beiden hohen Herrn damals noch war,

beweiſt der nachſtehende Brief des Miniſters von Bodelſchwingh vom

11. September 1863:

[323/0350]

Neuer Proteſt des Kronprinzen.

„Ungewiß, zu welcher Stunde Sie von Ihrer aus ſo trüber

Veranlaſſung *)unternommenen Reiſe zurückkehren und ob bald

nachher ich Sie ſprechen kann, theile ich ſchriftlich mit, daß, nach

durch den Flügeladjutanten mir gewordener Weiſung Sr. M., ich

dem Adjutanten Sr. K. H. des Kronprinzen in Ihrem Auftrage

Ihre ſchleunige Abreiſe und deren Grund mit dem Erſuchen mit¬

getheilt, Sr. K. H. für den Fall davon Kenntniß zu geben, daß

Ihre Bitte um Audienz bereits Sr. K. H. vorgetragen oder ſchon

über die Audienz Beſtimmung getroffen ſei. S. M. haben, wie

Prinz Hohenlohe mir ſagte, nicht angemeſſen erachtet, Seinerſeits

mit dem Kronprinzen über Ihre Abreiſe und die fragliche Audienz

zu reden.“

Der König hatte ſich dafür entſchieden, daß der Kronprinz,

wie ſeit 1861 geſchehn, auch ferner den Sitzungen des Staats¬

miniſteriums beiwohnen ſolle, und mich beauftragt, ihn darüber zu

verſtändigen. Ich nehme an, daß es zu der zu dieſem Zweck er¬

betenen Audienz nicht gekommen iſt; denn ich erinnere mich, daß

ich das mißverſtändliche Erſcheinen des Kronprinzen zu einer Miniſter¬

ſitzung, die an dem betreffenden Tage nicht ſtattfand, dazu benutzte,

die Erörterung einzuleiten. Ich fragte ihn, weshalb er ſich ſo fern

von der Regirung halte; in einigen Jahren werde ſie doch die

ſeinige ſein; wenn er etwa andre Prinzipien habe, ſo ſollte er

lieber den Uebergang zu vermitteln ſuchen als opponiren. Er lehnte

das ſcharf ab, wie es ſchien in der Vermuthung, daß ich meinen

Uebergang in ſeine Dienſte anbahnen wolle. Ich habe den feind¬

lichen Ausdruck olympiſcher Hoheit, mit dem das geſchah, Jahre

hindurch nicht vergeſſen können und ſehe noch heut den zurück¬

geworfenen Kopf, das geröthete Geſicht und den Blick über die

linke Schulter vor mir. Ich unterdrückte meine eigne Aufwallung,

dachte an Carlos und Alba (Act 2, Auftritt 5) und antwortete, ich

*)

Tod meiner Schwiegermutter. Ich war vom 6. bis zum 11. von Berlin

abweſend.

[324/0351]

Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.

hätte in einer Anwandlung dynaſtiſchen Gefühls geſprochen, um

ihn mit ſeinem Vater wieder in nähere Beziehung zu bringen, im

Intereſſe des Landes und der Dynaſtie, das durch die Entfremdung

geſchädigt wäre; ich hätte im Juni gethan, was ich gekonnt, um

ſeinen Herrn Vater von Entſchließungen ab irato abzuhalten, weil

ich im Intereſſe des Landes und im Kampfe gegen die Parlaments¬

herrſchaft die Uebereinſtimmung in der königlichen Familie zu er¬

halten wünſchte. Ich ſei ein treuer Diener ſeines Herrn Vaters

und wünſchte ihm, daß er, wenn er den Thron beſtiege, anſtatt

meiner ebenſo treue Diener finde, wie ich für ſeinen Vater geweſen.

Ich hoffte, er würde ſich des Gedankens, als ob ich danach ſtrebte,

einmal ſein Miniſter zu werden, entſchlagen; ich werde es niemals

ſein. Ebenſo raſch wie erregt, ebenſo raſch wurde er weich und

ſchloß das Geſpräch mit freundlichen Worten.

Das Verlangen, an den Sitzungen des Staatsminiſteriums

nicht weiter Theil zu nehmen, hielt er feſt, und richtete noch im

Laufe des September eine vielleicht nicht ohne fremde Einwirkung

entſtandene Denkſchrift an den König, worin er ſeine Gründe in

einer Weiſe entwickelte, die zugleich als eine Art von Rechtfertigung

ſeines Verhaltens im Juni erſchien. Es entſtand darüber zwiſchen

Sr. Majeſtät und mir eine private Correſpondenz, die mit folgendem

Billet abſchloß:

„Babelsberg, den 7. November 1863.

Anliegend ſende ich Ihnen meine Antwort an meinen Sohn

den Kronprinzen auf ſein Memoir vom September. Zur beſſeren

Orientirung ſende ich Ihnen das Memoir wiederum mit, ſowie Ihre

Notizen, die ich bei meiner Antwort benutzte.“

Von der Denkſchrift habe ich eine Abſchrift nicht entnommen;

der Inhalt wird aber erkennbar aus meinen Marginal-Notizen, die

hier folgen:

Seite 1. Der Anſpruch, daß eine Warnung Sr. Königlichen

Hoheit die nach ſehr ernſter und ſorgfältiger Erwägung gefaßten

[325/0352]

Randbemerkungen zur Eingabe des Kronprinzen.

Königlichen Entſchließungen aufwiegen ſoll, legt der eignen Stellung

und Erfahrung im Verhältniß zu der des Monarchen und Vaters

ein unrichtiges Gewicht bei.

Niemand hat glauben können, daß Se. K. H. „an den

Octroyirungen Theil gehabt“, denn Jedermann weiß, daß der Kron¬

prinz kein Votum im Miniſterium hat, und daß die in ältern

Zeiten übliche amtliche Stellung des Thronfolgers nach der Ver¬

faſſung unmöglich geworden iſt. Das démenti in Danzig war

daher überflüſſig.

Seite 2. Die Freiheit der Entſchließungen Sr. K. H. wird

dadurch nicht verkümmert, daß Se. K. H. den Sitzungen beiwohnt,

Sich durch Zuhören und eigne Meinungsäußerung au courant der

Staatsgeſchäfte hält, wie es die Pflicht jedes Thronerben iſt. Die

Erfüllung dieſer Pflicht, wenn ſie in den Zeitungen bekannt wird,

kann überall nur eine gute Meinung von der Gewiſſenhaftigkeit

hervorrufen, mit der der Kronprinz Sich für Seinen hohen und

ernſten Beruf vorbereitet.

Die Worte „mit gebundenen Händen“ u. ſ. w. haben keinen Sinn.

Seite 2. „Das Land“ kann garnicht auf den Gedanken

kommen, Se. K. H. mit dem Miniſterium zu identificiren, denn

das Land weiß, daß der Kronprinz zu keiner amtlichen Mitwirkung

bei den Beſchlüſſen berufen iſt. Leider iſt die Stellung, die S. K. H.

gegen die Krone genommen hat, im Lande bekannt genug und

wird von jedem Hausvater im Lande, welcher Partei er auch an¬

gehören mag, gemißbilligt als ein Losſagen von der väterlichen

Autorität, deren Verkennung das Gefühl und das Herkommen verletzt.

Sr. K. H. könnte nicht ſchwerer in der öffentlichen Meinung ge¬

ſchadet werden, als durch Publication dieſes mémoires.

Seite 2. Die Situation Sr. K. H. iſt allerdings eine „durch¬

aus falſche“, weil es nicht der Beruf des Thronerben iſt, die Fahne

der Oppoſition gegen den König und den Vater aufzupflanzen, die

„Pflicht“, aus derſelben herauszukommen, kann aber nur auf dem

Wege der Rückkehr zu einer normalen Stellung erfüllt werden.

[326/0353]

Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.

Seite 3. Der Conflict der Pflichten liegt nicht vor, denn die

erſtre Pflicht iſt eine ſelbſtgemachte; die Sorge für Preußens

Zukunft liegt dem Könige ob, nicht dem Kronprinzen, und ob

„Fehler“ gemacht ſind, und auf welcher Seite, wird die Zukunft

lehren. Wo die „Einſicht“ Sr. Majeſtät mit der des Kronprinzen

in Widerſpruch tritt, iſt die erſtre ſtets die entſcheidende, alſo kein

Conflict vorhanden. S. K. H. erkennt ſelbſt an, daß in unſrer

Verfaſſung „kein Platz für Oppoſition des Thronfolgers“ iſt.

Seite 4. Die Oppoſition innerhalb des Conſeils ſchließt den

Gehorſam gegen Se. Majeſtät nicht aus, ſobald eine Sache ent¬

ſchieden iſt. Miniſter opponiren auch, wenn ſie abweichende Anſicht

haben, gehorchen aber *)doch der Entſcheidung des Königs, obſchon

ihnen ſelbſt die Ausführung des von ihnen Bekämpften obliegt.

Seite 4. Wenn S. K. H. weiß, daß die Miniſter nach dem

Willen des Königs handeln, ſo kann S. K. H. Sich auch darüber

nicht täuſchen, daß die Oppoſition des Thronfolgers gegen den

regirenden König ſelbſt gerichtet iſt.

Seite 5. Zur Unternehmung eines „Kampfes“ gegen den

Willen des Königs fehlt dem Kronprinzen jeder Beruf und jede

Berechtigung, grade weil S. K. H. keinen amtlichen „status“ beſitzt.

Jeder Prinz des Königlichen Hauſes könnte mit demſelben Rechte

wie der Kronprinz für ſich die „Pflicht“ in Anſpruch nehmen, bei

abweichender Anſicht öffentlich Oppoſition gegen den König zu

machen, um dadurch „ſeine und ſeiner Kinder“ eventuelle Erbrechte

gegen die Wirkung angeblicher Fehler der Regirung des Königs zu

wahren, das heißt, um ſich die Succeſſion im Sinne Louis Philipps

zu ſichern, wenn der König durch eine Revolution geſtürzt würde.

Seite 5. Ueber die Aeußerungen des Miniſter-Präſidenten in

Gaſtein hat derſelbe ſich näher zu erklären.

Seite 7. Der Kronprinz iſt nicht als „Rathgeber“ des Königs,

*)

Hier iſt am Rande von der Hand des Königs der Zuſatz: wenn es nicht

gegen ihr Gewiſſen läuft.

[327/0354]

Randbemerkungen zur Eingabe des Kronprinzen.

ſondern zu ſeiner eignen Information und Vorbereitung auf ſeinen

künftigen Beruf von des Königs Majeſtät veranlaßt, den Sitzungen

beizuwohnen.

Seite 7. Der Verſuch, die Maßregeln der Regirung zu

„neutraliſiren“, wäre Kampf und Auflehnung gegen die Krone.

Seite 7. Gefährlicher als alle Angriffe der Demokratie und

alles „Nagen“ an den Wurzeln der Monarchie iſt die Lockerung

der Bande, welche das Volk noch mit der Dynaſtie verbinden, durch

das Beiſpiel offen verkündeter Oppoſition des Thronerben, durch

die abſichtliche Kundmachung der Uneinigkeit im Schoße der Dynaſtie.

Wenn der Sohn und der Thronerbe die Autorität des Vaters und

des Königs anficht, wem ſoll ſie dann noch heilig ſein? Wenn

dem Ehrgeize für die Zukunft eine Prämie dafür in Ausſicht ge¬

ſtellt iſt, daß er in der Gegenwart vom Könige abfällt, ſo werden

jene Bande zum eignen Nachtheil des künftigen Königs gelockert,

und die Lähmung der Autorität der jetzigen Regirung wird eine

böſe Saat für die zukünftige ſein. Jede Regirung iſt beſſer, als

eine in ſich zwieſpältige und gelähmte, und die Erſchütterungen,

welche der jetzige Kronprinz hervorrufen kann, treffen die Fun¬

damente des Gebäudes, in welchem er ſelbſt künftig als König zu

wohnen hat.

Seite 7. Nach dem bisherigen verfaſſungsmäßigen Rechte

in Preußen regirt der König, und nicht die Miniſter. Nur die

Geſetzgebung, nicht die Regirung, iſt mit den Kammern getheilt,

vor denen die Miniſter den König vertreten. Es iſt alſo ganz

geſetzlich, wie vor der Verfaſſung, daß die Miniſter Diener des

Königs, und zwar die berufenen Rathgeber Sr. Majeſtät, aber

nicht die Regirer des Preußiſchen Staates ſind. Das Preußiſche

Königthum ſteht auch nach der Verfaſſung noch nicht auf dem

Niveau des belgiſchen oder engliſchen, ſondern bei uns regirt noch

der König perſönlich, und befiehlt nach ſeinem Ermeſſen, ſo weit

nicht die Verfaſſung ein Andres beſtimmt, und dies iſt nur in

Betreff der Geſetzgebung der Fall.

[328/0355]

Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.

Seite 8. Die Veröffentlichung von Staatsgeheimniſſen ver¬

ſtößt gegen die Strafgeſetze. Was als Staatsgeheimniß zu be¬

handeln ſei, hängt von den Befehlen des Königs über dienſtliche

Geheimhaltung ab.

Seite 8. Warum wird ſo großer Werth auf das Bekannt¬

werden „draußen im Lande“ gelegt? Wenn S. K. H. nach pflicht¬

mäßiger Ueberzeugung im conseil Seine Meinung ſagt, ſo iſt dem

Gewiſſen Genüge geſchehn. Der Kronprinz hat keine offizielle

Stellung zu den Staatsgeſchäften, und keinen Beruf, Sich öffentlich

zu äußern; das Einverſtändniß S. K. H. mit den Beſchlüſſen der

Regirung wird Niemand, der unſre Staatseinrichtungen auch nur

oberflächlich kennt, daraus folgern, daß S. K. H. ohne Stimm¬

recht, alſo ohne die Möglichkeit wirkſamen Widerſpruchs, die Ver¬

handlungen des conseils anhört.

Seite 8. „nicht beſſer erſcheinen“; der Fehler der Situation

liegt darin eben, daß auf das „Erſcheinen“ zu viel Werth gelegt

wird; auf das Sein und das Können kommt es an, und das

iſt nur die Frucht ernſter und beſonnener Arbeit.

Seite 9. Die Theilnahme Sr. K. H. an den conseils iſt

keine „active Stellung“, und „Abſtimmungen“ des Kronprinzen

finden nicht ſtatt.

Seite 9. Die Mittheilung an „berufene“ (?) Perſonen ohne

Ermächtigung Sr. Majeſtät würde gegen die Strafgeſetze verſtoßen.

Das Recht der freien Meinungsäußerung wird ja Sr. K. H. nicht

verſchränkt, im Gegentheil, gewünſcht; aber nur im conseil, wo die

Aeußerung ja allein von Einfluß auf die zu faſſenden Entſchließungen

ſein kann. Den Gegenſatz „vor dem Lande offen zu legen“,

kann nur eine Befriedigung des Selbſtgefühls bezwecken, und leicht

die Folge haben, Unzufriedenheit und Unbotmäßigkeit zu fördern,

und dadurch der Revolution die Wege zu bahnen.

Seite 10. Erſchweren wird S. K. H. den Miniſtern die

Arbeit ohne Zweifel, und bequemer würde ihre Aufgabe ſein, wenn

S. K. H. Sich nicht an den Sitzungen betheiligte. Aber kann

[329/0356]

Randbemerkungen zur Eingabe des Kronprinzen.

Se. Majeſtät Sich der Pflicht entziehn, ſo viel als in menſchlichen

Kräften ſteht, dafür zu thun, daß der Kronprinz die Geſchäfte und

Geſetze des Landes kennen lerne? Iſt es nicht ein gefährliches Ex¬

periment, den künftigen König den Staatsangelegenheiten fremd

werden zu laſſen, während das Wohl von Millionen darauf beruht,

daß Er mit denſelben vertraut ſei? S. K. H. beweiſt in dem vor¬

liegenden mémoire die Unbekanntſchaft mit der Thatſache, daß die

Theilnahme des Kronprinzen an den conseils eine verantwort¬

liche niemals iſt, ſondern nur eine informatoriſche, daß ein votum

von S. K. H. niemals verlangt werden kann. Auf dem Verkennen

dieſes Umſtandes beruht das ganze raisonnement. Wenn der Kron¬

prinz mit den Staatsangelegenheiten vertrauter wäre, ſo könnte es

nicht geſchehn, daß S. K. H. dem Könige mit Veröffentlichung der

conseil-Verhandlungen drohte, für den Fall, daß der König auf

die Wünſche Sr. K. H. nicht einginge; alſo mit einer Verletzung

der Geſetze, und obenein der Strafgeſetze. Und das wenige Wochen,

nachdem S. K. H. ſelbſt die Veröffentlichung des Briefwechſels mit

Sr. Majeſtät in ſehr ſtrengen Worten gerügt hat.

Seite 11. Der erwähnte Vorwurf iſt allerdings für Jeder¬

mann im Volke ein ſehr nahe liegender; Niemand klagt S. K. H.

einer ſolchen Abſicht an, aber wohl ſagt man, daß Andre, welche

ſolche Abſicht hegen, dieſelbe durch die unbewußte Mitwirkung des

Kronprinzen zu verwirklichen hoffen, und daß ruchloſe Attentate

jetzt mehr als früher ihren Urhebern die Ausſicht auf einen Syſtem¬

wechſel gewähren.

Seite 12. Das Verlangen, rechtzeitige Kenntniß von den

Vorlagen der Sitzungen zu haben, iſt als ein begründetes jederzeit

erkannt worden, und wird ſtets erfüllt, ja der Wunſch iſt häufig

laut geworden, daß S. K. H. die Hand dazu biete, genauer als

es bisher möglich war, au courant gehalten zu werden. Dazu

muß der Aufenthalt Sr. K. H. jederzeit bekannt und erreichbar,

der Kronprinz für die Miniſter perſönlich zugänglich, und die Dis¬

cretion geſichert ſein. Beſonders aber iſt nöthig, daß die vor¬

[330/0357]

Sechzehntes Kapitel: Danziger Epiſode.

tragenden Räthe, mit denen allein S. K. H. die ſchwebenden

Staatsſachen zu bearbeiten berechtigt ſein kann, nicht Gegner, ſon¬

dern Freunde der Regirung ſeien, oder doch unparteiiſche Beurtheiler

ohne intime Beziehungen zur Oppoſition im Landtage und in der

Preſſe. Der ſchwierigſte Punkt iſt die Discretion, beſonders gegen

das Ausland, ſo lange nicht bei Sr. K. H. und bei Ihrer K. H.

der Frau Kronprinzeſſin das Bewußtſein durchgedrungen iſt, daß

in regirenden Häuſern die nächſten Verwandten nicht immer Lands¬

leute ſind, ſondern nothwendig und pflichtmäßig andre als die

Preußiſchen Intereſſen vertreten. Es iſt hart, wenn zwiſchen Mutter

und Tochter, zwiſchen Bruder und Schweſter eine Landesgrenze

als Scheidelinie der Intereſſen liegt; aber das Vergeſſen derſelben

iſt immer gefährlich für den Staat.

Seite 12. Die „letzte Conſeilſitzung“ (am 3.) war keine

conseil-Sitzung, ſondern nur eine den Miniſtern ſelbſt vorher nicht

bekannte Berufung zu Sr. Majeſtät.

Seite 13. Die Mittheilung an die Miniſter würde dem

mémoire einen amtlichen Charakter geben, welchen Auslaſſungen

der Thronfolger an ſich nicht haben.

[[331]/0358]

Siebzehntes Kapitel.

Der Frankfurter Fürſtentag.

I.

Die erſten Verſuche auf der Bahn, auf der das Bündniß

mit Oeſtreich 1879 erreicht wurde, fanden Statt, während der

Graf Rechberg Miniſterpräſident, reſpective Miniſter des Aeußern

war (17. Mai 1859 bis 27. October 1864). Da die perſönlichen

Beziehungen, in denen ich zu ihm am Bundestage geſtanden hatte,

ſolchen Verſuchen förderlich ſein konnten und in einem Zeitpunkte

förderlich geweſen ſind, ſo ſchalte ich zwei Erlebniſſe ein, die ich

in Frankfurt mit ihm gehabt habe.

Nach einer Sitzung, in der ich Rechberg verſtimmt hatte, blieb

er mit mir allein im Saale und machte mir leidenſchaftliche Vor¬

würfe über meine Unverträglichkeit: ich ſei mauvais coucheur und

Händelſucher; er bezog ſich dabei auf Fälle, in denen ich mich

gegen präſidiale Uebergriffe gewehrt hatte. Ich erwiderte ihm, ich

wiſſe nicht, ob ſein Zorn nur ein diplomatiſcher Schachzug oder

Ernſt ſei, aber die Aeußerung deſſelben ſei höchſt perſönlicher Art.

„Wir können doch nicht,“ ſagte ich, „im Bockenheimer Wäldchen

mit der Piſtole die Diplomatie unſrer Staaten erledigen.“ Darauf

er mit großer Heftigkeit: „Wir wollen gleich hinausfahren; ich

bin bereit, auf der Stelle.“ Damit war für mich der Boden

der Diplomatie verlaſſen, und ich antwortete ohne Heftigkeit:

[332/0359]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

„Warum ſollen wir fahren; hier im Garten des Bundespalais

iſt Platz genug, gegenüber wohnen preußiſche Offiziere, und

öſtreichiſche ſind auch in der Nähe. Die Sache kann in dieſer

Viertelſtunde vor ſich gehn, ich bitte Sie nur um Erlaubniß, in

wenigen Zeilen die Entſtehung des Streites zu Papier zu bringen,

und erwarte von Ihnen, daß Sie dieſe Aufzeichnung mit mir

unterſchreiben werden, da ich meinem Könige gegenüber nicht als

ein Raufbold erſcheinen möchte, der die Diplomatie ſeines Herrn

auf der Menſur führt.“ Damit begann ich zu ſchreiben, mein

College ging mit raſchen Schritten hinter mir auf und ab, während

ich ſchrieb. Während deſſen verrauchte ſein Zorn, und er kam zu

einer ruhigen Betrachtung der Lage, die er herbeigeführt hatte.

Ich verließ ihn mit der Aeußerung, daß ich Herrn von Oertzen,

den mecklenburgiſchen Geſandten, als meinen Zeugen zu ihm

ſchicken würde, um das Weitre zu verhandeln. Oertzen legte den

Streit verſöhnlich bei.

Es iſt auch von Intereſſe, zu erwähnen, wie es kam, daß ich

ſpäterhin das Vertrauen dieſes zornigen, aber ehrliebenden Herrn

und vielleicht, als wir Beide Miniſter geworden waren, ſeine Freund¬

ſchaft erworben habe. Bei einem geſchäftlichen Beſuche, den ich

ihm machte, verließ er das Zimmer, um ſeinen Anzug zu wechſeln,

und überreichte mir eine Depeſche, die er eben von ſeiner Regirung

erhalten hatte, mit der Bitte, ſie zu leſen. Ich überzeugte mich

aus dem Inhalt, daß Rechberg ſich vergriffen und mir ein Schrift¬

ſtück gegeben hatte, das zwar die fragliche Sache betraf, aber nur

für ihn beſtimmt und offenbar von einem zweiten oſtenſiblen be¬

gleitet geweſen war. Als er wieder eingetreten war, gab ich ihm

die Depeſche zurück mit der Aeußerung, er habe ſich verſehn, ich

würde vergeſſen, was ich geleſen hätte; ich habe in der That voll¬

kommnes Schweigen über ſein Verſehn beobachtet und in Berichten

oder Geſprächen von den, Inhalt des geheimen Schriftſtücks und

ſeinem Verſehn keinen auch nur indirecten Gebrauch gemacht. Seit¬

dem behielt er Vertrauen zu mir.

[333/0360]

Beziehungen zu Rechberg. Dualiſtiſche Beſtrebungen.

Die Verſuche zur Zeit des Miniſteriums Rechberg würden,

wenn erfolgreich, damals zu einer geſammtdeutſchen Union auf der

Baſis des Dualismus haben führen können, zu dem Siebzig¬

millionenreich in Centraleuropa mit zweiköpfiger Spitze, während

die Schwarzenbergiſche Politik auf etwas Aehnliches ausgegangen

war, aber mit einheitlicher Spitze Oeſtreichs und Hinabdrückung

Preußens nach Möglichkeit auf den mittelſtaatlichen Stand. Der

letzte Anlauf dazu war der Fürſtencongreß von 1863. Wenn die

Schwarzenbergiſche Politik in der poſthumen Geſtalt des Fürſten¬

congreſſes ſchließlich Erfolg gehabt hätte, ſo würde zunächſt die

Verwendung des Bundestages zur Repreſſion auf dem Gebiete der

innern Politik Deutſchlands vorausſichtlich in den Vordergrund

getreten ſein, nach Maßgabe der Verfaſſungsreviſionen, die der

Bund ſchon in Hanover, Heſſen, Luxemburg, Lippe, Hamburg u. a.

in Angriff genommen hatte. Auch die Preußiſche Verfaſſung konnte

analog herangezogen werden, wenn der König nicht zu vornehm

dazu gedacht hätte.

Unter einer dualiſtiſchen Spitze mit Gleichberechtigung Preußens

und Oeſtreichs, wie ſie als Conſequenz meiner Annäherung an

Rechberg erſtrebt werden konnte, würde unſre innere verfaſſungs¬

mäßige Entwicklung von der Verſumpfung in bundestägiger Reaction

und von der einſeitigen Förderung abſolutiſtiſcher Zwecke in den

einzelnen Staaten nicht nothwendig bedroht worden ſein; die Eifer¬

ſucht der beiden Großſtaaten wäre der Schutz der Verfaſſungen ge¬

weſen. Preußen, Oeſtreich und die Mittelſtaaten würden bei dua¬

liſtiſcher Spitze auf Wettbewerb um die öffentliche Meinung in der

Geſammtnation wie in den einzelnen Staaten angewieſen geblieben

ſein, und die daraus entſpringenden Frictionen würden unſer öffent¬

liches Leben vor ähnlichen Erſtarrungen bewahrt haben, wie ſie auf

die Zeiten der Mainzer Unterſuchungscommiſſion folgten. Die Zeit

der liberalen öſtreichiſchen Preßthätigkeit im Wetteifer mit Preußen,

wenn auch nur auf dem Gebiet der Phraſe, ließ ſchon zu Anfang

der fünfziger Jahre erkennen, daß der unentſchiedene Kampf um

[334/0361]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

die Hegemonie für die Belebung unſrer nationalen Gefühle und

für die verfaſſungsmäßige Entwicklung nützlich war.

Aber die von Oeſtreich mit Hülfe des Fürſtentags von 1863

erſtrebte Bundesreform würde für eine Rivalität zwiſchen Preußen,

Oeſtreich und dem Parlamentarismus geringen Raum gelaſſen haben.

Die Vorherrſchaft Oeſtreichs in der damals beabſichtigten Bundes¬

reform würde, auf Grund der dynaſtiſchen Befürchtungen vor

Preußen und vor parlamentariſchen Kämpfen, vermittelſt einer

dauernden und ſyſtematiſch begründeten Bundesmajorität geſichert

geweſen ſein.

Das Anſehn Deutſchlands nach außen hing in beiden Ge¬

ſtaltungen, der dualiſtiſchen und der öſtreichiſchen, von dem Grade

feſter Einigkeit ab, den die eine und die andre der Geſammt¬

nation gewährt haben würde. Daß Oeſtreich und Preußen, ſo¬

bald ſie einig, eine Macht in Europa darſtellen, welche leicht¬

fertig anzugreifen keine der andern Mächte geneigt war, hat der

ganze Verlauf der däniſchen Verwicklungen gezeigt. So lange

Preußen allein, wenn auch in Verbindung mit dem ſtärkſten Aus¬

druck der öffentlichen Meinung des deutſchen Volkes, einſchließlich

der Mittelſtaaten, die Sache in der Hand hatte, kam ſie nicht vor¬

wärts und führte zu Abſchlüſſen, wie der Waffenſtillſtand von

Malmö und die Olmützer Convention. Sobald es gelungen war,

Oeſtreich unter Rechberg für eine mit Preußen übereinſtimmende

Action zu gewinnen, wurde das Schwergewicht der beiden deutſchen

Großſtaaten ſtark genug, um die Einmiſchungsgelüſte, welche andre

Mächte haben konnten, zurückzuhalten. England hat im Laufe der

neuern Geſchichte jederzeit das Bedürfniß der Verbindung mit

einer der continentalen Militärmächte gehabt und die Befriedigung

deſſelben, je nach dem Standpunkt der engliſchen Intereſſen, bald

in Wien, bald in Berlin geſucht, ohne, bei plötzlichem Uebergang

von einer Anlehnung an die andre, wie im ſiebenjährigen Kriege,

ſcrupulöſe Bedenken gegen den Vorwurf des Imſtichlaſſens alter

Freunde zu hegen. Wenn aber die beiden Höfe einig und ver¬

[335/0362]

Wirkung des Einvernehmens mit Oeſtreich. Unterredung mit Karolyi.

bündet waren, ſo fand die engliſche Politik nicht ihres Dienſtes,

ihnen etwa im Bunde mit einer von den ihr gefährlichen Mächten,

Frankreich und Rußland, feindlich gegenüberzutreten. Sobald aber

die preußiſch-öſtreichiſche Freundſchaft geſprengt worden wäre, würde

auch damals das Eingreifen des europäiſchen Seniorenconvents in

der däniſchen Frage unter engliſcher Führung erfolgt ſein. Es

war deshalb, wenn unſre Politik nicht wiederum entgleiſen ſollte,

von höchſter Wichtigkeit, das Einverſtändniß mit Wien feſtzuhalten;

in ihm lag unſre Deckung gegen engliſch-europäiſches Eingreifen.

Ich hatte am 4. December 1862 gegenüber dem Grafen Karolyi,

mit dem ich auf vertrautem Fuße ſtand, mit offnen Karten geſpielt.

Ich ſagte ihm:

„Unſre Beziehungen müſſen entweder beſſer oder ſchlechter

werden, als ſie ſind. Ich bin bereit zu einem gemeinſchaftlichen

Verſuche, ſie beſſer zu machen. Mißlingt derſelbe durch Ihre

Weigerung, ſo rechnen Sie nicht darauf, daß wir uns durch bundes¬

freundliche Redensarten werden feſſeln laſſen. Sie werden mit uns

als europäiſche Großmacht zu thun bekommen; die Paragraphen

der Wiener Schlußacte haben nicht die Kraft, die Entwicklung

der deutſchen Geſchichte zu hemmen“ 1).

Graf Karolyi, ein ehrlicher und unabhängiger Charakter, hat

ohne Zweifel genau berichtet, was wir unter vier Augen vertraulich

beſprochen haben. In Wien aber hatte man ſeit der Olmützer

und Dresdner Zeit und der Präpotenz Schwarzenbergs eine irrige

Anſicht gewonnen; man hatte ſich gewöhnt, uns für ſchwächer und

namentlich für furchtſamer zu halten, als wir zu ſein brauchen,

und das Gewicht fürſtlicher Verwandſchaft und Liebe in Fragen

internationaler Politik für die Dauer zu hoch in Anſatz gebracht.

Die ältern militäriſchen Vermuthungen ſprachen allerdings dafür,

1)

Vgl. die Depeſche vom 24. Januar 1863, in der Bismarck über den

Inhalt ſeiner Unterredungen mit Karolyi vom 4. und 13. Dec. 1862 Rechen¬

ſchaft giebt, Staatsarchiv VIII S. 55 ff. Nr. 1751.

[336/0363]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

daß, wenn der ſechsundſechziger Krieg ſchon 1850 geführt worden

wäre, unſre Ausſichten bedenklich geweſen ſein würden. Mit

unſrer Schüchternheit noch in den ſechziger Jahren zu rechnen,

war ein Irrthum, bei welchem der Thronwechſel außer Anſatz

geblieben war.

Friedrich Wilhelm IV. hätte ſich zu Mobilmachungen wohl

ebenſo leicht entſchloſſen wie 1850 und wie ſein Nachfolger 1859,

aber ſchwer zur Kriegführung. Unter ihm lag die Gefahr vor,

daß ähnliche Tergiverſationen wie unter Haugwitz 1805 uns in

falſche Lagen gebracht haben würden; auch nach wirklichem Bruch

würde man in Oeſtreich über unſre Unklarheiten und Vermittlungs¬

verſuche mit Entſchloſſenheit zur Tagesordnung übergegangen ſein.

Bei dem König Wilhelm war die Abneigung, mit den väterlichen

Traditionen und den herkömmlichen Familienbeziehungen zu brechen,

ebenſo ſtark wie bei ſeinem Bruder, aber wenn er einmal unter

der Leitung ſeines Ehrgefühls, deſſen Empfindlichkeit ebenſo in dem

preußiſchen Porte-épée als im monarchiſchen Bewußtſein lag, zu

Entſchlüſſen, die ſeinem Herzen ſchwer wurden, ſich gezwungen gefühlt

hatte, ſo war man ſicher, wenn man ihm folgte, in keiner Gefahr

von ihm im Stiche gelaſſen zu werden. Mit dieſem Wechſel in

dem Charakter der oberſten Leitung wurde in Wien zu wenig ge¬

rechnet und zu viel mit dem Einfluß, den man durch die an¬

gebliche öffentliche Meinung, wie ſie durch Preß-Agenten und Sub¬

ſidien erzeugt wurde, auf Berliner Entſchließungen früher hatte

ausüben können, und durch Vermittlung fürſtlicher Verwandten

und Correſpondenzen des königlichen Hauſes auch ferner auszuüben

bereit und im Stande war.

Zudem überſchätzte man in Wien die abſchwächende Wirkung,

welche unſer innerer Conflict auf unſre auswärtige Politik und

militäriſche Leiſtungsfähigkeit haben konnte. Die Abneigung gegen

die Löſung des gordiſchen Knotens der deutſchen Politik durch das

Schwert war in weiten Kreiſen eine ſtarke, wie 1866 mannigfache

Symptome, von dem Blind'ſchen Attentat und deſſen Beurtheilung

[337/0364]

Geringſchätzung Preußens in Wien. Oeſtreichs Selbſtüberſchätzung.

in den fortſchrittlichen Blättern *)bis zu den offnen Kundgebungen

großer communaler Körperſchaften und dem Ausfall der Wahlen,

bezeugen. Aber in unſre Regimenter und deren Feuergefecht auf

den Schlachtfeldern reichten dieſe Strömungen nicht hinein, und

auf den Schlachtfeldern lag ſchließlich die Entſcheidung. Auch die

ſymptomatiſche Thatſache, daß in Berlin durch Vermittlung des

frühern auswärtigen und damaligen Hausminiſters von Schleinitz

noch während der erſten Gefechte in Böhmen diplomatiſche Zette¬

lungen mit höfiſcher Beziehung ſtattfanden, blieb auf die militäriſche

Seite der Kriegführung ohne jeden Einfluß.

Wenn das öſtreichiſche Cabinet die vertrauliche Eröffnung,

die ich dem Grafen Karolyi 1862 gemacht hatte, ohne irrthüm¬

liche Schätzung der Realitäten richtig gewürdigt und ſeine Politik

dahin modificirt hätte, die Verſtändigung mit Preußen anſtatt deſſen

Vergewaltigung durch Majoritäten und andre Einflüſſe zu ſuchen,

ſo hätten wir wahrſcheinlich eine Periode dualiſtiſcher Politik in

Deutſchland erlebt oder doch verſucht. Es iſt freilich zweifelhaft,

ob eine ſolche ohne die klärende Wirkung der Erfahrungen von

1866 und 1870 ſich in einem für das deutſche Nationalgefühl an¬

nehmbaren Sinne friedlich, unter dauernder Verhütung des innern

Zwieſpalts, hätte entwickeln können. Der Glaube an die militäriſche

Ueberlegenheit Oeſtreichs war in Wien und an den mittelſtaat¬

lichen Höfen zu ſtark für einen modus vivendi auf dem Fuße der

Gleichheit mit Preußen. Der Beweis für Wien lag in den Pro¬

clamationen, die in den Torniſtern der öſtreichiſchen Soldaten

neben den neuen, zum Einzuge in Berlin beſtimmten Uniformen

gefunden wurden und deren Inhalt die Sicherheit verrieth, mit der

man auf ſiegreiche Occupation der preußiſchen Provinzen gerechnet

hatte. Auch die Ablehnung der letzten durch den Bruder des

*)

In den Berliner Bilderläden hing eine Lithographie aus, in der das

Attentat ſo dargeſtellt war, daß der Teufel die für mich beſtimmten Kugeln

auffing mit den Worten: Der gehört mir! (Vgl. Politiſche Reden X 123, Rede

vom 9. Mai 1884).

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 22

[338/0365]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

Generals von Gablenz gemachten preußiſchen Friedensanerbietungen

und deren finanz-miniſterielle Begründung durch das Bedürfniß

einer preußiſchen Contribution, die damals bekundete Bereitwillig¬

keit, nach der erſten Schlacht zu verhandeln, kennzeichnet die Sicher¬

heit, mit der man auf den Sieg in letztrer zählte.

II.

Das Geſammtergebniß dieſer in gleicher Richtung wirkenden

Vorſtellungen war denn auch das Gegentheil von einem Entgegen¬

kommen des Wiener Cabinets für dualiſtiſche Neigungen; Oeſtreich

ging über die preußiſche Anregung von 1862 zur Tagesordnung

über mit der diametral entgegengeſetzten Initiative zur Berufung

des Frankfurter Fürſtentages, durch die Anfangs Auguſt in Gaſtein

König Wilhelm und ſein Cabinet überraſcht wurden.

Nach den Mittheilungen von Fröbel *)der ſich als den Ur¬

heber des Fürſtencongreſſes betrachtet und ohne Zweifel in die Vor¬

bereitungen eingeweiht war, iſt den übrigen deutſchen Fürſten vor

Empfang der vom 31. Juli datirten Einladung der öſtreichiſche

Plan nicht bekannt geweſen. Es wäre jedoch möglich, daß man

den nachmaligen würtembergiſchen Miniſter von Varnbüler bis

zu einem gewiſſen Grade in das Geheimniß gezogen hatte. Dieſer

kluge und ſtrebſame Politiker zeigte im Sommer 1863 Neigung,

mit mir die Beziehungen zu erneuern, die früher zwiſchen uns

durch Vermittlung unſres gemeinſchaftlichen Freundes von Below-

Hohendorf entſtanden waren. Er veranlaßte mich zu einer Zuſammen¬

kunft, die am 12. Juli in einer auf ſeinen Wunſch geheimnißvollen

Form in einem kleinen böhmiſchen Orte weſtlich von Karlsbad

*)

Julius Fröbel, Ein Lebenslauf. Stuttgart 1891. Theil II

S. 252. 255.

[339/0366]

Abneigung Oeſtreichs gegen friedlichen Dualismus. Einladung.

vor ſich ging und von der ich weiter keinen Eindruck behielt, als

daß er mehr mich ſondiren als mir Vorſchläge auf dem Gebiete

der deutſchen Frage machen wollte. Die wirthſchaftlichen und

finanziellen Fragen, in denen er mir 1878 den vollen Beiſtand

ſeiner Sachkunde und Arbeitskraft geliehn hat, nahmen ſchon da¬

mals eine hervorragende Stelle in ſeiner Auffaſſung ein, allerdings

in Anlehnung an großdeutſche Politik mit entſprechender Zoll¬

einigung.

In Gaſtein ſaß ich am 2. Auguſt 1863 in den Schwarzen¬

bergiſchen Anlagen an der tiefen Schlucht der Ache unter den Tannen.

Ueber mir befand ſich ein Meiſenneſt, und ich beobachtete mit der

Uhr in der Hand, wie oft in der Minute der Vogel ſeinen Jungen

eine Raupe oder andres Ungeziefer zutrug. Während ich der nütz¬

lichen Thätigkeit dieſer Thierchen zuſah, bemerkte ich, daß auf der

andern Seite der Schlucht, auf dem Schillerplatze, König Wil¬

helm allein auf einer Bank ſaß. Als die Zeit herangekommen

war, mich zu dem Diner bei dem Könige anzuziehn, ging ich in

meine Wohnung und fand dort ein Briefchen Sr. Majeſtät vor,

des Inhalts, daß er mich auf dem Schillerplatze erwarten wolle,

um wegen der Begegnung mit dem Kaiſer mit mir zu ſprechen.

Ich beeilte mich nach Möglichkeit, aber ehe ich das Königliche

Quartier erreichte, hatte bereits eine Unterredung der beiden hohen

Herrn ſtattgefunden. Wenn ich mich weniger lange bei der Natur¬

betrachtung aufgehalten und den König früher geſehn hätte, ſo wäre

der erſte Eindruck, den die Eröffnungen des Kaiſers auf den König

gemacht haben, vielleicht ein andrer geweſen

Er fühlte zunächſt nicht die Unterſchätzung, welche in dieſer

Ueberrumpelung lag, in dieſer Einladung, man könnte ſagen Ladung,

à courte échéance. Der öſtreichiſche Vorſchlag gefiel ihm viel¬

leicht wegen des darin liegenden Elementes fürſtlicher Solidarität

in dem Kampfe gegen den parlamentariſchen Liberalismus, durch

den er ſelbſt damals in Berlin bedrängt wurde. Auch die Königin

Eliſabeth, die wir auf der Reiſe von Gaſtein nach Baden in Wild¬

[340/0367]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

bad trafen, drang in mich, nach Frankfurt zu gehn. Ich erwiderte:

„Wenn der König ſich nicht anders entſchließt, ſo werde ich hingehn

und dort ſeine Geſchäfte machen, aber nicht als Miniſter nach

Berlin zurückkehren.“ Die Königin ſchien über dieſe Ausſicht

beunruhigt und hörte auf, meine Auffaſſung beim Könige zu be¬

kämpfen.

Wenn ich meinen Widerſtand gegen das Streben des Königs

nach Frankfurt aufgegeben und ihn ſeinem Wunſche gemäß dorthin

begleitet hätte, um in dem Fürſtencongreß die preußiſch-öſtreichiſche

Rivalität in eine gemeinſame Bekämpfung der Revolution und des

Conſtitutionalismus zu verwandeln, ſo wäre Preußen äußerlich ge¬

blieben, was es vorher war, hätte freilich unter dem öſtreichiſchen

Präſidium durch bundeſtägliche Beſchlüſſe die Möglichkeit gehabt,

ſeine Verfaſſung in analoger Weiſe revidiren zu laſſen, wie das

mit der hanöverſchen, der heſſiſchen und der mecklenburgiſchen und

in Lippe, Hamburg, Luxemburg geſchehn war, damit aber den

nationaldeutſchen Weg geſchloſſen.

Es wurde mir nicht leicht, den König zum Fernbleiben von

Frankfurt zu beſtimmen. Ich bemühte mich darum auf der Fahrt

von Wildbad nach Baden, wo wir im offnen kleinen Wagen,

wegen der Leute vor uns auf dem Bock, die deutſche Frage fran¬

zöſiſch verhandelten. Ich glaubte den Herrn überzeugt zu haben,

als wir in Baden anlangten. Dort aber fanden wir den König

von Sachſen, der im Auftrage aller Fürſten die Einladung nach

Frankfurt erneuerte (19. Auguſt). Dieſem Schachzug zu wider¬

ſtehn, wurde meinem Herrn nicht leicht. Er wiederholte mehr¬

mals die Erwägung: „30 regirende Herrn und ein König als

Courier!“ und er liebte und verehrte den König von Sachſen,

der unter den Fürſten für dieſe Miſſion auch perſönlich der Be¬

rufenſte war. Erſt um Mitternacht gelang es mir, die Unterſchrift

des Königs zu erhalten für die Abſage an den König von Sachſen.

Als ich den Herrn verließ, waren wir beide in Folge der nervöſen

Spannung der Situation krankhaft erſchöpft, und meine ſofortige

[341/0368]

Widerſtreben des Königs gegen die Politik ſeines Miniſters.

mündliche Mittheilung an den ſächſiſchen Miniſter von Beuſt trug

noch den Stempel dieſer Erregung 1). Die Kriſis war aber über¬

wunden, und der König von Sachſen reiſte ab, ohne meinen

Herrn, wie ich es befürchtet hatte, nochmals aufzuſuchen.

Nachdem der König auf der Rückreiſe von Baden-Baden

(31. Auguſt) nach Berlin ſo nahe an Frankfurt vorüber gefahren

war, daß der entſchloſſene Wille, ſich nicht zu betheiligen, zu Tage

lag, wurde die Mehrheit oder wurden wenigſtens die mächtigſten

Fürſten von einem Unbehagen erfaßt bei dem Gedanken an den

Reformentwurf, der ſie, wenn Preußen fern blieb, mit Oeſtreich allein

in einem Verbande ließ, in dem ſie nicht durch die Rivalität der

beiden Großmächte gedeckt waren. Das Wiener Cabinet muß an

die Möglichkeit geglaubt haben, daß die übrigen Bundesfürſten auf

die dem Congreß am 17. Auguſt gemachte Vorlage auch dann

eingehn würden, wenn ſie in dem reformirten Bundesverhält¬

niß ſchließlich mit Oeſtreich allein geblieben wären. Man würde

ſonſt nicht den in Frankfurt verbliebenen Fürſten die Zumuthung

gemacht haben, die öſtreichiſche Vorlage auch ohne Preußens Zu¬

ſtimmung anzunehmen und in die Praxis überzuführen. Die Mittel¬

ſtaaten wollten aber in Frankfurt weder eine einſeitig preußiſche,

noch eine einſeitig öſtreichiſche Leitung, ſondern für ſich ein mög¬

lichſt einflußreiches Schiedsamt im Sinne der Trias, welches jede der

beiden Großmächte auf das Bewerben um die Stimmen der Mittel¬

ſtaaten anwies. Die öſtreichiſche Zumuthung, auch ohne Preußen

abzuſchließen, wurde beantwortet durch den Hinweis auf die Noth¬

wendigkeit neuer Verhandlungen mit Preußen und die Kundgebung

der eignen Neigung zu ſolchen. Die Form der Beantwortung der

öſtreichiſchen Wünſche war nicht glatt genug, um in Wien keine

Empfindlichkeit zu erregen. Die Wirkung auf den Grafen Rech¬

berg, vorbereitet durch die guten Beziehungen, in denen unſre

Frankfurter Collegenſchaft abgeſchloſſen hatte, war, daß er ſagte,

1)

Vgl. Beuſt, Aus drei Viertel-Jahrhunderten I 332 f., v. Sybel II 532.

[342/0369]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

der Weg nach Berlin ſei für Oeſtreich nicht weiter und nicht

ſchwieriger als für die Mittelſtaaten.

Die durch die Ablehnung erzeugte Verſtimmung war nach

meinen Eindrücken hauptſächlich der Antrieb, der das Wiener

Cabinet zu einer Verſtändigung mit Preußen im Widerſpruche mit

der bundestägigen Auffaſſung leitete. Dieſe neue Richtung ent¬

ſprach dem öſtreichiſchen Intereſſe, auch wenn ſie länger bei¬

behalten worden wäre. Dazu wäre vor Allem erforderlich geweſen,

daß Rechberg am Ruder blieb. Wäre damit eine dualiſtiſche

Führung des Deutſchen Bundes hergeſtellt worden, der ſich die

übrigen Staaten nicht verſagt haben würden, ſobald ſie die Ueber¬

zeugung gewonnen hätten, daß die Verſtändigung der beiden Vor¬

mächte ehrlich und dauerhaft war, ſo würden auch die Rheinbund¬

gelüſte einzelner ſüddeutſchen Miniſter, die am ſchärfſten, was auch

Graf Beuſt in ſeinen Denkwürdigkeiten ſagen mag, in Darmſtadt

zum Ausdruck kamen, dem öſtreichiſch-preußiſchen Einverſtändniß

gegenüber verſtummt ſein.

III.

Wenige Monate nach dem Frankfurter Congreß ſtarb der König

Friedrich VII. von Dänemark (15. November 1863). Das Mißlingen

des öſtreichiſchen Vorſtoßes, die Weigerung der übrigen Bundes¬

ſtaaten, nach der preußiſchen Ablehnung mit Oeſtreich allein in engere

Beziehung zu treten, brachten den Gedanken einer dualiſtiſchen Politik

der beiden deutſchen Großmächte, infolge der Eröffnung der ſchleswig¬

holſteiniſchen Frage und Succeſſion, in Wien der Erwägung nahe,

und mit mehr Ausſicht auf Verwirklichung, als im December 1862

vorgelegen hatte. Graf Rechberg machte in der Verſtimmung über

die Weigerung der Bundesgenoſſen, ſich ohne Mitwirkung Preußens

zu verpflichten, einfach Kehrt mit dem Bemerken, daß die Ver¬

ſtändigung mit Preußen für Oeſtreich noch leichter ſei als für

[343/0370]

Verſtändigung Oeſtreichs mit Preußen gegenüber Dänemark.

die Mittelſtaaten *). Darin hatte er für den Augenblick Recht, für

die Dauer aber doch nur dann, wenn Oeſtreich bereit war, Preußen

als gleichberechtigt in Deutſchland thatſächlich zu behandeln und

Preußens Beiſtand in den europäiſchen Intereſſen, die Oeſtreich

in Italien und im Orient hatte, durch die Geſtattung freier Be¬

wegung des preußiſchen Einfluſſes wenigſtens in Norddeutſchland

zu vergelten. Der Anfang der dualiſtiſchen Politik gewährte

ihr eine glänzende Bethätigung in den gemeinſamen Kämpfen

an der Schlei, dem gemeinſamen Einrücken in Jütland und dem

gemeinſamen Friedensſchluſſe mit Dänemark. Das preußiſch-öſt¬

reichiſche Bündniß bewährte ſich ſelbſt unter der Abſchwächung,

die in der Verſtimmung der übrigen Bundesſtaaten lag, doch

als hinreichendes Schwergewicht, um die widerſtrebende Verſtim¬

mung der andern Großmächte, unter deren Deckung Dänemark

dem geſammten Deutſchthum den Handſchuh hatte hinwerfen können,

im Zaume zu halten.

Unſer weitres Zuſammengehn mit Oeſtreich war gefährdet

zuerſt bei dem heftigen Andrang militäriſcher Einflüſſe auf den

König, die ihn zum Ueberſchreiten der jütiſchen Grenze auch ohne

Oeſtreich bewegen wollten. Mein alter Freund, der Feldmarſchall

Wrangel, ſchickte unchiffrirt die gröbſten Injurien gegen mich tele¬

graphiſch an den König, in denen in Bezug auf mich von Diplo¬

maten, die an den Galgen gehörten, die Rede war 1).

Damals indeſſen gelang es mir, den König zu beſtimmen,

daß wir nicht um ein Haarbreit an Oeſtreich vorbei gingen und

*)

Wir blieben infolge dieſer Epiſode Jahre hindurch in perſönlicher Ver¬

ſtimmung und gingen am Hofe ſchweigend einander her, bis bei einer

der vielen Gelegenheiten, wo wir Tiſchnachbarn waren, mich der Feldmarſchall

verſchämt lächelnd anredete: „Mein Sohn, kannſt Du garnicht vergeſſen?“

Ich antwortete: „Wie ſollte ich es anfangen, zu vergeſſen, was ich erlebt habe?“

Darauf er nach längerem Schweigen: „Kannſt Du auch nicht vergeben?“ Ich

erwiderte: „Von ganzem Herzen.“ Wir ſchüttelten uns die Hände und waren

wieder Freunde wie in frühern Zeiten.

1)

Vgl. Beuſt a. a. O. I 336.

[344/0371]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

namentlich nicht in Wien den Eindruck machten, als ob Oeſtreich

gegen ſeinen Willen von uns fortgeriſſen würde. Meine guten

Beziehungen zu Rechberg und Karolyi ermöglichten es mir, das

Einverſtändnis über den Einmarſch in Jütland herzuſtellen.

Trotz dieſer Erfolge fand der Verſuch des Dualismus ſeinen

Culminations- und Wendepunkt in einer Beſprechung, welche beide

Monarchen unter Zuziehung ihrer Miniſter, Rechbergs und meiner,

am 22. Auguſt 1864 in Schönbrunn hatten. Im Laufe derſelben

ſagte ich dem Kaiſer von Oeſtreich:

„Zu einer politiſchen Gemeinſchaft geſchichtlich berufen, machen

wir dynaſtiſch und politiſch beiderſeits beſſere Geſchäfte, wenn wir

zuſammenhalten und diejenige Führung Deutſchlands übernehmen,

welche uns nicht entgehn wird, ſobald wir einig ſind. Wenn

Preußen und Oeſtreich ſich die Aufgabe ſtellen, nicht blos ihre

gemeinſamen Intereſſen, ſondern auch beiderſeits jedes die Intereſſen

des andern zu fördern, ſo kann das Bündniß der beiden deutſchen

Großſtaaten von einer weittragenden deutſchen und europäiſchen

Wirkſamkeit werden. Der Staat Oeſtreich hat kein Intereſſe an

der Geſtaltung der däniſchen Herzogthümer, dagegen ein erheb¬

liches an ſeinen Beziehungen zu Preußen. Sollte aus dieſer zweifel¬

loſen Thatſache nicht die Zweckmäßigkeit einer für Preußen wohl¬

wollenden Politik hervorgehn, die das beſtehende Bündnis der

beiden deutſchen Großmächte conſolidirt und in Preußen Dankbar¬

keit für Oeſtreich erweckt? Wenn die gemeinſame Erwerbung

ſtatt in Holſtein, in Italien läge, wenn der Krieg, den wir geführt

haben, ſtatt Schleswig-Holſtein die Lombardei zur Verfügung der

beiden Mächte geſtellt hätte, ſo würde es mir nicht eingefallen ſein,

bei meinem Könige dahin zu wirken, daß Wünſchen unſres Ver¬

bündeten ein Widerſtand entgegengeſetzt oder die Forderung eines

Aequivalents erhoben würde, wenn ein ſolches nicht zu gleicher

Zeit diſponibel wäre. Ihm aber für Schleswig-Holſtein altpreußi¬

ſches Land abzutreten, das würde kaum möglich ſein, ſelbſt wenn

die Einwohner es wünſchten; in Glatz proteſtirten aber ſogar die

[345/0372]

Culminations- und Wendepunkt des dualiſtiſchen Verſuchs.

dort angeſeſſenen Oeſtreicher dagegen. Ich hätte das Gefühl, daß

die vortheilhaften Ergebniſſe der Freundſchaft der deutſchen Gro߬

mächte mit der holſteiniſchen Frage nicht abgeſchloſſen wären, und

daß ſie, wenn jetzt in der äußerſten Entfernung von dem öſtreichi¬

ſchen Intereſſengebiete gelegen, doch ein andermal ſehr viel näher

liegen könnten, und daß es für Oeſtreich nützlich ſein werde, jetzt

Preußen gegenüber freigebig und gefällig zu ſein.“

Es ſchien mir, daß die von mir aufgeſtellte Perſpective auf

den Kaiſer Franz Joſeph nicht ohne Eindruck blieb. Er ſprach

zwar von der Schwierigkeit, der öffentlichen Meinung in Oeſtreich

gegenüber ganz ohne Aequivalent aus der gegenwärtigen Situation

hinauszugehn, wenn Preußen einen ſo großen Gewinn wie Schleswig-

Holſtein mache, ſchloß aber mit der Frage, ob wir wirklich feſt ent¬

ſchloſſen wären, dieſen Beſitz zu fordern und einzuverleiben. Ich

hatte den Eindruck, daß er doch nicht für unmöglich hielte, uns

ſeine Anſprüche auf das von Dänemark abgetretene Land zu cediren,

wenn ihm die Ausſicht auf ein ferneres feſtes Zuſammenhalten

mit Preußen und auf Unterſtützung analoger Wünſche Oeſtreichs

durch Preußen geſichert würde. Er ſtellte zur weitern Diſcuſſion

zunächſt die Frage, ob Preußen wirklich feſt entſchloſſen ſei, die

Herzogthümer zu preußiſchen Provinzen zu machen, oder ob wir mit

gewiſſen Rechten in ihnen, wie ſie in den ſog. Februarbedingungen

ſpäter formulirt worden ſind, zufrieden ſein würden. Der König

ſchwieg und ich brach dieſes Schweigen, indem ich dem Kaiſer

antwortete: „Es iſt mir ſehr erwünſcht, daß Eure Majeſtät mir

die Frage in Gegenwart meines allergnädigſten Herrn vorlegen;

ich hoffe bei dieſer Gelegenheit ſeine Anſicht zu erfahren.“ Ich

hatte nämlich bis dahin keine unumwundene Erklärung des Königs

weder ſchriftlich noch mündlich über Sr. Majeſtät definitive Willens¬

meinung bezüglich der Herzogthümer erhalten.

Die mise en demeure durch den Kaiſer hatte die Folge, daß

der König zögernd und in einer gewiſſen Verlegenheit ſagte: er

habe ja garkein Recht auf die Herzogthümer und könne deshalb

[346/0373]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

keinen Anſpruch darauf machen. Durch dieſe Aeußerung, aus

welcher ich die Einwirkung der königlichen Verwandten und der

hofliberalen Einflüſſe heraushörte, war ich natürlich dem Kaiſer

gegenüber außer Gefecht geſetzt. Ich trat demnächſt noch für das

Feſthalten der Einigkeit beider deutſchen Großmächte ein, und es

wurde eine dieſer Richtung entſprechende kurze Redaction, in der

die Zukunft Schleswig-Holſteins unentſchieden blieb, von Rechberg

und mir entworfen und von den beiden hohen Herrn genehmigt.

IV.

Der Dualismus würde, wie ich ihn mir dachte, dem jetzt be¬

ſtehenden Verhältniß ähnlich geweſen ſein, jedoch mit dem Unter¬

ſchiede, daß Oeſtreich auf die Staaten, die jetzt mit Preußen das

Deutſche Reich bilden, bundesmäßigen Einfluß behalten haben würde.

Rechberg war für Verſtärkung des Gewichts von Mitteleuropa durch

eine ſolche Verſtändigung der beiden Mächte gewonnen. Dieſe

Geſtaltung würde, im Vergleich zur Vergangenheit und, wie die

Dinge damals lagen, immerhin ein Fortſchritt zum Beſſern ge¬

weſen ſein, aber Dauer nur verſprochen haben, ſo lange das Ver¬

trauen zu den beiderſeits leitenden Perſonen ungeſtört blieb. Graf

Rechberg ſagte mir bei meiner Abreiſe von Wien (26. Auguſt 1864),

daß ſeine Stellung angefochten ſei; durch die Erörterungen des

Miniſteriums und die Haltung des Kaiſers zu demſelben ſei er in

die Lage gerathen, fürchten zu müſſen, daß ſeine Collegen, namentlich

Schmerling, ihn über Bord ſchieben würden, wenn er nicht für die

Zollvereinsbeſtrebungen Oeſtreichs, die den Kaiſer vorzugsweiſe

beſchäftigten, wenigſtens die Zuſicherung beibringen könne, daß

wir auf Verhandlungen in beſtimmter Friſt eingehn wollten. Ich

hatte gegen ein ſolches pactum de contrahendo keine Bedenken,

weil ich überzeugt war, daß es mir keine über die Grenzen des

mir möglich Scheinenden hinaus gehenden Zugeſtändniſſe würde

[347/0374]

Graf Rechbergs Stellung erſchüttert durch die Zollverhandlung.

abdingen können, und weil die politiſche Seite der Frage im

Vordergrunde ſtand. Die Zolleinigung hielt ich für eine un¬

ausführbare Utopie wegen der Verſchiedenheit der wirthſchaftlichen

und adminiſtrativen Zuſtände beider Theile. Die Gegenſtände,

die im Norden des Zollvereins die finanzielle Unterlage bildeten,

gelangen in dem größern Theile des öſtreichiſch-ungariſchen Gebietes

garnicht zum Verbrauch. Die Schwierigkeiten, welche die Verſchieden¬

heiten der Lebensgewohnheiten und der Conſumtion zwiſchen Nord-

und Süddeutſchland ſchon innerhalb des Zollvereins bedingten, mußten

unüberwindlich werden, wenn beide Regionen mit den öſtlichen

Ländern Oeſtreich-Ungarns von derſelben Zollgrenze umſchloſſen

werden ſollten. Ein gerechter, der beſtehenden Conſumtion zoll¬

pflichtiger Waaren entſprechender Maßſtab der Vertheilung würde

ſich nicht vereinbaren laſſen; jeder Maßſtab würde entweder un¬

gerecht für den Zollverein oder unannehmbar für die öffentliche

Meinung in Oeſtreich-Ungarn ſein. Der bedürfnißloſe Slowake

und Galizier einerſeits, der Rheinländer und der Niederſachſe

andrerſeits ſind für die Beſteuerung nicht commenſurabel. Außer¬

dem fehlte mir der Glaube an die Zuverläſſigkeit des Dienſtes auf

einem großen Theile der öſtreichiſchen Grenzen.

Von der Unmöglichkeit der Zolleinigung überzeugt, hatte ich

kein Bedenken, dem Grafen Rechberg den gewünſchten Dienſt zu er¬

weiſen, um ihn im Amte zu erhalten. Ich glaubte bei meiner Ab¬

reiſe nach Biarritz (5. October) ſicher zu ſein, daß der König an

meinem Votum feſthalten werde; und mir ſind noch heut die Motive

nicht klar, welche meine Collegen, den Finanzminiſter Karl von

Bodelſchwingh und den Handelsminiſter Grafen Itzenplitz, und ihren

freihändleriſchen spiritus rector Delbrück beſtimmt haben, während

meiner Abweſenheit den König auf einem ihm ziemlich fremden

Gebiete mit ſo viel Entſchiedenheit zu bearbeiten, daß durch unſre

Ablehnung die Stellung Rechbergs, wie er es vorhergeſagt hatte,

erſchüttert und er in dem auswärtigen Miniſterium durch Mens¬

dorff erſetzt wurde, der zunächſt der Candidat Schmerlings war,

[348/0375]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

bis dieſer dann durch reactionäre und katholiſche Einflüſſe ſelbſt

verdrängt wurde. Der König, ſo feſt er auch in der innern

Politik geworden war, ließ ſich damals noch von der durch ſeine

Gemalin vertretenen Doctrin beeinfluſſen, daß zur Löſung der

deutſchen Frage die Popularität das Mittel ſei.

Ueber eine Conferenz, welche am 10. October 1864 von Mit¬

gliedern des Auswärtigen und des Handelsminiſteriums abgehalten

wurde, ſchrieb mir Herr von Thile nach Biarritz:

„Ich fand in der heutigen Conferenz neu beſtätigt, was freilich

längſt bekannt iſt, daß die Herren Fachmänner bei aller ihrer, von

mir gern anerkannten Virtuoſität in Behandlung der fachlichen

Seite die politiſche arg mißachten und z. B. die Eventualität eines

Miniſterwechſels in Wien wie eine Bagatelle behandeln. — Itzen¬

plitz wankt in ſeinen Anſichten ſehr. Wiederholt gelang es mir

ihn zu dem Geſtändniß zu bringen, daß uns der Artikel 25 finaliter

und realiter zu nichts verpflichtet. Dann ſchreckte ihn aber jedesmal

ein ſtrafender Blick von Delbrück in ſeine Fachpoſition zurück.“

Zwei Tage ſpäter, am 12. October, berichtete mir Abeken, der

ſich bei dem Könige in Baden-Baden befand, es ſei ihm nicht ge¬

lungen, denſelben für den Artikel 25 zu gewinnen; Se. Majeſtät

ſcheue „das Geſchrei“, welches ſich über eine ſolche Conceſſion an

Oeſtreich erheben würde, und habe u. A. geſagt: „Die Miniſter¬

kriſis in Wien würden wir vielleicht vermeiden, aber dadurch in

Berlin eine ſolche hervorrufen; Bodelſchwingh und Delbrück würden

wahrſcheinlich ihre Entlaſſung beantragen, wenn wir den Artikel 25

zuließen.“

Und wieder zwei Tage ſpäter ſchrieb mir Graf Goltz aus

Paris:

„Iſt Rechbergs Stellung entſchieden erſchüttert (daß ſie es

bei dem Kaiſer ſei, muß ich entſchieden bezweifeln), ſo dürfte für

uns die Nothwendigkeit eintreten, hier den Eröffnungen eines rein

Schmerlingſchen Miniſteriums zuvorzukommen.“

[349/0376]

Rechbergs Entlaſſung. Wandelbarkeit der öſtreichiſchen Freundſchaft.

V.

Nicht ohne Bedeutung für den Werth dualiſtiſcher Politik war

die Frage, auf welches Maß von Sicherheit im Innehalten dieſer

Linie wir bei Oeſtreich rechnen konnten. Wenn man ſich die

Plötzlichkeit vergegenwärtigte, mit welcher Rechberg in der Ver¬

ſtimmung über den Mangel an Folgſamkeit der Mittelſtaaten mit

dieſen gebrochen und ſich mit uns ohne und gegen ſie verbündet

hatte, ſo konnte man die Möglichkeit nicht abweiſen, daß ein Mangel

an Uebereinſtimmung mit Preußen in Einzelfragen ebenſo uner¬

wartet zu einer neuen Schwenkung führen könnte. Ueber Mangel

an Aufrichtigkeit habe ich bei dem Grafen Rechberg nie zu klagen

gehabt, aber er war, wie Hamlet ſagt, spleenetic and rash in

einem ungewöhnlichen Grade; und wenn die perſönliche Verſtim¬

mung des Grafen Buol über unfreundliche Formen des Kaiſers

Nicolaus mehr als über politiſche Differenzen hingereicht hatte, die

öſtreichiſche Politik in der Linie der bekannten Schwarzenbergi¬

ſchen Undankbarkeit (Nous étonnerons l'Europe par notre in¬

gratitude) dauernd feſtzuhalten, ſo durfte man ſich der Möglichkeit

nicht verſchließen, daß die ſehr viel ſchwächern Bindemittel zwiſchen

dem Grafen Rechberg und mir von irgend welcher Fluthwelle weg¬

geſchwemmt werden könnten. Der Kaiſer Nicolaus hatte zu dem

Glauben an die Zuverläſſigkeit ſeiner Beziehungen zu Oeſtreich

viel ſtärkere Unterlagen als wir zur Zeit des däniſchen Krieges.

Er hatte dem Kaiſer Franz Joſeph einen Dienſt erwieſen, wie kaum

je ein Monarch ſeinem Nachbarſtaat gethan 1), und die Vortheile der

gegenſeitigen Anlehnung im monarchiſchen Intereſſe der Revolution

gegenüber, der italieniſchen und ungariſchen ſo gut wie der polniſchen

von 1846, fielen für Oeſtreich bei dem Zuſammenhalten mit Rußland

noch ſchwerer in das Gewicht als bei dem mit Preußen 1864 mög¬

1)

S. o. S. 217.

[350/0377]

Siebzehntes Kapitel: Der Frankfurter Fürſtentag.

lichen Bunde. Der Kaiſer Franz Joſeph iſt eine ehrliche Natur, aber

das öſtreichiſch-ungariſche Staatsſchiff iſt von ſo eigenthümlicher

Zuſammenſetzung, daß ſeine Schwankungen, denen der Monarch

ſeine Haltung an Bord anbequemen muß, ſich kaum im Voraus

berechnen laſſen. Die centrifugalen Einflüſſe der einzelnen Nationali¬

täten, das Ineinandergreifen der vitalen Intereſſen, die Oeſt¬

reich nach der deutſchen, der italieniſchen, der orientaliſchen und

der polniſchen Seite hin gleichzeitig zu vertreten hat, die Unlenk¬

ſamkeit des ungariſchen Nationalgeiſtes und vor Allem die Un¬

berechenbarkeit, mit der beichtväterliche Einflüſſe die politiſchen

Entſchließungen kreuzen, legen jedem Bundesgenoſſen Oeſtreichs

die Pflicht auf, vorſichtig zu ſein und die Intereſſen der eignen

Unterthanen nicht ausſchließlich von der öſtreichiſchen Politik ab¬

hängig zu machen. Der Ruf der Stabilität, den die letztre unter

dem langjährigen Regimente Metternichs gewonnen hatte, iſt nach

der Zuſammenſetzung der Habsburgiſchen Monarchie und nach

den bewegenden Kräften innerhalb derſelben nicht haltbar, mit der

Politik des Wiener Cabinets vor der Metternichſchen Periode gar¬

nicht, und nach derſelben nicht durchweg in Uebereinſtimmung.

Sind aber die Rückwirkungen der wechſelnden Ereigniſſe und Situa¬

tionen auf die Entſchließungen des Wiener Cabinets für die Dauer

unberechenbar, ſo iſt es auch für jeden Bundesgenoſſen Oeſtreichs

geboten, auf die Pflege von Beziehungen, aus denen ſich nöthigen

Falls andre Combinationen entwickeln ließen, nicht abſolut zu ver¬

zichten.

[[351]/0378]

Achtzehntes Kapitel.

König Ludwig II . von Baiern.

Auf dem Wege von Gaſtein nach Baden-Baden berührten wir

München, das der König Max bereits verlaſſen hatte, um ſich

nach Frankfurt zu begeben, es ſeiner Gemalin überlaſſend, die

Gäſte zu empfangen. Ich glaube nicht, daß die Königin Marie

nach ihrer wenig aus ſich heraustretenden und der Politik ab¬

gewandten Stimmung auf den König Wilhelm und die Ent¬

ſchließung, mit welcher er ſich damals trug, lebhaft eingewirkt hat.

Bei den regelmäßigen Mahlzeiten, die wir während des Auf¬

enthalts in Nymphenburg, 16. und 17. Auguſt 1863, einnahmen,

war der Kronprinz, ſpäter König Ludwig II., der ſeiner Mutter

gegenüber ſaß, mein Nachbar. Ich hatte den Eindruck, daß er mit

ſeinen Gedanken nicht bei der Tafel war und ſich nur ab und zu

ſeiner Abſicht erinnerte, mit mir eine Unterhaltung zu führen, die

aus dem Gebiete der üblichen Hofgeſpräche nicht herausging. Gleich¬

wohl glaubte ich in dem, was er ſagte, eine begabte Lebhaftigkeit

und einen von ſeiner Zukunft erfüllten Sinn zu erkennen. In

den Pauſen des Geſprächs blickte er über ſeine Frau Mutter hin¬

weg an die Decke und leerte ab und zu haſtig ſein Champagner¬

glas, deſſen Füllung, wie ich annahm, auf mütterlichen Befehl ver¬

langſamt wurde, ſo daß der Prinz mehrmals ſein leeres Glas rück¬

wärts über ſeine Schulter hielt, wo es zögernd wieder gefüllt

wurde. Er hat weder damals noch ſpäter die Mäßigkeit im Trinken

überſchritten, ich hatte jedoch das Gefühl, daß die Umgebung ihn

[352/0379]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

langweilte und er den von ihr unabhängigen Richtungen ſeiner

Phantaſie durch den Champagner zu Hülfe kam. Der Eindruck,

den er mir machte, war ein ſympathiſcher, obſchon ich mir mit

einiger Verdrießlichkeit ſagen mußte, daß mein Beſtreben, ihn als

Tiſchnachbar angenehm zu unterhalten, unfruchtbar blieb. Es war dies

das einzige Mal, daß ich den König Ludwig von Angeſicht geſehn

habe, ich bin aber mit ihm, ſeit er bald nachher (10. März 1864) den

Thron beſtiegen hatte, bis an ſein Lebensende in günſtigen Beziehungen

und in verhältnißmäßig regem brieflichem Verkehre geblieben und

habe dabei jederzeit von ihm den Eindruck eines geſchäftlich klaren

Regenten von national deutſcher Geſinnung gehabt, wenn auch mit

vorwiegender Sorge für die Erhaltung des föderativen Prinzips

der Reichsverfaſſung und der verfaſſungsmäßigen Privilegien ſeines

Landes. Als außerhalb des Gebietes politiſcher Möglichkeit liegend

iſt mir ſein in den Verſailler Verhandlungen auftauchender Gedanke

erinnerlich, daß das deutſche Kaiſerthum reſp. Bundes-Präſidium

zwiſchen dem preußiſchen und dem bairiſchen Hauſe erblich alterniren

ſolle. Die Zweifel darüber, wie dieſer unpraktiſche Gedanke praktiſch

zu machen, wurden überholt durch die Verhandlungen mit den

bairiſchen Vertretern in Verſailles und deren Ergebniſſe, wonach

dem Präſidium des Bundes, alſo dem Könige von Preußen, die

Rechte, die er heut dem bairiſchen Bundesgenoſſen gegenüber

ausübt, ſchon in der Hauptſache bewilligt waren, ehe es ſich um

den Kaiſertitel handelte.

Aus meinem Briefwechſel mit dem Könige Ludwig ſchalte ich

einige Stücke ein, die zur richtigen Charakteriſtik dieſes unglück¬

lichen Fürſten beitragen und auch wieder einmal ein actuelles

Intereſſe gewinnen können. Die Curialien ſind nur in den erſten

Briefen gegeben.

[353/0380]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

Verſailles, 27. November 1870 1).

Allerdurchlauchtigſter Großmächtigſter König,

Allergnädigſter Herr,

Für die huldreichen Eröffnungen, welche mir Graf Holnſtein

auf Befehl Eurer Majeſtät gemacht hat, bitte ich Allerhöchſtdieſelben

den ehrfurchtsvollen Ausdruck meines Dankes entgegennehmen zu

wollen. Das Gefühl meiner Dankbarkeit gegen Eure Majeſtät

hat einen tiefern und breitern Grund als den perſönlichen in der

amtlichen Stellung, in welcher ich die hochherzigen Entſchließungen

Eurer Majeſtät zu würdigen berufen bin, durch welche Eure

Majeſtät beim Beginne und bei Beendigung dieſes Krieges der

Einigkeit und der Macht Deutſchlands den Abſchluß gegeben haben.

Aber es iſt nicht meine, ſondern die Aufgabe des deutſchen Volkes

und der Geſchichte, dem durchlauchtigen bairiſchen Hauſe für Eurer

Majeſtät vaterländiſche Politik und für den Heldenmuth Ihres

Heeres zu danken. Ich kann nur verſichern, daß ich Eurer Majeſtät,

ſo lang ich lebe, in ehrlicher Dankbarkeit anhänglich und ergeben

ſein und mich jederzeit glücklich ſchätzen werde, wenn es mir ver¬

gönnt wird, Eurer Majeſtät zu Dienſten zu ſein. In der deutſchen

Kaiſerfrage habe ich mir erlaubt, dem Grafen Holnſtein einen

kurzen Entwurf vorzulegen, welchem der Gedankengang zu Grunde

liegt, der meinem Gefühl nach die deutſchen Stämme bewegt: der

deutſche Kaiſer iſt ihrer aller Landsmann, der König von Preußen

ein Nachbar, dem unter dieſem Namen Rechte, die ihre Grundlage

nur in der freiwilligen Uebertragung durch die deutſchen Fürſten

und Stämme finden, nicht zuſtehn. Ich glaube, daß der deutſche

Titel für das Präſidium die Zulaſſung deſſelben erleichtert, und

die Geſchichte lehrt, daß die großen Fürſtenhäuſer Deutſchlands,

Preußen eingeſchloſſen, die Exiſtenz des von ihnen gewählten

1) Nach dem Concept, das in der Reinſchrift noch Zuſätze erhalten zu

haben ſcheint.

23

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I.

[354/0381]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

Kaiſers niemals als eine Beeinträchtigung ihrer eignen europäiſchen

Stellung empfunden haben.

v. Bismarck.

Mein lieber Graf!

Mit lebhaftem Vergnügen habe ich bemerkt, daß Sie trotz

zahlreicher und dringender Geſchäfte Muße gefunden, Ihren Ge¬

fühlen gegen mich Ausdruck zu verleihen.

Ich ſende Ihnen deshalb meinen wärmſten Dank; denn ich

lege hohen Werth auf die ergebene Geſinnung eines Mannes, nach

dem das ganze Deutſchland freudigen Stolzes ſeine Blicke richtet.

Mein Brief an Ihren König, meinen vielgeliebten hochver¬

ehrten Oheim, wird morgen in deſſen Hände gelangen. — Ich

wünſche von ganzem Herzen, daß mein Vorſchlag beim Könige,

den übrigen Bundesgliedern, welchen ich geſchrieben, und auch bei

der Nation vollſten Anklang finde, und iſt es mir ein befriedigen¬

des Bewußtſein, daß ich vermöge meiner Stellung in Deutſchland

wie beim Beginne ſo beim Abſchluſſe dieſes ruhmreichen Krieges

in der Lage war, einen entſcheidenden Schritt zu Gunſten der

nationalen Sache thun zu können. Ich hoffe aber auch mit Be¬

ſtimmtheit, daß Bayern ſeine Stellung fortan erhalten bleibt, da

ſie mit einer treuen, rückhaltloſen Bundespolitik wohl vereinbar¬

lich iſt und verderblicher Centraliſation am ſicherſten ſteuert.

Groß, unſterblich iſt das, was Sie für die deutſche Nation

gethan haben, und ohne zu ſchmeicheln, darf ich ſagen, daß Sie

in der Reihe der großen Männer unſeres Jahrhunderts den her¬

vorragendſten Platz einnehmen. Möge Gott Ihnen noch viele,

viele Jahre verleihen, damit Sie fortfahren können zu wirken für

das Wohl und Gedeihen unſeres gemeinſamen Vaterlandes. Meine

beſten Grüße Ihnen ſendend, bleibe ich, mein lieber Graf, ſtets

Hohenſchwangau, den 2. December 1870.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

[355/0382]

Briefwechſel mit Ludwig von Bayern.

Verſailles, 24. December 1870 1).

Allerdurchlauchtigſter König,

Allergnädigſter Herr,

Das huldreiche Schreiben Eurer Majeſtät, welches Graf Holn¬

ſtein mir überbracht hat, ermuthigt mich mit meinem Danke für

den gnädigen Inhalt deſſelben, Eurer Majeſtät meine unterthänig¬

ſten Glückwünſche zu dem bevorſtehenden Jahreswechſel darzubringen.

Wohl ſelten hat Deutſchland von einem neuen Jahre mit gleicher

Zuverſicht wie von dem bevorſtehenden die Erfüllung nationaler

Wünſche erwartet. Wenn dieſe Hoffnungen ſich verwirklichen,

wenn das geeinte Deutſchland dahin gelangt, daß es ſeinen äußern

Frieden in geſicherten Grenzen durch eigne Kraft verbürgen kann,

gleichzeitig, ohne die freie Entwicklung der einzelnen Bundesglieder

zu beeinträchtigen, ſo wird die entſcheidende Stellung, die Eure

Majeſtät zu der Neugeſtaltung des gemeinſamen Vaterlandes ge¬

wonnen haben, in der Geſchichte und in der Dankbarkeit der

Deutſchen jederzeit unvergeſſen bleiben.

Eure Majeſtät ſetzen mit Recht voraus, daß auch ich von der

Centraliſation kein Heil erwarte, ſondern grade in der Erhaltung

der Rechte, welche die Bundesverfaſſung den einzelnen Gliedern

des Bundes ſichert, die dem deutſchen Geiſte entſprechende Form

der Entwicklung und zugleich die ſicherſte Bürgſchaft gegen die

Gefahren erblicke, welchen Recht und Ordnung in der freien Be¬

wegung des heutigen politiſchen Lebens ausgeſetzt ſein können.

Daß die Herſtellung der Kaiſerwürde durch Initiative Eurer Majeſtät

und der verbündeten Fürſten den monarchiſch-conſervativen Inter¬

eſſen förderlich iſt, beweiſt die feindliche Stellung, welche die

republikaniſche Partei in ganz Deutſchland zu derſelben genom¬

men hat.

1) Nach dem Concept; in der Reinſchrift hat der Brief einige ſtiliſtiſche

Aenderungen erfahren.

[356/0383]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

Eure Majeſtät wollen ſich in Gnaden verſichert halten, daß

ich mich glücklich ſchätzen werde, wenn es mir gelingt, mir Aller¬

höchſtdero gnädige Geſinnung zu erhalten.

v. B.

Mein lieber Fürſt!

Es würde mir nicht nur ein hohes Intereſſe bieten, ſondern

zugleich lebhafte Freude bereiten, Sie zu ſprechen und meinen Ge¬

fühlen beſonderer Hochſchätzung für Sie, mein lieber Fürſt, münd¬

lichen Ausdruck zu geben. Wie ich zu meinem aufrichtigen Bedauern

erfahre, hat jener ſo verabſcheuungswürdige Mordanschlag 1), für deſſen

Mißlingen ich Gott immerdar dankbar ſein werde, ſtörend auf Ihre

auch mir ſo theure Geſundheit und auf den Curgebrauch gewirkt,

ſo daß es vermeſſen von mir wäre, wollte ich Sie erſuchen, Sich

demnächſt zu mir zu bemühen, der ich jetzt mitten in den Bergen

verweile. — Für Ihren letzten Brief, der mich mit aufrichtiger

Freude erfüllte, bin ich Ihnen aus ganzer Seele dankbar. Feſt

vertraue ich auf Sie! und glaube ich, daß Sie, wie Sie meinem

Miniſter v. Pfretzſchner gegenüber ſich äußerten, Ihren politiſchen

Einfluß dafür einſetzen werden, daß das föderative Princip die

Grundlage der neuen Ordnung der Dinge in Deutſchland bilde.

Möge der Himmel Ihr theures Leben noch viele Jahre uns Allen

erhalten! Ihr Tod, ſowie der des von mir hochverehrten Kaiſers

Wilhelm wäre ein großes Unglück für Deutſchland und Bayern. —

Aus ganzem Herzen meine beſten Grüße Ihnen, mein lieber Fürſt,

zurufend, bleibe ich ſtets mit beſonderer Hochſchätzung und tief¬

gewurzeltem Vertrauen

Hohenſchwangau, den 31. Juli 1874.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

1)

Kullmann's am 13. Juli 1874.

[357/0384]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

Kiſſingen, den 10. Auguſt 1874.

Allerdurchlauchtigſter König,

Allergnädigſter Herr,

Im Begriff, meine Cur zu beendigen, kann ich Kiſſingen nicht

verlaſſen, ohne Eurer Majeſtät für alle Gnade, welche Allerhöchſt¬

dieſelben mir hier erzeigt haben, nochmals ehrfurchtsvoll zu danken,

insbeſondre auch für das huldreiche Schreiben vom 31. v. Mts.

Ich bin hoch beglückt durch das Vertrauen, welches Eure

Majeſtät mir darin ausſprechen, und werde ſtets beſtrebt ſein, das¬

ſelbe zu verdienen; aber auch unabhängig von perſönlichen Bürg¬

ſchaften, dürfen Eure Majeſtät mit voller Zuverſicht auf diejenigen

rechnen, welche in der Reichsverfaſſung ſelbſt liegen. Letztre beruht

auf der föderativen Grundlage, welche ſie durch die Bundesverträge

erhalten hat, und kann nicht ohne Vertragsbruch verletzt werden.

Darin unterſcheidet ſich die Reichsverfaſſung von jeder Landes¬

verfaſſung. Die Rechte Eurer Majeſtät bilden einen unlöslichen

Theil der Reichsverfaſſung, und beruhn daher auf denſelben ſichern

Rechtsgrundlagen wie alle Inſtitutionen des Reichs. Deutſchland

hat gegenwärtig in der Inſtitution ſeines Bundesrathes, und Baiern

in ſeiner würdigen und einſichtigen Vertretung im Bundesrathe,

eine feſte Bürgſchaft gegen jede Ausartung oder Uebertreibung der

einheitlichen Beſtrebungen. Eure Majeſtät werden auf die Sicher¬

heit des vertragsmäßigen Verfaſſungsrechtes auch dann volles Ver¬

trauen haben können, wenn ich nicht mehr die Ehre habe, dem Reiche

als Kanzler zu dienen.

In tiefer Ehrfurcht verharre ich

Eurer Majeſtät

unterthänigſter Diener

v. Bismarck.

[358/0385]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

Friedrichsruh, 2. Juni 1876.

Eure Majeſtät haben, wie Baron Werthern mir ſchreibt, die

Gnade gehabt, mir auch in dieſem Jahre für den Beſuch von

Kiſſingen Equipage aus Allerhöchſtdero Marſtall zur Verfügung zu

ſtellen. Ich hoffe, daß es mir möglich ſein wird, dem Rathe der

Aerzte zu folgen und auch in dieſem Sommer die Heilung zu

ſuchen, wo ich ſie vor 2 Jahren, wie Eure Majeſtät deſſen in der

Allerhöchſten Ordre vom 29. April ſo huldreich gedenken, ge¬

funden habe.

Die türkiſchen Angelegenheiten ſehn bedrohlich aus und können

dringliche diplomatiſche Arbeit erfordern: aber unter allen europäi¬

ſchen Mächten wird Deutſchland immer in der günſtigſten Lage

bleiben, um ſich aus den Wirren, mit welchen eine orientaliſche

Frage den Frieden bedrohen kann, dauernd oder doch länger als

andre, fern halten zu können. Ich gebe daher die Hoffnung nicht

auf, daß es mir möglich ſein werde, Kiſſingen in einigen Wochen

zu beſuchen, und bitte Eure Majeſtät ehrfurchtsvoll, meinen aller¬

unterthänigſten Dank für Allerhöchſtdero huldreiche Fürſorge in

Gnaden entgegennehmen zu wollen.

v. Bismarck.

Es gereicht mir zu aufrichtiger Freude, daß die in Ihren

werthen Zeilen vom 2. dieſes Monats ausgeſprochene Hoffnung,

Kiſſingen zu beſuchen, ſich nun erfüllt hat.

Von Herzen begrüße ich Sie in meinem Lande und gebe mich

der frohen Zuverſicht hin, daß Ihre, dem Reiche theure Geſund¬

heit wiederholt durch eine Heilquelle Bayerns Kräftigung finden

werde.

Möge der allen deutſchen Fürſten gemeinſame Wunſch der

Erhaltung des Friedens Verwirklichung finden und dadurch Ihnen,

mein lieber Fürſt, ergiebige Erholung von mühevoller Arbeit und

aufregender Sorge gegönnt ſein.

Indem ich der Fürſtin die Hand küſſe und Ihnen, mein

[359/0386]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

lieber Fürſt, die herzlichſten Grüße ſende, verbleibe ich mit Ihnen

bekannten Geſinnungen jederzeit

Berg, den 18. Juni 1876

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

Kiſſingen, 5. Juli 1876.

... Leider läßt mir die Politik nicht ganz die Ruhe, deren

man im Bade bedarf: es iſt dabei mehr die allgemeine Unruhe

und Ungeduld als eine wirkliche Gefährdung des Friedens, für

Deutſchland wenigſtens, wodurch die unfruchtbaren Arbeiten der

Diplomaten veranlaßt werden. Unfruchtbar ſind ſie nothwendig,

ſo lange der Kampf innerhalb der türkiſchen Grenzen zu keiner Ent¬

ſcheidung gediehen ſein wird. Wie die letztre auch ausfallen möge,

ſo wird die Verſtändigung zwiſchen Rußland und England bei

gegenſeitiger Aufrichtigkeit immer möglich ſein, da — und ſo

lange — Rußland nicht nach dem Beſitze von Conſtantinopel ſtrebt.

Sehr viel ſchwieriger wird auf die Dauer die Vermittlung zwiſchen

den öſtreichiſch-ungariſchen und den ruſſiſchen Intereſſen ſein; bis¬

her aber ſind beide Kaiſerhöfe noch einig, und ich bin überzeugt,

Eurer Majeſtät Allerhöchſte Billigung zu finden, wenn ich die Er¬

haltung dieſer Einigkeit als eine Hauptaufgabe deutſcher Diplomatie

anſehe. Es würde eine große Verlegenheit für Deutſchland ſein,

zwiſchen dieſen beiden ſo eng befreundeten Nachbarn optiren zu

ſollen; denn ich zweifle nicht daran, im Sinne Eurer Majeſtät und

aller deutſcher Fürſten zu handeln, wenn ich in unſrer Politik den

Grundſatz vertrete, daß Deutſchland nur zur Wahrung zweifelloſer

deutſcher Intereſſen ſich an einem Kriege freiwillig betheiligen ſollte.

Die türkiſche Frage, ſo lange ſie ſich innerhalb der türkiſchen Grenzen

entwickelt, berührt meines unterthänigſten Dafürhaltens keine kriegs¬

würdigen deutſchen Intereſſen; auch ein Kampf zwiſchen Rußland

und einer der Weſtmächte oder beiden kann ſich entwickeln, ohne

[360/0387]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

Deutſchland in Mitleidenſchaft zu ziehn. Sehr viel ſchwieriger

aber liegt der Fall, wenn Oeſtreich und Rußland uneinig werden

ſollten, und hoffe ich, daß die Begegnung beider Monarchen in

Reichſtadt gute Früchte zur Befeſtigung ihrer Freundſchaft tragen

werde. Der Kaiſer Alexander will glücklicherweiſe den Frieden,

und erkennt an, daß Oeſtreichs Lage der ſüdſlaviſchen Bewegung

gegenüber ſchwieriger und zwingender iſt als die Rußlands. Für

Letztres ſind es auswärtige, für Oeſtreich aber innere und vitale

Intereſſen, die auf dem Spiele ſtehn.

v. Bismarck.

Mit lebhafter Freude habe ich Ihre Nachricht von dem offen¬

bar günſtigen Verlaufe der Cur erhalten. Ich danke Ihnen viel¬

mals für dieſe frohe Botſchaft und hoffe von Herzen, daß auch

die läſtigen Folgen des anſtrengenden Gebrauchs der Kiſſinger

Quellen ſich recht bald verlieren werden.

Durch Ihre ſo klare Darlegung der politiſchen Situation haben

Sie, mein lieber Fürſt, mich ganz beſonders verbunden. Der weit¬

ſehende, ſtaatsmänniſche Blick, welcher ſich in Ihren Anſchauungen

über die Stellung Deutſchlands zu den gegenwärtigen und etwa

noch drohenden Verwicklungen im Auslande kund gibt, hat meine

volle Bewunderung, und ich brauche wohl nicht zu verſichern, daß

Ihre mächtigen Anſtrengungen zur Erhaltung des Friedens von

meinen wärmſten Sympathien und unbegränztem Vertrauen be¬

gleitet ſind. — Möge der glückliche Erfolg der deutſchen Politik

und der Dank der deutſchen Fürſten und Stämme Sie, mein lieber

Fürſt, im Beſitze Ihrer vollen Geſundheit und Rüſtigkeit finden.

Mit dieſem innigen Wunſche verbinde ich die herzlichſten

Grüße und die Verſicherung wahrer Hochachtung und feſtgewur¬

zelten Vertrauens, womit ich, mein lieber Fürſt, ſtets verbleibe

Hohenſchwangau, den 16. Juli 1876.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

[361/0388]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

Kiſſingen, 29. Juni 1877.

Die vielen Geſchäfte bei der Cur waren unvermeidlich, weil

der Reichstag durch die Schwierigkeiten, die er bezüglich meiner

Vertretung machte, und gegen die aufzutreten ich damals nicht

geſund genug war, mich nöthigte, die Contraſignaturen auch im

Urlaub beizubehalten. Es war dies eins der Mittel, durch welche

die Mehrheit im Reichstage die Einführung jener Inſtitution zu

erkämpfen ſucht, welche ſie unter der Bezeichnung „verantwortlicher

Reichsminiſter“ verſteht, und gegen die ich mich jederzeit abwehrend

verhalte, nicht um der alleinige Miniſter zu bleiben, ſondern um

die verfaſſungsmäßigen Rechte des Bundesraths und ſeiner hohen

Vollmachtgeber zu wahren. Nur auf Koſten der letztern könnten

die erſtrebten Reichsminiſterien geſchäftlich dotirt werden, und da¬

mit würde ein Weg in der Richtung der Centraliſirung ein¬

geſchlagen, in der wir das Heil der deutſchen Zukunft, wie ich glaube,

vergebens ſuchen würden. Es iſt, meines unterthänigſten Dafürhaltens,

nicht nur das verfaſſungsmäßige Recht, ſondern auch die politiſche

Aufgabe meiner außerpreußiſchen Collegen im Bundesrath, mich

im Kampfe gegen die Einführung ſolcher Reichsminiſterien offen

zu unterſtützen, und dadurch klar zu ſtellen, daß ich bisher nicht

für die miniſterielle Alleinherrſchaft des Kanzlers, ſondern für die

Rechte der Bundesgenoſſen und für die miniſteriellen Befugniſſe

des Bundesraths eingetreten bin. Ich darf annehmen, Eurer Majeſtät

Intentionen entſprochen zu haben, wenn ich mich in dieſem Sinne

ſchon Pfretzſchner gegenüber ausgeſprochen habe, und ich bin überzeugt,

daß Eurer Majeſtät Vertreter im Bundesrath ſelbſt und in Ver¬

bindung mit andern Collegen mir einen Theil des Kampfes gegen

das Drängen des Reichstages nach verantwortlichen Reichsmini¬

ſterien durch ihren Beiſtand abnehmen werden.

Wenn, wie ich höre, Eurer Majeſtät Wahl auf Herrn von

Rudhart gefallen iſt, ſo kann ich nach Allem, was ich durch Hohen¬

lohe über ihn weiß, dafür ehrfurchtsvoll dankbar ſein und voraus¬

[362/0389]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

ſehn, daß ich nicht nur die innern, ſondern auch die auswärtigen

Geſchäfte des Reichs ihm gegenüber mit der vertrauensvollen Offen¬

heit werde beſprechen können, die mir dem Vertreter Eurer Majeſtät

gegenüber ein geſchäftliches und ein perſönliches Bedürfniß iſt.

Für den Augenblick iſt unſre Stellung zum Auslande noch dieſelbe,

wie während des ganzen Winters, und die Hoffnung, daß uns der

Krieg nicht berühren werde, ungeſchwächt. Das Vertrauen Ru߬

lands auf die Zuverläſſigkeit unſrer nachbarlichen Politik hat er¬

ſichtlich zugenommen, und damit auch die Ausſicht, ſolche Ent¬

wicklungen zu verhüten, gegen welche Oeſtreich einzuſchreiten durch

ſeine Intereſſen genöthigt werden könnte. Die guten Beziehungen

der beiden Kaiſerreiche zu einander zu erhalten, bleiben wir mit

Erfolg beſtrebt. Unſre Freundſchaft mit England hat bisher dar¬

unter nicht gelitten, und auch die am dortigen Hof durch politiſche

Intriganten angebrachten Gerüchte, als könne Deutſchland Abſichten

auf die Erwerbung von Holland haben, konnten nur in hohen

Damenkreiſen vorübergehend Anklang finden; die Verleumder werden

nicht müde, aber die Gläubigen ſcheinen es endlich zu werden.

Unter dieſen Umſtänden iſt die äußere Politik des Reiches im Stande,

ihre Aufmerkſamkeit ungeſchwächt dem Vulkan im Weſten zuzu¬

wenden, der Deutſchland ſeit 300 Jahren ſo oft mit ſeinen Aus¬

brüchen überſchüttet hat. Ich traue den Verſicherungen nicht, die

wir von dort erhalten, kann aber doch dem Reiche keinen andern

Rath geben, als wohlgerüſtet und Gewehr bei Fuß den etwaigen

neuen Anfall abzuwarten ... v. Bismarck.

... Es drängt mich bei dieſem Anlaſſe, Ihnen, mein lieber

Fürſt, zu ſagen, mit welcher lebhaften Beſorgniß, mich vor einiger

Zeit die Nachricht von der Möglichkeit Ihres Rücktrittes erfüllte.

Je größer meine perſönliche Verehrung für Sie und mein Ver¬

trauen zu der föderativen Grundlage Ihres ſtaatsmänniſchen Wirkens

iſt, deſto ſchmerzlicher hätte ich ein ſolches Ereigniß für mich und

mein Land empfunden.

[363/0390]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

Zu meiner wahren Freude iſt es nicht eingetreten, und ich

wünſche von ganzem Herzen, daß Ihre Weisheit und Thatkraft

dem Reiche und dem reichstreuen Bayern noch recht lange erhalten

bleiben möge! Haben Sie, mein lieber Fürſt, meinen innigſten

Dank auch für die Mittheilung erfreulicher Friedensausſichten und

für die Zuſicherung, daß mein für Berlin beſtimmter Geſandter

v. Rudhart bei Ihnen wohlwollende und vertrauensvolle Aufnahme

finden werde. In Ihrer Stellung zu der immer wieder auf¬

tauchenden Frage verantwortlicher Reichsminiſterien erſcheinen Sie

als der ſtarke Hort der Rechte der Bundesfürſten, und mit wahr¬

hafter Beruhigung nehme ich von Ihnen, mein lieber Fürſt, das

Wort entgegen, daß das Heil der deutſchen Zukunft nicht in der

Centraliſirung zu ſuchen iſt, welche mit der Schaffung ſolcher

Miniſterien eintreten würde. Seien Sie überzeugt, daß ich es an

nichts fehlen laſſen werde, um Ihnen in dem Kampfe für Aufrecht¬

erhaltung der Grundlagen der Reichsverfaſſung die offene und vollſte

Unterſtützung meiner Vertreter im Bundesrathe, welchen ſich gewiß

auch die Bevollmächtigten der andern Fürſten anſchließen werden,

für alle Zukunft zu ſichern *).

Berg, den 7. Juli 1877. Ludwig.

Kiſſingen, den 12. Auguſt 1878.

Eurer Majeſtät erlaube ich mir meinen ehrfurchtsvollen Dank

zu Füßen zu legen für die huldreichen Befehle, welche der König¬

liche Marſtall auch in dieſem Jahre für meinen hieſigen Aufent¬

halt erhalten hat, und für die gnädige Anerkennung, welche der Mi¬

niſter von Pfretzſchner mir im Allerhöchſten Auftrage überbracht hat.

Durch den Congreß iſt die Politik einſtweilen zum Abſchluſſe ge¬

bracht, deren Angemeſſenheit für Deutſchland Eure Majeſtät in huld¬

reichen Schreiben anzuerkennen geruhten. Der eigne Frieden blieb

*)

Das bewährte ſich bei Rudhart nicht.

[364/0391]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

gewahrt, die Gefahr eines Bruches zwiſchen Oeſtreich und Rußland

iſt beſeitigt und unſre Beziehungen zu beiden befreundeten Nach¬

barreichen ſind erhalten und befeſtigt. Namentlich freue ich mich,

daß es gelungen iſt, das noch junge Vertrauen Oeſtreichs zu

unſrer Politik im Cabinet wie in der Bevölkerung des Kaiſer¬

ſtaates weſentlich zu kräftigen. Ich darf von der Allerhöchſten Billi¬

gung Eurer Majeſtät überzeugt ſein, wenn ich auch ferner bemüht

bin, die auswärtige Politik des Reiches in der vorbezeichneten

Richtung zu erhalten, und dementſprechend bei der Pforte und ander¬

weit gegenwärtig dahin zu wirken, daß die ſchwierige Aufgabe, die

Oeſtreich, allerdings etwas ſpät, übernommen hat, durch diplo¬

matiſchen Beiſtand nach Möglichkeit erleichtert werde.

Schwieriger ſind die augenblicklichen Aufgaben der innern

Politik. Meine Verhandlungen mit dem Nuntius ruhn ſeit dem

Tode des Cardinals Franchi vollſtändig, in Erwartung von In¬

ſtructionen aus Rom. Diejenigen, welche der Erzbiſchof von Neo¬

cäſarea mitbrachte, verlangten Herſtellung des status quo ante

1870 in Preußen, factiſch, wenn nicht vertragsmäßig. Derartige

prinzipielle Conceſſionen ſind beiderſeits unmöglich. Der Papſt

beſitzt die Mittel nicht, durch welche er uns die nöthigen Gegen¬

leiſtungen machen könnte; die Centrumspartei, die ſtaatsfeindliche

Preſſe, die polniſche Agitation, gehorchen dem Papſte nicht, auch

wenn Seine Heiligkeit dieſen Elementen befehlen wollte, die Re¬

girung zu unterſtützen. Die im Centrum vereinten Kräfte fechten

zwar jetzt unter päpſtlicher Flagge, ſind aber an ſich ſtaatsfeind¬

lich, auch wenn die Flagge der Katholicität aufhörte ſie zu decken;

ihr Zuſammenhang mit der Fortſchrittspartei und den Socialiſten

auf der Baſis der Feindſchaft gegen den Staat iſt von dem

Kirchenſtreit unabhängig. In Preußen wenigſtens waren die Wahl¬

kreiſe, in denen das Centrum ſich ergänzt, auch vor dem Kirchen¬

ſtreite oppoſitionell, aus demokratiſcher Geſinnung, bis auf den

Adel in Weſtfalen und Oberſchleſien, der unter der Leitung der

Jeſuiten ſteht und von dieſen abſichtlich ſchlecht erzogen wird.

[365/0392]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

Unter dieſen Umſtänden fehlt dem römiſchen Stuhl die Möglich¬

keit, uns für die Conceſſionen, die er von uns verlangt, ein Aequi¬

valent zu bieten, namentlich da er über den Einfluß der Jeſuiten

auf deutſche Verhältniſſe gegenwärtig nicht verfügt. Die Macht¬

loſigkeit des Papſtes ohne dieſen Beiſtand hat ſich beſonders bei

den Nachwahlen erkennen laſſen, wo die katholiſchen Stimmen,

gegen den Willen des Papſtes, für ſocialiſtiſche Candidaten ab¬

gegeben wurden, und der Dr. Moufang in Mainz öffentlich Ver¬

pflichtungen in dieſer Beziehung einging. Die hieſigen Verhand¬

lungen mit dem Nuntius können das Stadium der gegenſeitigen

Recognoſcirung nicht überſchreiten; ſie haben mir die Ueberzeugung

gewährt, daß ein Abſchluß noch nicht möglich iſt; ich glaube aber

vermeiden zu ſollen, daß ſie gänzlich abreißen, und daſſelbe ſcheint

der Nuntius zu wünſchen. In Rom hält man uns offenbar für

hülfsbedürftiger, als wir ſind, und überſchätzt den Beiſtand, den

man uns, bei dem beſten Willen, im Parlamente zu leiſten ver¬

mag. Die Wahlen zum Reichstage haben den Schwerpunkt des

letztern weiter nach rechts geſchoben, als man annahm. Das Ueber¬

gewicht der Liberalen iſt vermindert, und zwar in höherm Maße,

als die Ziffern es erſcheinen laſſen. Ich war bei Beantragung der

Auflöſung nicht im Zweifel, daß die Wähler regirungsfreundlicher

ſind als die Abgeordneten, und die Folge davon iſt geweſen, daß

viele Abgeordnete, welche ungeachtet ihrer oppoſitionellen Haltung

wiedergewählt wurden, dies nur durch Zuſagen zu Gunſten der

Regirung erreichen konnten. Wenn ſie dieſe Zuſagen nicht halten,

und eine neue Auflöſung folgen ſollte, ſo werden ſie nicht mehr

Glauben bei den Wählern finden und nicht wieder gewählt werden.

Die Folge der gelockerten Beziehungen zu den liberalen und centrali¬

ſtiſchen Abgeordneten wird, meines ehrfurchtsvollen Dafürhaltens,

ein feſteres Zuſammenhalten der verbündeten Regirungen unter

einander ſein. Das Anwachſen der ſocialdemokratiſchen Gefahr,

die jährliche Vermehrung der bedrohlichen Räuberbande, mit der

wir gemeinſam unſre größern Städte bewohnen, die Verſagung

[366/0393]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

der Unterſtützung gegen dieſe Gefahr von Seiten der Mehrheit

des Reichstags, drängt ſchließlich den deutſchen Fürſten, ihren Re¬

girungen und allen Anhängern der ſtaatlichen Ordnung eine

Solidarität der Nothwehr auf, welcher die Demagogie der Redner

und der Preſſe nicht gewachſen ſein wird, ſo lange die Regirungen

einig und entſchloſſen bleiben, wie ſie es gegenwärtig ſind. Der

Zweck des Deutſchen Reiches iſt der Rechtsſchutz; die parlamentariſche

Thätigkeit iſt bei Stiftung des beſtehenden Bundes der Fürſten

und Städte als ein Mittel zur Erreichung des Bundeszweckes, aber

nicht als Selbſtzweck aufgefaßt worden. Ich hoffe, daß das Ver¬

halten des Reichstags die verbündeten Regirungen der Noth¬

wendigkeit überheben wird, die Conſequenzen dieſer Rechtslage

jemals praktiſch zu ziehn. Aber ich bin nicht gewiß, daß die

Mehrheit des jetzt gewählten Reichstags ſchon der richtige Aus¬

druck der zweifellos loyal und monarchiſch geſinnten Mehrheit der

deutſchen Wähler ſein werde. Sollte es nicht der Fall ſein, ſo

tritt die Frage einer neuen Auflöſung in die Tagesordnung. Ich

glaube aber nicht, daß ein richtiger Moment der Entſcheidung

darüber ſchon in dieſem Herbſt eintreten könne. Bei einem neuen

Appell an die Wähler wird die wirthſchaftliche und finanzielle

Reformfrage ein Bundesgenoſſe für die verbündeten Regirungen

ſein, ſobald ſie im Volke richtig verſtanden ſein wird; dazu aber

iſt ihre Diſcuſſion im Reichstage nöthig, die nicht vor der Winter¬

ſeſſion ſtattfinden kann. Das Bedürfniß höherer Einnahmen durch

indirecte Steuern iſt in allen Bundesſtaaten fühlbar, und von deren

Miniſtern in Heidelberg einſtimmig anerkannt worden. Der Wider¬

ſpruch der parlamentariſchen Theoretiker dagegen hat in der pro¬

ductiven Mehrheit der Bevölkerung auf die Dauer keinen Anklang.

Eure Majeſtät bitte ich unterthänigſt, dieſe kurze Skizze der

Situation mit huldreicher Nachſicht aufnehmen und mir Allerhöchſt¬

dero Gnade ferner erhalten zu wollen. ...

v. Bismarck.

[367/0394]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

Aus ganzem Herzen ſpreche ich Ihnen meinen aufrichtigen

Dank für die ſo hochintereſſante Darſtellung der gegenwärtigen

politiſchen Lage, welche Sie von Kiſſingen aus mir zu ſchreiben

die Aufmerkſamkeit hatten, ſowie die Zielpunkte, welche Ihre große

Politik ſich für die nächſte Zukunft geſetzt hat. Es iſt mein innig¬

ſter Wunſch, daß Kiſſingen und die Nachcur Sie im Beſitz der

rieſigen Kraft erhalten möge, welche die Durchführung Ihrer Pläne

erfordert und an welche ſchon die nächſte Reichstagsſeſſion gewal¬

tige Anſprüche machen wird. Möge Ihr kraftvolles Wirken wie

bisher ein geſegnetes ſein zum Heile der deutſchen Lande und Sie

uns allen, denen Deutſchlands Wohl am Herzen liegt, noch recht

viele Jahre erhalten bleiben! Auch ich gebe mich der feſten Hoff¬

nung hin, daß die verbündeten Regierungen ſtets einig bleiben

und feſt zuſammenſtehen, wenn es gilt, die ſocialdemokratiſche Ge¬

fahr zu beſchwören.

Ich erſuche Sie, der Fürſtin den Ausdruck meiner beſonderen

Verehrung zu übermitteln und Ihren Sohn, den Grafen Herbert,

recht vielmals von mir grüßen zu wollen.

Unter Wiederholung meines herzlichſten Dankes für Ihren

mir ſo hochwillkommenen feſſelnden Brief bleibe ich ſtets, mein

lieber Fürſt, mit der Verſicherung ganz beſonderer Hochachtung,

Werthſchätzung und Vertrauens

Berg, den 31. Auguſt 1878.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

Mein lieber Fürſt von Bismarck!

Das günſtige Reſultat, mit welchem die Reichstagsverhand¬

lungen über Ihr großes Finanz-Projekt endeten, gibt mir will¬

kommenen Anlaß, Sie von Herzen zu beglückwünſchen. Es be¬

durfte Ihrer außerordentlichen Kraft und Energie, um den Kampf

mit den widerſtreitenden Anſichten und den tauſend ſelbſtſüchtigen

Intereſſen, welche ſich Ihrem Plane entgegenſtellten, ſiegreich zu

[368/0395]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

beſtehen. Die deutſchen Lande ſind Ihnen aufs Neue zu Dank

verpflichtet und ſtreben mit wiederbelebter Hoffnung dem Ziele

materieller Wohlfahrt zu, welche die unerläßliche Grundlage ſtaat¬

lichen Lebens bildet.

Möge der Aufenthalt in Kiſſingen Ihnen wieder vollen Er¬

folg von den Anſtrengungen und Mühen der letzten Zeit bringen.

Mit dieſem aus dem Herzen kommenden Wunſche verbinde ich die

Verſicherung meiner beſonderen Werthſchätzung, mit welcher ich bin

Hohenſchwangau, den 29. Juli 1879.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

Kiſſingen, 4. Auguſt 1879.

Eure Majeſtät haben mich ſehr glücklich gemacht durch die

huldreiche Anerkennung, welche das allerhöchſte Schreiben vom

29. v. M. für mich enthält. Beſonders dankbar bin ich für die

Nachſicht, mit welcher Eure Majeſtät die Schwierigkeiten würdigen,

welche die Partei-Leidenſchaften im Bunde mit den Privat-Inter¬

eſſen den von den verbündeten Regirungen geplanten Reformen

in den Weg legen.

In wirthſchaftlicher Beziehung, in Betreff des Schutzes der

deutſchen Arbeit und Production, wird meines unterthänigſten

Dafürhaltens in der nächſten Zeit etwas Weitres als das Erreichte

nicht zu erſtreben, vielmehr die praktiſche Wirkung abzuwarten ſein:

und die letztre wird in dem nächſten Jahre ſich noch nicht mit

Sicherheit erkennen laſſen, weil die vom Reichstag beſchloſſene

Hinausſchiebung der Einführungstermine dem Auslande noch Ge¬

legenheit zu unverzollter Ueberführung des deutſchen Marktes ge¬

boten hat. Die gehoffte heilſame Wirkung auf die Hebung unſrer

materiellen Wohlfahrt wird ſich erſt nach Ablauf des nächſten Jahres

fühlbar machen können.

[369/0396]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

Auf finanziellem Gebiet glaube ich aber wird ſchon in einer

der nächſten Reichstagsſitzungen der Verſuch zur Eröffnung weitrer

Einnahmequellen für die verbündeten Regirungen zu erneuern ſein,

da die bisherigen vielleicht die Lücken unſres Etats decken, aber

nicht ausreichend ſein werden, um Reformen der directen Steuern

und Unterſtützungen der nothleidenden Gemeindeverwaltungen zu

ermöglichen.

In politiſcher Beziehung hat das Ergebniß des Vorgehns

der verbündeten Regirungen meinen Erwartungen inſofern ent¬

ſprochen, als die fehlerhafte Gruppirung und Zuſammenſetzung

unſrer politiſchen Parteien und Fractionen durch die betreffenden

Verhandlungen einen nachhaltigen Stoß erlitten zu haben ſcheint.

Das Centrum hat zum erſten Male begonnen, ſich in poſitivem

Sinne an der Geſetzgebung des Reiches zu betheiligen. Ob dieſer

Gewinn ein dauernder ſein wird, kann nur die Erfahrung lehren.

Die Möglichkeit bleibt nicht ausgeſchloſſen, daß dieſe Partei, wenn

eine Verſtändigung mit dem römiſchen Stuhle nicht gelingt, zu

ihrer frühern, rein negativen und oppoſitionellen Haltung zurück¬

kehrt. Die Ausſichten auf eine Verſtändigung mit Rom ſind dem

äußern Anſchein nach ſeit dem vorigen Jahre nicht weſentlich ge¬

beſſert. Vielleicht darf ich aber Hoffnungen an die Thatſache

knüpfen, daß der päpſtliche Nuntius Jacobini dem Botſchafter

Prinzen Reuß amtlich den Wunſch ausgeſprochen hat, in Verhand¬

lungen einzutreten, zu welchen er von Rom Vollmacht habe. Die

Tragweite der letztern kenne ich noch nicht, habe mich aber auf

den Wunſch des Nuntius bereit erklärt, mich im Laufe dieſes

Monats in Gaſtein mit ihm zu begegnen und zu beſprechen.

Die nationalliberale Partei wird, wie ich hoffe, durch die letzte

Reichstagsſeſſion ihrer Scheidung in eine monarchiſche und eine

fortſchrittliche, alſo republikaniſche Hälfte entgegengeführt werden.

Der Verſuch des frühern Präſidenten von Forckenbeck, die geſetz¬

gebenden Gewalten des Reichs der directen Controlle eines deut¬

ſchen Städtebundes zu unterwerfen, und die Brandreden an die

Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 24

[370/0397]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

Adreſſe der beſitzloſen Claſſen von Lasker und Richter haben die

revolutionäre Tendenz dieſer Abgeordneten ſo klar und nackt hin¬

geſtellt, daß für Anhänger der monarchiſchen Regirungsform keine

politiſche Gemeinſchaft mehr mit ihnen möglich iſt. Der Plan

des Städtebundes mit ſeinem ſtändigen Ausſchuß am Sitze des

Reichstages war der Berufung der „Föderirten“ aus den fran¬

zöſiſchen Provinzialſtädten im Jahre 1792 nachgebildet. Der Ver¬

ſuch fand im deutſchen Volke keinen Anklang, zeigt aber, wie auch

in unſern fortſchrittlichen Abgeordneten das Material für Convents¬

deputirte zu finden wäre. Die Vorarbeiter der Revolution recru¬

tiren ſich bei uns ziemlich ausſchließlich aus dem gelehrten Pro¬

letariat, an welchem Norddeutſchland reicher iſt als der Süden.

Es ſind die ſtudirten und hochgebildeten Herrn, ohne Beſitz, ohne

Induſtrie, ohne Erwerb, welche entweder vom Gehalt im Staats-

und Gemeindedienſt oder von der Preſſe, häufig von beiden leben,

und welche im Reichstage erheblich mehr als die Hälfte der Ab¬

geordneten ſtellen, während im wählenden Volke ihre Anzahl einen

geringen Procentſatz nicht überſchreitet. Dieſe Herrn ſind es,

welche das revolutionäre Ferment liefern und die fortſchrittliche

und nationalliberale Fraction und die Preſſe leiten. Die Sprengung

ihrer Fraction iſt nach meinem unterthänigſten Dafürhalten eine

weſentliche Aufgabe der erhaltenden Politik, und die Reform der

wirthſchaftlichen Intereſſen bildet den Boden, auf welchem die Re¬

girungen dieſem Ziele mehr und mehr näher treten können.

Eurer Majeſtät danke ich ehrfurchtsvoll für Allerhöchſtder¬

ſelben huldreiche Wünſche bezüglich meiner hieſigen Cur, von welcher

ich nach den bisherigen Eindrücken hoffen darf, daß ſie ebenſo wie

in frühern Jahren die Schäden heilen werde, welche der Winter

meiner Geſundheit zufügt. Einen weſentlichen Antheil an der

guten Wirkung hat die Leichtigkeit, mit welcher Eurer Majeſtät

Gnade mich in den Stand ſetzt, die gute Luft der umgebenden

Wälder zu genießen. Die ausgezeichneten Pferde des Marſtalls

Eurer Majeſtät machen es leicht, jeden Punkt der ſchönen Um¬

[371/0398]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

gebung Kiſſingens zu erreichen, eine Annehmlichkeit, für welche die

mit den Jahren abnehmende Rüſtigkeit zu Fuß doppelt empfäng¬

lich macht. Eure Majeſtät wollen meinen allerunterthänigſten Dank

für dieſe Annehmlichkeit und für die Auszeichnung, welche für mich

in ihrer Gewährung liegt, in Gnaden entgegennehmen.

v. Bismarck.

Kiſſingen, den 7. Auguſt 1879.

Bei dem Intereſſe, welches Eure Majeſtät an dem Fortgange

der Verhandlungen mit Rom nehmen, erlaube ich mir Allerhöchſt¬

denſelben beifolgend Abſchriften:

∙1) des Schreibens des Papſtes an Se. Majeſtät den Kaiſer

vom 30. Mai,

∙2) der darauf ergangnen Antwort vom 21. Juni,

∙3) des bisher noch nicht beantworteten Schreibens des Papſtes

an Se. Majeſtät den Kaiſer vom 9. Juli

ehrfurchtsvoll vorzulegen.

v. Bismarck

Mein lieber Fürſt!

Für Ihre beiden mir ſehr willkommenen Schreiben vom 4.

und 7. dieſes Monats, in denen Sie mir über den Stand der

Parteien und über die Lage der römiſchen Angelegenheit ſo inter¬

eſſante Aufſchlüſſe gaben, ſende ich Ihnen meinen wärmſten Dank. —

Schon jetzt ſind Ihre Unterhandlungen mit Rom erfolgreich ge¬

weſen, da das erheblich gebeſſerte Verhältniß zur Curie entſchieden

auf die Centrumspartei und durch ſie auf das Gelingen Ihres

Finanzreformwerkes von Einfluß war. So möge auch im Uebrigen

Ihr kräftiges Beſtreben, eine große conſervative Partei zu ſchaffen,

vom Glück begünſtigt ſein. Es iſt mein inniger Wunſch, daß

Ihnen, mein lieber Fürſt, Geſundheit und Kraft zur Bewältigung

Ihrer großen, hochwichtigen Aufgaben bewahrt bleiben, und habe

[372/0399]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

ich daher aus Ihren Zeilen mit wahrer Freude vernommen, daß

der Aufenthalt in Kiſſingen die beſte Wirkung verſpricht.

Seien Sie, mein lieber Fürſt, der beſonderen Werthſchätzung,

der vollſten Hochachtung und Vertrauens verſichert, womit ich

immerdar verbleibe

Berg, den 18. Aug. 1879.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig 1).

Mein lieber Fürſt!

Mit wahrer Freude haben mich die Glückwünſche erfüllt,

welche Sie mir zu meinem Doppelfeſte und zur 700jährigen

Jubiläumsfeier meines Hauſes darzubringen die Aufmerkſamkeit

hatten 2). Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für die erprobte

anhängliche Geſinnung, welche mir und meinem Lande von ſo

hohem Werthe iſt und auf welche ich wie bisher, ſo fürderhin mein

aufrichtiges Vertrauen ſetze. — Bei den innigen Beziehungen, in

welchen Sie als der ruhmreiche große Kanzler zu mir ſtehen, war

es für mich von beſonderem Intereſſe zu vernehmen, daß ſchon

meine Vorfahren Anlaß hatten, Ihre Familie hochzuſchätzen und

auszuzeichnen. — Die günſtige Nachricht, welche Sie, mein lieber

Fürſt, mir von Ihrem Befinden gaben, iſt mir hochwillkommen,

und ich wiederhole, wie freudig ich es empfinde, daß eine bayeriſche

Heilquelle zur Erhaltung der bewundernswerthen Kraft beiträgt,

welche Sie zum Wohle der deutſchen Staaten einſetzen. Mit hoher

Befriedigung habe ich aus Ihrem Schreiben den Glauben an die

Sicherheit des Friedens erſehen, und dankbar bin ich für die Zu¬

ſicherung eines Berichtes über die politiſche Lage.

Empfangen Sie, mein lieber Fürſt, mit den Ihrigen die Ver¬

1) In der chronologiſchen Folge würden hier die im 29. Capitel (Bd. II

S. 238 ff.) eingefügten Stücke anzuſchließen ſein.

2)

Das Schreiben liegt leider in einer Abſchrift nicht vor.

[373/0400]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

ſicherung meiner wärmſten Sympathie und der beſonderen Werth¬

ſchätzung, mit welcher ich ſtets bin

Berg, den 1. Sept. 1880.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

Mein lieber Fürſt!

Der gute Erfolg Ihrer Cur in Kiſſingen hat meine auf¬

richtigen Wünſche erfüllt, und ich hoffe, daß die nöthige Ruhe auch

die neuralgiſchen Schmerzen heilen wird, welche, wie Sie mir zu

meinem lebhaften Bedauern mittheilen, noch vorhanden ſind. —

Die Darſtellung der äußeren und inneren Lage, welche ich Ihrem,

mir ſo willkommenen hochgeſchätzten Schreiben verdanke, war mir

im höchſten Grade intereſſant. Wie Großes Sie nach beiden Seiten

hin leiſten, iſt der Gegenſtand meiner Bewunderung. Für die

Friedensausſichten bin ich ebenſo empfänglich, als für Ihr feſtes

Standhalten gegen die Gelüſte nach parlamentariſcher Majoritäts¬

regierung, welche gegenwärtig auch in Bayern, wenn auch von

anderer Seite her, auftauchen. Ich werde dafür ſorgen, daß ihr

Ziel, das mit dem monarchiſchen Princip nicht zu vereinigen iſt

und nur endloſe Unruhe und Unfrieden herbeiführen würde, un¬

erreicht bleibt. — Den bevorſtehenden Wahlen ſehe ich mit dem

größten Intereſſe entgegen. Wenn ſie auch nicht nach Wunſch aus¬

fallen, ſo glaube ich doch feſt daran, daß es Ihrer Beharrlichkeit

gelingen wird, die finanziellen und wirthſchaftlichen Grundlagen

zu ſchaffen, welche nothwendig ſind, um die Wohlfahrt der deut¬

ſchen Lande und insbeſondere die Lage der Arbeiter auf eine be¬

friedigende Stufe zu bringen; der ehrlichen Mitwirkung von Seiten

meiner Regierung ſind Sie gewiß. — Andererſeits bin ich der

vertrauensvollen Ueberzeugung, daß Sie, mein lieber Fürſt, bei

der Durchführung Ihrer großen Ideen von dem föderativen Prin¬

cip ausgehen, auf welchem das Reich und die Selbſtſtändigkeit der

Einzelſtaaten beſtehen. —

[374/0401]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

Es hat mich von Herzen gefreut, Sie in Bayerns Gränzen

zu wiſſen. Ich hoffe, daß Sie mein Land noch viele viele Jahre

beſuchen, und ſende Ihnen, mein lieber Fürſt, mit meinen innigſten

Wünſchen für alle Zukunft die Verſicherung meines beſonderen

Vertrauens und vollſter Hochſchätzung, mit welcher ich ſtets verbleibe

Hohenſchwangau, den 10. Auguſt 1881.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

Mein lieber Fürſt!

Für die große Freude, welche Sie mir durch Ihre Glückwünſche

zu meinem Geburtstage bereitet haben, ſpreche ich Ihnen meinen

wärmſten Dank von Herzen aus. Dieſelben ſind mir wie der

ganze Inhalt Ihres hochgeſchätzten Schreibens ein neuer Beweis

der mich hocherfreuenden anhänglichen Geſinnung, auf welche ich

ſtets mein vollſtes Vertrauen ſetze. Zu dem Aufenthalte in Varzin

wünſche ich Ihnen Ruhe und ſchöne Tage, damit Sie im Genuſſe

ungeſtörter Geſundheit an die von Ihnen erſehnte Beſchäftigung

mit Ihren großen Aufgaben gehen können.

Indem ich Ihnen und den Ihrigen meine beſten Grüße ſende,

verbleibe ich, mein lieber Fürſt, mit ganz beſonderer Werth¬

ſchätzung ſtets

Berg, den 27. Auguſt 1881.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

Mein lieber Fürſt!

Mit lebhafter Freude erfüllte mich der mir ſo theure Brief,

welchen Sie von Kiſſingen aus an mich zu richten die Aufmerk¬

ſamkeit hatten. Indem ich Ihnen, mein lieber Fürſt, für die darin

zu meinem Doppelfeſte ausgeſprochenen Glückwünſche meinen

wärmſten Dank zum Ausdruck bringe, will ich es nicht unterlaſſen,

Ihnen, mein lieber Fürſt, zu ſagen, mit welch großem Intereſſe

[375/0402]

Briefwechſel mit Ludwig von Baiern.

ich die Ihrem Schreiben beigefügten Darlegungen über die politiſche

Lage verfolgt habe. — Zu meiner großen Genugthuung durfte

ich demſelben entnehmen, daß zur Zeit keine ernſten Anzeichen vor¬

handen ſind, welche eine nahe Gefahr für den europäiſchen Frieden

befürchten laſſen. Wenn gleichwohl die Zuſtände in Rußland und

die ungewöhnlichen Truppenaufſtellungen an der ruſſiſchen Weſt¬

gränze einige Beſorgniß zu erwecken geeignet ſind, ſo gebe ich mich

doch der Hoffnung hin, daß es dem ſo glücklichen Einverſtändniſſe

zwiſchen Deutſchland und Oeſterreich, das eine machtvolle Bürg¬

ſchaft des Friedens für den Welttheil bietet, und Ihrer weiſen und

vorausſchauenden Politik gelingen wird, einer kriegeriſchen Ver¬

wicklung vorzubeugen, und daß ſchließlich doch die erſt kürzlich bei

dem feierlichen Anlaſſe der Krönung zu Moskau laut und offen

verkündigten friedlichen Abſichten des Kaiſers von Rußland den

Sieg behaupten werden. — Empfangen Sie, mein lieber Fürſt,

mit meinem wärmſten Danke für Ihre ſtets ſo willkommenen Mit¬

theilungen den Ausdruck meiner wahren Freude darüber, daß Ihre,

wie ich tief bedauere, ſeit längerer Zeit angegriffene Geſundheit

unter den heilkräftigen Einwirkungen des Kiſſinger Curgebrauches

und Dank einer trefflichen ärztlichen Behandlung ſich zu beſſern

begonnen hat. Möge Ihnen, das iſt mein aufrichtigſter Wunſch,

recht bald die volle Kraft der Geſundheit wieder geſchenkt werden,

auf daß ſich Deutſchland noch recht lange des Gefühles der Sicher¬

heit erfreue, welches ihm das Vertrauen auf die Thatkraft und

die Umſicht ſeines großen Staatsmannes einflößt. Ferner er¬

neuere ich in dieſen Zeilen die Verſicherung wahrer Bewunderung

und unwandelbarer Zuneigung, von der ich ſtets für Sie, mein

lieber Fürſt, beſeelt bin! Ihnen meine herzlichſten Grüße ſendend,

bleibe ich immerdar

Schloß Berg, den 2. Sept. 1883.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

[376/0403]

Achtzehntes Kapitel: König Ludwig II. von Baiern.

Mein lieber Fürſt von Bismarck!

Ich habe Ihr Schreiben vom 19. dieſes Monats zu erhalten das

Vergnügen gehabt und ſpreche Ihnen, mein lieber Fürſt, für Ihre Mit¬

theilungen, ſowie für die damit verbundene Zuſendung des Akten¬

ſtückes aus St. Petersburg meinen wärmſten Dank aus. Von Beidem

habe ich mit jenem lebhaften Intereſſe Kenntniß genommen, welches

ich Allem, was mir von Ihnen zukommt, entgegenbringe. Das

Erfreulichſte aber, das mir Ihre Zeilen brachten, war mir die

Nachricht von dem Fortſchritte Ihrer Geneſung, welcher, wie ich

von Herzen wünſche, zur völligen Wiederherſtellung Ihrer Geſund¬

heit führen möge. Die begründete Hoffnung, daß Sie ſich neu

geſtärkt und erfriſcht auch ferner der hohen Aufgabe Ihres ſtaats¬

männiſchen Berufes vollauf werden widmen können, läßt mich der

weiteren Entwicklung der politiſchen Lage mit um ſo größerer Ruhe

entgegenſehen. Was insbeſondere das Verhältniß Deutſchlands zu

Rußland betrifft, ſo entnehme ich dem Berichte des Generals

von Schweinitz mit Genugthuung, daß wenigſtens an der auf¬

richtigen Friedensliebe des Kaiſers von Rußland und des dortigen

leitenden Miniſters nicht gezweifelt werden kann. Dieſe immerhin

beruhigende Thatſache im Vereine mit dem ſo glücklicher Weiſe

herrſchenden Einvernehmen zwiſchen Deutſchland und Oeſterreich,

welches mir durch Ihre Mittheilungen zu meiner Freude aufs

Neue als ein vollſtändig geſichertes beſtätigt wird, erſcheint wohl

geeignet, die Hoffnungen auf fernere Erhaltung des Friedens zu

ſtärken.

Empfangen Sie, mein lieber Fürſt, mit dem wiederholten

Ausdrucke meiner wärmſten Wünſche für Ihre volle Erkräftigung

die Verſicherung der beſonderen Werthſchätzung, mit welcher ich bin

Elmau, den 27. Sept. 1883.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.

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