[0001]

[0002]

[0003]

[0004]

[0005]

[0006]

[[I]/0007]

Volksrecht

und

Juriſtenrecht.

Von

Dr. Georg Beſeler,

Geh. Juſtizrathe und Profeſſor zu Greifswald.

Leipzig,

Weidmann’ſche Buchhandlung.

1843.

[[II]/0008]

[[III]/0009]

Vorrede.

Es war urſprünglich meine Abſicht, den Inhalt dieſer

Schrift, welche jetzt ein zuſammenhaͤngendes Ganzes

bildet, in einer Reihe einzelner Abhandlungen zu bear-

beiten, und zwar nach der Beſchaffenheit des Gegen-

ſtandes theils in der Form einer freien wiſſenſchaftli-

chen Erörterung, theils als ausführliche, mit dem voll-

ſtaͤndigen gelehrten Apparat ausgeſtattete Monogra-

phien. Ich weiß nun freilich ſehr wohl, daß ich, in-

dem ich von dieſem Plane abging und die gegenwär-

tige Form des Werkes wählte, den wichtigen Vortheil

aus der Hand gab, auch die einzelnen darin behandel-

ten Lehren ſo, wie es die unbefangene Darlegung ei-

ner genauen Forſchung allein vermag, zu begründen.

Indeſſen ſchien es mir doch vor Allem darauf anzu-

kommen, die leitenden Gedanken, um deren Ausfuͤhrung

es mir zunaͤchſt zu thun war, zur gehoͤrigen Klarheit

*

[IV/0010]

und Anſchaulichkeit zu erheben, und ſo trug ich kein

Bedenken, in ihrem Dienſte das von mir zuſammen

gebrachte Material zu verwenden. Mag dieſe Schrift

dadurch auch nach einer Seite hin an Wirkſamkeit

verloren haben, ſo gelingt es ihr dafür vielleicht um

ſo eher, eine allgemeinere und lebendigere Theilnahme

zu erregen, und das wuͤrde ich fuͤr einen entſchiedenen

Gewinn halten. Denn es kommen hier Fragen zur

Erwägung, bei deren Loͤſung nicht allein die Juriſten

betheiligt ſind und die Entſcheidung abzugeben haben.

Greifswald im Julius 1843.

G. B.

[[V]/0011]

Inhalt.

Volksrecht und Juriſtenrecht.

Seite

Erſtes Kapitel.

Hiſtoriſche Einleitung 1

Zweites Kapitel.

Feſtſtellung des Gegenſtandes 58

Drittes Kapitel.

Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze 91

I. Das Volksrecht.

Viertes Kapitel.

Erkenntnißquellen des Volksrechts 109

Fuͤnftes Kapitel.

Das Volksrecht als gemeines Landrecht 140

Sechſtes Kapitel.

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft 158

Siebentes Kapitel.

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht 193

Achtes Kapitel.

Das Volksrecht in ſeinem Verhaͤltniß zur Geſetzgebung 230

[VI/0012]

Seite

Neuntes Kapitel.

Das Volksrecht in ſeinem Verhaͤltniß zu dem Gerichtsweſen 246

II. Das Juriſtenrecht.

Zehntes Kapitel.

Methode des Juriſtenrechts 299

Eilftes Kapitel.

Das Juriſtenrecht nach dem Umfange ſeiner Geltung 328

Zwoͤlftes Kapitel.

Werth des Juriſtenrechts 342

[[1]/0013]

Volksrecht und Juriſtenrecht.

Beſeler, Volksrecht. 1

[[2]/0014]

[[3]/0015]

Erſtes Kapitel.

Hiſtoriſche Einleitung.

Um Wiederholungen zu vermeiden und fuͤr die weitere Ent-

wicklung die rechte Grundlage zu gewinnen, habe ich es fuͤr

noͤthig gehalten, bevor ich zu dem eigentlichen Gegenſtande die-

ſer Abhandlung uͤbergehe, eine kurze hiſtoriſche Einleitung vor-

auszuſchicken. Die Aufgabe derſelben iſt leicht zu beſtimmen:

ſie ſoll in wenigen, einfachen Zuͤgen die Geſchichte des deut-

ſchen Rechts von den aͤlteſten Zeiten bis auf die Gegenwart

geben, und nicht bloß zeigen, in welcher Weiſe und aus wel-

chen Elementen ſich der heutige Rechtszuſtand in Deutſchland

gebildet hat, ſondern auch namentlich darthun, wie zu allen

Zeiten die Beſchaffenheit des Rechts mit dem ganzen oͤffentli-

chen Leben der Nation in dem engſten Zuſammenhange ge-

ſtanden und von demſelben bedingt worden iſt. Durch eine

ſolche Betrachtung wird ſich uͤber Manches, was bei einer

einſeitigen, bloß juriſtiſchen Auffaſſung kaum erklaͤrlich ſcheint,

das rechte Verſtaͤndniß gewinnen laſſen, vor Allem auch uͤber

die Aufnahme des roͤmiſchen Rechts in Deutſchland und deren

Bedeutung fuͤr die Gegenwart. Aber es ſtehen auch einer

Darſtellung, welche den angegebenen Zweck erreichen ſoll, keine

geringen Schwierigkeiten entgegen. Aus dem ganzen reichen

Material kann nur mit einer, allein durch den richtigen Tact

1*

[4/0016]

Erſtes Kapitel.

beſtimmten Auswahl das Allerweſentlichſte hervorgehoben wer-

den; und, was beſonders zu erwaͤgen iſt, der Stoff darf nicht

bloß aus den eigentlichen Rechtsquellen entnommen werden,

da dieſe theils unzureichend ſind, theils aber haͤufig das gel-

tende und zur Anwendung gebrachte Recht nicht genau ange-

ben. Denn die Wirklichkeit und namentlich die des germani-

ſchen Mittelalters ſieht oft ganz anders aus, als die dafuͤr

geſetzten Rechtsnormen es erwarten laſſen, und ſelten kommt

eine in dem innern Rechtsleben einer Nation vorgehende Ver-

aͤnderung zum Durchbruch, ohne daß nicht vorher in langem

Kampfe ein Theil des poſitiven Rechts der neuen Idee hat

unterliegen muͤſſen, bis dieſe ſich auch aͤußerlich und foͤrmlich

ſanctionirt an deſſen Stelle ſetzt, um dann vielleicht ſchon wie-

der von einer andern Richtung, die ſich geltend machen will,

bedroht zu werden. So muß die Rechtsgeſchichte, wenn ſie nicht

bloß das Werk einer einſeitigen, todten Quellenforſchung ſeyn

ſoll, als integrirender Theil der allgemeinen politiſchen Ge-

ſchichte in ihrem weiteſten Umfange aufgefaßt werden; ſie muß

das Rechtsleben der Nation in ſeiner Fuͤlle und ſeinem Wech-

ſel zur deutlichen Anſchauung zu bringen wiſſen. — Bei die-

ſer Hoͤhe der Aufgabe darf die folgende Skizze freilich nur ein

beſcheidenes Verdienſt fuͤr ſich in Anſpruch nehmen.

Die aͤlteſten Nachrichten uͤber unſer Volk zeigen daſſelbe

noch nicht in einer formell ausgepraͤgten, politiſchen Vereini-

gung. Die ungebundene Freiheit roher Naturmenſchen, welche

nur in dem Willen jedes Einzelnen und in der Macht des

Staͤrkeren ihre Beſchraͤnkung findet, treffen wir freilich bei den

[5/0017]

Hiſtoriſche Einleitung.

Deutſchen, wie ſie zuerſt in der beglaubigten Geſchichte auf-

treten, nicht mehr an; es zeigt ſich vielmehr bei ihnen ſchon

jede Anlage, welche zur hoͤheren menſchlichen Bildung befaͤhigt,

und der Anfang geordneter politiſcher Verhaͤltniſſe. Aber dieſe

waren doch erſt im Entſtehen begriffen, und hatten noch nicht

die Kraft, die Einzelnen zu einer bewußten Volkseinheit zu-

ſammen zu fuͤhren. Auf der allgemeinen Grundlage menſch-

licher Verbindungen, der Familie, waren die weiteren Vereine

erwachſen, welche ſich genoſſenſchaftlich abſchloſſen, und inſo-

fern ſie ſich an einen beſtimmten Grundbeſitz knuͤpften, zu

Gemeinden ſich ausbildeten. Aus dieſen traten wieder Ein-

zelne zu freien Gefolgſchaften zuſammen, indem ſie ſich unter

gefeierten Haͤuptlingen zu Kaͤmpfen und Abentheuern verban-

den, und uͤber die Grenzen hinausſchweifend, der nachdraͤngen-

den Volksmacht oft die Bahn zu Eroberungen und neuen An-

ſiedlungen wieſen. So entwickelten ſich die einzelnen Voͤlker-

ſchaften und Stammesgenoſſenſchaften, welche aber erſt im

fuͤnften Jahrhundert nach Chriſtus unter dem Einfluß der

durch die Roͤmerkriege hervorgerufenen Buͤndniſſe zu einer ge-

wiſſen Staͤtigkeit und Abgeſchloſſenheit kamen. Sie ſtanden

aͤußerlich getrennt neben einander, ja oft feindlich ſich gegen-

uͤber; aber alle hielt doch das Band gleicher Abſtammung zu-

ſammen: Religion, Sprache, Sitte und Recht waren aus der-

ſelben Wurzel hervorgegangen, und entfalteten ſich, ungeachtet

ſo vieler und bedeutender Abweichungen, im Ganzen doch in

einer bewunderungswuͤrdigen Harmonie. Tritt dieſer Bil-

dungsproceß aͤußerlich auch nur bei den einzelnen Staͤmmen

hervor, ſo zeigt ſich der tieferen Betrachtung doch bald, daß

hier eine nationale Entwicklung vor ſich gehe, der ſpaͤter auch

die mehr formelle Vereinigung nicht fehlen werde.

[6/0018]

Erſtes Kapitel.

Dem ganzen Stammesleben aber entſprach das Recht

der aͤlteren Zeit: es war noch ganz mit der Religion und der

Sitte verwachſen, wenn es ſich auch ſchon, trotz der ſymboli-

ſchen Umkleidung, in beſtimmten Inſtituten erkennbar heraus-

ſtellt; es ging unmittelbar aus den Lebensverhaͤltniſſen hervor,

wie ſie ſich bei der allgemeinen nationalen Anlage und den

beſondern Beduͤrfniſſen der engeren Kreiſe geſtalteten. Die

freien Genoſſen der Volksgemeinde ſind die eigentlichen Traͤ-

ger der oͤffentlichen Gewalt; der Unfreie iſt außer dem Volks-

rechte geſtellt, ohne politiſche Berechtigung. Jene aber treten

im Thing zuſammen, und verhandeln hier ihre Angelegenhei-

ten, — bald nach kleineren Bezirken, wie das Intereſſe der

Familie, der Mark, des Gaus es erheiſcht; bald in groͤßeren

Verſammlungen, welche in wichtigen Faͤllen den ganzen Stamm

darſtellen koͤnnen. Doch iſt auch unter den Freien keine voͤl-

lige Gleichheit: das Anſehen des Hausvaters, des Hofbeſitzers

mit einer ſelbſtaͤndigen Berechtigung am Gemeindeland mußte

ſich unter natuͤrlichen Verhaͤltniſſen von ſelbſt geltend machen;

fuͤr gemeinſchaftliche Opfer und andere religioͤſe Handlungen

konnten Prieſter nicht entbehrt werden; es zeigen ſich fruͤh

einzelne hervorragende Geſchlechter mit einer bevorzugten Stel-

lung in der Gemeinde und bei den Verſammlungen, ja ſelbſt

das Koͤnigthum, wie man die beſchraͤnkte Macht der Stam-

meshaͤuptlinge zu nennen pflegt, iſt ſchon zu Tacitus Zeiten

bei den meiſten Voͤlkerſchaften hergebracht. Aber wenigſtens

bei denen, welche fruͤhe zu feſten Sitzen gekommen waren

und ſich unvermiſcht mit den Roͤmern erhielten, blieb die ge-

meine Freiheit doch der eigentliche Mittelpunct und Kern der

Verfaſſung. So war auch die Handhabung des Rechts bei

der Gemeinde, welche den Volksfrieden zu ſchuͤtzen hatte; nur

[7/0019]

Hiſtoriſche Einleitung.

griff ſie nicht in regelmaͤßiger Wirkſamkeit ein, ſondern uͤber-

wachte und leitete hauptſaͤchlich, ſo gut es ging, die Fehden der

einzelnen Genoſſen, die aber ſeltner mit Waffen als mit Ei-

den ausgekaͤmpft wurden, und in der Zahlung einer Buße

an den Verletzten regelmaͤßig ihre Erledigung fanden. Doch

erhob ſie vom Friedbrecher in ſelbſtaͤndiger Berechtigung auch

noch das Fredum, und wer ſich direct an der Geſammtheit

verging, den traf die Strafe des Verraͤthers. Im Felde wird

aber uͤberhaupt ein ſtrengeres Kriegsrecht gegolten haben.

In dieſer Lage blieben die im heutigen Deutſchland an-

geſeſſenen Volksſtaͤmme, (denn nur mit dieſen haben wir es

hier zunaͤchſt zu thun) bis zwei Ereigniſſe eintraten, welche zu

einander in naher Beziehung ſtehend, einen welthiſtoriſchen

Einfluß auf ſie ausuͤbten: ihre Bekehrung zum Chriſtenthume

und ihre Einverleibung in die fraͤnkiſche Monarchie. Die

chriſtliche Religion, fuͤr welche gerade bei den Germanen die

groͤßte Empfaͤnglichkeit vorhanden war, hat ſie befaͤhigt, an

der allgemeinen Entwicklung der abendlaͤndiſchen Cultur Theil

zu nehmen, und uͤberhaupt auf das Rechtsweſen bedeutungs-

voll einwirkend, vor Allem in der eigenthuͤmlichen Stellung

der Geiſtlichkeit ein neues Element der Verfaſſung hervorge-

rufen. In der fraͤnkiſchen Monarchie aber kamen die Deut-

ſchen unter die Gewalt des auf dem eroberten roͤmiſchen Bo-

den entwickelten Koͤnigthums, welches die Souverainitaͤt der

einzelnen Volksſtaͤmme und ihrer Herzoͤge beſchraͤnkte, und ſie

zu einer, wenn auch nur aͤußerlichen politiſchen Einheit zu-

ſammenfuͤhrte, in der ſich ſchon ein geordnetes Staatsleben

geltend machte. Karl’s des Großen Sieg uͤber die Sachſen

bildet den Wendepunct in dieſer Periode der deutſchen Ge-

ſchichte, wie denn uͤberhaupt die Bedeutung des fraͤnkiſchen

[8/0020]

Erſtes Kapitel.

Einfluſſes ſich am Entſchiedenſten in der Regierung dieſes ge-

waltigen Fuͤrſten darſtellt, deſſen Schoͤpfungen die ſicherſte Ge-

waͤhr der Dauer in ſich trugen, weil ſie dem Geiſte der Zeit

und wahrhaft nationalen Beduͤrfniſſen entſprachen.

Um nun die Stellung der Deutſchen in der fraͤnkiſchen

Monarchie richtig aufzufaſſen, muß die eigenthuͤmliche Lage der

oͤffentlichen Verhaͤltniſſe gehoͤrig gewuͤrdigt, und namentlich der

Gegenſatz, in welchem ſich die rein deutſchen Staͤmme zu den

in den roͤmiſchen Provinzen angeſiedelten befanden, beſtimmt

hervorgehoben werden. Die letzteren, als deren Repraͤſentan-

ten die in Gallien anſaͤſſig gewordenen Franken genommen

werden koͤnnen, waren fruͤh chriſtianiſirt, der aͤußern Cultur

und mancher Verwaltungsformen der Provinzialen theilhaftig

geworden; ſie waren ferner, was beſonders zu erwaͤgen, zum

großen Theile aus Gefolgſchaften hervorgegangen, und deswe-

gen geneigt, in ein beſtimmtes Dienſtverhaͤltniß zum Koͤnige

zu treten, welches dem urſpruͤnglichen Princip der gemeinen

Freiheit, wenn auch nicht geradezu widerſtrebte, doch weſentli-

chen Abbruch that. Dieſes tritt daher bei den Franken all-

maͤlig zuruͤck, und die hohe Geiſtlichkeit und die vornehmen

Dienſtmannen, in der Reichsverſammlung vereinigt, erſcheinen

neben dem Koͤnige als der politiſch berechtigte Theil der Na-

tion. Als nun nach und nach die in Deutſchland gebliebenen

Voͤlkerſchaften unterworfen, und den Franken als freie Ge-

noſſen zugeſellt wurden, ſo kam zu dem fraͤnkiſchen Dienſt-

mannenrecht, welches ſchon das Lehenweſen im Keime in ſich

trug, die alte germaniſche Volksfreiheit hinzu, welche in der

Heimath treu bewahrt worden war. Daraus ergab ſich nun

ein doppeltes Element der Verfaſſung, welches wir unter den

erſten Karolingern, und namentlich unter Karl dem Großen

[9/0021]

Hiſtoriſche Einleitung.

gleichmaͤßig gewahrt ſehen. Das fraͤnkiſche Element uͤberwog,

wo es ſich von allgemeinen Reichsangelegenheiten handelte,

und das eigentliche Staatsprincip zur Frage ſtand; nament-

lich die Reichsverſammlung und die Stellung der koͤniglichen

Beamten war darauf baſirt. Die Volksfreiheit dagegen blieb

mit voller Wirkſamkeit in den engeren Kreiſen der Staͤmme,

Provinzen und Gemeinden beſtehen, nur daß ein koͤniglicher

Beamter die formelle Leitung hatte und namentlich den Bann

(das imperium) handhabte; ja mit einer großartigen Conſe-

quenz hatte Karl das Kriegsweſen auf die Volksbewaffnung

(den Heerbann) zuruͤckgefuͤhrt.

Bei dieſer Verfaſſung war nun allerdings ſchon ein ener-

giſches Eingreifen der hoͤchſten Gewalt in der Monarchie moͤg-

lich, und unter kraͤftigen Herrſchern kommt es auch mit ent-

ſchiedenem Erfolg vor. Es wurden allgemeine Reichsgeſetze

von großer Bedeutung erlaſſen; die Verwaltung, nach be-

ſtimmten Regeln geordnet, war ſchon vielfach im Intereſſe des

oͤffentlichen Wohles thaͤtig; die oͤffentlichen Strafen mehrten

ſich; die Rechtspflege trat der Privatgewalt der Einzelnen be-

ſtimmter gegenuͤber, und das Fehdeweſen ward beſchraͤnkt.

Doch fuͤhrte dieß zu keiner Unterdruͤckung des alten Volks-

rechts, weil ſich daſſelbe in den engeren Kreiſen des oͤffentli-

chen Lebens frei bewegen durfte. Kein Geſetz iſt unter Karl

dem Großen fuͤr einen einzelnen Volksſtamm ohne deſſen Zu-

ſtimmung erlaſſen worden; auf den Provinziallandtagen, in

den Verſammlungen der Gaue, Hunderte und Gemarkungen

wurden noch immer die Geſchaͤfte von den freien Eingeſeſſenen

ſelbſtaͤndig abgemacht. Auch die Rechtspflege lag in ihren

Haͤnden, denn die Quelle des Rechts war noch die Ueberzeu-

gung der Gemeinde: geſetzliche Verfuͤgungen kommen nament-

[10/0022]

Erſtes Kapitel.

lich fuͤr das Privatrecht nur ſelten vor. Aber eine große, leb-

haft bewegte Verſammlung, bei der kein parlamentariſch ge-

ordneter Geſchaͤftsgang angenommen werden darf, paßt nicht

fuͤr eine ſich regelmaͤßig wiederholende richterliche Thaͤtigkeit;

es kommt nur darauf an, daß dieſe unter der Aufſicht und

Billigung der Gemeinde geuͤbt werde. Daher findet ſich ſchon

fruͤhe, daß nach Verhandlung der Sache, die in lebendiger

Rede und Gegenrede vor ſich ging, Einer oder Mehre der

Genoſſen das Urtheil einſetzten, welches beſtehen blieb, wenn

die Uebrigen (der Umſtand) es nicht verwarfen. Auf dieſem

Princip beruhte auch die ſogenannte Karolingiſche Schoͤffen-

verfaſſung, indem unter Leitung eines Sendboten von dem

Grafen und ſeiner Gemeinde beſtimmte Perſonen aus dieſer

fuͤr die Dauer erwaͤhlt wurden, um vorſtimmend das Urtheil

zu finden, was denn in den gebotenen Gerichten, wo die Ge-

meinde nicht gegenwaͤrtig zu ſeyn brauchte, als eine wahre

Jurisdiction ſich darſtellen mußte.

Auf dieſe Weiſe ſchien fuͤr einen großen Theil des Abend-

landes eine Staatsform gefunden zu ſeyn, welche die verſchie-

denen Voͤlkerſchaften, durch gemeinſchaftliche Abſtammung und

das Band des Chriſtenthums unter einander verbunden, auf

die Dauer zu einem Staatsganzen vereinen, und ihnen doch

zugleich die ihrer Eigenthuͤmlichkeit entſprechende Freiheit der

Bewegung gewaͤhren koͤnne. Aber als Karl’s ſtarke Hand

nicht mehr uͤber das Reich waltete, da zeigte ſich doch bald,

wie aͤußerlich die Einheit deſſelben geweſen war; die Natio-

nalitaͤt der Deutſchen trat immer entſchiedener im Gegenſatz

zu der der Romanen hervor, und mußte uͤber kurz oder lang

eine Trennung herbeifuͤhren. Mit der Aufloͤſung der fraͤnki-

ſchen Monarchie hoͤrte jedoch nicht der Einfluß auf, den ſie

[11/0023]

Hiſtoriſche Einleitung.

auf den Charakter und die Staatsbildung der Deutſchen aus-

geuͤbt hatte. Manches ward freilich leicht wieder ausgeſtoßen:

ſo die iſolirten Vorſchriften des roͤmiſchen Rechts, welche in

die Geſetze einzelner Volksſtaͤmme uͤbergegangen waren; auch

das Fehdeweſen war bald wieder mehr im Schwange. Aber

viele und wichtige Einrichtungen blieben als die Grundlage

der weiteren Entwicklung im Mittelalter beſtehen. Dahin iſt,

wenigſtens theilweiſe, das Recht der Kirche zu zaͤhlen; des-

gleichen die Grafengewalt, die Schoͤffenverfaſſung und das Le-

henweſen. Doch hat das Letztere in Deutſchland, wo das

Princip der gemeinen Freiheit lange noch feſtgehalten ward,

nie die tief eingreifende Bedeutung erhalten, wie bei den ro-

maniſchen Voͤlkern und namentlich den Franzoſen; es iſt oft

nur die aͤußere Form fuͤr Verhaͤltniſſe geworden, die einen

ſelbſtaͤndigen Charakter hatten, und ſich dieſem gemaͤß ent-

wickelten.

Mit dieſer Ausruͤſtung nun begannen die Deutſchen nach

dem Ausgang der Karolinger ihr ſelbſtaͤndiges politiſches Le-

ben. Anfangs ſchien es freilich zweifelhaft, ob es nur zu ei-

ner dauernden Vereinigung der wichtigſten Volksſtaͤmme kom-

men werde; denn dieſe, die Franken, Schwaben, Sachſen und

Baiern, ſtanden noch in ſchroffer Abgeſchloſſenheit neben ein-

ander; es entwickelte ſich unter ihnen wieder die volksthuͤm-

liche Gewalt des Herzogthums, welches mit dem bloß eine

Amtswuͤrde darſtellenden fraͤnkiſchen Ducate nicht verwechſelt

werden darf, und das Bewußtſeyn einer nationalen Einheit

war noch nicht allgemein vorhanden. Indeſſen trat es doch

bald hervor, und fand namentlich in den großen Koͤnigen der

ſaͤchſiſchen Dynaſtie ſeine lebendige Vertretung. So bekam

Deutſchland in dem Koͤnigthum einen politiſchen Mittelpunct,

[12/0024]

Erſtes Kapitel.

und der Glanz deſſelben ward noch weſentlich durch die damit

verbundene Kaiſerwuͤrde erhoͤht. Aber die Deutſchen haben

die Ehre, daß ihr Koͤnig an der Spitze der Chriſtenheit ſtand,

auch theuer bezahlen muͤſſen; es lag darin fuͤr ſie ein weſent-

liches Hinderniß, zu einer feſt beſtimmten Staatseinheit zu ge-

langen; die beſten Kraͤfte, welche auf deren Pflege haͤtten ver-

wandt werden koͤnnen, gingen in Italien verloren, oder wur-

den doch im Kampfe mit dem Papſtthume verzehrt. Die

fraͤnkiſchen Kaiſer und die Hohenſtaufen wußten freilich noch

das Reich in ſeiner Einheit zuſammen zu halten und zu ver-

treten; aber der Trieb nach Vereinzelung, der von jeher bei

den Deutſchen ſtark war, fand doch in dem eigentlichen Na-

tionalſinn und in den Formen der Verfaſſung kein entſpre-

chendes Gegengewicht, und ſo konnte es geſchehen, daß, als

die Stammesverſchiedenheit ſich mehr zu verwiſchen begann,

in der Territorialitaͤt dem gemeinen Weſen ein noch gefaͤhrli-

cherer Feind erwuchs. Ein ſolcher Umwandlungsproceß, der

im Innern einer Nation vor ſich geht, laͤßt ſich nur in ſei-

nen allmaͤligen Uebergaͤngen hiſtoriſch verfolgen und begreifen;

doch kommen wohl beſtimmte Epochen vor, in denen es we-

nigſtens deutlich hervortritt, nach welcher Seite hin ſich unter

den im Kampf begriffenen Gegenſaͤtzen der Sieg neigen wird.

Fuͤr Deutſchland war die erſte Haͤlfte des 13. Jahrhunderts

eine ſolche Zeit der Entſcheidung, in welcher die ſpaͤtere Ge-

ſchichte der Nation ihre beſtimmte Richtung erhielt; es iſt da-

her angemeſſen, bei der Betrachtung des deutſchen Rechts im Mit-

telalter hier einen Abſchnitt zu machen, um den eigenthuͤmlichen

Charakter der verſchiedenen Perioden gehoͤrig feſtſtellen zu koͤnnen.

Bis zu jener Zeit nun kommt es im deutſchen Rechts-

weſen hauptſaͤchlich noch auf den Gegenſatz zwiſchen Freiheit

[13/0025]

Hiſtoriſche Einleitung.

und Unfreiheit an. Jene entſpricht im Weſentlichen noch dem

in der alten Volksverfaſſung gewaͤhrten Rechte, nur daß an

dem allgemeinen Reichsregiment nicht alle Freien Theil neh-

men konnten; inſofern bildete ſich fruͤh eine Abſtufung der

politiſchen Berechtigung, welche man in die Formen des Le-

henweſens brachte. Aber eine Verſchiedenheit der Staͤnde im

ſpaͤteren Sinne ward dadurch nicht begruͤndet; auch der Ge-

meinfreie nahm ſein Recht nur von ſeinen Genoſſen, vor ei-

nem unter dem Koͤnigsbann gehegten Gerichte, dem auch,

wenn nicht beſondere Verhaͤltniſſe in Betracht kamen, die Her-

ren aus den erſten Geſchlechtern unterworfen waren. Wer

von einem andern als dem Koͤnige ein Lehen annahm, der

erniedrigte freilich ſeinen Heerſchild, und trat in ſeinem Range

zuruͤck; aber das Lehenrecht ſelbſt enthielt doch im Allgemeinen

ganz gleichmaͤßige Beſtimmungen, und in dem Landrecht war

das gemeine Recht der Freien enthalten, welches noch in allen

Faͤllen zur Anwendung kam, die nicht ſpeciell unter dem Le-

henrecht ſtanden, ja noch im 12. Jahrhundert zuweilen gegen

deſſen Principien aufrecht erhalten ward. Nimmt man nun

dazu die beſchraͤnkte Erblichkeit der deutſchen Lehen, welche

nicht an die Seitenverwandten kamen, und ſieht man, wie

hoch noch in ſpaͤten Zeiten das Gluͤck und die Ehre, auf freiem

Allod zu ſitzen, von den Deutſchen angeſchlagen wurden, ſo

tritt die Bedeutung des Landrechts mit uͤberwiegender Wich-

tigkeit hervor. — Fuͤr die rechte Kunde und Wuͤrdigung die-

ſer Verhaͤltniſſe iſt uns aus der Zeit Friedrich Barbaroſſas

eine unſchaͤtzbare Quelle erhalten worden, — naͤmlich das

Rechtsbuch des Sachſenſpiegels, welches nicht bloß das Ver-

ſtaͤndniß der damaligen Zuſtaͤnde eroͤffnet, ſondern auch fuͤr die

ſpaͤtere Entwicklung des deutſchen Rechts einen feſten Anhalt

[14/0026]

Erſtes Kapitel.

gewaͤhrt hat. Denn es findet ſich in dieſem Werke nicht bloß

das particulaͤre Recht des ſaͤchſiſchen Volksſtammes verzeich-

net; der Inhalt deſſelben iſt viel weiter und bedeutender. Es

verhaͤlt ſich naͤmlich damit alſo. Die nationale Einheit des

deutſchen Rechts, welche ſich in allen weſentlichen Puncten

ſchon fuͤr die aͤltere Zeit der noch geſonderten Stammes-

verfaſſung nachweiſen laͤßt, war waͤhrend der Vereinigung

der einzelnen Voͤlkerſchaften in der fraͤnkiſchen Monarchie und

ſpaͤter im deutſchen Reich noch erhoͤht und verſtaͤrkt worden;

denn das gemeinſame Staatsleben fuͤhrte auch in anderen Be-

ziehungen zur groͤßeren Einheit zuſammen. So ſtellt ſich ein

gemeines deutſches Recht, ein Kaiſerrecht, dar, welches in ſei-

nen Grundprincipien uͤbereinſtimmend, zum Theil ſelbſt auf

Reichsgeſetzen beruhend, fuͤr alle freien Reichsſaſſen gleichmaͤßig

zur Anwendung kam. Aber neben dieſem gemeinen Land-

und Lehenrechte machten ſich von jeher eigenthuͤmliche Grund-

ſaͤtze des Rechts der einzelnen Staͤmme geltend, wodurch jenes

modificirt ward und ſeine beſondere Faͤrbung erhielt. Der

Sachſenſpiegel giebt nun das gemeine Recht, wie es ſich

bei dem ſaͤchſiſchen Volksſtamme beſonders geſtaltet hatte; ſeine

weſentliche Grundlage war aber durchaus dem ganzen freien

Volke gemeinſam, ſo daß er, auch abgeſehen von den Lehren,

welche das Reich als Geſammtheit betrafen, fuͤr die Bearbei-

tung des Rechts der andern Staͤmme benutzt werden konnte.

Man mußte dann nur das beſondere ſaͤchſiſche Element des Rechts-

buches mit dem Rechte des Stammes, dem es angeeignet wer-

den ſollte, vertauſchen. Aus einer ſolchen Ueberarbeitung iſt

der ſogenannte Schwabenſpiegel hervorgegangen. Eine aͤhn-

liche Operation war noͤthig, wenn man das Landrecht, wel-

ches ſich zunaͤchſt auf die Verhaͤltniſſe der freien Grundbeſitzer

[15/0027]

Hiſtoriſche Einleitung.

bezog, in ein Stadtrecht umarbeiten, und der eigenthuͤmlichen

Entwicklung, welche das ſtaͤdtiſche Buͤrgerthum genommen

hatte, anpaſſen wollte.

Dem Recht der Freien ſtand nun das der Unfreien ge-

genuͤber. Dieſem aber fehlte das einheitliche Princip, aus

welchem es ſich ſelbſtaͤndig haͤtte entwickeln koͤnnen; denn die

Stellung des Hoͤrigen zu ſeinem Herrn gab doch zunaͤchſt die

Norm des Verhaͤltniſſes, ſo daß Herkommen und Vertrag die

verſchiedenartigſten Rechtsformen hervorrufen konnten, welche

nicht bloß zwiſchen den entfernteſten Gliedern der Kette, den

leibeigenen Bauern und den zu Kriegs- und Hofdienſten ver-

wandten Dienſtmannen, einen großen Abſtand moͤglich mach-

ten, ſondern auch in derſelben Claſſe der unfreien Bevoͤlkerung

zu einer vielgeſtaltigen Rechtsbildung fuͤhrten. Zwar zeigt ſich

auch hier eine gewiſſe Regelmaͤßigkeit der Entwicklung, welche

unter gleichen Verhaͤltniſſen ziemlich denſelben Gang nahm.

Das Hofrecht tritt in beſtimmten Inſtituten auf, deren allge-

meine Bedeutung leicht erkennbar iſt, und welche ſich meiſtens

als Nachbildungen freiheitlicher Einrichtungen in ſchwaͤcheren

Formen darſtellen; die wichtigſten Inſtitute des Familienrechts,

eine Gewere am Grundbeſitz, eine Vereinigung in Genoſſen-

ſchaften und Gemeinden fehlte nicht; die maͤchtigeren Dienſt-

mannen, namentlich der geiſtlichen Stifter, brachten es ſchon

zu einer Art politiſcher Berechtigung, und deuteten ihre ſpaͤter

eintretende Verſchmelzung mit den gemeinfreien Grundbeſitzern

an, ja ſie nahmen wohl gar vor den Geringeren unter dieſen,

in Folge des Ritterdienſtes, des Reichthums und der Macht

ihrer Herren, einen Vorzug in Anſpruch. Aber das Alles giebt

keinen ſicheren Anhalt fuͤr die genauere Beurtheilung dieſer

Verhaͤltniſſe, welche ſtets den ſpeciellen Rechtsquellen entnom-

[16/0028]

Erſtes Kapitel.

men werden muß. Das iſt auch ſehr beſtimmt von dem Ver-

faſſer des ſaͤchſiſchen Landrechts (III. 42.) ausgeſprochen wor-

den, indem er ſagt:

„Nu ne latet juͤk nicht wunderen, dat dit buk ſo luͤttel

ſeget von dienſtluͤde rechte, went it is ſo manich valt,

dat is nieman to ende komen kan; under jewelkem bi-

ſchope unde abbede unde ebbediſchen (Aebtiſſin) hebben

die dienſtluͤde ſunderlik recht, dar umme ne kan ik is

nicht beſceiden.“

Dagegen entwickelte ſich mit um ſo groͤßerer Conſequenz

und Selbſtaͤndigkeit neben dem gemeinen Landrecht das be-

ſondere Standesrecht der Geiſtlichkeit, nachdem es der roͤmi-

ſchen Curie gelungen war, der Kirche eine unabhaͤngige Stel-

lung im Staate zu verſchaffen, und die geiſtlichen Gerichts-

hoͤfe, von der immer thaͤtiger werdenden paͤpſtlichen Geſetzge-

bung beherrſcht, ſich eine weite Competenz verſchafft hatten,

welche ſie ſtets in ihrem Intereſſe auszudehnen ſtrebten. —

Aehnlich erhoben ſich ſeit dem 11. Jahrhundert die deutſchen

Staͤdte zu einer ſelbſtaͤndigen Bedeutung, und indem ſie von

dem Gauverbande eximirt, das Landrecht nach ihren beſonde-

ren Beduͤrfniſſen autonomiſch umbildeten, legten ſie den Grund

zu einer neuen Rechtsentwicklung, welche ſich nicht mehr in

den Grenzen der alten Freiheit und Unfreiheit bewegte.

Fragt man nun, wie dieß verſchiedenartige Recht in ſei-

nen mannichfaltigen Erſcheinungen doch mit Sicherheit hat

erkannt und angewandt werden koͤnnen, ſo laͤßt ſich dieß aus

ſeiner allgemeinen Beſchaffenheit, mit welcher die Gerichtsver-

faſſung durchaus uͤbereinſtimmte, zur Genuͤge erklaͤren. Denn

es war faſt ganz ein Volksrecht, aus den Lebensverhaͤltniſſen

unmittelbar hervorgegangen, und in ſeinen Grundzuͤgen wie

[17/0029]

Hiſtoriſche Einleitung.

in ſeiner ſpeciellen Geſtaltung jedem geſchaͤftserfahrenen Manne

bekannt und gelaͤufig, inſofern es uͤberhaupt in den Kreis ſei-

ner buͤrgerlichen Thaͤtigkeit eingriff. Daher konnte die alte

Schoͤffenverfaſſung ſich auch noch in voller Wirkſamkeit erhal-

ten, und ſelbſt in der Sphaͤre des Hofrechts ſich in verwand-

ten Inſtituten wiederholen. Die Schoͤffen, durch Rechtskunde

und Erfahrung ausgezeichnet, waren die Vertreter des Volkes

in ſeinen gerichtlichen Functionen, ohne deswegen einen beſon-

deren Stand zu bilden, und eine juriſtiſche Geheimlehre zu be-

ſitzen, welche nur ihnen zugaͤnglich geweſen waͤre. Es war

ihr Ruhm und ihre Pflicht, daß ſie das Organ für die Ueber-

zeugung der Gemeinde wurden; gelang ihnen dieſes nicht, ſo

mochte ihr Urtheil mit Fug geſcholten werden, — gewiß ein

ſchlimmes Ereigniß, welches bei einer Stellung, die weſentlich

auf dem Vertrauen der Genoſſen beruhte, empfindlich gefuͤhlt

werden mußte. — Dazu kam noch, daß die freien Landgerichte

von Reichs wegen gehegt wurden, unter dem Vorſitz eines

Beamten, welcher den Koͤnigsbann unmittelbar vom Kaiſer

empfing, wenn er auch mit ſeinem Amte, welches regelmaͤßig

die Grafſchaft war, oft nur zur zweiten Hand beliehen ward.

Das gab dem ganzen Verfahren eine beſondere Wuͤrde, und

erhielt auch die einzelnen Dingpflichtigen in lebendiger Bezie-

hung zur Geſammtheit. Freilich ward dadurch auch in dieſer

Rechtsſphaͤre nicht immer die Vollziehung der gefundenen Ur-

theile geſichert; neben dem gerichtlichen Verfahren beſtand noch

immer das Recht der Selbſthuͤlfe in einer gewiſſen geſetzlichen

Sanction, wodurch die Maͤchtigen, welchen ihr Rechtsgefuͤhl

und die Reichsgewalt nur zu oft keine feſten Schranken ſetz-

ten, zu den ſchlimmſten Gewaltthaten hingeriſſen wurden. Aber

das lag doch zunaͤchſt in dem allgemeinen Charakter der Zeit,

Beſeler, Volksrecht. 2

[18/0030]

Erſtes Kapitel.

welche ſich noch nicht zu einem vollkommen geordneten Staats-

weſen erheben konnte, zum Theil freilich auch in dem Ver-

haͤngniß der groͤßten Kaiſer und namentlich der Hohenſtaufen,

ihre beſten Kraͤfte im Kampfe mit dem Papſtthum und in

Italien verzehren zu muͤſſen.

Wenden wir uns nun nach dieſer kurzen Betrachtung des

Rechtszuſtandes, welcher ſich in Deutſchland bis zum 13. Jahr-

hundert findet, zu der weiteren Entwicklung deſſelben in den

ſpaͤteren Zeiten. Dabei iſt vor Allem der Umſtand hervorzu-

heben, daß waͤhrend bei faſt allen andern europaͤiſchen Voͤl-

kern Alles auf die Ausbildung einer beſtimmten Nationalitaͤt

und einer in der Erbmonarchie dargeſtellten Staatseinheit hin-

ſtrebte, in Deutſchland die Kraft und Bedeutung der Reichs-

gewalt immer mehr abnahm, und das Gemeinſame und Na-

tionale vor dem Particularismus entſchieden zuruͤcktrat. Die

letzten Hohenſtaufen, durch Parteiungen und fremde Intereſſen,

die ſich in die Nation eingeſchlichen hatten, ſo vielfach ge-

hemmt, waren ſchon nicht mehr die Herren dieſer Bewegung;

aber in ihnen war doch noch das lebendige Bewußtſeyn von

der Wuͤrde und Macht des alten Kaiſerthums. Ihre Nach-

folger, ohne hoͤheren Schwung und großartige Begabung, an

eigener Macht den ſchnell erſtarkten Landesherrn kaum gewach-

ſen, nur durch Wahl im perſoͤnlichen Beſitz des Thrones, faß-

ten ihre Stellung unter einem weit beſchraͤnkteren Geſichts-

puncte auf. Das Kaiſerthum verlor dadurch die Hoͤhe ſeiner

nationalen Beſtimmung; es ward, ſtatt die Einheit und Ma-

jeſtaͤt des deutſchen Volkes wuͤrdig zu vertreten, mehr eine

aͤußere Zierde, eine perſoͤnliche Machtvermehrung, ein Mittel

fuͤr den Inhaber, ſich egoiſtiſch eine bluͤhende Hausmacht zu

begruͤnden. Selbſt einzelne bedeutendere Erſcheinungen, wie

[19/0031]

Hiſtoriſche Einleitung.

Heinrich VII. mit ſeiner deutſchen kaiſerlichen Geſinnung, zie-

hen nach kurzem Glanze ſpurlos voruͤber; das deutſche Reich

hoͤrt auf, der Mittelpunct der deutſchen Geſchichte zu ſeyn, und

die einzelnen Theile treten in ſelbſtaͤndiger Bedeutung an die

Stelle des Ganzen.

Hier ſind nun zunaͤchſt die vornehmen Geſchlechter zu

erwaͤhnen, welche durch Geburt und Macht unter den Ge-

meinfreien hervorragend, auf die Angelegenheiten des Reichs

den entſchiedenſten Einfluß gewannen, und demſelben gegen-

uͤber eine ſelbſtaͤndige Territorialgewalt begruͤndeten. Sie zo-

gen vor Allem Vortheil aus dem Sturz der großen Stam-

mesherzogthuͤmer, welche noch eine Art Vermittlung zwiſchen

dem Kaiſer und den Reichsangehoͤrigen gebildet hatten; die

großen Reichsaͤmter, und namentlich die Grafſchaft, welche ſie,

nachdem die Biſchoͤfe dem Sonderintereſſe der Kirche aus-

ſchließlich gewonnen waren, faſt ohne Ausnahme verwalteten,

wurden der eigentliche Kern fuͤr ihre politiſche Berechtigung.

Denn indem dieſelben nach den Grundſaͤtzen des Lehenrechts

verliehen wurden, verwandelten ſie ſich in einen erblichen Be-

ſitz, und erhielten den Charakter einer ſelbſtaͤndigen Gewalt,

welche auf Koſten des Reichs immer mehr erweitert ward, ſo daß

die meiſten Gemeinfreien in die Pflege der Landesherrn ka-

men, und die letzteren ſchon wichtige Regalien im eigenen Na-

men ausuͤben konnten. An dieſe oͤffentliche Gewalt ſetzte ſich

nun Alles an, was zur weiteren Ausbildung der Hausmacht

dienen konnte: lehensherrliche und voigteiherrliche Rechte und

dazu die großen Grundherrſchaften, welche in dem echten Ei-

genthume ihrer Inhaber waren. Allein dieſe verſchiedenen

Rechte beſtanden doch urſpruͤnglich nur neben einander, und

gaben den weltlichen Großen (denn bei den geiſtlichen verhielt

2*

[20/0032]

Erſtes Kapitel.

es ſich anders) keine Sicherheit der vollkommenen Concentra-

tion und der Dauer, ſo lange ihre Familien dem gemeinen

Land- und Lehenrecht unterworfen waren. Daher entwickelte

ſich allmaͤlig auf dem Wege der Autonomie das beſondere Fa-

milienrecht des hohen Adels, welches das Haus in ſeiner ge-

noſſenſchaftlichen Geſtaltung als ſelbſtaͤndiges Rechtsſubject er-

ſcheinen laͤßt, dem ſich das Sonderintereſſe der einzelnen Mit-

glieder fuͤgen muß, — eine Rechtsbildung, welche zuletzt in

den Primogeniturordnungen zum Abſchluß kam.

Allein nicht alle Reichsangehoͤrigen wurden der Territo-

rialgewalt der Landesherrn unterworfen. Ein großer Theil

derſelben trug noch das ſtarke Bewußtſeyn deutſcher Reichs-

freiheit in ſich, und war keineswegs geneigt, ſich derſelben zu

begeben. Dahin gehoͤrten die maͤchtigeren Staͤdte, denen es

gelang, die landesherrliche Voigtei fern zu halten oder wohl

auch, wenn ſie begruͤndet war, von ſich abzuſchuͤtteln; ferner

einige gemeinfreie Landcommuͤnen; endlich die alten freien Ge-

ſchlechter, welche von jeher nur dem Reichsbanner gefolgt wa-

ren, nur kaiſerliche Gerichte beſucht hatten, und die Fuͤrſten

als ebenbuͤrtige, wenn auch bevorzugte Genoſſen anſahen. Ein-

zeln waren dieſe alle freilich nicht im Stande, ſich eine ſelb-

ſtaͤndige und geſicherte Stellung zu verſchaffen, und in dem

Kaiſerthume fanden ſie auch nicht den gehoͤrigen Anhalt; aber

indem das Gleichartige ſich genoſſenſchaftlich zuſammen ſchloß,

und ſeinem beſonderen Zwecke diente, entſtanden allenthalben

Aſſociationen, Eidgenoſſenſchaften, Staͤdte- und Adelsbuͤndniſſe,

welche ihren Schwerpunct und ihre Haltung vor Allem in

ſich ſelbſt ſuchen mußten, und oft, je kraͤftiger ſie ſich entwik-

kelten, dem Reiche faſt ganz entfremdet wurden. Doch war

in dieſen Elementen, welche noch zu Ende des 15. Jahrhun-

[21/0033]

Hiſtoriſche Einleitung.

derts in voller Kraft beſtanden, offenbar ein hinreichender

Stoff vorhanden, um eine politiſche Regeneration Deutſchlands

im nationalen Intereſſe zu verwirklichen, zumal wenn auch die

Reichsfuͤrſten geneigt wurden, von ihrer Territorialgewalt et-

was aufzuopfern, um dafuͤr eine wuͤrdige Stellung in einem

großen einheitlichen Staatsverbande einzutauſchen. Und in der

That findet ſich, daß von den Reichsſtaͤnden ſelbſt, unter Lei-

tung eines patriotiſchen Mannes, des Churfuͤrſten Berthold

von Mainz, ein ſolcher Verſuch unternommen worden iſt.

Aber weder Friedrich III. noch Maximilian I. waren geneigt,

ſich an die Spitze dieſer Beſtrebungen zu ſtellen, welche doch

auch zunaͤchſt nur bezweckten, ein ariſtokratiſches Reichsregi-

ment in kraͤftiger Haltung an die Stelle des ſchwachen Kai-

ſerthums zu ſetzen, ohne dem Werk eine breite, volksthuͤmliche

Baſis zu geben. So ſcheiterte dieſer Plan, und nur die Auf-

regung des reichsfreien Adels, der Mißmuth der Staͤdte, die

ſchrecklichen Bauernkriege zeigten, wie tief die Bewegung und

das Beduͤrfniß einer politiſchen Reform in der Nation gewe-

ſen waren. Inzwiſchen kam die kirchliche Reformation zum

Durchbruch, und zog faſt alle Kraͤfte und alles Intereſſe an

ſich; aber auch ſie ward nicht als ein gemeinſames, nationa-

les Werk durchgefuͤhrt, und vollendete die innere Zerruͤttung

und Zerſplitterung Deutſchlands, welches nun bloß in ſeinen

einzelnen Territorien die Form des modernen Staates auszu-

bilden vermochte. Doch waͤhrte es auch hier lange, bis ſich

die verſchiedenen Elemente der landesherrlichen Gewalt zu dem

beſtimmten ſtaatsrechtlichen Begriff der Landeshoheit conſoli-

dirten. Denn die Rechte der einzelnen Diſtricte und der nach

Staͤnden geſchiedenen Bevoͤlkerung konnten in demſelben Lande

ſehr von einander abweichen, und es war nicht bloß die au-

[22/0034]

Erſtes Kapitel.

tonomiſch abgeſchloſſene Stellung des regierenden Hauſes, ſon-

dern auch die Vereinigung der einzelnen politiſch berechtigten

Staͤnde zur landſtaͤndiſchen Corporation noͤthig, um eine Ter-

ritorialeinheit zu begruͤnden. Wo das Eine oder das Andere

fehlte, da blieb die Verbindung meiſtens eine ſehr zufaͤllige

und loſe, und griff nicht tief in das particulaͤre Rechtsleben

ein, welches uͤberhaupt noch vorzugsweiſe in den einzelnen Ge-

noſſenſchaften und Gemeinden concentrirt war.

Werfen wir nach dieſer allgemeinen Betrachtung nun

einmal einen pruͤfenden Blick auf den Rechtszuſtand, welcher

am Schluß des Mittelalters in Deutſchland begruͤndet war.

Der alte Gegenſatz von Freiheit und Unfreiheit hatte ſich

verwiſcht; nur die einer Grundherrſchaft frohnenden Bauern

galten noch fuͤr Hoͤrige: in der landſaͤſſigen Ritterſchaft, der

ſtaͤdtiſchen Buͤrgerſchaft und dem voigteipflichtigen Landvolk

waren aus freien und unfreien Elementen gemiſcht neue Rechts-

bildungen erwachſen, welche wir als Staͤnde bezeichnen. Denn

entſprechend den verſchiedenen Kreiſen des oͤffentlichen Lebens,

in denen ſich jetzt die Nation, ohne von einem gemeinſchaftli-

chen Princip beherrſcht zu werden, bewegte, bildeten ſich auch

fuͤr dieſelben beſondere Rechte und Vorrechte aus. Voran

das Standesrecht des hohen Adels, in verſchiedenen Formen,

aber im Weſentlichen doch gleichartig durch die Familienau-

tonomie ausgepraͤgt; dann in eigenthuͤmlicher Haltung das

Recht der landſaͤſſigen Ritterſchaft, fuͤr welche, wie fuͤr die

reichsfreien Geſchlechter, welche es nicht zur Reichsſtandſchaft

brachten, die autonomiſche Beliebung der einzelnen Familie

freilich keine volle Geltung hatte, welche aber in den Princi-

pien der alten Allodialſucceſſion, des Lehenrechts und in den

Statuten und Obſervanzen der neu entſtandenen genoſſenſchaft-

[23/0035]

Hiſtoriſche Einleitung.

lichen Verbindungen einigen Erſatz fanden; in freien Land-

commuͤnen die alte Sitte und das alte Recht; unter den hoͤ-

rigen und voigteipflichtigen Landleuten ein durch Herkommen

und Vertrag ſehr verſchiedenartig geſtaltetes Bauernrecht mit

beſchraͤnkter Freiheit des Eigenthums und, bei erſteren wenig-

ſtens, auch der Perſonen; in den Staͤdten ein auf der Herr-

ſchaft des Verkehrs und des beweglichen Vermoͤgens baſirtes

Statutarrecht, welches die uͤberwiegende Bedeutung des Grund-

beſitzes und die ſtrengen Familienbande in den freieren Orga-

nismus der Gemeinde hatte aufgehen laſſen; fuͤr die Geiſtlich-

keit endlich das roͤmiſch-canoniſche Recht in der Verarbeitung

der Canoniſten, auf welches das deutſche Volksrecht nur noch

einen ſehr geringen und ſehr indirecten Einfluß ausuͤbte. —

Betrachtet man dieſe ſo mannichfach geſtalteten Rechtsformen,

wie ſie ohne einen beſtimmten gemeinſamen Anhalt unter dem

Einfluß der Stammesverſchiedenheit, der territorialen Tren-

nung und der geſonderten Standesintereſſen aus dem beweg-

ten Volksleben hervorgegangen ſind: ſo muß man allerdings

die Energie des ſchaffenden Triebes in der Nation bewun-

dern; aber die Befuͤrchtung liegt auch nahe, daß Alles ohne

einheitliche Principien aus einander gefahren ſey, und daß ei-

gentlich von einem gemeinſamen deutſchen Rechte gar nicht

mehr die Rede ſeyn koͤnne.

In der That laͤßt es ſich auch nicht verkennen, daß mit

der Schwaͤchung des Kaiſerthums und mit dem allmaͤligen

Zuruͤcktreten der gemeinen Freiheit, welche als der eigentliche

Kern des aͤlteren deutſchen Rechts erſcheint, die wichtigſten

Stuͤtzen fuͤr die gemeinſame Entwicklung deſſelben gefallen wa-

ren, und daß ſich ſtatt deſſen, der politiſchen Lage des Reichs

entſprechend, eine krauſe Mannichfaltigkeit der aͤußeren Formen

[24/0036]

Erſtes Kapitel.

gebildet hatte. Allein man darf dieſer Erſcheinung, ſo bedeu-

tungsvoll ſie auch war, doch auch kein zu großes Gewicht bei-

legen. Denn der Einfluß der Stammesverſchiedenheit war

nicht mehr von ſolchem Belang wie fruͤher; die Zerſplitterung

in einzelne Territorien, welche zum Theil ganz zufaͤlligen Um-

ſtaͤnden ihre Entſtehung verdankten, hatte auf die Rechtsbil-

dung noch nicht weſentlich eingewirkt, da eine Landesgeſetzge-

bung noch ſo gut wie gar nicht beſtand, und die unmittelbare

Entwicklung des Rechts im Volke auf dem Wege der Ge-

wohnheit und der Autonomie im Ganzen unabhaͤngig von der

Territorialitaͤt vor ſich ging. Deſto nachhaltiger war dagegen

allerdings der Einfluß geworden, welchen die im ſpaͤteren Mit-

telalter ſchroff ausgebildete Sonderung der Staͤnde auf das

Rechtsweſen ausgeuͤbt hatte, indem nur fuͤr die einzelnen Claſ-

ſen der Bevoͤlkerung gleichartige Inſtitute galten, welche wie-

der in dem ſtatutariſchen Recht der einzelnen Corporationen

ihre genauere Beſtimmung erhielten. Indeſſen iſt dabei auch

nicht zu uͤberſehen, daß die Grundlage in dem Recht der ver-

ſchiedenen Staͤnde doch etwas Gemeinſames und Nationales

war, welches bei aller Mannichfaltigkeit im Einzelnen einen

gewiſſen innern Zuſammenhang bewahrte, und das Verſtaͤnd-

niß des Rechts auch uͤber den naͤchſten Lebenskreis hinaus, in

dem ſich jeder bewegte, ausnehmend befoͤrdern mußte. Denn

ſo ſchroff, wie in fruͤheren Zeiten die Freiheit und Unfreiheit,

ſtanden ſich jetzt doch die Principien, welche das Recht der

einzelnen Staͤnde beherrſchten, nicht mehr gegenuͤber, wenig-

ſtens nicht in denjenigen, welche eben aus einer Vermiſchung

jener aͤlteren Volksclaſſen hervorgegangen waren, alſo bei der

landſaͤſſigen Ritterſchaft, den Stadtbuͤrgern und den voigtei-

pflichtigen Landleuten. Und je mehr in der allmaͤligen Ent-

[25/0037]

Hiſtoriſche Einleitung.

wicklung des modernen Staatsbuͤrgerthums dieſe ſtaͤndiſchen

Gegenſaͤtze ſich verwiſchten und zur Ausgleichung kamen, deſto

entſchiedener mußte wieder das Gemeinſame, dem alten Land-

recht vergleichbar, hervortreten und zur Geltung gelangen, was

denn fuͤr die einheitliche Entwicklung des deutſchen Rechts,

wenn ſie ungehindert haͤtte vor ſich gehen koͤnnen, ſehr foͤrder-

lich geweſen waͤre. Dazu kam, daß es auch nicht an aͤuße-

ren Huͤlfsmitteln fehlte, welche ſelbſt im ſpaͤteren Mittelalter

auf die aͤußere Gleichmaͤßigkeit der Rechtsbildung nachhaltig

einwirkten; man braucht bloß an die große und allgemeine

Verbreitung der Rechtsbuͤcher und an die tief eingreifende Thaͤ-

tigkeit der bedeutenderen Oberhoͤfe zu denken, welche, auch

wenn ſie nicht zu den noch beſtehenden kaiſerlichen Hof- und

Landgerichten gehoͤrten, eine ſehr ausgebreitete Competenz hatten.

Bei dieſer Lage der Sachen wird es nur natuͤrlich er-

ſcheinen, daß in den engeren Kreiſen des oͤffentlichen Lebens,

und namentlich in den Genoſſenſchaften und Gemeinden, wel-

che ſich im Allgemeinen, ſoweit nicht Voigtei- und Hoͤrigkeits-

verhaͤltniſſe einwirkten, der freieſten Bewegung erfreuten, die

volle Anſchauung des ſie betreffenden Rechts noch in dieſer

Periode vorhanden war. Konnte es auch in einer vielbeweg-

ten, gewaltigen Zeit nicht fehlen, daß manche Verhaͤltniſſe ſich

verwirrten und ſich nicht allenthalben zu einer feſten Ordnung

durchzubilden vermochten, ſo ſind das doch nur vereinzelte Er-

ſcheinungen, welche, wenn ſie nicht die Reichsverfaſſung betra-

fen, die allerdings im Argen lag, — ein allgemeines Urtheil

nicht beſtimmen duͤrfen. Namentlich hatte ſich die alte Ge-

richtsverfaſſung, inſofern ſie auf dem Schoͤffenthum gebaut

war, im Weſentlichen erhalten, und wirkte noch wie fruͤher

fort, wenn auch der Koͤnigsbann zum großen Theil in die

[26/0038]

Erſtes Kapitel.

Haͤnde der Landesherrn uͤbergegangen war. So fand das

Recht in den Volksgerichten noch ſein natuͤrliches Organ, durch

welches es auf eine dem Beduͤrfniß entſprechende Weiſe ge-

handhabt ward. Man braucht nur die Schoͤffenurtheile und

Weisthuͤmer aus dem 15. und dem Anfang des 16. Jahr-

hunderts, von denen gerade in neueſter Zeit manche intereſ-

ſante Sammlungen veroͤffentlicht ſind, zu betrachten, um ſich

zu uͤberzeugen, wie lebendig das Recht noch im Volke war,

und mit welcher Sicherheit und Gewandheit die Schoͤffen es

anzuwenden wußten. Denſelben Eindruck machen die zahlrei-

chen Statute, welche namentlich aus dem 15. Jahrhundert er-

halten worden ſind, und welche es bezeugen, daß man wich-

tige Inſtitute des geltenden Rechts klar und beſtimmt aufzu-

faſſen und feſtzuſtellen wußte. — Aber dieſen erfreulichen Er-

ſcheinungen iſt doch auch kein zu hoher Werth beizulegen;

denn ſie beweiſen nur, daß das deutſche Volksleben in ſeiner

corporativen Vereinzelung noch eine kerngeſunde Natur hatte,

und daß es in dieſer Beſchraͤnkung ſeine Tuͤchtigkeit bewaͤhrte.

Iſt es nun eine alte Wahrheit, daß die Geſundheit eines or-

ganiſchen Weſens nicht bloß von der Beſchaffenheit der einzel-

nen Glieder, ſondern vor Allem von dem Geſammtorganismus

und deſſen Befinden abhaͤngt, und daß hier der eigentliche Sitz

der Lebenskraft iſt; ſo kann auch der damalige Zuſtand des

deutſchen Volkes, deſſen Reichsverfaſſung ganz und gar zer-

ruͤttet war, unmoͤglich ſich als befriedigend herausſtellen. Es

fehlte ja eben, wie wir geſehen haben, an einem feſten politi-

ſchen Mittelpuncte, an welchen ſich die nationale Entwicklung

haͤtte anſetzen koͤnnen; bei Kaiſer und Reich war nicht die ge-

hoͤrige Macht, um Recht und Ordnung kraͤftig zu ſchuͤtzen;

jeder Theil ſorgte zunaͤchſt fuͤr ſich ſelbſt, und war, wollte er

[27/0039]

Hiſtoriſche Einleitung.

nicht dem Maͤchtigeren unterliegen, auf die eigene Fauſt und

den Beiſtand ſeiner Genoſſen angewieſen. So ſtanden die

einzelnen Staͤnde, Fuͤrſten, Buͤndniſſe und Corporationen ein-

ander drohend gegenuͤber und der Fehden und Vergewaltigun-

gen wurde kein Ende.

Es war aber uͤberhaupt die Zeit des 15. und 16. Jahr-

hunderts eine Uebergangsperiode von einer ſolchen Bedeutung,

wie ſie ſelten in der Weltgeſchichte vorgekommen iſt. Das

Mittelalter hatte ſich uͤberlebt; der Geiſt des claſſiſchen Alter-

thums war uͤber das germaniſche Weſen gekommen, und rief

die Cultur der modernen Welt hervor. Das Feudalweſen und

die corporative Beſchraͤnkung entſprachen der politiſchen Auf-

gabe der abendlaͤndiſchen Voͤlker nicht mehr, welche in ihrer

weiteren Entwicklung die Verwirklichung des hoͤheren Staats-

princips anſtrebten. Im Rechte aber waren uͤberhaupt tief

eingreifende Reformen unabweisbar geworden, welche nur von

der bewußten Kraft einer großartigen Geſetzgebung durchge-

fuͤhrt werden konnten. Nicht bloß das Fehdeweſen und die

Unſicherheit der Urtheilsvollſtreckung war zu beſeitigen; dem

Kirchenrecht ſtand eine voͤllige Umaͤnderung bevor; auch das

Strafrecht verlangte eine neue Geſtaltung; der Proceß, zum

Theil mit unnoͤthigen Formalitaͤten uͤberhaͤuft, war auf einfa-

chere Grundſaͤtze zuruͤck zu bringen, und das ganze Beweis-

verfahren mußte eine andere Grundlage erhalten, da Gottes-

urtheile und Eideshelfer der juriſtiſchen Ueberzeugung nicht

mehr genuͤgten. Sollte es aber uͤberhaupt zu einem einheitli-

chen Staatsweſen in Deutſchland kommen, ſo mußte auch das

Privatrecht in ſeiner regelloſen Mannichfaltigkeit beſchraͤnkt und

auf einfachere Formen zuruͤckgefuͤhrt werden. Denn man

konnte ſich dann nicht mehr damit begnuͤgen, daß in den klei-

[28/0040]

Erſtes Kapitel.

neren Kreiſen des oͤffentlichen Lebens jeder ſein ſpecielles Recht

genau kenne; auch fuͤr den Geſetzgeber und die hoͤchſten Ge-

richts- und Verwaltungsbehoͤrden war dieſelbe Kunde unerlaͤß-

lich, und uͤberdieß giebt es ja manche Inſtitute, deren Gel-

tung ſich nicht auf beſtimmte, enge Grenzen beſchraͤnken laͤßt,

welche vielmehr, namentlich bei dem erweiterten Verkehr, eine

allgemeinere Theilnahme in Anſpruch nehmen und deswegen

eine gemeinſame Feſtſtellung verlangen. Freilich wird ein ge-

ſundes Volksleben ſelbſt in dieſer Beziehung ſchon das Meiſte

thun, und auch die Wiſſenſchaft kann weſentlich zur groͤßeren

Vereinfachung und zu einer principienmaͤßigen Beherrſchung

des Rechtsſtoffs beitragen; aber auch die Geſetzgebung muß

ſich dabei thaͤtig zeigen, namentlich wenn es darauf ankommt,

poſitive Hinderniſſe und unorganiſche Geſtaltungen, welche ge-

gen die freie Entwicklung einen hartnaͤckigen Widerſtand lei-

ſten, zu beſeitigen.

Obgleich nun, wie fruͤher gezeigt worden, die Reform der

deutſchen Reichsverfaſſung im Geiſte des nationalen Beduͤrf-

niſſes mißlungen iſt, ſo ward doch Einzelnes von der ſo eben

angedeuteten Aufgabe der damaligen Zeit geloͤſt. Das Fehde-

weſen ward durchaus verboten, fuͤr die Rechtsſicherheit uͤber-

haupt durch die Einſetzung des Reichskammergerichts geſorgt;

das Strafrecht neu geordnet, das Beweisverfahren, wenigſtens

in Criminalſachen, wenn auch nicht gluͤcklich, ſo doch nach be-

ſtimmten Principien feſtgeſtellt. Aber freilich blieb dieß Alles

ein morſcher, unvollendeter Bau, in dem fuͤr ein großes, na-

tionales Volksleben keine ſichere Staͤtte war, und der auch

bald im Vergleich mit der weiteren Entwicklung der Territo-

rialverfaſſung faſt alle Bedeutung verlor. Es trat aber außer-

dem noch ein Ereigniß ein, welches auf das deutſche Rechts-

[29/0041]

Hiſtoriſche Einleitung.

weſen einen ganz außerordentlichen Einfluß ausgeuͤbt, und deſ-

ſen eigenthuͤmliche Geſtaltung in der neueren Zeit vorzugs-

weiſe beſtimmt hat. Das iſt die Aufnahme des roͤmi-

ſchen Rechts, von welcher hier etwas umſtaͤndlicher gehan-

delt werden muß.

Schon fruͤher, als die Germanen den großen Kampf ge-

gen die Roͤmer ſiegreich beendigt hatten, und mit ihnen durch

die Eroberung in dauernde Verbindung getreten waren, machte

ſich der Einfluß des roͤmiſchen Rechts auf die Sieger geltend.

Doch war dieß nur fuͤr die romaniſchen Voͤlker, welche ja

gerade aus einer Miſchung germaniſcher und roͤmiſcher Ele-

mente hervorgingen, von dauernder Wirkung; den rein deut-

ſchen Staͤmmen blieb jenes Recht faſt ganz fern, und wenn

ausnahmsweiſe einzelne Saͤtze deſſelben bei der Aufzeichnung

der Volksrechte oder durch die Capitularien der fraͤnkiſchen

Koͤnige ihnen zugekommen waren, ſo ſtießen ſie dieſelben doch

nach der Aufloͤſung der großen fraͤnkiſchen Monarchie wieder

von ſich. Selbſt die Geiſtlichkeit, welche doch ſchon fruͤhe vor-

zugsweiſe auf das roͤmiſche Recht als ihr Perſonalrecht hin-

gewieſen war, ſcheint daſſelbe bis ins 12. Jahrhundert in

Deutſchland ſo gut wie gar nicht gebraucht zu haben, was

aus der geringen Kenntniß, die man davon hatte, und aus

der groͤßeren Unabhaͤngigkeit, deren ſich die deutſche Kirche bis

dahin erfreute, ſehr wohl erklaͤrt werden kann. Seit Gre-

gor VII. entwickelte ſich die Herrſchaft der roͤmiſchen Curie

uͤber dieſelbe freilich ſehr ſchnell, und als ſpaͤtere Paͤpſte, na-

mentlich Innocenz III, geſtuͤtzt auf das wieder mehr zugaͤng-

lich gewordene roͤmiſche Recht, eine umfaſſende kirchliche Ge-

ſetzgebung in den Decretalen begruͤndeten, und beſonders auch

ein eigenthuͤmliches Verfahren fuͤr die geiſtlichen Gerichte aus-

[30/0042]

Erſtes Kapitel.

bildeten, ſo konnte es freilich nicht anders kommen, als daß

auch die deutſche Kirche dem roͤmiſch-canoniſchen Rechte, wie

es ſich in den Decretalen, der Praxis der Gerichtshoͤfe, na-

mentlich der Rota romana, und den Schriften der Decretiſten

entwickelte, unterworfen ward. Aber auf die Rechtsverhaͤlt-

niſſe der Layen hatte das urſpruͤnglich keinen unmittelbaren

Einfluß; nur die rein geiſtlichen Sachen, z. B. die Ehever-

bote wegen Verwandſchaft, wurden allgemein davon beruͤhrt.

Sonſt galt noch im 13. Jahrhundert der Grundſatz, welcher

gerade im Gegenſatz zu einem Geſetze Innocenz III. in den

ſpaͤteren Recenſionen des Sachſenſpiegels ausgeſprochen iſt:

„Wende de paves ne mach nen recht ſetten, dar he unſe

lantrecht oder lenrecht mede erger.“

Indeſſen konnte es doch nicht fehlen, daß der große Ein-

fluß der Geiſtlichkeit ihrem Standesrechte eine gewiſſe, wenn

auch anfangs ſehr beſchraͤnkte Einwirkung auf das Recht der

Layen bereitete, ſey es nun, daß ein ſolches Uebergreifen im

beſonderen Intereſſe der Geiſtlichkeit unmittelbar von ihr er-

ſtrebt ward, oder daß die Anerkennung gewiſſer Grundſaͤtze

fuͤr ſie auch wiederum die Geltung derſelben fuͤr die Layen

zur Folge hatte. Aus dem erſteren Grunde erklaͤrt ſich die

fruͤhe Verbreitung der dem roͤmiſchen Recht nachgebildeten letzt-

willigen Verfuͤgungen, weil dadurch die den Geiſtlichen ſo

wichtigen Seelgeraͤthe auf dem Todtenbette moͤglich wurden,

und ſich zugleich fuͤr das in den Staͤdten vorherrſchende Mo-

biliarvermoͤgen eine bequeme Form der Zuwendung darbot.

Zu den Rechtsinſtituten der anderen Art, welche man dem

geiſtlichen Recht nachbildete, iſt die Verjaͤhrung zu rechnen,

welche auch, da das Princip der rechten Gewere nur eine be-

[31/0043]

Hiſtoriſche Einleitung.

ſtimmte Sphaͤre beherrſchte, eine Luͤcke des deutſchen Rechts

ausfuͤllen konnte. Desgleichen hat bei den Schwankungen,

welche uͤber die Anwendung der wichtigſten germaniſchen Be-

weismittel im ſpaͤteren Mittelalter eintraten, das geiſtliche Recht

in dieſer Lehre ſchon fruͤh einen bedeutenden Einfluß ausge-

uͤbt, und auch ſonſt finden ſich, namentlich im ſuͤdweſtlichen

Deutſchland, ſeit dem Ende des 13. Jahrhunderts, einzelne

Saͤtze des roͤmiſchen Rechts auf die Verhaͤltniſſe der Layen

angewandt, namentlich in dem, wahrſcheinlich von einem Pfaf-

fen verfaßten Schwabenſpiegel. Aber das Alles hat das un-

abhaͤngige Leben und den innern Zuſammenhang des einhei-

miſchen Rechts unmittelbar noch gar nicht gefaͤhrdet; daſſelbe

bewahrte vielmehr noch bis ans Ende des 15. Jahrhunderts

durchaus ſeine ſelbſtaͤndige Haltung, und ſelbſt die ſpaͤteren

Rechtsbuͤcher nach dem Sachſenſpiegel haben von dem roͤmiſch-

canoniſchen Rechte wohl kaum ſo viel aufgenommen, als es

nur das engliſche Rechtsbuch des Bracton gethan hat. Man

muß ſich nur nicht durch einzelne Erſcheinungen irre leiten laſ-

ſen, welche allerdings die allgemeinere Geltung des roͤmiſchen

Rechts in einer fruͤheren Zeit zu beweiſen ſcheinen, aber, rich-

tig verſtanden, nichts der Art darthun. So hat man ein be-

ſonderes Gewicht darauf gelegt, daß ſchon ſeit dem 13. Jahr-

hundert in Urkunden haͤufig Verzichte auf roͤmiſche Klagen,

Einreden u. dgl. vorkommen; aber das erklaͤrt ſich einfach

daraus, daß die Notare, welche meiſtens Geiſtliche oder doch

in den geiſtlichen Gerichten eingeuͤbt waren, die dort gebraͤuch-

lichen Formulare mit den hergebrachten Cautelen, oft unge-

ſchickt genug, auch den unter Layen abgeſchloſſenen Geſchaͤften

bei der ſchriftlichen Redaction zu Grunde legten. Einen an-

dern Umſtand, der allerdings von groͤßerer Bedeutung iſt, hebt

[32/0044]

Erſtes Kapitel.

Eichhorn *) hervor. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts

kommen naͤmlich Gloſſen zum Sachſenſpiegel vor, welche den

Inhalt des Rechtsbuchs aus dem fremden Rechte zu erklaͤren

ſuchen, und zwar in einer wiederholten Ueberarbeitung, ſo daß

es ſcheint, als ob dieſe an ſich freilich widerſinnige Methode

einem Beduͤrfniſſe entſprochen, und in der Praxis Beifall ge-

funden habe, worauf auch die ziemlich betraͤchtliche Anzahl der

von dieſer Gloſſe erhaltenen Handſchriften hinweiſt. Allein

auf dieſen letzteren Punct iſt doch wenig Gewicht zu legen,

weil auch eine gelehrte Oſtentation und das Intereſſe, welches

die Geiſtlichkeit an dem in den weltlichen Gerichten geltenden

Rechte nehmen mußte, die Verbreitung der ſcheinbar gelehrten

Arbeiten veranlaſſen konnten. Die Entſtehung derſelben aber

erklaͤrt ſich wohl zur Genuͤge, wenn man bedenkt, daß bei

dem damaligen Zuſtande der Kritik ein in dem geiſtlichen

Rechte bewanderter Mann ſich leicht aufgefordert finden konnte,

das einheimiſche Rechtsbuch nach den ihm gelaͤufigen Namen

zu erklaͤren, wozu die Veranlaßung um ſo naͤher lag, da ſchon

im 14. Jahrhundert ein großer Theil des Sachſenſpiegels an-

tiquirt, und in den Gerichten durch eine neuere Rechtsbildung

erſetzt war. Daß jene Gloſſen practiſch keine irgend wie be-

deutende Geltung erlangt haben koͤnnen, folgt ſchon aus ih-

rem Inhalt, welcher dazu ganz unbrauchbar war, und in ſei-

nen weſentlichen Beſtandtheilen den noch fungirenden Volks-

ſchoͤffen durchaus unzugaͤnglich ſeyn mußte, wenn ſie ſich auch

vielleicht das Werk, namentlich in Verbindung mit dem Texte,

manchmal abſchreiben ließen. Daß aber dennoch ein ſo verkehrtes

*) Staats- und Rechtsgeſch. III. §. 444. Note e.

[33/0045]

Hiſtoriſche Einleitung.

Unternehmen, wie jene Gloſſirung, ſpaͤter von mehren Perſo-

nen fortgeſetzt werden konnte, darf billig nicht Wunder neh-

men, wenn man nur erwaͤgt, daß die Gruͤnde, welche die

erſte Veranlaſſung dazu gaben, auch ſpaͤter noch wirkſam wa-

ren, ja bei dem groͤßeren Andringen des roͤmiſchen Rechts noch

verſtaͤrkt wurden, und daß uͤberhaupt manche literaͤriſche Ar-

beiten des ſpaͤteren Mittelalters bei einer kritiſchen Betrachtung

als rein unſinnig erſcheinen. Ob noch ſpeciell die beſonderen

Verhaͤltniſſe der Mark, in welcher das roͤmiſche Recht fruͤher

als in manchen andern Gegenden zur Geltung kam, auf die

Beſchaffenheit jener Gloſſen einen beſtimmten Einfluß ausge-

uͤbt haben, wage ich nicht zu entſcheiden. Jedenfalls irrt

Eichhorn ganz entſchieden, wenn er aus dieſen fortgeſetzten

Verſuchen, den Sachſenſpiegel aus dem fremden Rechte zu er-

klaͤren, den Schluß zieht, daß das Verſtaͤndniß des einheimi-

ſchen Rechts ſich waͤhrend des 15. Jahrhunderts allmaͤlig ver-

loren habe. Dafuͤr ſpricht außerdem keine einzige Thatſache,

waͤhrend umgekehrt aus den fruͤher ſchon angefuͤhrten Gruͤn-

den das Gegentheil beſtimmt hervorgeht. Gerade bei den

ſaͤchſiſchen Schoͤffen hat ſich, ungeachtet jener Gloſſen, noch

ins 16. Jahrhundert hinein eine umfaſſende und lebendige

Kunde des einheimiſchen Rechts erhalten. Wir haben aus

der erſten Haͤlfte des genannten Jahrhunderts eine Samm-

lung ſaͤchſiſcher Schoͤffenurtheile (abgedruckt im Anhange zu

Zobel’s Ausgabe des ſaͤchſiſchen Weichbildes), welche deutſch-

rechtliche Inſtitute der verſchiedenſten Art mit der groͤßten Si-

cherheit behandeln, und ſelbſt da, wo einzelne roͤmiſchrechtliche

Grundſaͤtze angewandt werden, wie bei der Verjaͤhrung und

bei den Kaufvertraͤgen, dieß mit entſchiedener Klarheit und

Maͤßigung thun. Woher kaͤmen auch wohl die Klagen der

Beſeler, Volksrecht. 3

[34/0046]

Erſtes Kapitel.

Romaniſten aus dem 15. und dem Anfange des 16. Jahr-

hunderts uͤber die geringe Geltung des roͤmiſchen Rechts in

den deutſchen Gerichten und uͤber die Bevorzugung einheimi-

ſcher Gewohnheiten, wenn dieſe nicht in voller Wirkſamkeit

geweſen waͤren?

Es iſt jedoch nicht in Abrede zu ſtellen, daß ſeit dem

14. Jahrhundert der Einfluß der Romaniſten in Deutſchland

anfing ſich geltend zu machen, und daß dieſelben im Laufe

des 16. Jahrhunderts zu einer faſt unumſchraͤnkten Herrſchaft

uͤber das ganze Rechtsweſen gelangten. Faſſen wir die Urſa-

chen dieſer allerdings einzigen Erſcheinung etwas naͤher ins

Auge. Einmal kommt dabei die enge Verbindung zwiſchen

Deutſchland und Italien, wo das roͤmiſche Recht bald feſten

Fuß faßte, in Betracht, — eine Verbindung, welche nament-

lich unter den Luxemburgern wieder erneuert ward, und auf

die Anſichten der hoͤheren Kreiſe in Deutſchland einen großen

Einfluß ausuͤbte. Man fing nun an, in einer der wunderli-

chen Ideenverwirrungen, woran das Mittelalter ſo reich iſt, die

Juſtinianiſche Compilation als das Geſetzeswerk eines roͤmi-

ſchen Kaiſers und zwar eines Vorgaͤngers im deutſchen Reich

anzuſehen, durch welche Auffaſſung freilich die unmittelbare

Geltung des roͤmiſchen Rechts nicht allein, und nicht einmal

vorzugsweiſe herbeigefuͤhrt worden iſt, welche aber doch in Ver-

bindung mit dem Einfluß der Kirche und bei der allgemeinen

Verbreitung von Rechtsbuͤchern, zu denen auch das Corpus

Juris gerechnet werden konnte, weſentlich darauf eingewirkt

hat, namentlich inſofern Kaiſer und Reich dabei betheiligt wa-

ren. Wir wiſſen ja aber auch ſchon, daß einzelne Lehren des

roͤmiſchen Rechts bereits in weltlichen Sachen Anwendung ge-

funden hatten, was denn zur Folge hatte, daß fuͤr deren rich-

[35/0047]

Hiſtoriſche Einleitung.

tige Beurtheilung hie und da einzelne Romaniſten bei der

Rechtspflege betheiligt wurden. Allein darauf beſchraͤnkte ſich

deren Geſchaͤftsthaͤtigkeit nicht. Ihnen kam uͤberhaupt die

Achtung zu Statten, welche ein nach geiſtiger Bildung rin-

gendes Geſchlecht vor den, wenn auch noch ſo rohen Vertre-

tern claſſiſcher Studien hegte, — eine Achtung, welche auch

dadurch nicht beſeitigt werden konnte, daß die geprieſene Weis-

heit der Doctoren zum großen Theile nur im Nachbeten ihrer

waͤlſchen Auctoritaͤten beſtand, und welche gerade bei der halb-

gebildeten vornehmen Welt am Groͤßten geweſen ſeyn wird,

waͤhrend der geſunde Witz und das tiefere Rechtsgefuͤhl des

Volkes den Schein eher von der Wirklichkeit zu unterſcheiden

wußte *). Aber die Romaniſten hatten doch in jedem Fall den

Vorzug einer groͤßeren formellen Geiſtescultur voraus; ſie wa-

ren der lateiniſchen Sprache maͤchtig und hatten ſich uͤber-

haupt den Geſchaͤftsſtyl der damaligen Zeit angeeignet, was

ſie namentlich zu diplomatiſchen Verhandlungen befaͤhigte und

in den Rath der Fuͤrſten und der angeſehenen Corporationen

brachte. Hier vertraten ſie, im Gegenſatz zu den convulſivi-

ſchen Bewegungen einer anarchiſchen Zeit, die Herrſchaft des

*) In mancher Beziehung erinnert das Auftreten der Romaniſten in

Deutſchland an das der Franzoſen oder franzoͤſirten Deutſchen des 17.

und 18. Jahrhunderts. Kaiſer Maximilian I., ein Mann von ſchlichter

deutſcher Art, mochte ſie daher auch nicht, wie Fugger im Ehrenſpiegel

von ihm erzaͤhlt (bei Senckenberg, method. jur. in app. III. §. 54.

Note 6): „Sonſten wie er wol alle Gelehrten lieb und wert hielte, ſo hat

er doch die Juriſten, welche des Bartoli und Baldi Schrifften und Mei-

nungen als ohnfelbare Oracula und Goͤtter-Ausſpruͤche zu allegiren und

anzufuͤhren pflegten, gehaſſet, und nit an ſich leiden moͤgen.“ — Wie

ſchlimm es den Romaniſten zuweilen in den Schoͤffengerichten erging, ſieht

man aus mehren Erzaͤhlungen; vgl. Maurer, Geſchichte des altgerman.

Gerichtsverf. S. 253. 311.

3*

[36/0048]

Erſtes Kapitel.

geſchriebenen Rechts, dem ſie faſt blindlings folgten, und wuß-

ten dadurch nicht bloß das Intereſſe der Maͤchtigen, denen ſie

dienten, zu foͤrdern, ſondern trafen auch mit dem Beſtreben

der Beſſeren zur Herſtellung eines geordneten Rechtszuſtandes

in Deutſchland zuſammen.

Zu dieſem Allen kam nun noch ein aͤußeres Ereigniß

hinzu, welches fuͤr die Aufnah          me des roͤmiſchen Rechts in

Deutſchland von der groͤßten Bedeutung geworden iſt. Im

Jahre 1495 ward das Reichskammergericht eingeſetzt, und da

man ſchon auf die Geltung roͤmiſchrechtlicher Lehren Ruͤckſicht

nehmen mußte und in den Doctoren die gewandteſten Ge-

ſchaͤftsleute hatte, ſo ward die Haͤlfte der Stellen mit dieſen

beſetzt. Nun war es aber nicht anders moͤglich, als daß ſie

gerade in dem hoͤchſten Reichsgerichte bald das allerentſchie-

denſte Uebergewicht bekamen. Denn es ward hier fuͤr ganz

Deutſchland Recht geſprochen. Das deutſche Recht aber hatte,

wie wir geſehen haben, nicht den Charakter eines gemeinen

Nationalrechts gewonnen, ſondern lebte nur in den engeren

Kreiſen, vor Allem in den Genoſſenſchaften und Gemeinden,

welche die allgemeinen Inſtitute, ſchon durch die Einfluͤſſe

der Staͤndeunterſchiede durchbrochen, in ſpecieller Geſtaltung

ausgebildet hatten. Kamen auch noch tief eingreifende Grund-

ſaͤtze und Rechtsformen in einer allgemeinen Geltung vor, ſo

werden ſie als ein gemeinſames, nationales Recht doch nur

ſelten im Bewußtſeyn der Einzelnen lebendig geweſen ſeyn.

Das deutſche Recht trat alſo regelmaͤßig in ſeiner aͤußern

Erſcheinung als ein particulaͤres auf, was bei den heimiſchen

Gerichten, wo die Schoͤffen es ſicher beherrſchten, kein Hinder-

niß der Anwendung war, vor dem entfernten Reichsgerichte

aber die groͤßten Schwierigkeiten bereitete, beſonders wenn die

[37/0049]

Hiſtoriſche Einleitung.

damals geltende Theorie der gelehrten Juriſten von dem Be-

weiſe des Gewohnheitsrechts und der Statute durchgefuͤhrt

wurde. Wie anders aber waren die Doctoren mit ihrem

fremden Rechte geſtellt: ſie zweifelten nicht an ſeiner abſoluten

Geltung, wußten es fuͤr alle Faͤlle applicabel zu machen, und

verachteten die Grundſaͤtze des einheimiſchen Rechts meiſtens als

wunderliche und unvernuͤnftige Irregularitaͤten. Rechnet man

dazu noch ihre Geſchaͤftsgewandheit, ihre Luſt zur Arbeit, durch

Ehrgeiz und Eifer fuͤr die Sache erhoͤht, ſo erklaͤrt es ſich

leicht, wie gerade am Reichskammergerichte zuerſt das roͤmiſche

Recht zur Herrſchaft kam. Waͤre nun Deutſchland mit einem

kraͤftigen politiſchen Nationalleben in die moderne Zeit uͤberge-

treten, und haͤtte auch die formelle Gemeinſchaft in ſeiner

Rechtsbildung wiedergefunden, ſo wuͤrde das roͤmiſche Recht

als ein wenn auch wichtiges Element darin aufgegangen, und

weſentlich germaniſirt ſeyn, eine Entwicklung, worauf noch die

peinliche Halsgerichtsordnung Karl V. hinweiſt. Aber ſo wie

die deutſche Geſchichte ſeit dem 16. Jahrhunderte ſich geſtaltet

hat, war die Herrſchaft der Romaniſten und des roͤmiſchen

Rechts vorlaͤufig entſchieden. Freilich iſt unter allen rein ger-

maniſchen Voͤlkern das deutſche das einzige geweſen, welches

dieſen Entwicklungsproceß hat durchmachen muͤſſen; und daß

gerade der Einfluß des Reichskammergerichts entſcheidend dar-

auf eingewirkt hat, zeigt der Umſtand, daß die ſeiner Compe-

tenz entzogenen deutſchen Voͤlkerſchaften, wie die Schweizer

und die Nordfranzoſen, auch die Herrſchaft des roͤmiſchen

Rechts von ſich fern gehalten haben. Auch mußte natuͤrlich

die Auctoritaͤt des hoͤchſten Gerichtshofs an und fuͤr ſich und

die einſchneidende Wirkung der von ihm im romaniſtiſchen Sinne

erlaſſenen reformatoriſchen Erkenntniſſe von den wichtigſten

[38/0050]

Erſtes Kapitel.

Folgen ſeyn. So wird ſchon im Jahre 1501, alſo ſechs

Jahre nach Errichtung des Reichskammergerichts, in Baiern

eine landſchaftliche Beſchwerde uͤber die zu große Anzahl der

Doctoren in den Hofgerichten dahin beantwortet:

„Item auf den erſten Artikel die Hofgerichte antreffend,

waͤre den Landleuten zu antworten, daß Ew. Gnad. es

der Landleute und Doctoren halben ungefaͤhrlich bis-

her gehalten habe: will es fuͤran auch thun. Daß aber

der Doctoren an den Hofgerichten ſo viel, iſt die Ur-

ſache, nachdem ſie der Rechten mehr, denn die Layen,

verſtaͤndig ſind, daß deſto foͤrmlicher und rechtmaͤßiger

Urtheil geſprochen, und die Leute mit ungebuͤhrlichen

Urtheilen und wann die an das Kammergericht

wuchſen, nicht beſchwert und zu Schaden gebracht

werden.“

Worin die Ungebuͤhrlichkeit der Urtheile beſtanden, wel-

cher die Doctoren gegen den Wunſch und Willen der Bethei-

ligten abhelfen ſollen, iſt nicht ſchwer zu errathen. — Nach

dem Vorbilde des Reichskammergerichts kamen auch die obern

Gerichtshoͤfe der einzelnen deutſchen Laͤnder bald ganz oder

doch zum großen Theil in die Haͤnde der Romaniſten, und da

man ſich nun einmal des roͤmiſchen Rechts nicht mehr erweh-

ren konnte, ſahen ſich die untern Gerichtsſtellen und die Par-

teien fortwaͤhrend genoͤthigt, Rechtsbelehrungen einzuholen, die

man Anfangs gewoͤhnlich nur von einzelnen bewaͤhrten Juri-

ſten, ſpaͤter meiſtens von den juriſtiſchen Facultaͤten ſich geben

ließ. Daraus entwickelte ſich fuͤr die letzteren, welche bis da-

hin geringen Antheil an der deutſchen Rechtsentwicklung ge-

nommen hatten, ihre ſehr wichtige und einflußreiche Stellung

[39/0051]

Hiſtoriſche Einleitung.

als Spruchcollegien; ſie bekamen thatſaͤchlich eine uͤber das

ganze Reich ausgedehnte Jurisdiction, und traten auf gewiſſe

Weiſe an die Stelle der alten Oberhoͤfe, welche vor dem frem-

den Rechte und der neueren Territorialverfaſſung ganz ver-

ſchwanden oder doch ihre eigenthuͤmliche Bedeutung verloren.

Es konnte nun freilich dieſe Aufnahme des roͤmiſchen

Rechts, welches, ſo weit es irgend moͤglich war, in dem gan-

zen Umfange der Juſtinianeiſchen Sammlung als geſchriebenes

Geſetz zur Anwendung gebracht wurde, nicht ohne die gewalt-

ſamſte Erſchuͤtterung des deutſchen Rechtsweſens vor ſich ge-

hen. Die Landesherrn durften ſich noch am Erſten dabei be-

ruhigen, da ihnen durch die auf dem roͤmiſchen Recht gegruͤn-

dete Theorie eine entſchiedene Erweiterung ihrer oͤffentlichen Ge-

walt zugebracht wurde, und ſie, vermoͤge ihrer Stellung, am

Erſten Gelegenheit hatten, die Juriſten fuͤr ihr Intereſſe in

Thaͤtigkeit zu ſetzen. Doch ſtanden dieſe nicht ausſchließlich im

Dienſte der Fuͤrſten; auch die Landſtaͤnde, die Staͤdte und an-

dere Corporationen hielten ſich geſchickte Conſulenten, welche

ihre Angelegenheiten betrieben. Wichtiger noch war es, daß

das Standesrecht des hohen Adels, von einem ſelbſtaͤndigen

Princip beherrſcht, ſchon eine ſo beſtimmte Richtung genom-

men, und im Allgemeinen durch die Autonomie ſich ſchon ſo

befeſtigt hatte, daß es durch das roͤmiſche Recht nicht mehr

bedroht wurde, und man nur darauf bedacht war, eine gewiſſe

aͤußere Uebereinſtimmung zwiſchen beiden nachzuweiſen. Deſto

entſchiedener aber wurden alle uͤbrigen Claſſen der Nation,

außer der Geiſtlichkeit, in ihren hergebrachten Rechtsverhaͤltniſ-

ſen von der Lehre der Romaniſten gefaͤhrdet; Adel, Buͤrger,

Bauern, welche nach der Vaͤter Sitte ihr Recht bewahrt und

ſelbſtaͤndig es gehandhabt hatten, ſahen ſich ploͤtzlich unter die

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Erſtes Kapitel.

Herrſchaft von Geſetzen geſtellt, die ihnen nach Form und In-

halt fremd waren, und deren practiſche Durchfuͤhrung alles

Beſtehende zu erſchuͤttern ſchien. Daher erhob ſich von allen

Seiten eine heftige Oppoſition gegen die Romaniſten, welche

man als die Quelle dieſer Neuerung erkannte. Am Kraͤftig-

ſten ſprach ſich die baieriſche Ritterſchaft 1499 in einer Be-

ſchwerde aus:

In judicibus intolerabilis error. Non enim eli-

guntur judices more antiquo, sed multi juris Ro-

mani professores, pauci magistratus, nobiles at-

que provinciales. — Cum jus municipale servan-

dum sit, et antiquae consuetudines pro legibus

habendae sint, fit, ut multa his contraria fiant,

unde deceptiones, errores et turbae oriuntur. Illi

enim juris professores nostrum morem ignorant,

nec etiam si sciant, illis nostris consuetudinibus

quicquam tribuere volunt.

Aehnliche Klagen wurden, wenn auch gleich erfolglos,

von den Wuͤrtembergiſchen Landſtaͤnden, der unmittelbaren

Reichsritterſchaft in Franken, der Stadt Luͤbeck und von andern

Seiten erhoben; und Ulrich von Hutten, der die Sache von

einem hoͤheren nationalen Standpuncte auffaßte, kaͤmpfte kaum

erbitterter gegen die roͤmiſchen Curtiſanen und Papiſten, als

gegen die Bartoliſten und Rabuliſten, welche dem Volke ſein

gutes Recht und ſeine freie Gerichtsverfaſſung entzoͤgen. Auch

war in der That die Verletzung des materiellen Rechtes nicht

die ſchlimmſte Folge von der Herrſchaft der Romaniſten und

ihrer Lehre; noch hoͤher muß der Nachtheil angeſchlagen wer-

den, daß das Recht, bis dahin im Bewußtſeyn des Volkes

[41/0053]

Hiſtoriſche Einleitung.

lebendig, ihm nun als eine fremde, unheimliche Macht gegen-

uͤber trat, und daß die Rechtspflege aus den Haͤnden der

Schoͤffen in die der ſtudirten Juriſten uͤberging, welche bald

die ganze Noth des roͤmiſch-canoniſchen Proceſſes mit ſeinem

heimlichen, ſchriftlichen Verfahren in die ſonſt offenen deutſchen

Gerichtsſaͤle brachten. Es begann jetzt die Entfremdung des

Volkes von ſeinen eigenſten Angelegenheiten, jene Bevormun-

dung von oben her, welche ſpaͤter, als von den Landſtaͤnden

und den Gemeinden die rechte Kraft und Tuͤchtigkeit gewichen

war, auch auf die Verwaltung ausgedehnt wurde, und das

friſche Leben, welches die Nation noch aus dem Mittelalter in

die neue Zeit heruͤber gebracht hatte, vollends zerſtoͤrte.

Indeſſen wuͤrde es der hiſtoriſchen Unbefangenheit nicht

entſprechen, wenn man die Aufnahme des roͤmiſchen Rechts in

Deutſchland nur von der Schattenſeite betrachten wollte. Es

iſt nicht zu verkennen, daß bei der immer beſtimmter hervor-

tretenden Aufloͤſung der Reichsverfaſſung und dem ſtets uͤber-

maͤchtiger ſich geſtaltenden Particularismus in dem roͤmiſchen

Recht und der ſich daran lehnenden juriſtiſchen Theorie ein

Mittelpunct fuͤr eine gemeinſame deutſche Rechtsbildung ge-

wonnen ward, welche dem uͤppig wuchernden Particularrecht

lange einen feſten Damm entgegengeſetzt hat. Auch trug das

roͤmiſche Recht, eben weil ſeine abſolute Geltung in Anſpruch

genommen wurde, dazu bei, daß die ſchroffen Gegenſaͤtze des

Standerechts ſich mehr ausglichen, und einer mehr einheitli-

chen Entwicklung des Rechts unterthan wurden. Endlich iſt

im roͤmiſchen Recht, trotz ſeiner byzantiniſchen Ueberarbeitung,

noch Vieles von der hohen Kraft und plaſtiſchen Vollendung

der Antike bewahrt worden, welches auf das germaniſche We-

ſen einen heilſamen Einfluß ausgeuͤbt hat. Dieſes Alles haͤtte

[42/0054]

Erſtes Kapitel.

freilich auch erlangt werden koͤnnen, wenn man mit beſonnener

Maͤßigung ſich des fremden Rechts bedient haͤtte, um das ein-

heimiſche darnach zu bilden und formell zu veredeln; die un-

bedingte Reception des vollſtaͤndigen Materials und die Unter-

druͤckung und Verkruͤppelung des eigenen Rechtslebens, welche

nothwendig daraus folgten, bleiben immer ein Nationalungluͤck,

welches der Patriot nur beklagen kann, wenn es auch aus

der Verkettung der Verhaͤltniſſe wie mit Nothwendigkeit her-

vorgegangen ſcheint. Doch bietet auch hier die tiefere Betrach-

tung der geſchichtlichen Entwicklung Troſt und Beruhigung.

Wie bedeutungsvoll auch ein hiſtoriſches Factum auftritt, und

wie nachhaltig ſeine Einwirkung auf die menſchlichen Zuſtaͤnde

erſcheint, ſo bleibt es doch im Laufe der Zeiten nicht in der

urſpruͤnglichen Art gleichmaͤßig wirkſam; ſondern ſelbſt einem

hoͤheren Geſetze dienſtbar, wird es in den allgemeinen Entwick-

lungsproceß hineingezogen, und dadurch beſtimmt und veraͤn-

dert. Dieſe Betrachtung findet auch auf die Reception des

roͤmiſchen Rechts in Deutſchland ihre Anwendung. Dieſelbe

iſt nie eine abgeſchloſſene, zum Stillſtand gekommene That-

ſache geworden; ſie hat in den verſchiedenen Perioden der mo-

dernen deutſchen Rechtsentwicklung eine verſchiedene Bedeutung

gehabt, und namentlich zum einheimiſchen Recht, welches nie

vollſtaͤndig durch ſie iſt uͤberwaͤltigt worden, eine ſchwankende

Stellung eingenommen. Wenn es ſich nun nachweiſen ließe,

daß in der Tiefe des nationalen Lebens noch immer eine ſelb-

ſtaͤndige, ſchoͤpferiſche Kraft thaͤtig geblieben iſt, und daß ſie,

wenn auch unter ſehr wechſelnden Formen und mit oft gerin-

gem Erfolge, doch im Gegenſatze zum fremden Rechte das na-

tionale Element zu vertreten, ja in neuerer Zeit jenem einen

betraͤchtlichen Theil des uſurpirten Gebietes wieder zu entrei-

[43/0055]

Hiſtoriſche Einleitung.

ßen vermocht hat; ſo wuͤrde daraus die wichtigſte Folgerung

abzuleiten ſeyn. Denn die Herrſchaft des roͤmiſchen

Rechts wuͤrde ſich dann nur als eine Epiſode in

der deutſchen Rechtsgeſchichte darſtellen, und nicht

unbegruͤndet erſchiene die Hoffnung, daß allmaͤlig jener Kampf

der widerſtrebenden Elemente zu deren organiſcher Verbindung

fuͤhren, und dieſe wieder von einem weſentlichen, nationalen

Princip werde beherrſcht werden. Die Loͤſung dieſer Frage

haͤngt von der Zukunft, und namentlich von der weiteren po-

litiſchen Geſtaltung Deutſchlands ab; aber daß die Art, wie

man die Reception des roͤmiſchen Rechts verſtanden hat, nicht

immer dieſelbe geweſen, ſondern zu den verſchiedenen Zeiten

nach den angedeuteten Momenten gewechſelt hat, ſoll hier in

der Kuͤrze gezeigt werden.

Die Juriſten, welche zuerſt als die Verbreiter des roͤmi-

ſchen Rechts in Deutſchland auftraten, hatten ihre Kenntniß

von demſelben nicht unmittelbar aus den Quellen geſchoͤpft;

ſie ſchloſſen ſich vielmehr, inſofern ſie nicht bloß das geiſtliche

Recht ins Auge faßten, genau an die Lehre der Italiener, der

Gloſſatoren und deren Nachfolger, namentlich des Bartolus

und Baldus, an. Bei dieſen glaubte man das ſichere Ergeb-

niß einer gelehrten, uͤber alle Kritik erhabenen Quellenfor-

ſchung zu finden, und kam dadurch in den Beſitz eines Ma-

terials, welches fuͤr die Verhaͤltniſſe des modernen Lebens ſchon

einigermaaßen zugerichtet war. Fuͤr dieſe juriſtiſche Gemein-

lehre, deren Kern nur das roͤmiſche Recht bildete, ward denn

die unbedingte Geltung in Anſpruch genommen. So blieb

es, bis im Anfange des 16. Jahrhunderts die Deutſchen und

beſonders Ulrich Zaſius ſelbſtaͤndige Studien im roͤmiſchen

Rechte machten. Mit dieſem ausgezeichneten Manne, der eine

[44/0056]

Erſtes Kapitel.

elegante claſſiſche Bildung mit einem großen practiſchen Ta-

lente verband, beginnt eigentlich die moderne deutſche Rechts-

wiſſenſchaft; er hat durch Vorleſungen, Schriften, Rechtsbe-

lehrungen und legislative Arbeiten einen außerordentlichen Ein-

fluß ausgeuͤbt, und noch ſpaͤter durch ſeine Schuͤler die Ent-

wicklung der deutſchen Jurisprudenz beherrſcht. Bei Zaſius

nun iſt das reine roͤmiſche Recht die ratio, die abſolute Ver-

nunft; die Meinungen der Juriſten gelten ihm nur etwas,

inſofern ſie eine quellenmaͤßige Begruͤndung haben, und

Statute und Gewohnheiten duͤrfen jener ratio wenigſtens

nicht widerſprechen, wenn ſie uͤberhaupt zur Anwendung

kommen ſollen *). Daher iſt nur das roͤmiſche Recht ein

jus commune, welches unbedingt zur Anwendung zu brin-

gen iſt, — etwa mit den an ſich nicht tief eingreifenden

Modificationen der Reichsgeſetze und des canoniſchen Rechts,

deſſen genauere Beruͤckſichtigung aber den Decretiſten uͤber-

laſſen blieb; nur dem longobardiſchen Lehenrechte, dem man

eine dem roͤmiſchen Recht faſt gleichſtehende Bedeutung bei-

legte, ward fuͤr ſeine Sphaͤre eine ſelbſtaͤndige Bewegung

eingeraͤumt. Doch konnte dieſe ſtrenge Theorie in der Praxis

*) Ueber die beſchraͤnkte Geltung der einheimiſchen Rechtsinſtitute

ſpricht Zaſius ſich an mehren Orten aus, z. B. in novum Dig. de V.

O. L. 61. cap. II. concl. 1. und cap. III. concl. 1. Die Bedeutung,

welche er der communis DD. opinio beilegt, erhellt am beſtimmteſten

aus einem Briefe an Bonif. Amerbach vom Jahre 1530 (in opp. tom. V.

p. 183): Dominus Montaigne, vir doctus, tractavit, ut videre po-

tui, locum illum substitutionis, de quo nuper nonnulla, in utram-

que partem satis eleganter, nisi quod pro utraque parte potius te-

stes, id est consilia et scriptores, quam textus alleget. Perpetua

pestis in jure nostro, quod textibus non possumus, id testibus

velle convincere. Mihi nec Accursius curae est nec Bartolus

nec Baldus, nisi quatenus jure fundati sunt. —

[45/0057]

Hiſtoriſche Einleitung.

nicht conſequent durchgefuͤhrt werden, da es unmoͤglich war,

das roͤmiſche Recht ohne irgend eine Vermittlung und Verar-

beitung auf die modernen Lebensverhaͤltniſſe anzuwenden. Da-

her iſt ſelbſt Zaſius in ſeinen legislativen Arbeiten zuweilen

genoͤthigt geweſen, ein dem roͤmiſchen Recht widerſtrebendes

Inſtitut anzuerkennen, und außerdem war er, ganz nach Art

der ſpaͤteren italieniſchen Juriſten, bemuͤht, mit einem großen

Aufwande von Scharfſinn und Gelehrſamkeit, aber freilich mit

geringer Kritik, die Geltung deutſchrechtlicher Inſtitute nach

roͤmiſchen Analogien zu rechtfertigen; ja er kommt einmal, faſt

unwillkuͤhrlich, zu dem Bekenntniß, das Rechtsleben ſey rei-

cher, als der Buchſtabe des Geſetzes (des roͤmiſchen Rechts);

es finde ſich einiges Anomaliſche, was ſchwer darunter zu be-

faſſen *).

Dieſe Auffaſſung des jus commune, welche wir bei

Zaſius finden, ward nun nach ihm beſtimmter dahin ausge-

bildet, daß ein Gewohnheitsrecht und ein Statut, wenn ſie

nur guͤltig zu beweiſen waͤren, unabhaͤngig vom gemeinen

Recht eine ſelbſtaͤndige Geltung in Anſpruch nehmen koͤnnten.

Mit dem Beweiſe des Gewohnheitsrechts hatte es nun freilich

bei der herrſchenden Theorie uͤber deſſen Erforderniſſe, ſeine

großen Schwierigkeiten; aber deſto eifriger bediente man ſich

des jus statuendi, um einen Theil des einheimiſchen Rechts

feſtzuſtellen und vor der Mißhandlung durch die Romaniſten

zu retten. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts entwickelte

die Territorialgeſetzgebung, welche von dem Landesherrn unter

Zuziehung der Staͤnde ausging, ſo wie die Autonomie der

*) U. Zasius, sing. respons. lib. II. cap. 7. in opp. tom. V.

pag. 36.

[46/0058]

Erſtes Kapitel.

freigeſtellten Corporationen eine große Thaͤtigkeit, um nament-

lich die wichtigſten deutſchrechtlichen Principien uͤber das Fa-

milienrecht, mit Einſchluß eines Theils des Erbrechts, das

Recht des Grundbeſitzes und den Formalismus der Rechtsge-

ſchaͤfte zu bewahren, und in ein beſtimmtes Verhaͤltniß zum

gemeinen Rechte zu ſetzen. Die legislativen Arbeiten (in de-

nen ſich zum Theil die Kraft der großen deutſchen Reforma-

tionszeit klar abſpiegelt, wenn ſie auch den Beduͤrfniſſen der

Gegenwart und den Anſpruͤchen, welche dieſe an die Geſetzge-

bung ſtellt, nicht mehr entſprechen), lagen nun freilich vor-

zugsweiſe wieder in den Haͤnden der Romaniſten, ohne die

man ſich nicht mehr auf dem Rechtsgebiete bewegen konnte,

und es iſt durch ſie auch manches fremdartige, manche unor-

ganiſche Bildung hineingekommen; aber ſie waren hier doch

mehr auf das unmittelbare Beduͤrfniß des Lebens und den

Willen der Betheiligten hingewieſen, und im Ganzen mit der

Anerkennung deutſchrechtlicher Grundſaͤtze weniger ſchwierig,

als da, wo es ſich zunaͤchſt um das gemeine Recht handelte.

Freilich ſtellte man nun die Regel auf, daß die Statute moͤg-

lichſt nach dem letzteren zu interpretiren ſeyen, und eroͤffnete

ſo dem roͤmiſchen Recht eine breite Pforte, durch welche es

auch auf dieſes Gebiet eindringen konnte. Aber der Buch-

ſtabe des Statuts blieb doch, und fand, wenigſtens bei den

zunaͤchſt competenten Gerichten, in dem Volksleben und deſſen

Einwirkung eine beſtimmte Stuͤtze. Ueberhaupt aber faßte die

ſtrenge Anſicht des Zaſius von der Unverbindlichkeit der ge-

meinen Meinung der Juriſten keinen feſten Fuß; man er-

kannte bald entſchieden dieſe Form der Rechtsbildung wieder

an, welche ſich, namentlich als die hoͤheren Gerichte einen be-

deutenderen Antheil daran gewannen, als ein wahres Juriſten-

[47/0059]

Hiſtoriſche Einleitung.

recht herausſtellte, und, wenn auch nicht dem Volksbeduͤrfniß

entſprechend, dem roͤmiſchen Recht doch Manches von ſeinem

ſchroffen Gegenſatz gegen ſo viele deutſche Lebensverhaͤltniſſe

entzog. Dazu kam nun aber noch ein neues Moment der

Entwicklung. Das alte Volksrecht, welches nie ganz beſeitigt

werden konnte, trat auch da, wo es nicht in Geſetzesform feſt-

geſtellt war, mit einer gewiſſen Unabhaͤngigkeit auf und ver-

langte eine Anerkennung, welche die Juriſten demſelben nur

gegen den civilproceßmaͤßigen Beweis ſeiner gewohnheitsrecht-

lichen Geltung gewaͤhren wollten, die aber namentlich in den

Untergerichten, welche oft noch mit unſtudirten Richtern beſetzt

waren, und uͤberhaupt dem Volksleben naͤher ſtanden, meiſtens

leichter zu erlangen war. In dieſen Erſcheinungen zeigte ſich

denn zuweilen eine gemeinſame, nationale Rechtsbildung thaͤ-

tig, welche den Juriſten freilich unverſtaͤndlich war, die ſie

aber doch ſeit dem Ende des 16. Jahrhunderts inſofern an-

erkannten, als ſie die Moͤglichkeit allgemeiner Gewohnheiten

zugaben, und fuͤr deren Darlegung ſich auch wohl mit dem

Zeugniß angeſehener Schriftſteller, ſtatt eines formellen Bewei-

ſes, genuͤgen ließen, wodurch einzelne jener Rechtsgrundſaͤtze

nach und nach dem Juriſtenrecht einverleibt wurden. Beſon-

ders wichtig aber war es, daß zur angegebenen Zeit in den

ſaͤchſiſchen Gerichtshoͤfen, wo der Sachſenſpiegel noch einen ge-

wiſſen aͤußern Anhalt fuͤr die Bewahrung deutſchrechtlicher In-

ſtitute bot, ein ſogenanntes jus commune saxonicum aus-

gebildet ward, welches noch vor dem gemeinen Reichsrecht zur

Anwendung kommen ſollte. Die wiſſenſchaftliche Behand-

lung, welche dieſes ſaͤchſiſche Particularrecht fand, und uͤber-

haupt die große Auctoritaͤt der ſaͤchſiſchen Juriſten, welche laͤn-

gere Zeit die Praxis eines betraͤchtlichen Theils von Deutſch-

[48/0060]

Erſtes Kapitel.

land jetzt wieder, wie fruͤher durch den Sachſenſpiegel, be-

herrſchten, haben dem gemeinen Sachſenrecht eine außerordent-

liche Bedeutung verſchafft, und daſſelbe zu dem Kern gemacht,

an den ſich ſpaͤter das jus commune germanicum (jus

germanicum privatum) anſetzte.

Waͤhrend ſo dem roͤmiſchen Recht und deſſen abſoluter

Geltung gegenuͤber das einheimiſche Recht wieder auftauchte,

und zwar unverkennbar von dem noch in der Tiefe der Na-

tion wurzelnden Volksrechte getragen, brach im Laufe des 17.

Jahrhunderts in Deutſchland jener ſchreckliche Buͤrgerkrieg aus,

welcher die beſten Kraͤfte zerſtoͤrte, und namentlich die letzten

Traͤger der deutſchen Freiheit, die Ritterſchaft und die Staͤdte,

in ihrem Wohlſtande und ihrer politiſchen Bedeutung unend-

lich zuruͤckſetzte. Die nationale Entwicklung Deutſchlands ward

nun fuͤr lange Zeit gelaͤhmt; an die Stelle eines friſchen

Volkslebens, das ſich wenigſtens noch in einzelnen Territorien

und Communen erhalten hatte, trat das Zeitalter Ludwig XIV.

mit ſeiner Despotie und ſeiner polizeilichen Bevormundung des

Volkes, freilich auch mit der Entfaltung des feudaliſtiſch ge-

gliederten ſtaͤndiſchen Weſens zur modernen Staatseinheit,

welche vor Allem in dem großen Churfuͤrſten von Branden-

burg und ſeinen Nachfolgern eine bewußte Vertretung fand.

Dadurch ward freilich fuͤr die Geſetzgebung ein groͤßerer Ein-

fluß begruͤndet; aber die mehr innerliche Ausbildung des Rechts

im Gegenſatz zum beſchraͤnkten Romanismus ſchien doch we-

ſentlich bedroht zu ſeyn. Wenn ſie dennoch ihren ſicheren

Fortgang genommen hat, ſo iſt dieß vor Allem die Folge ei-

ner freieren und tuͤchtigeren Richtung in der Jurisprudenz

ſelbſt geweſen, indem die Wiſſenſchaft auch hier ihre ſelbſtaͤn-

dige Kraft bewaͤhrte. Damit ſoll freilich nicht geſagt ſeyn,

[49/0061]

Hiſtoriſche Einleitung.

daß ſich der Juriſtenſtand ploͤtzlich und allgemein uͤber ſeinen

beſchraͤnkten Standpunct erhoben, und einen hoͤheren Schwung

bekommen habe. Nein, die große Maſſe ſchaffte wie fruͤher

ſo vor ſich hin: das roͤmiſche Recht gab zum groͤßten Theile

die Rechtsnormen her, inſofern es nicht in den ſchon ange-

fuͤhrten Modificationen des gemeinen Rechts eine Beſchraͤnkung

fand, und auch die Statute wurden noch vorzugsweiſe dar-

nach interpretirt. Daher war es ſchon ein kuͤhner Schritt

von Mevius, der uͤberhaupt einer der genialſten deutſchen Ju-

riſten war, daß er es in einer wichtigen Lehre wagte, die Praͤ-

ſumtion gegen das roͤmiſche Recht zu Gunſten einer allgemei-

nen deutſchen Gewohnheit zu ſtellen, und dem, der ihre Gel-

tung leugne, den Beweis aufzulegen. Denn ſonſt ſprach man

allgemein dem roͤmiſchen Recht die fundata intentio zu, und

war hoͤchſtens in der publiciſtiſchen Literatur fuͤr das eigent-

liche Staatsrecht (nicht fuͤr das oͤffentliche Recht uͤberhaupt)

mehr geneigt, dem einheimiſchen Recht ſeine ſelbſtaͤndige Be-

deutung einzuraͤumen. Aber auch Mevius, wie ſeine Vorgaͤn-

ger, die Mynſinger, Fichard, Gaill, Piſtoris u. ſ. w., waren

nur bemuͤht, das roͤmiſche Recht in einen gewiſſen Einklang

mit den beſtehenden Lebensverhaͤltniſſen zu bringen, und gin-

gen nicht uͤber die Beachtung der juriſtiſchen Praxis und uͤber

das in den Statuten und Gewohnheiten ausgeſprochene vater-

laͤndiſche Recht hinaus. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts,

alſo gleichzeitig mit Mevius, machte ſich aber eine neue Be-

wegung in der deutſchen Jurisprudenz geltend, welche, ſich in

eine zwiefache Richtung zerſpaltend, doch in dem Puncte zu-

ſammen hielt, daß man dem roͤmiſchen Recht in Beziehung

auf ſeinen innern Werth und auf ſeine Bedeutung fuͤr die

Gegenwart feſter ins Auge ſah, und uͤberhaupt eine freiere

Beſeler, Volksrecht. 4

[50/0062]

Erſtes Kapitel.

Betrachtung des Rechtsſtoffs wagte. Dieſe Richtung ſpricht

ſich eines Theils in der philoſophiſchen Rechtslehre aus, wie

ſie von Grotius und Pufendorf begruͤndet, durch die deutſche

Literatur ging, in die ſpaͤtere Schulphiloſophie umſchlug, und

dann durch das Kantiſche Naturrecht zu der neueren Rechts-

philoſophie ſich entwickelte. Practiſch hat ſie freilich vorzugs-

weiſe nur auf das Voͤlkerrecht und das Criminalrecht einge-

wirkt, welches letztere wegen ſeiner rein menſchlichen Beziehun-

gen und wegen des pſychologiſchen Intereſſes von allen Rechts-

theilen am Erſten dem unmittelbaren Einfluß der Philoſophie

unterworfen worden iſt. Von Thomaſius bis auf Feuerbach

iſt die Reform des Criminalrechts daher hauptſaͤchlich von die-

ſer Seite ausgegangen. Die andere Richtung, von der Phi-

loſophie im Allgemeinen unterſtuͤtzt, hat doch einen ganz an-

dern Weg verfolgt: es iſt der der hiſtoriſch-nationalen Rechts-

entwicklung. Als naͤmlich Hermann Conring erſt das Fun-

dament zu einer deutſchen Rechtsgeſchichte gelegt, und die aͤl-

teren deutſchen Rechtsquellen, fruͤher faſt nur in einem anti-

quariſchen Intereſſe edirt und bearbeitet, der juriſtiſchen Be-

trachtung eroͤffnet hatte, begnuͤgte ſich eine Anzahl der bedeu-

tendſten Juriſten nicht mehr damit das Studium des einhei-

miſchen Rechts bloß auf die einzelnen noch geltenden Landes-

rechte und Statute zu beſchraͤnken, und ſo ein dem roͤmiſchen

Recht doch ſehr untergeordnetes deutſchrechtliches Material zu

cultiviren; ſondern ſie zogen nun auch das aͤltere deutſche Recht,

wie es vor der Aufnahme des roͤmiſchen beſtanden hatte, in

den Kreis ihrer Forſchungen, und eroͤffneten ſich auf dieſe

Weiſe ein ganz neues Feld, in welchem die noch practiſchen

deutſchrechtlichen Inſtitute zum großen Theile ihre Wurzel

hatten. Ausgezeichnete Maͤnner, wie Schilter und Sencken-

[51/0063]

Hiſtoriſche Einleitung.

berg und namentlich viele der in Halle und ſpaͤter in Goͤttin-

gen lehrenden Juriſten verfolgten dieſe zuerſt von Conring be-

tretene Bahn. Sie waren freilich bei der Anwendung dieſer

Richtung auf die Praxis noch vielfach von dem in anerkann-

ter Wirkſamkeit beſtehenden roͤmiſchen Rechte gehemmt; die

von ihnen behandelten deutſchrechtlichen Lehren tragen die deut-

lichen Spuren der Schwaͤche an ſich, welche bei der noch un-

entwickelten germaniſtiſchen Methode und dem beſchraͤnkten Kreis

der Forſchungen unvermeidlich war. Dazu kam der traurige

Zuſtand des deutſchen Gerichtsweſens, welches durch die Reichs-

geſetzgebung nur von ſeinen alleraͤrgſten Auswuͤchſen befreit

ward; uͤberhaupt war die ganze Zeit einer nationalen Entwick-

lung durchaus unguͤnſtig, und ließ jenen patriotiſchen Beſtre-

bungen doch nur, fern von der friſchen Luft eines bewegten

Volkslebens, in der Schule einen gewiſſen Spielraum. So

konnte es geſchehen, daß man nicht einmal das im Volke noch

bewahrte einheimiſche Recht, und noch weniger die neu ſich

bildenden Rechtsinſtitute gehoͤrig zu erfaſſen vermochte, und

daß man ſich faſt ausſchließlich mit der Ergruͤndung des Pri-

vatrechts beſchaͤftigte, ohne namentlich an eine Reform des

Proceſſes zu denken. Aber nichts deſto weniger haben ſich

dieſe aͤlteren Germaniſten ein großes Verdienſt erworben. Es

bildete ſich doch neben der romaniſirenden Rechtsgelehrſamkeit

eine deutſche Jurisprudenz heran, welche fuͤr ihre Lehre die

Bedeutung des gemeinen ſubſidiaͤren Rechts mit Erfolg in An-

ſpruch nahm; auch in die Behandlung des particulaͤren Rechts,

fuͤr deſſen Interpretation nun eine neue reiche Quelle eroͤffnet

war, kam ein friſcher Geiſt; und was das Wichtigſte iſt, es

ward fuͤr ſpaͤtere, einer nationalen Erhebung guͤnſtigere Zeiten

und fuͤr eine freiere Geſtaltung des Rechtslebens eine bedeu-

4*

[52/0064]

Erſtes Kapitel.

tende Vorarbeit gethan, an welche ſich umfaſſendere Beſtre-

bungen anſchließen konnten. Es fehlte jenen Maͤnnern der

hoͤhere, nationale Impuls, die ſtaatsmaͤnniſche Weihe, welche

J. Moͤſer ſo einzig groß erſcheinen laſſen; aber daß uns die

Romaniſten nicht ganz eingeſponnen haben, daß ſich ein Kern

echtdeutſchen Rechtes wieder zum wiſſenſchaftlichen Bewußtſeyn

herausbilden konnte, iſt doch vorzugsweiſe ihr Verdienſt.

In dem Verhaͤltniß nun, wie dieſe germaniſtiſche Rich-

tung an Boden gewann, mußte das roͤmiſche Recht daran

einbuͤßen. Es verlor ſeine Herrſchaft uͤber die Statute, und

da, wo es ſonſt unbedingt zur Anwendung gekommen war,

auf dem Gebiete des gemeinen Rechts, mußte es das deutſche

als ebenbuͤrtigen Genoſſen neben ſich anerkennen. Aber die

formelle Geltung des Corpus Juris, welches man als eine

eigentliche lex scripta zu behandeln gewohnt geweſen war,

ward unter den Haͤnden der Romaniſten ſelbſt immer ſchwan-

kender, je mehr die ſelbſtaͤndige Bedeutung des Juriſtenrechts

zum wiſſenſchaftlichen Bewußtſeyn kam. Es iſt daher auch

eine ganz conſequente Auffaſſung, welche gewiß immermehr An-

erkennung finden wird, wenn Kierulff den Inhalt des Corpus

Juris nur als ein Element des jetzt geltenden Rechtsſyſtems

anerkennt, welches nicht deswegen, weil es geſchrieben ſteht,

ſondern deswegen, weil es in die moderne Rechtsbildung uͤber-

gegangen iſt, auf eine poſitive Geltung Anſpruch machen kann;

und nicht weniger bezeichnend iſt es, wenn v. Savigny das

ganze oͤffentliche Recht der Auctoritaͤt des roͤmiſchen Rechts

entziehen will. Vergleicht man mit ſolchen Erſcheinungen die

Lehre der Romaniſten zur Zeit, als die Reception des fremden

Rechts in Deutſchland begruͤndet ward, ſo ſtellt ſich recht deut-

lich heraus, wie verſchieden der Einfluß iſt, den dieſes Ereig-

[53/0065]

Hiſtoriſche Einleitung.

niß fruͤher gehabt hat und den es auf das heutige deutſche

Recht ausuͤbt.

Wenn aber auch in dieſem Entwicklungsproceß ein all-

maͤliger Fortſchritt nicht zu verkennen iſt, ſo ward doch das

Beſſere dadurch mehr vorbereitet, als unmittelbar begruͤndet.

Der unſichere und ſchwankende Zuſtand des gemeinen Rechts,

in welchem das fremde Element noch immer uͤberwiegend war,

und das Volksrecht noch ſo wenig Anerkennung fand; die

regelloſe und zum Theil ganz willkuͤhrliche Mannichfaltigkeit

der Landrechte und Statute; der Mangel einer organiſchen

Durchbildung, welche ſowohl die verſchiedenen Theile des ge-

meinen Rechts als auch dieſes und das particulaͤre zu einer

innern Einheit verbunden haͤtte; die Beſchaffenheit des bloß

auf aͤußerliche Garantien gebauten, unerhoͤrt ſchleppenden und

koſtſpieligen Proceſſes, — das waren Gebrechen, welche dem

deutſchen Rechtsweſen noch immer anhingen, und deren Be-

ſeitigung theilweiſe wenigſtens nur von dem energiſchen Ein-

greifen der Geſetzgebung erwartet werden konnte. Dieſe war

nun faſt ausſchließlich in die Haͤnde der Landesherrn gekom-

men, da von dem Reiche kein tuͤchtiges, gemeinſames Werk

mehr ausgehen konnte, die Landſtaͤnde immer mehr an Bedeu-

tung verloren und die eigenthuͤmliche Wirkſamkeit der Autono-

mie mit der Freiheit und Selbſtaͤndigkeit den Corporationen

faſt ganz zuruͤcktrat. In der Landeshoheit concentrirte ſich

uͤberhaupt eine große Fuͤlle oͤffentlicher Gewalt, welche in dem

weſtphaͤliſchen Frieden eine ſtaatsrechtliche Anerkennung gefun-

den hatte; ſie naͤherte ſich, wenigſtens in den groͤßeren Terri-

torien, immermehr dem Begriff einer einheitlichen Staatsge-

walt, womit in Verbindung ſtand, daß die fruͤhere landesherr-

liche Dienerſchaft, welche das beſondere Intereſſe des Landes-

[54/0066]

Erſtes Kapitel.

herrn und ſeines Hauſes wahrzunehmen hatte, zur Bedeutung

der fuͤr das gemeine Wohl thaͤtigen Staatsbeamten ſich erhob.

Aber die Ausbildung der Volksfreiheit hielt mit der des Staats-

princips keinen gleichen Schritt. Es ward nun von oben her

bis in das kleinſte Detail der Verwaltung herunter regiert

und adminiſtrirt, bald unter dem Titel der fuͤrſtlich-obrigkeit-

lichen Gewalt oder der allgemeinen Landespolizei, bald in Folge

der neu ausgebildeten Lehre von den Regalien und uͤberhaupt

im fiscaliſchen Intereſſe der Finanz, fuͤr welche an vielen Or-

ten die ſtrenge Sonderung des Domanii von dem Steuerwe-

ſen nicht mehr feſtgehalten ward. Auf dieſe Weiſe bekam je-

des deutſche Land einen ganzen Codex einzelner landesherrli-

cher Verordnungen, welche ſich an keine ſtrenge Rechtsentwick-

lung bindend oft mehr den Charakter von Inſtructionen fuͤr

die Beamten, als von foͤrmlich publicirten Geſetzen hatten. Fuͤr

das eigentliche Rechtsweſen ſelbſt geſchah wenig, die reformir-

ten Land- und Stadtrechte, an denen das 16. Jahrhundert

ſo reich war, werden ſeit dem Ausbruch des 30jaͤhrigen Krie-

ges ſeltner, und verlieren auch an Bedeutung und Originali-

taͤt. Erſt im Laufe des 18. Jahrhunderts zeigt ſich wieder

eine groͤßere Thaͤtigkeit auf dieſem Gebiete, welche darauf ge-

richtet war, die Fortſchritte der Bildung und der Staatsent-

wicklung auch in der Geſetzgebung zu bethaͤtigen. Und nicht

bloß auf die Entfernung einzelner Mißbraͤuche war man be-

dacht; man beſchaͤftigte ſich ſchon mit der zeitgemaͤßen Feſt-

ſtellung des geſammten geltenden Rechts, worauf das practiſche

Beduͤrfniß, die germaniſtiſche Tendenz der Juriſten und die

naturrechtliche Betrachtungsweiſe der damaligen Zeit hindraͤng-

ten. In Baiern ward ſchon ein Theil des gemeinrechtlichen

Usus modernus verarbeitet und in das Geſetzbuch aufgenom-

[55/0067]

Hiſtoriſche Einleitung.

men; doch fand dieſe Richtung erſt in der preußiſchen Codifi-

cation eine vollſtaͤndige und conſequente Vertretung.

Preußen hatte ſich an der Stelle von Churſachſen an die

Spitze des proteſtantiſchen Deutſchlands geſtellt, und fand auch

an Braunſchweig-Luͤneburg keinen gefaͤhrlichen Nebenbuhler

mehr, ſeitdem das dortige Churhaus nach England verpflanzt

worden war. Es hatte unter ſeinen großen Fuͤrſten zuerſt eine

energiſche Regierung in Deutſchland erhalten, und ſah dieſe

im Sinne des modernen Staates conſequent ausgebildet. Frie-

drich der Große vertrat dieſes Princip mit der ganzen Kraft

ſeiner Perſoͤnlichkeit nach allen Seiten hin; von ihm ging

auch die Idee der Codification des preußiſchen Rechts aus,

welches ſeinem ganzen Umfange nach geſetzlich feſtgeſtellt wer-

den, und in ſelbſtaͤndiger Haltung von dem gemeinen deutſchen

Recht abgeſchloſſen bleiben ſollte. Dieſelbe Tendenz verfolgte

gleichzeitig Oeſterreich, und hat ſie ebenfalls realiſirt. So ent-

zogen ſich die beiden erſten Staaten Deutſchlands dem unmit-

telbaren Einfluß der gemeinſamen deutſchen Rechtsentwicklung,

— ein Ereigniß, welches in den aͤußern Verhaͤltniſſen der da-

maligen Zeit begruͤndet ſcheinen mag, aber doch als ein großes

nationales Ungluͤck betrachtet werden muß. Im Uebrigen iſt

freilich nicht zu verkennen, daß durch dieſe großen legislativen

Arbeiten, neben welchen noch die franzoͤſiſche Geſetzgebung ihre

ſelbſtaͤndige Bedeutung in Anſpruch nimmt, das geſammte

moderne Rechtsweſen und namentlich auch das deutſche außer-

ordentlich gefoͤrdert und gehoben iſt. Selbſt das preußiſche

Landrecht, welches, als das erſte dieſer Werke, mit vielen ei-

genthuͤmlichen Schwierigkeiten zu kaͤmpfen hatte, verdient die

groͤßte Anerkennung; die Maͤngel, mit denen es behaftet iſt,

ſind vorzugsweiſe ſolche, welche in den Verhaͤltniſſen, unter

[56/0068]

Erſtes Kapitel.

denen es entſtanden, ihre Veranlaſſung gehabt haben. Die

Idee, welche den Staat Friedrich des Großen beherrſchte, ſchloß

jede freie Bewegung eines volksthuͤmlichen Rechtslebens aus;

auch die ſelbſtaͤndige Haltung der Jurisprudenz, der man die

beſtehende Rechtsunſicherheit Schuld gab, ſollte gebrochen wer-

den; die kluge Berechnung des Zweckmaͤßigen war der leitende

Gedanke der Arbeit, die ſich gerade da, wo es darauf ankam,

etwas Neues zu ſchaffen, wie in der Gerichtsordnung, am

Wenigſten bewaͤhrt hat. Dazu kommt, daß bei der Schwaͤche

der damaligen Theorie manche, namentlich deutſchrechtliche In-

ſtitute nur unvollkommen behandelt ſind, und daß man ſich

uͤber die Bedeutung der Provinzialrechte und uͤber deren Stel-

lung zum Landrechte nicht ganz klar war. Wie hoch man

daher auch den Werth dieſer Geſetzgebung anſchlagen mag:

die gruͤndliche Durcharbeitung des Materials, den verſtaͤndigen,

practiſchen Sinn, die humane und freiſinnige Feſtſtellung wich-

tiger Lehren; — wahr bleibt doch, daß die moderne deutſche

Rechtsentwicklung darin auch fuͤr Preußen noch nicht ihre le-

gislative Erledigung gefunden hat.

Aber waͤre es denn nicht das Beſte, ſofort Hand anzu-

legen, und fuͤr ganz Deutſchland ein gemeinſames Geſetzbuch

abzufaſſen? Es ſind nun bald 30 Jahre verfloſſen, ſeitdem

Thibaut zu einem ſolchen Werke aufforderte. Damals waren

die oͤffentlichen Angelegenheiten Deutſchlands noch nicht auf

dem Wiener Congreſſe geordnet, und es war die Hoffnung

auf eine groͤßere politiſche Einheit des Vaterlandes noch bei

vielen lebendig; die Moͤglichkeit, daß ſich ein Organ fuͤr eine

gemeinſame Geſetzgebung werde herſtellen laſſen, lag noch vor,

und in den zerruͤtteten Rechtszuſtaͤnden ſchien fuͤr die im kraͤf-

tigen Aufſchwung begriffene Nation eine dringende Aufforde-

[57/0069]

Hiſtoriſche Einleitung.

rung zur Begruͤndung eines großartigen Neubaus gegeben.

Allein die Ereigniſſe zeigten bald, daß ſchon aus allgemeinen

politiſchen Gruͤnden jener Plan nicht werde durchgefuͤhrt wer-

den koͤnnen, und ſo nahm der Streit uͤber deſſen Werth und

Bedeutung, der auch nur mit beſonderer Ruͤckſicht auf das

buͤrgerliche Recht gefuͤhrt ward, den Charakter einer wiſſen-

ſchaftlichen Eroͤrterung an. Was aber damals nicht erreich-

bar war, das iſt es jetzt noch weniger, und es muͤſſen beſon-

ders guͤnſtige Verhaͤltniſſe eintreten, wenn es zu einer formel-

len Einheit in der deutſchen Geſetzgebung kommen ſoll. Viel-

leicht wird auch hierzu der große deutſche Handelsverein in

ſeiner weiteren Entwicklung die Veranlaſſung geben. Wie die

Sachen jetzt ſtehen, iſt zunaͤchſt nur zu wuͤnſchen, daß die Ge-

ſetzgebung der einzelnen deutſchen Staaten ſich moͤglichſt gleich-

foͤrmig und im Sinne des nationalen Fortſchritts ausbilde.

Dazu wird es aber vor Allem der kraͤftigeren Entfaltung eines

gemeinſamen Volkslebens und der Wiſſenſchaft des gemeinen

Rechts in ihrer hoͤheren Entwicklung beduͤrfen; das ſind die

beiden Maͤchte, in denen auch jede ſpaͤtere, tiefer greifende Re-

form des deutſchen Rechtsweſens ihre beſten Stuͤtzen finden

wird.

[[58]/0070]

Zweites Kapitel.

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

Es iſt ein großes Verdienſt, welches v. Savigny ſich nicht

bloß um die deutſche Rechtswiſſenſchaft erworben, daß er zu-

erſt die Entſtehung des Rechts in ihrer tieferen geſchichtlichen

Begruͤndung dargeſtellt, und, was ſchon von Anderen mehr

oder weniger klar erkannt worden war, zum wiſſenſchaftlichen

Bewußtſeyn herausgebildet hat. Auch iſt der Einfluß ſeiner

Lehre auf die Gegenwart in Theorie und Praxis unverkenn-

bar, und nicht leicht wird eine allgemeine Betrachtung uͤber

die gegenſeitigen Beziehungen zwiſchen Recht und Volk und

Staat und Wiſſenſchaft umhin koͤnnen, ſich in ein beſtimmtes

Verhaͤltniß zu jener auch formell ſo gelungenen Darlegung zu

ſetzen, ſey es nun, daß ſie zum Ausgangspunct einer weiteren

wiſſenſchaftlichen Entwicklung gemacht wird, oder daß man ſich

abwehrend und feindſelig dagegen verhaͤlt. Auch dieſe Schrift,

wenn gleich ihren eigenen Weg verfolgend, lehnt ſich im We-

ſentlichen an die durch v. Savigny vertretene Grundanſicht

an; ſie iſt durch ſie hervorgerufen und auf gewiſſe Weiſe uͤber-

haupt erſt moͤglich geworden. Es wird daher angemeſſen ſeyn,

zuvoͤrderſt in kurzen Zuͤgen das Weſen der hiſtoriſchen Rechts-

lehre anzugeben, um das Verhaͤltniß, in welcher dieſe Schrift

ſich zu ihr befindet, beſtimmt feſtzuſtellen, und fuͤr die folgende

Eroͤrterung die rechte Grundlage zu gewinnen. Den beſten

Anhalt gewaͤhren dafuͤr natuͤrlich des Meiſters eigene Werke *);

*) Hier kommen beſonders in Betracht: Vom Beruf unſerer Zeit fuͤr

Geſetzgebung und Rechtswiſſenſchaft. Heidelberg 1814, 2. Aufl. 1828;

Syſtem des heutigen Roͤmiſchen Rechts. Band 1. Berlin 1840.

[59/0071]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

doch iſt auch auf Puchta’s Gewohnheitsrecht (2 Baͤnde, Er-

langen 1828 und 1837) beſondere Ruͤckſicht zu nehmen, weil

darin nicht bloß die v. Savigny’ſchen Anſichten weiter ausge-

fuͤhrt, ſondern auch zum Theil neu und ſelbſtaͤndig begruͤndet

ſind, ſo daß wiederum der erſte Band des Syſtems des heu-

tigen roͤmiſchen Rechts in weſentlichen Puncten darauf beruht.

Stahl iſt in ſeiner Rechtsphiloſophie auf dieſe Seite der Rechts-

lehre weniger ſelbſtaͤndig eingegangen.

Das Recht iſt in ſeiner erſten Entſtehung nicht das Pro-

duct des Zufalls oder der menſchlichen Willkuͤhr, Ueberlegung

und Weisheit; weder die Geſetzgebung, noch die philoſophiſche

Abſtraction hat es geſchaffen. Auf der breiten Baſis allge-

mein menſchlicher Verhaͤltniſſe entwickelt es ſich unmittelbar

im Volksleben, wie die Sitte und die Sprache; es iſt leben-

dig in dem gemeinſamen Bewußtſeyn des Volkes, von deſſen

individueller Beſchaffenheit es auch ſeinen beſonderen Charakter

erhaͤlt. Die einfachen Zuſtaͤnde, in denen ſich die Voͤlker in

ihrer Jugendzeit finden, geſtatten eine ſolche unmittelbare An-

ſchauung der Rechtsinſtitute, welche fern von aller bewußten

Reflexion, mit einer gewiſſen Nothwendigkeit das Richtige

trifft, und deswegen eben, wie ein Theil des Volksglaubens,

gleichmaͤßig die Geſammtheit erfuͤllt. Die Zeit des Volksrechts

iſt auch die der Volksgerichte. — Aber in der weiteren Ent-

wicklung der menſchlichen Dinge nehmen die urſpruͤnglich ſo

einfachen Verhaͤltniſſe allmaͤlig eine krauſere Geſtalt an; die

Rechtsinſtitute bekommen eine Geſchichte; das Volk in ſeiner

Geſammtheit verliert die ſichere und unmittelbare Beherrſchung

ſeines Rechts, welches in allen Beziehungen nur von denen,

die ſich beſonders damit beſchaͤftigen, richtig erkannt und an-

gewandt wird. Denn es ſcheiden ſich auch ſchon die Staͤnde,

[60/0072]

Zweites Kapitel.

nicht bloß nach der Geburt, ſondern auch nach der Beſchaͤfti-

gung und dem Beruf; eine Theilung der Arbeit tritt ein.

Dem Rechte wird freilich noch der innere Zuſammenhang mit

dem Weſen und Charakter des Volkes bewahrt; aber dieß ge-

ſchieht vorzugsweiſe nur noch durch die Vermittlung beſonde-

rer Organe: die geſetzgebende Gewalt und der Juriſtenſtand

entwickeln jetzt ihre tief eingreifende Thaͤtigkeit. — „Das Ge-

ſetz iſt das Organ des Volksrechtes. Wollte man daran

zweifeln, ſo muͤßte man den Geſetzgeber als außer der Nation

ſtehend denken; er ſteht aber vielmehr in ihrem Mittelpunct,

ſo daß er ihren Geiſt, ihre Geſinnungen, ihre Beduͤrfniſſe in

ſich concentrirt, und daß wir ihn als wahren Vertreter des

Volksgeiſtes anzuſehen haben.“ (v. Savigny, Syſtem. I.

S. 39). — Der Einfluß des Geſetzgebers auf das Recht zeigt

ſich aber in zwiefacher Weiſe: als ergaͤnzende Nachhuͤlfe fuͤr

das poſitive Recht und, was noch wichtiger iſt, als Un-

terſtuͤtzung ſeines allmaͤligen Fortſchreitens, indem die vom

Volke gewichene oder doch in demſelben geſchwaͤchte rechtsbil-

dende Kraft von dem Geſetzgeber erſetzt wird.

Nicht weniger bedeutend iſt der Einfluß, den die Thaͤtig-

keit des Juriſtenſtandes auf das Recht ausuͤbt. „Es liegt in

dem natuͤrlichen Entwicklungsgang der Voͤlker, daß bei fort-

ſchreitender Bildung einzelne Thaͤtigkeiten und Kenntniſſe ſich

abſondern, und ſo den eigenthuͤmlichen Lebensberuf beſonderer

Staͤnde bilden. So auch wird das Recht, urſpruͤnglich Ge-

meingut des geſammten Volkes, durch die ſich mehr verzwei-

genden Verhaͤltniſſe des thaͤtigen Lebens ins Einzelne ausge-

bildet, daß es durch die im Volke gleichmaͤßig verbreitete

Kenntniß nicht mehr beherrſcht werden kann. Dann wird ſich

ein beſonderer Stand der Rechtskundigen bilden, welcher, ſelbſt

[61/0073]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

Beſtandtheil des Volkes, in dieſem Kreiſe des Denkens die

Geſammtheit vertritt. Das Recht iſt im beſondern Bewußt-

ſeyn dieſes Standes nur eine Fortſetzung und eigenthuͤmliche

Entwicklung des Volksrechts. Es fuͤhrt daher nun ein zwie-

faches Leben: ſeinen Grundzuͤgen nach lebt es fort im gemein-

ſamen Bewußtſeyn des Volks, die genauere Ausbildung und

Anwendung im Einzelnen iſt der beſondere Beruf des Juri-

ſtenſtandes. Die aͤußern Formen der Thaͤtigkeit dieſes Stan-

des geben ein Bild von der ſehr allmaͤligen Entwicklung deſ-

ſelben. Zuerſt erſcheint er bloß als Rath gebend in einzelnen

Faͤllen, theils durch Gutachten uͤber die Entſcheidung eines

Rechtsſtreits, theils durch Belehrung uͤber die richtige Abfaſ-

ſung feierlicher Rechtsgeſchaͤfte. Daneben finden ſich dann als

erſte literariſche Verſuche gewoͤhnlich Formulare, mechaniſche

Anweiſungen zur genauen Beſorgung von Rechtsgeſchaͤften.

Nach und nach wird die Thaͤtigkeit geiſtiger und bildet ſich

zur Wiſſenſchaft aus. Nun erſcheinen als theoretiſche For-

men Darſtellungen des Rechts theils in mannichfaltigen Buͤ-

chern, theils in muͤndlicher Lehre: als praktiſche Formen aber

die Urtheilsſpruͤche der Gerichte, die ſich von den alten Volks-

gerichten theils durch die wiſſenſchaftliche Bildung der Mitglie-

der, theils durch die Tradition bleibender Collegien unterſchei-

den. Man kann hiernach bei dem Juriſtenſtande eine zwie-

fache Wirkſamkeit unterſcheiden: eine materielle, indem ſich die

rechtserzeugende Thaͤtigkeit des Volks großentheils in ihn zu-

ruͤckzieht, und von ihm, als dem Repraͤſentanten des Ganzen,

fortwaͤhrend geuͤbt wird: und eine formelle, rein wiſſenſchaft-

liche, indem von ihm das Recht uͤberhaupt, wie es auch ent-

ſtanden ſeyn moͤge, in wiſſenſchaftlicher Weiſe zum Bewußt-

ſeyn gebracht und dargeſtellt wird.“ — —

[62/0074]

Zweites Kapitel.

„Aus der bisherigen Darſtellung geht hervor, daß urſpruͤng-

lich alles poſitive Recht Volksrecht iſt, und daß dieſer ur-

ſpruͤnglichen Rechtserzeugung (oft ſchon in fruͤhen Zeiten) Ge-

ſetzgebung ergaͤnzend und unterſtuͤtzend zur Seite tritt. Kommt

dann, durch fortſchreitende Entwicklung des Volks, Rechtswiſ-

ſenſchaft hinzu, ſo ſind dem Volksrecht in dem Geſetz und der

Wiſſenſchaft zwei Organe gegeben, deren jedes zugleich ſein ei-

genes Leben fuͤr ſich fuͤhrt. Nimmt endlich in ſpaͤteren Zei-

ten die rechtsbildende Kraft des Volkes in ſeiner Totalitaͤt ab,

ſo lebt ſie fort in dieſen Organen. Dann aber iſt auch von

dem alten Volksrecht meiſt wenig mehr in ſeiner urſpruͤngli-

chen Geſtalt ſichtbar, indem daſſelbe, ſeinem groͤßten und wich-

tigſten Theile nach, in Geſetzgebung und Wiſſenſchaft verar-

beitet ſeyn wird, und nur noch in dieſer unmittelbar erſcheint.“

(v. Savigny a. a. O. S. 45 ff.).

Auf dieſe Weiſe iſt alſo fuͤr die Entſtehung des Rechts

ein organiſcher Entwicklungsproceß nachgewieſen, und die An-

ſicht, daß das Gewohnheitsrecht den Grund ſeiner Geltung

in der langen Uebung, in der fortgeſetzten Anwendung gleich-

artiger Regeln habe, beſeitigt. Die Gewohnheit iſt das Kenn-

zeichen des ungeſchriebenen Rechts, nicht deſſen Entſtehungs-

grund, und im Allgemeinen kann man ſagen: das Gewohn-

heitsrecht iſt Volksrecht. Nur inſofern manche ins Einzelne

gehende Beſtimmungen noch nicht ins volle Bewußtſeyn des

Volkes uͤbergetreten ſind, kann es durch die oͤftere Uebung der-

ſelben erlangt werden, daß dieſes geſchehe, und daß ſie da-

durch ein ſichereres Daſeyn gewinnen. „Außerdem liegt auch

in der Natur vieler Beſtimmungen eine relative Gleichguͤltig-

keit: es kommt bei ihnen nur darauf an, daß irgend eine feſte

Regel gelte und als geltend bekannt ſey, welche es auch ſey.

[63/0075]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

Dahin gehoͤren die vielen Faͤlle, in welchen die Rechtsregel ir-

gend eine Zahl in ſich ſchließt, und wobei innerhalb gewiſſer

Extreme ſtets ein großer Spielraum der Willkuͤhr uͤbrig bleibt,

wie bei den Verjaͤhrungszeiten; eben ſo die Rechtsregeln, die

bloß die aͤußere Form eines Rechtsgeſchaͤfts zum Gegenſtand

haben. In allen Faͤllen dieſer Art werden wir, mit unſrem

fruͤheren Denken und Wollen, eine Autoritaͤt fuͤr uns ſelbſt in

jeder ſpaͤteren Anwendung, und ſo kann allerdings die Ge-

wohnheit als ſolche auf die Rechtsbildung Einfluß haben. Es

wirkt hier das Geſetz der Continuitaͤt menſchlicher Geſinnun-

gen, Handlungen und Zuſtaͤnde: ein Geſetz, welches auch in

manchen einzelnen Rechtsinſtituten von ausgedehntem Einfluß

iſt.“ (A. a. O. S. 36).

Verweilen wir nun erſt einmal bei dieſer allgemeinen

Darſtellung der hiſtoriſchen Rechtslehre, ehe wir uns zu der

Betrachtung der beſonderen deutſchen Zuſtaͤnde wenden. Ge-

wiß hat v. Savigny einen tiefen Blick in das innere Rechts-

leben gethan, wie es ſich bei edlen Voͤlkern in ſeinen erſten

Anfaͤngen geſtaltet; auch liegt in der Art, wie die weitere Ent-

wicklung deſſelben geſchildert wird, viel Treffendes und Wah-

res. Koͤnnte man auch vielleicht geneigt ſeyn, den Einfluß,

welchen die Gewohnheit auf die Rechtsbildung auszuuͤben

pflegt, fuͤr zu gering angeſchlagen zu halten, ſo wird dieſer

Einwand doch da, wo es ſich von der Darlegung eines ganz

normalen, ohne beſondere aͤußere Stoͤrungen organiſch vor ſich

gehenden Proceſſes handelt, kaum gerechtfertigt erſcheinen. Da-

gegen laͤßt ſich in Beziehung auf einen andern Punct ſchon

hier ein Widerſpruch erheben, der in folgender Betrachtung

[64/0076]

Zweites Kapitel.

ſeine Begruͤndung findet. v. Savigny ſtellt die bei der Rechts-

erzeugung unmittelbar thaͤtige Kraft des Volkes ſo dar, daß

ſie Anfangs allein wirkſam erſcheint, allmaͤlig aber nachlaͤßt

und zuletzt faſt ganz von der Geſetzgebung und dem Juriſten-

ſtande als den beiden Organen des Volksrechts vertreten wird.

Nun iſt es freilich außer Frage, daß das Volk in vorgeruͤck-

ten Zeiten ſich die unmittelbare Herrſchaft uͤber das Recht

nicht mehr in ſeinem ganzen Umfange erhalten kann, und daß

es daher auch bei der Fortbildung deſſelben einer Huͤlfe be-

darf, welche ihm die Geſetzgebung und der Juriſtenſtand ge-

waͤhren. Allein daß dieſe nun an ſeine Stelle treten, es faſt

von jeder unmittelbaren Theilnahme an der Rechtsbildung

ausſchließen ſollen, das iſt eine Anſicht, welche, ſo allgemein

hingeſtellt wenigſtens, der innern Begruͤndung entbehren moͤchte.

Denn es wuͤrde darin der Satz ausgeſprochen ſeyn, daß ein

Volk, welches einen gewiſſen Grad der Cultur erreicht haͤtte,

auf ein friſches Leben in urſpruͤnglicher Kraft und Freiheit

nothwendig verzichten muͤſſe, weil, ſo lange dieſes beſteht, auch

neue Rechtsformen daraus hervorwachſen und zur unmittelba-

ren Geltung gelangen werden. Die Geſetzgebung kann eine

ſolche Entwicklung freilich ſehr befoͤrdern; ſie kann ihr auch

hindernd entgegen treten, wenn z. B. in einem beſtimmten

Staate nur der geſchriebenen Satzung die Kraft einer binden-

den Rechtsregel zuerkannt wird: allein das ſind doch Zufaͤl-

ligkeiten, welche das Weſen der Sache nicht veraͤndern. Der

Juriſtenſtand aber wird eine jede neue Erſcheinung auf dem

Gebiete des poſitiven Rechts anzuerkennen und in den Kreis

ſeiner Rechtskunde aufzunehmen haben. Wenn daher nur die

allgemeinen Vorausſetzungen, von denen uͤberhaupt die Entſte-

hung des Volksrechts abhaͤngt, vorhanden ſind, ſo kann es

[65/0077]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

ſich auch noch in ſpaͤterer Zeit ſelbſtaͤndig entwickeln, und die

Geſchichte zeigt, daß dieß bei lebenskraͤftigen, geſunden Voͤl-

kern allerdings der Fall geweſen iſt. Man darf nur, um

dieß zu erkennen, ſeinen Blick nicht vorzugsweiſe auf die roͤ-

miſche Kaiſerzeit richten, in der ja faſt jede Spur einer ſchaf-

fenden Volkskraft verſchwunden war.

Dieſe allgemeine Betrachtung aber fuͤhrt zu einer weite-

ren Erwaͤgung der Stellung, welche v. Savigny der Geſetz-

gebung und dem Juriſtenſtande einraͤumt, und welche noch et-

was genauer zu pruͤfen iſt.

1. Die Bedeutung der Geſetzgebung fuͤr die Rechtsbil-

dung iſt ſo eben im Gegenſatz zu v. Savigny’s Lehre be-

ſchraͤnkt worden; aber von einer andern Seite betrachtet, ſcheint

ſie von ihm nicht hoch genug angeſchlagen zu ſeyn. Sie ſoll

das Volksrecht nachhelfend ergaͤnzen und es ſpaͤter in Verbin-

dung mit dem Juriſtenſtande fortfuͤhren. Allein jene beſchraͤnkte

Aufgabe, welche ihr fuͤr die fruͤhere Periode angewieſen iſt,

entſpricht nicht ganz dem maͤchtigen Einfluß, den zu allen Zei-

ten und bei allen Voͤlkern die ſchaffende und ordnende Kraft,

die bewußte That des Geſetzgebers ausgeuͤbt hat. Das Pri-

vatrecht freilich pflegt den Weg der ſtillen, naiven Entwicklung

zu gehen, und bedarf nur unter beſondern Verhaͤltniſſen einer

umfaſſenden legislativen Feſtſtellung; aber in dem Privatrecht

iſt nicht das ganze Recht, nicht einmal der wichtigſte Theil

deſſelben enthalten. Das oͤffentliche Recht in ſeinem weiteſten

Umfange pflegt ſich nicht auf eine ſo friedliche, leichte Weiſe

zu geſtalten. Allerdings iſt auch hier die im Volke ruhende

Kraft und Begabung, gewiſſermaaßen ſeine Ausſteuer fuͤr den

ihm beſtimmten Lebensweg, das eigentlich Maaßgebende bei

jeder Geſtaltung, und der Nomothet wuͤrde fuͤr die Dauer

Beſeler, Volksrecht. 5

[66/0078]

Zweites Kapitel.

wenig vermoͤgen, welcher nicht im Geiſte ſeines Volkes und

gerade des in der beſtimmten Zeit vorhandenen Volkes die

Tafeln des Geſetzes ausfuͤllte. Aber es giebt hohe, gewaltige

Naturen, in deren Anſchauung ſich das Allen Gemeinſame

zum ſchoͤneren Bilde verklaͤrt, und welche die ſchoͤpferiſche Kraft

haben, es concret hinzuſtellen, damit es den Uebrigen zum

Muſter diene und ihren Sinn erhebe. Ein Solcher erfaßt

als Staatsmann, als Geſetzgeber ſeine Gegenwart ganz, aber

er blickt auch prophetiſch in die Zukunft, und zeigt dem Volke

die Bahnen an, welche zu durchlaufen es beſtimmt iſt. Das

Alterthum, uͤberhaupt concreter und plaſtiſcher, war reicher an

ſolchen Erſcheinungen, als die germaniſche Welt; aber auch

dieſer haben ſie nicht gefehlt: ich nenne nur Karl den Großen

und Luther. — Es iſt jedoch nicht nothwendig, daß ſich die

legislative Kraft in einer beſtimmten Perſon, die ja auch ihre

Gehuͤlfen haben muß, concentrirt darſtellt; ſie kann ſich auch

als eine gemeinſame Thaͤtigkeit Mehrer oder Vieler geltend

machen, und als der formell beſtimmte Wille der Geſammt-

heit in einem Volksbeſchluß, einer autonomiſchen Beliebung

ſich ausſprechen, indem es von der Verfaſſung des einzelnen

Staatsweſens abhaͤngt, wer gerade die Traͤger der geſetzgeben-

den Gewalt ſind. — Wir ſehen alſo, daß die Geſetzgebung

ſchon fruͤhe neben der unbewußt wirkenden Volkskraft als eine

das Recht erzeugende Macht auftritt, und zwar nicht immer

als eine vereinzelte Erſcheinung, ſondern zuweilen auch mit ei-

ner conſequent fortgeſetzten, dauernden Wirkſamkeit. So ha-

ben, um ein recht bezeichnendes Beiſpiel zu waͤhlen, die Is-

laͤnder mit einer ſolchen bewußten Thaͤtigkeit ihre eigenthuͤm-

liche Rechtsverfaſſung gebildet, welche uns durch Dahlmann’s

meiſterhafte Schilderung erſt recht zur Anſchauung gebracht,

[67/0079]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

den Beweis liefert, wie ſchoͤpferiſch auch das alte Germanen-

thum, wenn die Verhaͤltniſſe es verlangten, ſein Staatsweſen

zu ordnen wußte.

Iſt aber fuͤr die aͤlteſten, im erſten Naturleben der Voͤl-

ker noch ſo kraͤftigen Zeiten die ſelbſtaͤndige Bedeutung der

Geſetzgebung ſchon ſo hoch anzuſchlagen, ſo zeigt ſie ſich doch

in einer ſpaͤteren Periode der Entwicklung nicht weniger groß.

Allerdings wird es dann nicht ſo ſehr darauf ankommen, die

Idee des Staates, welche ſchon in feſten Inſtitutionen ausge-

praͤgt iſt, zur Verwirklichung zu bringen; allein dafuͤr wird

ſich die geſetzgebende Gewalt in einer mehr regelmaͤßigen und

gleichartigen Wirkſamkeit bewegen. Nur dann, wenn ein in

ſeiner organiſchen Entwicklung geſtoͤrtes und gehemmtes Volks-

leben nach den ihm gemaͤßen Formen ringt und ſie auf dem

Wege der allmaͤligen Entwicklung nicht gewinnen kann, wird

auch ein großer conſtituirender Act der Geſetzgebung noͤthig ſeyn,

um die verwilderten Zuſtaͤnde unter eine neue Ordnung zu brin-

gen, und die Herrſchaft von einfachen, dem Beduͤrfniß entſpre-

chenden Satzungen zu begruͤnden. Eine ſolche Reform, welche

als Revolution auftritt, wenn die beſtehende Verfaſſung nicht

elaſtiſch genug iſt, die neue Bildung in ſich aufzunehmen, iſt

am Ende des Mittelalters in den deutſchen Reichsangelegen-

heiten ohne Erfolg verſucht, waͤhrend ſie fuͤr die Kirche we-

nigſtens theilweiſe durchgefuͤhrt worden iſt.

2. Eine weitere Erwaͤgung verdient noch die Stellung,

welche nach v. Savigny’s Anſicht der Juriſtenſtand einnimmt.

Betrachtet man naͤmlich unbefangen die Rechtszuſtaͤnde in den

verſchiedenen Perioden der Staatsentwicklung, ſo werden ſich

wohl kaum ſo ſchroffe Gegenſaͤtze als naturgemaͤß herausſtel-

len, wie ſie zu beſtehen ſcheinen, wenn man ſich das Recht in

5*

[68/0080]

Zweites Kapitel.

der einen Zeit durchaus in dem gemeinſamen Bewußtſeyn des

Volkes denkt, und dann nach einigen Uebergaͤngen von der

unmittelbaren Anſchauung des Volkes losgetrennt in der Hand

eines beſonderen Juriſtenſtandes. Zu jeder Zeit und auch in

den erſten Anfaͤngen eines geordneten Volkslebens wird ſich

in der Rechtskunde der Einfluß geltend machen, den Erfah-

rung, Einſicht und ein gerechter Sinn nothwendig verſchaf-

fen, und bei der Geſetzgebung wie im Gericht wird ſich nach

dem Grade, in welchem der Einzelne dieſe Vorzuͤge beſitzt,

ſeine Stellung verſchieden ausnehmen; ja es iſt ganz natuͤr-

lich, daß man gerade ſolche Maͤnner aus dem Volke, welche ſich

beſonders zur Handhabung des Rechts eignen, hervorzieht, um

ihre Kraͤfte im Intereſſe der Geſammtheit zu gebrauchen. Aber

deswegen bilden ſie noch keinen eigenen Stand, wenn man

dieſen Begriff auch im weiteren Sinne nimmt, da ſie ſich

nicht gerade ausſchließlich oder nur vorzugsweiſe mit der Rechts-

pflege beſchaͤftigen, oder, wenn dieß der Fall iſt, es doch nur

in Folge einer allgemeineren, von ihnen beſonders ernſthaft

genommenen Buͤrgerpflicht thun. So hat ſich in Athen nie

ein eigentlicher Juriſtenſtand entwickelt *); ebenſo wenig war

das in Rom bis zu den letzten Zeiten der Republik, alſo waͤh-

rend der eigentlichen Bluͤthe derſelben, der Fall, und auch die

deutſchen Schoͤffen des 14. und 15. Jahrhunderts, welche

doch, namentlich in den groͤßeren Handelsſtaͤdten, ſo umfaſ-

ſende und verwickelte Rechtsverhaͤltniſſe, wie ſie nur gegenwaͤr-

tig vorkommen, zu beurtheilen hatten, zeigen ſich nicht in der

erwaͤhnten Abgeſchloſſenheit. In allen dieſen Faͤllen finden

*) Die Zweifel, welche ich uͤber dieſen Punct etwa noch hegte, hat

eine Mittheilung meines gelehrten Collegen Schoͤmann gehoben.

[69/0081]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

wir aber ein lebendiges oͤffentliches Leben, eine unmittelbare

Theilnahme des Volks an den Angelegenheiten des Staats

oder der Gemeinde, ſo daß die Beziehung dieſer Theilnahme

auf die Geſetzgebung und die Rechtspflege nur die Folge all-

gemeiner Zuſtaͤnde und Verhaͤltniſſe iſt, und das Volksrecht

noch in faſt ungeſchwaͤchter Herrſchaft fortbeſteht. Dagegen

iſt es gar nicht nothwendig, daß die literariſche Thaͤtigkeit der

Rechtskundigen ſich in ſolchen Zeiten auf untergeordnete, faſt

nur das Formelle der Rechtsgeſchaͤfte betreffende Arbeiten be-

ſchraͤnkt.

So viel wir wiſſen iſt der Verfaſſer des Sachſenſpiegels

in ſeiner ganzen Fuͤlle und Tuͤchtigkeit als Schriftſteller auf-

getreten, ohne daß er beſtimmte Vorgaͤnger vor Augen gehabt

haͤtte; denn die Formelſammlungen aus den Zeiten der fraͤn-

kiſchen Monarchie und die auf dem Gebiete des geiſtlichen

Rechts entſtandenen Werke, die auch ſtets einen eigenthuͤmli-

chen Charakter hatten, kommen hier nicht in Betracht. —

Wir duͤrfen daher annehmen, daß der Einfluß der Rechtskun-

digen von v. Savigny theils zu hoch, theils zu niedrig iſt an-

geſchlagen worden. Die unbedingte Herrſchaft eines beſonde-

ren Juriſtenſtandes uͤber das geſammte Rechtsweſen wird aber

unter keinen Umſtaͤnden als etwas Heilſames und dem hoͤhe-

ren Staatsprincip Entſprechendes aufgefaßt werden duͤrfen.

In Rom mag unter den gegebenen Verhaͤltniſſen ein ſolcher

Zuſtand, inſofern er ſich mit der Alleinherrſchaft der Caͤſaren

vertrug, unvermeidlich geweſen ſeyn und beziehungsweiſe wohl-

thaͤtig eingewirkt haben; aber die roͤmiſche Kaiſerzeit kann nicht

als Vorbild fuͤr die Zuſtaͤnde anderer, ſey es noch unentwickel-

ter oder hochgebildeter Nationen benutzt werden. Ein freies

Volk darf ſchon aus politiſcher Klugheit und im Intereſſe der

[70/0082]

Zweites Kapitel.

Freiheit die Herrſchaft uͤber das Recht nicht ganz aus ſeinen

Haͤnden geben; und wenn es zur Erlangung einer groͤßeren

Rechtsſicherheit und aus Ruͤckſicht auf die Foͤrderung und Si-

cherung der Geſchaͤfte einen eigenen Juriſtenſtand aufkommen

laͤßt, ſo wird es doch darnach ſtreben, ihn in ſeiner Thaͤtigkeit

durch feſte Inſtitutionen zu beſchraͤnken und uͤberhaupt arg-

woͤhniſch uͤberwachen. So iſt es in England. — Daher er-

klaͤrt es ſich auch, daß in Deutſchland, ſeitdem es wieder zu

einem regeren politiſchen Leben erwacht iſt, die faſt ausſchließ-

liche Herrſchaft der Juriſten uͤber das Recht ſchwer gefuͤhlt

wird, und daß eine Reaction dagegen im Volke ſich zu regen

beginnt. v. Savigny (a. a. O. S. 48) ſucht nun freilich

durch folgende Bemerkung einer ſolchen Mißſtimmung jede

Begruͤndung abzuſprechen:

„Es erſcheint alſo hierin ein mannichfaltiger Einfluß

des Juriſtenſtandes auf das poſitive Recht. Gegen die

Behauptung dieſes Einfluſſes iſt zuweilen der Vorwurf

einer unbefugten Anmaaßung erhoben worden. Dieſer

Vorwurf koͤnnte nur dann gegruͤndet ſeyn, wenn die

Juriſten einen geſchloſſenen Stand bilden wollten. Da

aber Jeder Juriſt werden kann, der die noͤthige Kraft

darauf wendet, ſo liegt in jener Behauptung nur der

einfache Satz, daß, Wer das Recht zu ſeinem Lebens-

beruf macht, durch ſeine groͤßere Sachkenntniß mehr als

Andere auf das Recht Einfluß haben wird.“

Allein wenn man den Vorwurf nur anders formulirt,

und nicht gegen die Juriſten, welche die Herrſchaft ausuͤben,

ſondern gegen die Rechtsverfaſſung ſelbſt, in welcher ſie noth-

wendig iſt, richtet, ſo wird jene Argumentation ihn nicht en.

[71/0083]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

kraͤften. Denn das iſt eben das Uebel, daß wer nur irgend

eine genuͤgende Kunde des Rechts erlangen und ſeinen Ein-

fluß darauf geltend machen will, es eben zu ſeinem Lebensbe-

ruf machen muß; daß Einſicht, Erfahrung, Weisheit, Gerech-

tigkeit nichts vermoͤgen, wenn nicht ein gelehrtes Studium

hinzukommt, welches hoͤchſt ſelten mit einem andern Lebensbe-

ruf verbunden werden kann. Die Juriſten trifft dabei nur

inſofern ein Tadel, als ſie dieſen ungluͤckſeligen Zuſtand haben

herbeifuͤhren helfen, und ſich etwa ſeiner Reform aus Be-

ſchraͤnktheit oder Egoismus widerſetzen.

Hier ſind wir nun aber bei einem Puncte angelangt,

welcher ſich wieder unmittelbar an die oben begonnene Dar-

ſtellung der v. Savigny’ſchen Rechtslehre anſchließt, indem es

zur Frage geſtellt wird, wie es ſich denn mit ihrer Anwen-

dung auf Deutſchland, auf unſer geltendes Recht verhaͤlt? Be-

denkt man nun, wie daſſelbe beſchaffen, und wie namentlich

das nationale Volksrecht durch die Aufnahme des roͤmiſchen

Rechts eingeengt, ja faſt ganz erdruͤckt worden iſt, ſo duͤrfte wohl

die Antwort erwartet werden, daß hier ſeit jenem Ereigniß

keine organiſche Fortbildung vor ſich gegangen, ſondern daß

der innere Entwicklungsproceß durch aͤußere Umſtaͤnde gehemmt

und gebrochen worden ſey. Aber ſo wird von jener Seite die

Sache nicht dargeſtellt; es wird vielmehr die Aufnahme des

roͤmiſchen Rechts als ein innerlich begruͤndetes, faſt nothwen-

dig gewordenes Factum den beſtimmenden Momenten der deut-

ſchen Rechtsgeſchichte eingereiht, und nun, ohne den unge-

heuren dadurch veranlaßten Gegenſatz hervorzuheben, die wei-

tere Conſtruction des deutſchen Rechtes nach den allgemeinen,

fruͤher angegebenen Grundzuͤgen der Rechtserzeugung unbefan-

gen fortgefuͤhrt.

[72/0084]

Zweites Kapitel.

Puchta ſagt, indem er von der Ungunſt handelt, welche

die Romaniſten dem einheimiſchen Recht erwieſen:

„Und in der That, um das Factum auch von dieſer

Seite zu betrachten: wer, der unſerer Geſchichte einen freien

Blick zuwendet, kann ihnen daraus einen Vorwurf ma-

chen? Weder das Verfahren jener deutſchen Juriſten ſelbſt,

die das deutſche Recht gegen das roͤmiſche in den Hinter-

grund ſtellten, noch ſeine Folgen ſind von der Beſchaffen-

heit, daß ſie die Schmaͤhungen verdienen, mit welchen un-

ſere Germaniſten (gehoͤrte Ulrich Hutten auch dazu?) ſie

uͤberſchwemmt haben. Daß ſie dem roͤmiſchen Recht ſich

zuwandten, kann ihnen nur zum Lobe gereichen. Denn

wer damals wiſſenſchaftlichen Sinn und das Beduͤrfniß

geiſtiger Bildung in dieſem Zweige empfand, konnte kei-

nen andern Weg einſchlagen, als dieſen, welcher die wiſ-

ſenſchaftlichen Bemuͤhungen zu einem Gegenſtand fuͤhrte,

der ſelbſt ein wiſſenſchaftlicher und dieſes in einem ſehr

hohen Grade war. Es war aber auch kein Grund vor-

handen, welcher einen redlichen, ja patriotiſchen Mann da-

von zuruͤck zu halten vermocht haͤtte. Nicht etwa die Ei-

genſchaft des roͤmiſchen Rechts als eines fremden, denn

dieß war es nicht fuͤr jene Zeit (?!); wir verdanken dieſe

Anſicht von demſelben erſt dem gutgemeinten, aber ſehr

uͤbel angebrachten Eifer der Germaniſten. Nicht ferner

ſeine Unangemeſſenheit fuͤr Deutſchland, denn auch dieſe

iſt nicht vorhanden; das roͤmiſche Recht hatte im ganzen

durch die klaſſiſchen Juriſten und durch die Modificationen,

welche es unter der kaiſerlichen Geſetzgebung erlitt, voll-

kommen die Eigenſchaft erhalten, wodurch es ein Weltrecht

werden, und worin es ſich mit den verſchiedenſten Natio-

[73/0085]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

naleigenthuͤmlichkeiten vertragen konnte, wie es denn dieſe Probe

wirklich ſchon in dem roͤmiſchen, aus den mannigfaltigſten

Volkscharakteren zuſammengeſetzten Reich beſtanden hatte *).“

v. Savigny aͤußert ſich uͤber denſelben Gegenſtand folgender

Maaßen:

„Der groͤßte und merkwuͤrdigſte Act eines allgemeinen

Gewohnheitsrechts in dieſem Anfang der neuen Zeit war

eben die Reception des Roͤmiſchen Rechts ſelbſt. — —

Dieſe Reception aber hatte eine verſchiedene Bedeutung in

verſchiedenen Nationen des neueren Europa, ſo daß die

daraus hervorgehende Neuerung des Rechtszuſtandes in

ſehr verſchiedenen Graden fuͤhlbar werden mußte. In Ita-

lien war das Juſtinianiſche Recht niemals verſchwunden:

neu war alſo hier nur theils deſſen Wiederbelebung, theils

die eigenthuͤmliche und beſtimmte Begraͤnzung, in welcher

es nunmehr anerkannt wurde. In Frankreich war zwar

auch das Roͤmiſche Recht nicht verſchwunden, aber die be-

ſondere Geſtalt deſſelben in der Juſtinianiſchen Geſetzgebung

war hier ſchon voͤllig neu. Weit fuͤhlbarer aber mußte

jene Reception in Deutſchland werden, wo das Roͤmiſche

Recht ſelbſt ein ganz neues, bisher unbekanntes Rechtsele-

ment war: freilich den neu entſtandenen Lebensverhaͤltniſ-

ſen angemeſſen, da es nur dadurch Eingang finden konnte.

Gerade hier nun ging ein langer und lebhafter Widerſtreit

der entſchiedenen Reception vorher, und dadurch wurde

dieſe Einwirkung des Gewohnheitsrechts ſowohl vorbereitet

als conſtatirt **).“

*) G. F. Puchta, das Gewohnheitsrecht. Th. 1. S. 202.

**) C. F. von Savigny, Syſtem des heutigen roͤmiſchen Rechts.

Band 1 S. 78. 79.

[74/0086]

Zweites Kapitel.

Von Puchta’s praͤdeſtinirtem Weltrecht braucht hier nun

nicht weitlaͤuftiger gehandelt zu werden. Nichts widerſtreitet

der Grundanſicht der hiſtoriſchen Rechtslehre ſo entſchieden,

als die Annahme, daß es ein fuͤr alle Zeiten und Voͤlker paſ-

ſendes ſogenanntes Weltrecht geben koͤnne; denn das heißt

gerade die Bedeutung der Volksindividualitaͤt, welche doch das

beſtimmende Moment der Rechtsentwicklung ſeyn ſoll, vernei-

nen. Es iſt dieß die alte, gerade von v. Savigny ſo erfolg-

reich beſtrittene, naturrechtliche Lehre von dem einen, noth-

wendigen Vernunftrecht; nur daß Puchta an die Stelle der

Vernunft die roͤmiſche Geſchichte ſetzt. Einem Zaſius, der im

erſten Enthuſiasmus eines noch jungen Studiums und vom

Geiſte des Alterthums trunken, nur im roͤmiſchen Recht die

ratio findet, mag eine ſolche Exaltation verziehen werden; aber

jetzt ſind wir doch, im gewohnten Beſitz der Bildung, nuͤch-

tern genug geworden, um ſo etwas nicht mehr zu dulden.

Eine ſolche verſpaͤtete Reaction gegen die deutſchrechtliche Richtung

in unſerer Jurisprudenz wird ſich, ſelbſt unter den Romani-

ſten, nicht viele Anhaͤnger gewinnen. Laſſen wir alſo dieſes.

Aber auch was v. Savigny anfuͤhrt: das roͤmiſche Recht ſey

den neu entſtandenen Lebensverhaͤltniſſen angemeſſen geweſen,

und habe nur dadurch Eingang bei den Deutſchen finden koͤn-

nen, — giebt der Reception deſſelben noch keine innere Be-

gruͤndung.

Zuerſt fragt ſich, was denn unter jenen neu entſtandenen

Lebensverhaͤltniſſen zu verſtehen ſey? Daß v. Savigny damit

nicht hat ſagen wollen, am Ende des Mittelalters ſeyen die

Lebensverhaͤltniſſe ganz und gar anders geworden, und haͤtten

nicht mehr nach dem fruͤher geltenden Rechte beurtheilt wer-

den koͤnnen, iſt doch wohl kaum anzunehmen; denn ich wuͤßte

[75/0087]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

in der That auch nicht das Geringſte fuͤr dieſe ſo allgemein ge-

faßte Behauptung anzufuͤhren. Es wird alſo wohl nur an ein-

zelne Lebensverhaͤltniſſe zu denken ſeyn, welche ſich, als Deutſch-

land aus dem Mittelalter in die moderne Zeit uͤbertrat, neu

entwickelt haben. Doch moͤchten dieſe gerade in der Sphaͤre

des Privatrechts, fuͤr welches die Herrſchaft des roͤmiſchen

Rechts ja vorzugsweiſe begruͤndet worden iſt, am Spaͤrlichſten

anzutreffen ſeyn, wenigſtens inſofern es das Recht der Fa-

milie und des Grundbeſitzes betrifft. Am Erſten noch waͤre

wohl fuͤr das Recht der Forderungen eine ſolche Umaͤnderung

anzunehmen, obgleich ſie durchaus nicht allgemein eintrat, und

jedenfalls ſehr langſam vor ſich ging; denn noch bis in das

17. Jahrhundert hinein behielten z. B. der Rentenkauf und

die nutzbare Pfandſetzung ein entſchiedenes Uebergewicht uͤber

das zinsbare Darlehn. Wenn ſich aber auch wirklich einzelne

neue Lebensverhaͤltniſſe zeigten, welche den Satzungen des aͤl-

teren deutſchen Rechts entwachſen waren, ſo duͤrfte man doch

wohl, vom Standpuncte der hiſtoriſchen Rechtslehre aus, zu

der Annahme berechtigt ſeyn, daß ſich ihnen auch gleichzeitig

eine entſprechende Rechtsbildung in ſelbſtaͤndiger Entwicklung

angeſchloſſen habe. Und daß ſo etwas wirklich in Deutſch-

land vorgegangen iſt, zeigen z. B. die allmaͤligen Veraͤnde-

rungen, welche in dem Guͤterrecht der Ehegatten eintraten;

desgleichen die große Ausbildung, welche das deutſche Obliga-

tionenrecht, namentlich inſofern es ſich auf das Handelsrecht

bezog, erfuhr, woruͤber die von Michelſen herausgegebenen Ur-

theile des Luͤbecker Oberhofs ſo intereſſante Belege liefern. —

Aber geſetzt auch, fuͤr die neuen Lebensverhaͤltniſſe waͤre das

roͤmiſche Recht die paſſende Quelle der Entſcheidung geweſen,

ſo iſt es ja fuͤr das Privatrecht und einen großen Theil des

[76/0088]

Zweites Kapitel.

oͤffentlichen Rechts ganz im Allgemeinen recipirt, und auch auf

die althergebrachten Rechtsverhaͤltniſſe angewandt worden! Darin

laͤßt ſich doch offenbar nur etwas Willkuͤhrliches, Gewaltthaͤti-

ges erkennen, zumal wenn man bedenkt, daß der Act der Re-

ception unter dem lebhafteſten Widerſtande von Seiten des

Volkes gegen die Romaniſten und ihre Lehre vor ſich ging.

Wenn nun v. Savigny dennoch den Grund der Reception im

Gewohnheitsrechte ſucht, und dieſes gerade dadurch, daß jener

Widerſtand beſiegt worden, conſtatirt findet, ſo iſt dagegen al-

lerdings, inſofern es ſich von dem aͤußeren Factum handelt,

nichts einzuwenden; aber ſeine innere Begruͤndung hat dieſes

dadurch noch nicht erhalten. Das ſcheint nun freilich mit dem,

was fruͤher uͤber die Bedeutung des Gewohnheitsrechts geſagt

iſt, in Widerſpruch zu ſtehen; denn es iſt ja angenommen

worden, daß es, abgeſehen von einzelnen Faͤllen, die hier nicht

in Betracht kommen, durchaus mit dem Volksrecht zuſammen

faͤllt, und dadurch auch in jeder beſtimmten Erſcheinung ge-

rechtfertigt iſt, ſo daß die Gewohnheit nicht als der Grund,

ſondern nur als das Kennzeichen ſeiner Geltung erſcheint.

Aber gerade hier, wo es ſich um den Begriff des Ge-

wohnheitsrechts handelt, iſt ein Punct, bei welchem dieſe Schrift

wieder weſentlich von der fruͤheren hiſtoriſchen Rechtslehre ab-

weicht, ja von dem ſie gewiſſermaaßen ihren eigentlichen Aus-

gang genommen hat. Dabei iſt naͤmlich Folgendes in Be-

tracht zu nehmen.

Wenn ich fruͤher der ſo eben gedachten Auffaſſung des

Gewohnheitsrechts beiſtimmte, ſo geſchah es unter der aus-

druͤcklichen Beſchraͤnkung, daß es ſich dabei von der Darle-

gung einer ganz normalen, ohne beſondere aͤußere Stoͤrung

organiſch ſich entwickelnden Rechtsbildung handle. Eine ſolche

[77/0089]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

kann man nun wohl als das Ideal hinſtellen, in welchem die

einzelnen Erſcheinungen der Geſchichte ihr Verſtaͤndniß und

ihre Wuͤrdigung finden; aber wie die menſchlichen Dinge nun

einmal nicht vollkommen ſind, ſo wird auch die Rechtserzeu-

gung in einem beſtimmten Volke nicht immer in einer ideellen

Weiſe vor ſich gehen. Es ſind ſo viele aͤußere Einfluͤſſe moͤg-

lich, welche unter den gegebenen Umſtaͤnden ihre Herrſchaft

geltend machen, und auf die Geſtaltung des poſitiven Rechts

entſchieden einwirken, daß es wenigſtens zufaͤllig iſt, ob und

in wieweit demſelben der Charakter eines Volkrechts bewahrt

bleibt. Ein ſolcher aͤußerer Einfluß kann nun ſofort mit ei-

ner bindenden Kraft auftreten, was dann der Fall iſt, wenn

von der geſetzgebenden Gewalt im Staate ſchlechte Geſetze er-

laſſen werden; er kann aber auch, an und fuͤr ſich nicht ein-

mal formell berechtigt, durch die Dauer der Einwirkung auf

den Rechtszuſtand („nach dem Geſetze der Continuitaͤt“) eine

ſolche Macht erlangen, daß ſich daraus am Ende wahre Rechts-

normen entwickeln, die jeder fuͤr verbindlich haͤlt und halten

muß, und die alſo einen Theil des poſitiven Rechts ausma-

chen. Umſtaͤnde verſchiedener Art werden freilich zuſammen-

treffen muͤſſen, um eine ſolche Rechtserzeugung moͤglich zu

machen; der letzte Grund der formellen Geltung iſt dann aber

die Gewohnheit, welche alſo nicht mehr, wie bei dem Volks-

rechte, ein bloßes Kennzeichen des Rechts iſt, ſondern dieſes

ſelbſt produciren hilft und zwar oft im Gegenſatz zu dem

Geiſte des Volks und der Vernunft der Dinge. Das hat auch

ſchon der Verfaſſer des Sachſenſpiegels lebhaft gefuͤhlt, und

ſich in ſeiner ſchlichten, einfachen Betrachtungsweiſe daruͤber

ausgeſprochen. Indem er naͤmlich von der Unfreiheit handeln

will, (Saͤchſ. Landr. III, 42.) hebt er an:

[78/0090]

Zweites Kapitel.

„Got hevet den man na ime ſelve gebeldet, und hevet

ine mit ſiner martern geledeget, den enen alſo den an-

deren, ime is die arme alſo beſvas als die rieke.“

Aber wie kommt es doch, daß ſo viele Menſchen unfrei

ſind?

„An minen ſinnen ne kan ik is nicht upgenemen, na

der warheit, dat jeman des anderen ſole ſin; ok ne hebbe

wie’s nen orkuͤnde.“

Die Schriftgelehrten wiſſen freilich Gruͤnde genug beizubrin-

gen, um die Unfreiheit aus der Bibel zu rechtfertigen; aber ſie

uͤberzeugen den frommen Spiegler nicht:

„Na rechter warheit ſo hevet egenſcap begin von ge-

dvange unde von vengniſſe unde von unrechter walt, die

man von aldere in unrechte wonheit getogen

hevet, unde nu vore recht hebben wel.“

Wir muͤſſen alſo neben dem Volksrecht ein Gewohnheits-

recht annehmen, welches nicht allein gleichguͤltig neben jenem

hergehen, ſondern demſelben auch feindlich entgegentreten, ja

es verderben kann, wie auch die ſchlechte Geſetzgebung es ver-

mag. Indem v. Savigny dieſe Entartung der Rechtserzeu-

gung nicht anerkennt, ſondern ſtets einen naturgemaͤßen Ent-

wicklungsproceß vor ſich gehen laͤßt, ſieht er ſich genoͤthigt,

den heutigen deutſchen Rechtszuſtand nach den von ihm feſt-

gehaltenen Principien kuͤnſtlich zu conſtruiren, — ein Verſuch,

der ſchon deswegen mißlingen mußte, weil die Reception des

roͤmiſchen Rechts in ihrem geſchichtlichen Verlaufe ſich nur als

ein Ausfluß des Gewohnheitsrechts im Gegenſatz zum Volks-

recht erklaͤren laͤßt. Denn ſelbſt wenn man annehmen will,

[79/0091]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

wie v. Savigny es thut, daß das letztere in ſeiner ſpaͤteren

Erſcheinung vorzugsweiſe als Juriſtenrecht auftritt, ſo kann

doch auch dieſes, inſoweit es das recipirte roͤmiſche Recht zu

ſeinem Inhalte hat, nicht als eine Fortſetzung des Volksrechts

erſcheinen.

Werfen wir nun einen Blick auf die vorhergehende Er-

oͤrterung zuruͤck, und faſſen wir das Ergebniß derſelben in kur-

zen Saͤtzen zuſammen, ſo laſſen ſich deren folgende aufſtellen,

welche als die Grundlage dieſer Schrift anzuſehen ſind:

I. Das Recht iſt in ſeiner erſten Entſtehung Volksrecht,

wenn auch durch den Einfluß der Geſetzgebung we-

ſentlich bedingt.

II. Das Volksrecht kann auch in den Zeiten einer vor-

geruͤckten Cultur noch beſtehen, und vom Volke un-

mittelbar erzeugt werden.

III. Dem Volksrecht ſteht das Gewohnheitsrecht gegen-

uͤber, bald in gleichguͤltiger, bald in feindlicher Haltung.

IV. Das Juriſtenrecht iſt nicht nothwendig eine Fortfuͤh-

rung des Volksrechts, es kann auch bloßes Gewohn-

heitsrecht ſeyn.

Dieſe Saͤtze, hier nur kurz hervorgehoben, werden im wei-

teren Verlaufe der Schrift ihre naͤhere Begruͤndung und Ent-

wicklung erhalten. Die Aufgabe geht zunaͤchſt dahin, das noch

jetzt im deutſchen Rechtsleben geltende Volksrecht zum wiſſen-

ſchaftlichen Verſtaͤndniß zu bringen, und das Weſen und den

Werth des deutſchen Juriſtenrechts zu pruͤfen, — Beides aber

vom Standpuncte des gemeinen Rechts aus, welches einer ſol-

chen Unterſuchung vor Allem zu beduͤrfen ſcheint. Bevor nun

[80/0092]

Zweites Kapitel.

zur Erwaͤgung des Einzelnen uͤbergegangen wird, iſt noch

eine genauere Beſtimmung der Begriffe Volksrecht und Juri-

ſtenrecht zu geben, und (im folgenden Kapitel) die Bedeutung

des gemeinen Rechts naͤher feſtzuſtellen.

I. Das Volksrecht.

Der fruͤheren Theorie war der Begriff des Volksrechts

fremd; ſie ließ ihn ganz in den des Gewohnheitsrechts aufge-

hen. Erſt v. Savigny hat das Volksrecht in ſeiner ſelbſtaͤn-

digen Bedeutung gewuͤrdigt, und Puchta in einer weiteren Ent-

wicklung ſeiner Ideen und im Gegenſatz zur aͤlteren Lehre das

Gewohnheitsrecht als gleichbedeutend mit dem Volksrecht dar-

geſtellt, worin ihm denn auch wieder v. Savigny, wenn auch

mit einigen Beſchraͤnkungen gefolgt iſt. Allein beide Begriffe,

welche nur das mit einander gemein haben, daß ſie dem un-

geſchriebenen Rechte angehoͤren, ſind beſtimmt auseinander zu

halten. Zwar kann zwiſchen dem Volksrecht und Gewohn-

heitsrecht allerdings eine gewiſſe Wechſelwirkung beſtehen. Das

Erſtere wird immer einer, wenn auch oft nur kurzen Zeit be-

duͤrfen, um ſich auf dem Grunde der Sitte und der Lebens-

verhaͤltniſſe zum eigentlichen Rechte zu condenſiren; auch kann

es durch die lange Dauer der Anwendung mehr befeſtigt, und

uͤberhaupt zur beſſern Erkenntniß und zum beſtimmteren Be-

wußtſeyn gebracht werden. Dagegen iſt es auf der andern

Seite moͤglich, daß die lange Uebung eines urſpruͤnglich zu-

faͤlligen Rechtsſatzes denſelben ſo ſehr mit der Sitte und Rechts-

anſchauung des Volkes verwebt, daß er endlich ſelbſt zum

Volksrechte wird, und ſich als einen Theil deſſelben darſtellt.

Auf dieſe Weiſe ſind einzelne Inſtitute des roͤmiſchen Rechts,

z. B. die letztwilligen Verfuͤgungen, in das Bewußtſeyn der

[81/0093]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

Nation uͤbergegangen, zum wahren deutſchen Volksrechte ge-

worden. Auch beſteht hinſichtlich der verbindlichen Kraft zwi-

ſchen beiden kein Unterſchied; ſie wirken, wenn ſie einmal zur

Exiſtenz gekommen ſind, mit demſelben aͤußern Erfolge, da ſie

beide dem poſitiven Rechte angehoͤren. — Nichts deſto weni-

niger iſt es doch von Wichtigkeit, ſie gehoͤrig von einander zu

unterſcheiden. Denn das Gewohnheitsrecht wird ſein Daſeyn

doch vorzugsweiſe eben in der Gewohnheit bethaͤtigen, und

dieſe wird alſo unter den Erkenntnißquellen deſſelben nicht ent-

behrt werden koͤnnen; beim Volksrecht dagegen verhaͤlt es ſich

hiermit anders. Aber auch in Beziehung auf den innern

Werth beſteht ein weſentlicher Unterſchied. Zwar kann eine

althergebrachte Rechtsnorm, abgeſehen von dem Grund ihrer

Entſtehung, eine gewiſſe Gunſt der Beurtheilung fuͤr ſich in

Anſpruch nehmen, indem der Umſtand, daß man ſich einmal

an ſie gewoͤhnt hat, mit dem Grade ihrer Zweckmaͤßigkeit ab-

gewogen wird; es kann auch das, was einmal ein wahres,

auf der Nationalſitte beruhendes Volksrecht geweſen iſt, im

Laufe der Zeiten zu einem laͤſtigen, unſittlichen Inſtitut herab-

ſinken, und ſich bloß noch durch die Kraft der Gewohnheit

in Geltung erhalten: aber es leuchtet doch ein, wie viel be-

deutender und achtungswerther an und fuͤr ſich dasjenige ſeyn

muß, was von Haus aus auf der breiten, natuͤrlichen Baſis

des Volkslebens erwachſen iſt, als dasjenige, was zunaͤchſt nur

aͤußeren, zufaͤlligen Umſtaͤnden ſeine Exiſtenz verdankt.

Das Volksrecht iſt nun aber nicht nothwendig ein dem

beſtimmten Volke ganz eigenthuͤmliches Recht. Man kann es

allerdings in dieſer engeren Bedeutung faſſen. Allein ſo wie

eine Nation in ihrer Individualitaͤt ein Bild der Menſchheit

im Kleinen darſtellt, und obgleich an ſich ein Ganzes, doch

Beſeler, Volksrecht. 6

[82/0094]

Zweites Kapitel.

auch wiederum nur ein Theil iſt, ſo kann man auch das Recht,

welches der geſammten Menſchheit oder doch mehren gleichzei-

tig oder doch unter gleichen Bedingungen lebenden Voͤlkern

gemeinſchaftlich iſt, in der beſonderen Faͤrbung und mit den

Eigenthuͤmlichkeiten, welche es bei dem einzelnen Volke an-

nimmt, zu deſſen Volksrecht zaͤhlen. Je naͤher nun die Voͤl-

ker durch Zeit, Bildung, Religion, Verfaſſung, wechſelſeitigen

Verkehr u. ſ. w. einander geruͤckt ſind, deſto mehr wird ſich

die Verſchiedenheit der Rechte verwiſchen, und eine gewiſſe

Gleichmaͤßigkeit an deren Stelle treten, welche zu Vergleichun-

gen auffordert, und eine reiche Quelle der Erkenntniß auch fuͤr

das einzelne Recht werden kann. Aber man huͤte ſich auch

hier vor Uebertreibungen. So lange die Voͤlker uͤberhaupt

noch eine beſtimmte Nationalitaͤt bewahren, wird dieſe ſich un-

ter allen Umſtaͤnden auch auf die Rechtsbildung geltend ma-

chen, und einem verbreiteten Rechtsinſtitute, welches ſich unter

aͤhnlichen Verhaͤltniſſen bei verſchiedenen Voͤlkern ausgebildet

hat, wird ſtets noch etwas Eigenthuͤmliches, eine beſondere,

nationale Faͤrbung anhaͤngen, deren Vernachlaͤſſigung die ſchlimm-

ſten Folgen herbeifuͤhren muͤßte. Darum iſt es ſo wichtig,

daß man jedes einzelne Recht und auch das fremde, wenn

man ſich damit beſchaͤftigt, nicht bloß fragmentariſch, ſondern

in ſeiner vollen Totalitaͤt auffaſſe und erkenne, — eine Vor-

ſicht, welche die comparative Jurisprudenz der neueren Zeit ſo

oft aus den Augen ſetzt.

Es entſteht nun aber die weitere Frage, wer denn ei-

gentlich das bei der Bildung des Volksrechts thaͤtige Subject

iſt? Wir antworten: das Volk, und zwar als das Natur-

ganze, welches die Grundlage des Staates ausmacht, und in

ſeiner individuellen Geſtaltung als lebendiger Organismus ein

[83/0095]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

ſelbſtaͤndiges Daſeyn fuͤhrt *). In dieſem Sinn iſt das Volk

nicht der Regierung gegenuͤbergeſtellt als Inbegriff der Ge-

horchenden, der Unterthanen; es umſchließt auch die Regie-

rung, nur nicht als ſolche, ſondern in ihren einzelnen Traͤ-

gern, welche auch die Genoſſen der Geſammtheit ſind. Dahin

gehoͤrt ſelbſt der Souverain und das regierende Haus, wie denn

ja auch der hohe Adel deutſcher Nation, zu dem die deutſchen

Souveraine auch jetzt noch in gewiſſer Beziehung zu rechnen

ſind, einen eigenen Stand ausmacht und ein beſonderes Stan-

desrecht gebildet hat, ohne deswegen jedes allgemeineren Ein-

fluſſes auf die Rechtsbildung beraubt geweſen zu ſeyn. —

Das Volk fuͤhrt aber nicht bloß in der Geſammtheit ein ſelb-

ſtaͤndiges Leben, und bewaͤhrt bloß darin ſeine rechtsbildende

Kraft; ſondern es tritt uns in demſelben ein geordneter Orga-

nismus entgegen, in dem ſich das Ganze wieder nach engeren

Kreiſen abtheilt, welche, obgleich von jenem beſtimmt und um-

ſchloſſen, doch auch fuͤr ſich ein eigenthuͤmliches Leben fuͤhren.

Dieſe engeren Kreiſe des Volksorganismus ſind nun entweder

auf dem Wege der unbewußten, naturgemaͤßen Entwicklung

entſtanden, wie die Theilung des Volkes nach Staͤmmen,

Staͤnden und meiſtens auch nach Corporationen; oder es iſt

in Folge bewußter That oder zufaͤlliger Ereigniſſe eine aͤußere

Abgrenzung der Theile entſtanden, welche auch wiederum auf

deren beſondere Ausbildung von Einfluß ſeyn kann. Dahin

gehoͤrt die politiſche Zerlegung eines Volkes nach der Abgren-

zung des Staatsgebietes in Territorien, Provinzen, Kreiſe

u. ſ. w. zum Theil auch in Gemeinden, inſofern dieſe nicht

genoſſenſchaftlich ſich entwickelt haben. Das Volksrecht bildet

*) Vgl. v. Savigny, Syſtem I. S. 30.

6*

[84/0096]

Zweites Kapitel.

ſich nun entweder in der Geſammtheit oder in den einzelnen

Gliedern derſelben, und kann daher ſehr verſchiedenen Umfangs

ſeyn. Das charakteriſtiſche Merkmal deſſelben bleibt aber in

allen Faͤllen: die unmittelbare Entſtehung des Rechts aus der

Sitte und den Lebensmomenten der Nation heraus, ſey es

nun, daß dieſe nur in ihrer Allgemeinheit wirkſam ſind, oder

daß auch die engeren Zuſtaͤnde und Beziehungen ihren Ein-

fluß geltend machen. Die Art und Weiſe dieſer Rechtsbil-

dung laͤßt ſich in ihrem ſtillen Wachsthume nur mit der ſchoͤ-

pferiſchen Thaͤtigkeit der Natur vergleichen; es ruht daruͤber

ein gewiſſes Geheimniß, welches ſich der unmittelbaren An-

ſchauung nie vollſtaͤndig erſchließt, wie lange auch die ſinnende

Betrachtung bei der aͤußeren Erſcheinung weilt. Aber dieſe

ſelbſt, das Recht in ſeiner feſten Geſtaltung, kann mit Sicher-

heit erkannt werden.

Daß nun dieſes Volksrecht nicht bloß unter dem Ein-

fluß einfacher Naturzuſtaͤnde entſteht, ſondern auch von einem

noch lebenskraͤftigen Volke in den Zeiten der vorgeruͤckten Bil-

dung erzeugt wird, iſt ſchon fruͤher hervorgehoben worden. Al-

lerdings aber wird die Macht der Gewohnheit, der Einfluß der

Geſetzgebung und des Juriſtenſtandes ſeine unmittelbare Herr-

ſchaft ſchwaͤchen, mag es nun unter unguͤnſtigen Verhaͤltniſſen

ſeinem eigenen Weſen untreu werden und entarten, oder in

dem Geſetzes- und Juriſtenrecht eine conſequente Fortbildung

erlangt haben. Im letzteren Fall wird es oft geſchehen, daß

das Volksrecht ſeinem Inhalte nach bewahrt bleibt, und nur

formell in einer neuen Geſtalt auftritt. — Auch in Deutſch-

land, deſſen Rechtszuſtand nicht zu den gluͤcklichen gehoͤrt, iſt

es hart bedraͤngt, gebrochen und umgeformt worden; denn

dem Volke ſelbſt ward die freie Bewegung verkuͤmmert, und

[85/0097]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

die Geſetzgebung und der Juriſtenſtand haben ſich hier nicht

als die Organe einer nationalen Rechtsbildung bewaͤhrt. Wenn

daher v. Savigny annimmt (Syſtem. I. S. 86), ſeit der Re-

ception des roͤmiſchen Rechts ſey das Volksrecht mit dem wiſ-

ſenſchaftlichen Recht identiſch geworden, ſo iſt dieß eine An-

ſicht, welche die Geſchichte nicht beſtaͤtigt. Aber er irrt auch,

wenn er ſagt: „daß die dem gemeinen Recht angehoͤrenden

Gewohnheiten ohne Ausnahme durch das Medium wiſſenſchaft-

licher Verarbeitung und Anerkennung hindurch gegangen ſind“

(a. a. O. S. 193). Denn auch die Germaniſten, welche doch

vor Allem dieſes muͤßten zu Wege gebracht haben, ſind in der

Erfuͤllung ihrer Aufgabe noch nicht ſo weit gekommen. —

Wenn deſſenungeachtet das Volksrecht in Deutſchland noch

nicht ganz untergegangen iſt, ja wenn die Nation unter den

unguͤnſtigſten Verhaͤltniſſen noch nicht alle Kraft verloren hat,

ſelbſtaͤndig an der Rechtserzeugung Theil zu nehmen, ſo hat

ſie dadurch wohl auf das Buͤndigſte den Beweis gefuͤhrt, daß

ſie ſich ihren eingeborenen, germaniſchen Charakter und ihre

kerngeſunde Natur zu bewahren wußte, und daß ſie noch das

Vermoͤgen zu einer kraͤftigen Erhebung in ſich traͤgt.

II. Das Juriſtenrecht.

Wenn man unter dem Juriſtenrecht oder, wie v. Sa-

vigny es nennt, dem wiſſenſchaftlichen Recht das ganze poſi-

tive Rechtsmaterial in ſeiner vollſtaͤndigen wiſſenſchaftlichen

Verarbeitung verſtehen wollte, ſo wuͤrde darin jede Verſchie-

denheit des Rechts nach ſeinen beſonderen Quellen und ſeiner

urſpruͤnglichen Beſchaffenheit aufgehen, und wir haͤtten dann

ein, wenigſtens in formeller Beziehung einheitliches Rechtsganze

vor uns. Denn die Wiſſenſchaft in ihrer doppelten Richtung

[86/0098]

Zweites Kapitel.

als Rechtslehre und Rechtsanwendung bringt den vorhandenen

Stoff in eine ſyſtematiſche Einheit; ſie zieht das Volksrecht

ſo gut wie das Geſetzesrecht in den Kreis ihrer Thaͤtigkeit,

wuͤrdigt jedes in ſeiner beſonderen Bedeutung, beſtimmt das

Verhaͤltniß der einzelnen Theile zu einander und zum Gan-

zen, ſtellt die nicht ſpeciell normirten Rechtsſatzungen durch die

Entwicklung aus den Principien des poſitiven Rechts und aus

der Natur der Dinge feſt, und bildet vielleicht in ihrer freieſten

Bewegung ſelbſtaͤndige Rechtsinſtitute. In dieſem Sinne wuͤrde

alſo das Juriſtenrecht nichts Anderes ſeyn, als das Recht in

in ſeiner wiſſenſchaftlichen Verarbeitung, und es iſt jedenfalls

willkuͤhrlich, wenn man dann das Volksrecht darin aufgehen

laͤßt, nicht aber das Geſetzesrecht. Denn ſeiner urſpruͤnglichen

Entſtehung nach iſt jenes eben ſo ſelbſtaͤndig wie dieſes, und

ob es aus dem Geſammtbewußtſeyn des Volkes ſpaͤter her-

ausgetreten iſt, und ſich bei der uͤberwiegenden Herrſchaft des

Juriſtenſtandes in deſſen Rechtsanſchauung concentrirt hat, das

iſt immer etwas Zufaͤlliges, eine quaestio facti, deren Loͤ-

ſung von der genauen Unterſuchung des einzelnen Falls ab-

haͤngt; aus allgemeinen Principien laͤßt es ſich nicht deduciren.

In dieſer Auffaſſung wuͤrde alſo mit dem Ausdrucke Ju-

riſtenrecht oder Recht der Wiſſenſchaft kein nach ſeiner Quelle

beſtimmter Rechtstheil, ſondern ein beſtimmter Zuſtand des

Rechts uͤberhaupt bezeichnet ſeyn. Das iſt es aber nicht, wor-

auf es hier ankommt, und wir wuͤrden alſo jenen weiten Be-

griff auch dann nicht gebrauchen koͤnnen, wenn es auch wirk-

lich der Fall waͤre, daß unſere Juriſten ſich das geſammte ge-

meine Recht zum wiſſenſchaftlichen Bewußtſeyn gebracht haͤt-

ten. Es ſoll im Juriſtenrecht vielmehr ein Gegenſatz zum

Volks- und Geſetzesrecht liegen, und der Begriff deſſelben

[87/0099]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

muß alſo nach der Verſchiedenheit der Rechtsquellen enger

gefaßt werden, und zwar dahin, daß es das durch den Juri-

ſtenſtand erzeugte Recht iſt. Aber auch in dieſer Faſſung kann

man damit einen weiteren und einen engeren Sinn verbinden.

Erſteres iſt der Fall, wenn man zum Juriſtenrecht auch dieje-

jenigen Normen zaͤhlt, welche durch die Deduction aus dem

Geiſte des poſitiven Rechts und aus dem Weſen der Rechts-

verhaͤltniſſe gewonnen werden. Allein das Ergebniß einer ſol-

chen Operation kann nicht als auf einer eigentlich rechtsbil-

denden Thaͤtigkeit des Juriſtenſtandes beruhend angenommen

werden. Jene Rechtsnormen ſind ſchon als ſolche implicite

in dem allgemeinen Princip enthalten; denn wenn dieſes ein-

mal zur Geltung gebracht iſt, ſo ſind auch alle daraus zu

entnehmenden Folgerungen geſetzt, und kommen zur Anwen-

dung, inſofern ſie nicht durch eine ſpecielle Vorſchrift oder

durch das Uebergreifen anderer Principien beſchraͤnkt oder be-

ſeitigt werden. Nun ſind freilich gerade die Juriſten darauf

angewieſen, auf dem Wege der Deduction und Combination

ſolche ſcheinbar verborgene Rechtsnormen mit der gehoͤrigen

Evidenz ans Licht zu foͤrdern und ſie practiſch anzuwenden.

Aber theils kommt ihnen dieſe Beſchaͤftigung nicht ausſchließ-

lich zu, da in vielen Faͤllen vom Volke ſelbſt eine ſolche Ope-

ration unmittelbar, wenn auch nicht nothwendig als eine rich-

terliche Function, vorgenommen wird; theils liegt in jener Thaͤ-

tigkeit uͤberhaupt keine Rechtsbildung, ſo wenig der Bergmann

das Erz bildet, welches er aus dem Innern der Erde auf die

Oberflaͤche bringt. Nur dann wuͤrde der Juriſtenſtand fuͤr

dieſe Art der Thaͤtigkeit die Bedeutung einer Rechtsquelle in

Anſpruch nehmen koͤnnen, wenn er den aufgefundenen Rechts-

ſatz unter ſeinen Haͤnden zu einer neuen Geſtalt umpraͤgte, ſo

[88/0100]

Zweites Kapitel.

zu ſagen eine Specification daran vornaͤhme, und ſich alſo zu

dem gegebenen Stoff ſchaffend verhielte.

Wenn nun aber eine wahre Rechtserzeugung von den

Juriſten ausgeht, ſie ein Juriſtenrecht im engeren Sinn be-

gruͤnden, ſo koͤnnen ſie dabei auf eine doppelte Weiſe verfah-

ren. Entweder gehen ſie mit Bewußtſeyn zu Werke, indem

ſie im Vertrauen auf die Stellung, welche ſie im Staate ein-

nehmen, und auf die ſichere Herrſchaft, welche ſie uͤber den

Rechtsſtoff ausuͤben, den beſtimmten Willen haben, neues

Recht zu ſchaffen; oder ihre Wirkſamkeit iſt in dieſer Bezie-

hung mehr eine unbewußte, welche nur allmaͤlig, nach Art

des Gewohnheitsrechts, mit der Rechtsbildung zu Stande

kommt. Von der erſten Art war die Thaͤtigkeit der claſſiſchen

roͤmiſchen Juriſten zur Kaiſerzeit, unterſtuͤtzt, aber nicht noth-

wendig bedingt von dem jus respondendi; in der zweiten

Art hat ſich das gemeine deutſche Juriſtenrecht entwickelt. Wie

dieß zugegangen, wird ſich erſt ſpaͤter bei der Darſtellung des

Einzelnen genauer nachweiſen laſſen; hier iſt nur der allge-

meine Grund anzugeben, der einfach in der Thatſache beruht,

daß die Juriſten das moderne deutſche Rechtsweſen faſt unbe-

ſchraͤnkt beherrſcht haben, und daß daher das, was ſie fuͤr po-

ſitives Recht hielten und als ſolches anwandten, auch wirklich

zur Geltung kam. So iſt das roͤmiſche Recht recipirt, modi-

ficirt, ſo ſind ganze Rechtslehren abgeſchafft, umgeaͤndert, neu

begruͤndet worden. Die Gewohnheit hat dieſem Treiben der

Juriſten die rechtliche Sanction gegeben. Daß ſie dabei zu-

weilen ein Organ des Volksrechts geweſen ſind, oder doch eine

vernuͤnftige Rechtsbildung befoͤrdert haben, ſoll gar nicht ge-

leugnet werden; aber das iſt wahrlich nicht immer der Fall ge-

weſen, und an und fuͤr ſich etwas Zufaͤlliges, aus welchem

[89/0101]

Feſtſtellung des Gegenſtandes.

die Berechtigung zu einer ſolchen Machtvollkommenheit nicht

hergeleitet werden darf.

Von dieſer Anſicht weicht freilich eine andere ganz und

gar ab, welche namentlich von Puchta ausgefuͤhrt, im We-

ſentlichen auch von Savigny gebilligt worden iſt, und die,

wie ſchon bemerkt worden, darauf beruht, daß das Juriſten-

recht eine Fortfuͤhrung des Volksrechts ſey.

„Wir haben alſo,“ ſagt Puchta (Gewohnheitsrecht II.

S. 20) „eine doppelte Art des auf die unmittelbare Volks-

uͤberzeugung gegruͤndeten Rechts zu unterſcheiden. Ein

Gewohnheitsrecht iſt vorhanden, nicht bloß wenn der Uebung

eines Satzes 1) eine gemeinſame Ueberzeugung der Volks-

glieder uͤberhaupt, ſondern auch wenn ihr 2) eine ſolche

der Rechtskundigen, der Juriſten als Vertreter des Volks

zu Grunde liegt.“ — —

Daher ſoll auch das Juriſtenrecht nur inſofern, als ſich

darin wirklich eine Repraͤſentation des Volksgeiſtes, der ſich

unter andern Verhaͤltniſſen als unmittelbares Volksrecht gel-

tend machen wuͤrde, ausſpricht, einen Anſpruch auf poſitive

Geltung haben. Ich muß es vorlaͤufig dem Leſer uͤberlaſſen,

in der angefuͤhrten Schrift von Puchta ſelbſt nachzuſehen, wie

er das deutſche Juriſtenrecht von dieſem Standpuncte aus zu

rechtfertigen geſucht hat, und empfehle in dieſer Beziehung na-

mentlich das vierte Buch: „Von der Gewohnheit im oͤffentli-

chen und im Kirchenrechte“ — zum Nachleſen. Beſonders

bezeichnend iſt aber die Art, wie der Fall behandelt wird, wenn

ein Irrthum der Juriſten die Veranlaſſung eines Rechtsſatzes

geworden iſt, — worauf ſich etwa auch die Reception des roͤ-

miſchen Rechts in Deutſchland zuruͤckfuͤhren ließe. Daran

denkt Puchta nun freilich nicht; ſeine Beiſpiele ſind beſcheide-

[90/0102]

Zweites Kapitel.

ner. So ſucht er z. B. darzuthun (a. a. O. S. 68 ff.),

daß die Ausdehnung, in der die ſogenannte Quaſi-Pupillar-

ſubſtitution von den Juriſten aufgefaßt worden iſt, auf einer

nationellen Ueberzeugung beruhe!

Einer ſolchen willkuͤhrlichen, weil unbegruͤndeten Beſchraͤn-

kung des Juriſtenrechts, welche doch nur zu ſpitzfindigen De-

ductionen oder, wenn dieſe nicht anerkannt werden, zur Rechts-

unſicherheit fuͤhren kann, — iſt nun ſchon Maurenbrecher *)

mit Nachdruck entgegengetreten. Von der Art wie er das

Juriſtenrecht vertheidigt (es ſoll auf dem Vertrauen, deſſen der

Juriſtenſtand ſich erfreut, auf deſſen Stellung als Staatsver-

treter beruhen!) iſt nun freilich nicht viel zu halten; und

auch, was er uͤber die Methode deſſelben vorbringt, grenzt

theilweiſe an das Abſurde. Aber in jenem Punct, daß dem-

ſelben eine ſelbſtaͤndige Bedeutung nicht abzuſprechen iſt, und

daß es in ſich den Grund ſeiner Geltung traͤgt, hat er das

Richtige getroffen.

*) Maurenbrecher hat an verſchiedenen Orten uͤber das Juriſtenrecht

gehandelt; zuletzt und am Weitlaͤuftigſten in ſeinem Lehrbuch des geſamm-

ten heutigen gemeinen deutſchen Privatrechts. 2. Aufl. Band 1. §. 28 ff.

[[91]/0103]

Drittes Kapitel.

Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze.

Was man gewoͤhnlich als gemeines Recht bezeichnet, iſt

kein beſtimmter, abgeſchloſſener Begriff, ſondern hat zwei we-

ſentlich verſchiedene Seiten an ſich, welche namentlich dann,

wenn man es mit ſeinen Gegenſaͤtzen zuſammen haͤlt, deutlich

hervortreten. Einmal verbindet man naͤmlich damit die Be-

deutung, daß es in einer gewiſſen Allgemeinheit zur Anwen-

dung kommt, und zwar in Beziehung auf einen beſtimmten

Staat oder ein beſtimmtes Volk, daß es ſeine Geltung uͤber

das Ganze ausdehnt, und nicht bloß in einzelnen, geographiſch

abgeſchloſſenen Theilen herrſcht. In dieſer Auffaſſung pflegt

man das gemeine Recht wohl jus generale zu nennen, und

ihm das jus speciale als Particularrecht, Statut u. ſ. w.

gegenuͤber zu ſtellen. Davon iſt nun die andere Bedeutung

des gemeinen Rechts verſchieden, welche zunaͤchſt auf die Be-

ſchaffenheit der darin enthaltenen Rechtsregeln bezogen wird,

indem von dieſen nur ſolche dahin gerechnet werden, welche

mit dem Geiſte des geſammten poſitiven Rechts uͤbereinſtim-

men, der ratio juris entſprechen. In dieſem Sinne heißt das

gemeine Recht ein jus commune, und den Gegenſatz davon

bildet das jus singulare, das beſondere oder anomaliſche

Recht, welches nicht auf dem reinen Rechtsgebiet entſprungen

iſt, ſondern den Grund ſeiner Geltung in der Beruͤckſichti-

gung eigenthuͤmlicher Verhaͤltniſſe hat, ſo daß darin eine Ab-

weichung von den allgemeinen Rechtsregeln liegt. — Auf dieſe

[92/0104]

Drittes Kapitel.

Weiſe kann es geſchehen, daß ſich das anomaliſche Recht als

jus generale darſtellt, und daß umgekehrt das jus com-

mune in einzelnen Inſtituten durch ſpecielle Rechtsnormen faſt

ganz außer Kraft geſetzt iſt.

Indeſſen iſt die Zerlegung des Rechtsſtoffs nach dieſen

Begriffsbeſtimmungen keine durchaus nothwendige, und nicht

fuͤr jedes poſitive Recht begruͤndet. Der Gegenſatz von jus

generale und speciale iſt immer nur zufaͤllig, und von der

Rechtsverfaſſung der einzelnen Staaten bedingt. So kennt

das roͤmiſch-juſtinianiſche Recht, abgeſehen etwa von einigen

unbedeutenden Ortsgebraͤuchen, gar keine ſpeciellen Rechtsnor-

men, und auch das franzoͤſiſche Recht iſt auf aͤhnliche Weiſe

generaliſirt worden. Aber auch der Gegenſatz von jus com-

mune und singulare, welcher allerdings eine mehr innerliche

Begruͤndung hat, iſt doch auch nicht immer derſelbe; denn er

ſetzt ſchon, um conſequent durchgefuͤhrt zu werden, eine ſehr

beſtimmte Abgrenzung des reinen Rechtsgebietes voraus, und

eine Einheit und Sicherheit der Principien, welche ſich nicht

allenthalben gleichmaͤßig finden, und nicht bloß von der allge-

meinen Beſchaffenheit des Rechts, ſondern auch von deſſen

formeller Ausbildung weſentlich abhaͤngen. — Fragen wir nun,

wie es ſich mit dem Begriff des gemeinen Rechts in Deutſch-

land verhalte, ſo zeigt ſich einer aufmerkſamen Betrachtung

bald, daß die Sache hier ihre ganz beſondere Schwierigkeit

hat, und daß ſie auch in der Wiſſenſchaft noch nicht zu ei-

nem voͤlligen Abſchluß gediehen iſt. Das kommt theils von

der großen, verwirrenden Mannichfaltigkeit her, welche uͤber-

haupt das deutſche Rechtsweſen charakteriſirt; theils hat es

darin ſeinen Grund, daß wir zwei weſentlich verſchiedene Ele-

mente in unſerm Rechte haben, ein deutſches und ein roͤmi-

[93/0105]

Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze.

ſches, welche ſich noch nicht vollſtaͤndig durchdrungen und zur

hoͤheren, organiſchen Einheit verbunden haben. Zum naͤheren

Verſtaͤndniß iſt hier aber noch Folgendes zu bemerken.

In fruͤherer Zeit laͤßt ſich unter den Deutſchen ein, ſeinen

weſentlichen Grundzuͤgen nach uͤbereinſtimmendes Recht des

freien Volkes nachweiſen, welches jedoch durch den Einfluß

der Stammesverſchiedenheit mannigfach modificirt war. Im

ſpaͤteren Mittelalter ſchied ſich die freie Bevoͤlkerung immer

mehr nach Staͤnden, und dieß hatte zur Folge, daß die Ein-

heit des aͤlteren Rechts ſich in ein verſchiedenes Staͤnderecht

aufloͤſte, welches wieder in den engeren Kreiſen der einzelnen

Territorien, Provinzen, Corporationen u. ſ. w. ſeine beſondere

Ausbildung erhielt. Dieſem Staͤnderecht ſtand nun, nachdem

es einmal begruͤndet war, kein gemeines Landrecht als das ei-

gentlich Herrſchende und Beſtimmende gegenuͤber, wenigſtens

nicht in der Bedeutung, daß es die eigentliche Rechtsregel, die

ratio juris enthalten haͤtte, von welcher das Staͤnderecht in

ſeiner Eigenthuͤmlichkeit nur eine beſondere Ausnahme bildete.

Dieſes trug vielmehr ſeine Regel in ſich ſelbſt, es ward von

ſelbſtaͤndigen Principien beherrſcht, welche ſich keinem gemein-

ſamen, nationalen Rechtsleben unterwuͤrfig zeigten; und nur

inſofern bei den verſchiedenen Staͤnden dieſelben Inſtitute gleich-

artig oder unter gewiſſen Modificationen wiederkehrten, und

nicht durch die ſpecielle Rechtsbildung eine eigenthuͤmliche Nor-

mirung erhalten hatten, laͤßt ſich noch von einem gemeinen

Recht im Sinne der aͤlteren Zeit ſprechen. — In dieſem Zu-

ſtande befand ſich das deutſche Recht, als das roͤmiſche reci-

pirt ward. Wie verſchieden aber war deſſen ganze Natur

gerade in der hier beſprochenen Beziehung. Es war durchweg

ein in der ganzen roͤmiſchen Monarchie gleichmaͤßig geltendes

[94/0106]

Drittes Kapitel.

Recht geweſen, welches die Staͤnde im germaniſchen Sinne

mit einem ſelbſtaͤndigen Lebensprincip gar nicht kannte. Jede

Perſon, jede Sache, jedes Rechtsgeſchaͤft ſteht unter der allge-

meinen Regel; nur fuͤr beſondere Faͤlle iſt eine Abweichung

von der ratio juris gemacht worden, ſey es aus Gruͤnden der

Zweckmaͤßigkeit, der Billigkeit oder der politiſchen Berechnung.

Aber in dieſen Ausnahmen, wenn ſie auch fuͤr die Perſonen

und Rechtsverhaͤltniſſe, auf welche ſie ſich beziehen, eine allge-

meine Geltung haben, ſpricht ſich doch keine ſelbſtaͤndige Rechts-

bildung aus; ſie haben eben nur ihre Bedeutung durch den

Gegenſatz, in dem ſie zur herrſchenden Rechtsregel ſtehen.

Das roͤmiſche Recht nun ward auf Deutſchland uͤbertra-

gen; es ſollte gelten, das war die urſpruͤngliche Idee der Ro-

maniſten, wie in der roͤmiſchen Monarchie ſelbſt, — unmittel-

bar, unbedingt oder doch mit moͤglichſt wenigen Beſchraͤnkun-

gen. Dadurch wurden nun nicht bloß die allgemeinen Inſti-

tute des deutſchen Rechts bedroht, ſondern auch das Recht der

verſchiedenen Staͤnde in ſeiner gemeinſamen Geſtaltung und

in ſeinen ſpeciellen Erſcheinungen; auch erkannten die Roma-

niſten in der That weder das Eine noch das Andere an, in-

dem ſie nur aus beſonderen Gruͤnden dem Lehenrecht eine ſelb-

ſtaͤndige Bedeutung einraͤumten. Faſt gleichzeitig ſchloß ſich

Deutſchland nun in getrennten Territorien ab, was zu den

ſchon beſtehenden ſpeciellen Rechtsformen noch die Ausbildung

der beſonderen Particularrechte hervorrief, und zu einer be-

ſchraͤnkten Anwendung des roͤmiſchen Rechts noͤthigte. Dieſes

ward nun ſchlechthin als das gemeine Recht aufgefaßt, und

zwar in dem doppelten Sinne des jus commune und jus

generale. In Beziehung auf den erſten Punct ſah man

darin allein die wahre Rechtsregel, die ratio juris, und jede

[95/0107]

Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze.

Abweichung davon, mochte ſie nun im Staͤnderecht oder in

einer ſpeciellen Rechtsbildung ihren Grund haben, oder auf

allgemeinen deutſchen Rechtsideen beruhen, war ein jus sin-

gulare, deſſen Geltung mit unguͤnſtigen Augen angeſehen und

moͤglichſt beſchraͤnkt ward. Als jus generale kam das roͤmiſche

Recht aber im ganzen Reich und in allen ſeinen Theilen zur

Anwendung, ſo daß demſelben durch eine ſpeciellere Rechts-

norm nur dann ſollte derogirt werden koͤnnen, wenn dieſe

foͤrmlich zu beweiſen war. Auf dieſer Anſicht beruht die Auf-

faſſung des roͤmiſchen Rechts als eines ſubſidiaͤren, welches

ſtets in subsidium, zur Aushuͤlfe, wenn engere Rechtsquellen

fehlten, zur Anwendung kommen ſollte, — eine Auffaſſung,

welche ſich aber erſt dann geltend machte, als die Particular-

rechte auch in den Augen der Juriſten ſchon eine gewiſſe

ſelbſtaͤndige Bedeutung gewonnen hatten. — Daß das roͤmiſche

Recht es zu einer ſolchen intenſiven Kraft und einem ſolchen

Umfang der Geltung bringen konnte, erklaͤrt ſich theils aus

aͤußeren Umſtaͤnden, theils aber auch daraus, daß die Entwick-

lung des modernen Staatsprincips, welches das abgeſchloſſene

ſtaͤndiſche Weſen nach und nach zerſetzend, zu einer einheitlichen

Rechtsbildung hindraͤngte, in Deutſchland zu keinem nationalen

Abſchluß kam, und daher nicht maͤchtig genug war, das roͤmiſche

Recht in ein einheimiſches gemeines Recht aufgehen zu laſſen,

und ſich daher mit jenem als dem Surrogat des letzteren

nothduͤrftig behalf. Dieß ward nun um ſo eher moͤglich, da

das jus commune immermehr von ſeinem roͤmiſchen Inhalt

fallen ließ, und ſich zu einem auch das Einheimiſche und Mo-

derne beachtenden Juriſtenrechte umſetzte, wie es ſchon im ſ. g.

usus modernus uns entgegentritt. Aber je mehr das deutſch-

rechtliche Element dieſer Lehre ausgebildet ward und ſich fuͤhlen

[96/0108]

Drittes Kapitel.

lernte, deſto mehr ſchied es ſich von dem Pandectenrecht aus,

und nahm am Ende als jus germanicum neben dem jus

romanum die Bedeutung eines gemeinen, ſubſidiaͤren Rechts

fuͤr ſich in Anſpruch, doch ſo, daß noch Vieles, was der ein-

heimiſchen Rechtsbildung angehoͤrte, der Herrſchaft des fremden

Rechts uͤberlaſſen blieb, oder gar nicht zu einer wiſſenſchaftlichen

Behandlung gelangte. Erſteres iſt namentlich bei manchen

Lehren des Juriſtenrechts, letzteres bei einem Theile des Volks-

rechts der Fall geweſen. — Dieß iſt nun noch im Weſentlichen

der Zuſtand des heutigen gemeinen Rechts in Deutſchland,

welches durch die Aufloͤſung der Reichsverfaſſung ſeine Natur

und Wirkſamkeit nicht veraͤndert hat, wohl aber in ſeiner allge-

meinen Geltung dadurch beſchraͤnkt iſt, daß in Folge der moder-

nen Codificationen ein großer Theil Deutſchlands ſeiner unmit-

telbaren Herrſchaft entzogen worden.

Das heutige gemeine deutſche Recht iſt alſo kein jus

generale in dem Sinn, daß es an allen Orten zur Anwen-

dung kaͤme; es umfaßt aber auch nicht bloß das jus com-

mune, da auch diejenigen Rechtsinſtitute, welche von der ſtrengen

ratio juris abweichen, und zu dieſer einen Gegenſatz bilden,

oder ihr eigenes Princip in ſich tragen, dazu gehoͤren. Das

Charakteriſtiſche des gemeinen Rechts beſteht vielmehr darin,

daß es nur ſolche Regeln enthaͤlt, welche eine allgemeinere

Natur haben, und keine Folge einer bloß ſpeciellen Rechtsbil-

dung ſind, wenn dieſe auch verhaͤltnißmaͤßig eine weite Geltung

haben ſollte. Aber damit iſt nicht geſagt, daß es ſeiner Be-

ſchaffenheit nach ganz gleichmaͤßig iſt; es giebt im Kreiſe des

gemeinen Rechts wieder nicht unbedeutende Verſchiedenheiten,

welche großen Theils auf dem Grundſatze beruhen daß die An-

wendung einer Rechtsregel von dem Daſeyn des Verhaͤltniſſes,

[97/0109]

Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze.

worauf ſie ſich bezieht, bedingt iſt, und welche ſich im Weſent-

lichen auf folgende Hauptpuncte zuruͤckfuͤhren laſſen.

1. Manche Rechtsinſtitute tragen einen ſolchen Charakter

der Allgemeinheit an ſich, daß ſie unter den gegebenen Ver-

haͤltniſſen allenthalben vorkommen koͤnnen, und um zur Gel-

tung zu gelangen, keine beſonderen Bedingungen vorausſetzen.

Wenn dieſe Inſtitute ſich nun zugleich in einer principien-

maͤßigen Einheit entwickelt haben, ohne daß namentlich die

Theilung des geltenden Rechtsſtoffs nach deutſchen und roͤmi-

ſchen Elementen verſchiedenartige Bildungen hervorgerufen, ſo

ſteht ihrer allgemeinen Anwendung nichts entgegen. Dann liegt

ein abſolut oder unbedingt gemeines Recht vor, welches nur inſo-

fern unter dem Einfluß der ſpeciellen Satzung, ſey es des geſchrie-

benen oder ungeſchriebenen Rechtes ſteht, daß dieſe es mit Ruͤck-

ſicht auf das beſtimmte Gebiet ganz ausſchließen, oder doch in

ſeiner principienmaͤßigen Geltung beſchraͤnken kann. Iſt weder

das Eine noch das Andere der Fall, ſo ſtehen die Verhaͤltniſſe

unter der unmittelbaren Herrſchaft des gemeinen Rechts.

2. Andere Rechtsinſtitute haben nicht dieſen allgemeinen

Charakter; ſie ſetzen entweder beſondere Lebensverhaͤltniſſe oder

eine ſpecielle Anerkennung in dem Particularrechte voraus, um

eine Anwendung zu finden, oder ſie haben ſich doch ſo verſchie-

denartig geſtaltet, daß man in jedem einzelnen Fall wiſſen muß,

welche beſtimmte Form des Inſtituts es iſt, um deren ſubſidiaͤre

Geltung es ſich handelt. Es genuͤgt dazu alſo nicht, daß das

Particularrecht dem gemeinrechtlichen Princip nur nicht hem-

mend entgegentritt, ſondern es wird auch noch vorausgeſetzt

daß es ſie ausdruͤcklich anerkennt, oder daß doch im engeren

Kreiſe des Rechtslebens die beſonderen Verhaͤltniſſe, um deren

Normirung es ſich handelt, thatſaͤchlich vorhanden ſind. Das

Beſeler, Volksrecht. 7

[98/0110]

Drittes Kapitel.

iſt das hypothetiſch oder bedingt geltende gemeine Recht, deſſen

Natur alſo bald von der Beſchaffenheit der Rechtsverhaͤltniſſe,

bald aber auch von der verſchiedenartigen Ausbildung des Rechts

ſelbſt beſtimmt wird.

3. Dieſen beiden Arten des gemeinen Rechts, welche als

gemeines Landrecht zu bezeichnen ſind, kann man nun noch

eine dritte unter der Bezeichnung: gemeines Staͤnderecht hinzu-

fuͤgen. Daſſelbe befaßt dann die gemeinrechtlichen Principien

des deutſchen Staͤnderechts, und gehoͤrt mit Ruͤckſicht auf die

Unmittelbarkeit und den Umfang ſeiner Geltung, wenigſtens in

wichtigen Beziehungen, dem unbedingt gemeinen Recht, wegen

ſeiner Beſchraͤnkung auf die einzelnen Staͤnde aber im Gegenſatz

zu der uͤbrigen Bevoͤlkerung dem bedingt gemeinen Rechte an.

Dem Begriff nach iſt alſo deſſen ſelbſtaͤndige Bedeutung, dem

gemeinen Landrecht gegenuͤber, durchaus gerechtfertigt; es fragt

ſich nur, ob im heutigen Rechtsleben die Staͤndeunterſchiede

noch von einer ſolchen Wichtigkeit ſind, daß es angemeſſen iſt,

darauf eine beſondere Art des gemeinen Rechts zu begruͤnden.

Aber dieſe Frage wird ſich erſt weiter unten, wo von dem

Staͤnderechte als Volksrecht genauer zu handeln iſt, (Kap. 7.)

erledigen laſſen; jedenfalls iſt ſchon in dem Angefuͤhrten die

gegebene Eintheilung vom Standpuncte der Theorie aus in

das gehoͤrige Licht geſtellt.

Jene Eintheilung des gemeinen Rechts in ein unbedingtes

und bedingtes laͤßt ſich nun auf den geſammten Rechtsſtoff, ohne

Ruͤckſicht auf ſeinen Gegenſtand, uͤbertragen, inſofern er uͤberhaupt

zu einer gemeinrechtlichen Ausbildung gekommen iſt. Denn

wenn es z. B. im Bereiche des Staatsrechts manche Lehren

giebt, die bis jetzt nur eine ſpecielle Normirung erhalten haben,

und denen noch keine gemeinrechtliche Durchbildung im Leben

[99/0111]

Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze.

und in der Wiſſenſchaft zu Theil geworden iſt, ſo kann fuͤr

dieſe natuͤrlich auch noch von keiner Geltung gemeinrechtlicher

Principien die Rede ſeyn; es wird an deren Stelle nur eine

allgemeinere Betrachtung particularrechtlicher Inſtitute eintreten

koͤnnen. Das iſt aber nicht bloß im Staatsrecht, ſondern

auch in andern Rechtstheilen und namentlich im Privatrecht

der Fall; aber wenn es in jenem ſich auch haͤufiger ſo verhaͤlt,

ſo iſt es doch irrig, deswegen das wirklich Gemeinrechtliche

mancher andern Inſtitute deſſelben verleugnen zu wollen. —

Die Eintheilung paßt aber nicht bloß auf den ganzen Rechts-

ſtoff, ſondern auch auf die verſchiedenen Elemente, aus denen

er zuſammengeſetzt iſt, moͤgen ſie nun fremde oder einheimiſche

ſeyn. Die Anſicht namentlich, daß nur das roͤmiſche Recht

mit ſeinen ſpaͤteren Fortbildungen den Charakter des gemeinen

Rechts an ſich trage, darf gegenwaͤrtig als beſeitigt angeſehen

werden; wenn ſie auch noch hie und da einmal wieder auf-

taucht, ſo ſind das Anklaͤnge einer bereits uͤberwundenen, aus-

ſchließlich romaniſtiſchen Richtung der aͤlteren Jurisprudenz.

Allein weiter verbreitet iſt noch die mehr oder weniger klar

ausgeſprochene Meinung, daß die Natur des roͤmiſchen und

des deutſchen Rechts in ihrer gemeinrechtlichen Bedeutung eine

verſchiedene ſey, und zwar in der Art, daß das erſtere den

Charakter eines unbedingt, das letztere nur den eines bedingt

geltenden gemeinen Rechts habe. Es iſt dieß eigentlich dieſelbe

Anſicht, welche die aͤltere Jurisprudenz ſo ausdruͤckte: wer ſich

auf das roͤmiſche Recht beruft, hat fundatam intentionem fuͤr

ſich, und wer die Geltung einer davon abweichenden Rechtsregel,

eines demſelben fremden Rechtsgeſchaͤfts fuͤr ſich anfuͤhrt, der

muß den Beweis derſelben uͤbernehmen. In dieſer Regel,

welche uͤbrigens ſchon von Mevius durchbrochen worden, ſpiegelt

7*

[100/0112]

Drittes Kapitel.

ſich noch die craſſe Rechtslehre der aͤlteren Romaniſten ab, und

es iſt daher nicht zu verwundern, daß ſie fruͤher beſtanden hat,

ſondern nur daß ſie noch ſo lange im Schwange bleiben koͤnnen,

nachdem auch das aus deutſchrechtlichen Elementen gebildete

gemeine Recht zur Anerkennung gelangt iſt. Denn es iſt ja

unzweifelhaft, daß gewiſſe Inſtitute deſſelben, z. B. die Fami-

lienfideicommiſſe, die Erbvertraͤge, ſo wie einzelne Rechtsregeln,

z. B. die Aufhebung der vaͤterlichen Gewalt durch Errichtung

eines ſelbſtaͤndigen Haushalts, — dem unbedingt gemeinen

Rechte angehoͤren. Daß das roͤmiſche Recht, wenigſtens bis

jetzt noch, quantitativ reicher an ſolchen Inſtituten iſt, wie das

deutſche, kann offenbar nichts ausmachen, wenn es ſich um

die Feſtſtellung der Begriffe handelt. — Waͤre dieß nun aber

auch anzuerkennen, ſo koͤnnte man doch verſuchen, der Sache

eine andere Wendung zu geben, indem man ſagte: das roͤmiſche

Recht bleibe doch ſtets ein unbedingt gemeines, wenn es auch

deutſchrechtliche Inſtitute mit derſelben Bedeutung neben ſich

dulde; der Begriff des bedingt gemeinen Rechts finde ſich nur im

deutſchen, und wenn jenes daher in einer Lehre einmal recipirt

worden, ſo enthalte es, den bedingt gemeinrechtlichen Inſtituten

des einheimiſchen Rechts gegenuͤber, ſtets die Regel, und koͤnne

die Vermuthung der Geltung fuͤr ſich in Anſpruch nehmen. —

In der That iſt dieſe Anſicht noch neulich von einer gewichtigen

Auctoritaͤt vertreten worden. Chr. L. Runde aͤußert ſich daruͤber

mit Beziehung auf zwei wichtige Rechtslehren in der angefuͤhrten

Weiſe. Ueber das Guͤterrecht der Ehegatten ſagt er:

„Das getrennte Guͤterrecht des roͤmiſchen Rechts muß

freilich in Deutſchland, ſo weit Juſtinians Geſetzſammlung

als gemeines ſubſidiariſches Recht gilt, als Regel ange-

nommen werden, welche keines Beweiſes bedarf. Denn das

[101/0113]

Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze.

roͤmiſche Recht iſt im Ganzen recipirt, und findet in der

Ehe und in dem Vermoͤgen der deutſchen Ehegatten einen

Gegenſtand, der zur Anwendung ſeiner Rechtsgrundſaͤtze voll-

kommen geeignet iſt. Es laͤßt ſich dagegen kein Syſtem der

Guͤtervereinigung, auch nicht des Nießbrauchs- und Verwal-

tungsrechts des Ehemanns am Paraphernalgute der Frau,

als ein in ganz Deutſchland ſubſidiar erhaltenes Rechtsinſtitut,

behaupten: ſondern die Nachweiſung muß auf die Beibehal-

tung oder Einfuͤhrung in einzelnen Laͤndern gerichtet ſeyn.

Und wenn ſich auch leicht ſtatiſtiſch darthun laͤßt, daß bei

weitem der groͤßte Theil der Bewohner Deutſchlands in

deutſchen Guͤterverhaͤltniſſen lebt, ſo uͤberhebt doch ein ſolches

Reſultat nicht der Nachweiſung in einem Falle, wo die

Erhaltung dieſer Verhaͤltniſſe beſtritten wird *).“

Aehnlich heißt es von der gerichtlichen Auflaſſung:

„— — Die gerichtliche Auflaſſung iſt in der letzten

Haͤlfte des 16. Jahrhunderts der Einwirkung des roͤmiſchen

Rechts gewichen. Nur particularrechtlich hat ſich neben der

roͤmiſchen Erwerbart durch Tradition in ihren verſchiedenen

Formen noch eine deutſche erhalten oder gebildet: — eine

Art gerichtlicher Auflaſſung, oder ſchriftliche Ausfertigung

mit gerichtlicher Beſtaͤtigung und Eintragung in Contracts-

buͤcher, oder Umſchreibung in Cataſter und Lagerbuͤcher, oder

Ingroſſation in die Grund- und Hypothekenbuͤcher neuerer

Einrichtung unter Berichtigung des Beſitztitels. Bei der

Vielſeitigkeit dieſer Formen und der Verſchiedenheit ihres

Zweckes und der Wirkung, der Folgen der Nichtbeachtung

*) Chr. L. Runde, deutſches eheliches Guͤterrecht (Oldenburg. 1841.) §. 4.

[102/0114]

Drittes Kapitel.

unter den Contrahenten wie gegen Dritte, kann hierin kein

gemein- deutſches Inſtitut unter dem Namen der Inveſtitur

anerkannt werden, welches nur bei Lehnguͤtern in dem als

gemeines Recht recipirten longobardiſchen Lehnrechte Grund

findet. Und wo nicht die eine oder die andere particular-

rechtlich als nothwendig zum Uebergang des dinglichen Rechts

nachgewieſen werden kann, da genuͤgt die gemeinrechtliche

Erwerbart des roͤmiſchen Rechts *).“

Zunaͤchſt nun draͤngt ſich bei dieſer Darſtellung das Be-

denken auf, daß es wohl uͤberhaupt nicht angemeſſen iſt, bei

einer Colliſion deutſcher und roͤmiſcher Rechtsinſtitute von

einem Beweiſe zu ſprechen, der noͤthig ſeyn ſoll, um die dem

einen Theil guͤnſtige Praͤſumtion fuͤr den andern zu beſeitigen.

Das erinnert doch zu ſehr an die von Puchta ſiegreich be-

kaͤmpfte Theorie uͤber den Beweis des Gewohnheitsrechts, welche

durchaus der Wuͤrde und freien Stellung des Richteramtes

widerſpricht, und ſich nur unter dem Einfluß eines ganz ver-

kuͤmmerten Rechtszuſtandes ausbilden konnte. Wenn bei einer

Colliſion der angefuͤhrten Art von einer Vermuthung die Rede

ſeyn ſoll, ſo darf dabei doch wohl auf keinen Fall an die pro-

ceſſualiſche praesumtio juris und an ein gewoͤhnliches Be-

weisverfahren gedacht werden; denn wie will man die Frage,

ob ein deutſchrechtliches Inſtitut irgendwo gelte, davon abhaͤngig

machen, ohne die Regel, daß der Richter das Recht kennen ſoll,

willkuͤhrlich zu beſchraͤnken, und die Anwendung des Rechts

von Zufaͤlligkeiten beſtimmen zu laſſen! Wird es doch wohl

uͤberhaupt nicht leicht geſchehen, daß man bei Inſtituten, die

*) Derſelbe in der Zeitſchrift fuͤr deutſches Recht, Band 7. Heft 1.

No. 1. S. 7. 8.

[103/0115]

Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze.

faſt taͤglich in den Rechtsverhaͤltniſſen jeder Familie und jedes

Geſchaͤftsmanns zur Sprache kommen, wirklich im Zweifel iſt,

ob ſie in einem beſtimmten Bezirke gelten oder nicht, und in

welcher Form und mit welcher Wirkung ſie daſelbſt vorkommen.

Treten aber ausnahmsweiſe ſolche Zweifel ein, ſo ſind zu ihrer

Beſeitigung andere Mittel noͤthig, als die Beweisfuͤhrung der

Parteien, welche nur adminiculirend dabei eingreifen kann. —

Wollte man aber die Sache auch anders auffaſſen, und mit der

Vermuthung fuͤr das roͤmiſche Recht etwa nur ſo viel ſagen,

daß ſo lange die Geltung der deutſchrechtlichen Grundſaͤtze

nicht ganz feſt ſtehe, nach jenem erkannt werden muͤſſe, ſo fehlt

es doch auch fuͤr eine ſolche Anſicht an genuͤgenden Gruͤnden.

Runde hebt deren namentlich zwei hervor.

1. Das roͤmiſche Recht ſey im Ganzen recipirt worden,

und muͤſſe daher auch fuͤr die Verhaͤltniſſe, fuͤr welche es uͤber-

haupt applicabel ſey, im Zweifel zur Anwendung kommen. Darauf

erwidere ich, daß allerdings die urſpruͤngliche Abſicht der Ro-

maniſten darauf gerichtet war, die Reception vollſtaͤndig durch-

zufuͤhren; daß ihnen dieß ja aber eben nicht gelungen iſt.

Viele roͤmiſche Inſtitute, namentlich aus dem oͤffentlichen Rechte,

ſind gar nicht practiſch geworden, weil ſich eben die Unmoͤg-

lichkeit zeigte, ſie zur Geltung zu bringen, und man ſich damit

begnuͤgen mußte, das einheimiſche Recht mehr oder weniger zu

romaniſiren; in andern Lehren drang das roͤmiſche Recht aller-

dings durch, aber nur ſo, daß die gegenuͤberſtehenden deutſch-

rechtlichen Inſtitute davon nicht ganz unterdruͤckt wurden, ſon-

dern neben den roͤmiſchen ihre ſelbſtaͤndige Haltung bewahrten.

Das iſt gerade in den von Runde behandelten Faͤllen, bei dem

ehelichen Guͤterrecht und bei der Erwerbung dinglicher Rechte

am Grundbeſitz geſchehen; ja das einheimiſche Recht hat hier

[104/0116]

Drittes Kapitel.

offenbar nicht bloß die groͤßere ſtatiſtiſche Ausdehnung fuͤr ſich,

ſondern auch intenſiv einen uͤberwiegenden Einfluß behauptet, ſo

daß Haſſe z. B. geneigt iſt, die gemeinrechtliche Praͤſumtion zu

Gunſten der gerichtlichen Auflaſſung zu ſtellen. Dieß hat aber

auch wieder ſein Bedenkliches; vielmehr ſcheint das allein Rich-

tige zu ſeyn, daß man in einem ſolchen Colliſionsfall alle in

Betracht kommenden Verhaͤltniſſe unbefangen erwaͤgt, ohne daß

man dem Umſtande, ob ein Inſtitut roͤmiſchen oder deutſchen

Urſprungs iſt, irgend eine entſcheidende Wirkung beilegte. Da-

durch wird auch der ſo nahe liegende Einwand beſeitigt, daß viele

Inſtitute gar nicht mehr einen rein roͤmiſchen oder rein deutſchen

Charakter haben, ſondern aus einer Vereinigung jener beiden Ele-

mente unſers heutigen Rechts ihre jetzige Geſtalt erlangt haben. —

Nur wenn es ſich beſtimmt darthun ließe, daß eine Lehre,

z. B. die des roͤmiſchen Rechts uͤber die Vindication der Mobi-

lien, unbedingt gemeinrechtlich geworden iſt, kann man ſie, bis

man ſich von der Geltung einer ihr widerſtrebenden Regel fuͤr

den beſondern Fall uͤberzeugt hat, unbedenklich zur Anwendung

bringen.

2. Einen zweiten Grund entnimmt Runde dem Umſtande,

daß das roͤmiſche Recht ſich als ein abgeſchloſſenes, einheitliches

Syſtem darſtellt, waͤhrend das deutſche, wenigſtens bei den

oben angefuͤhrten Lehren, eine große Mannichfaltigkeit der Er-

ſcheinungen aufweiſt, und daher jenem nicht mit derſelben Be-

ſtimmtheit entgegentritt. Das erſchwert allerdings die praktiſche

Durchfuͤhrung dieſer deutſchrechtlichen Inſtitute in ihrer gemein-

rechtlichen Wirkſamkeit außerordentlich; denn es genuͤgt nicht,

daß man fuͤr den gegebenen Fall wiſſe, es ſey darauf das

einheimiſche Recht zur Anwendung zu bringen, ſondern man

muß nun noch weiter unterſuchen, welches beſondere Inſtitut

[105/0117]

Das gemeine Recht und ſeine Gegenſaͤtze.

denn eben vorliege; und dabei kann es denn auch wohl geſchehen,

daß man, ſelbſt wenn dieſes feſtgeſtellt worden, noch im Zweifel

bleibt, nach welchen Grundſaͤtzen daſſelbe zu beurtheilen iſt.

Dieſe Rechtsunſicherheit iſt die unſelige Folge unſerer unter-

brochenen und verkuͤmmerten Rechtsbildung; ſie iſt ein großes

Uebel und kann, zum Theil wenigſtens, nur durch die Geſetz-

gebung gehoben werden. Aber es liegt darin kein Grund, der

Herrſchaft des roͤmiſchen Rechts eine Ausdehnung zu geben,

welche demſelben nicht an und fuͤr ſich nach der Stellung, die

es im heutigen Rechte einnimmt, gebuͤhrt; ein ſolches Verfahren

wuͤrde den Charakter der Willkuͤhr an ſich tragen, welche das

Uebel nur aͤußerlich verdeckte, und leicht zu den ſchlimmſten

Rechtswidrigkeiten fuͤhren koͤnnte. — Man wird alſo in einem

Fall, wo es zweifelhaft erſcheint, ob das Guͤterrecht der Ehe-

gatten nach roͤmiſchem oder deutſchem Recht zu beurtheilen iſt,

die Frage nicht ſo ſtellen duͤrfen: gilt hier das Dotalſyſtem

oder die Guͤtergemeinſchaft? ſondern man wird ſie dahin for-

muliren muͤſſen: welches Recht iſt auf dieſen Fall anzuwenden?

und nun naͤher zu unterſuchen haben, ob es das reine roͤmiſche

iſt, oder irgend eine Form des deutſchen Rechts oder etwa eine

Miſchung von beidem, wie ſie ſich gerade auf dieſem Gebiete

ſo haͤufig findet. Eben ſo hat man ſich denn in aͤhnlichen

Faͤllen zu benehmen, z. B. bei dem baͤuerlichen Guͤterrecht.

Nach Runde’s Anſicht wuͤrde man auch bei der Erbpacht im

Zweifel fuͤr die roͤmiſche Emphyteuſe vermuthen muͤſſen, und

das, glaube ich, wird der beruͤhmte Bearbeiter unſeres Bauern-

rechts ſelbſt am Wenigſten gelten laſſen wollen.

Ich faſſe nun noch einmal das Ergebniß dieſer Eroͤrterung

kurz zuſammen. Das Recht iſt entweder gemeines oder par-

ticulaͤres (ſpecielles) Recht, und jenes wieder Landrecht oder

[106/0118]

Drittes Kapitel. Das gemeine Recht c.

Staͤnderecht, und zwar bald mit der Kraft einer unbedingten,

bald nur mit der einer bedingten Geltung. Dieſe Eintheilung

befaßt das geſammte gemeine Recht, mag es nun fremden oder

einheimiſchen Urſprungs ſeyn. Auch das Volksrecht und das

Juriſtenrecht werden dadurch nach dem Umfang ihrer Geltung

naͤher beſtimmt, und koͤnnen alſo in der weiteſten Ausdehnung und

in der engſten Begrenzung ihre Anwendung finden. Doch iſt

der Sitz des Juriſtenrechts vor Allem in dem gemeinen Land-

recht zu ſuchen, waͤhrend das Volksrecht ſich haͤufig auch in

den engeren Kreiſen der Gemeinde, der Provinz u. ſ. w. dar-

ſtellt. Gerade hier hat ſich, namentlich unter dem Bauern-

ſtande, ein reicher Schatz von ſinnvollen und echtnationalen

Rechtsformen und Gebraͤuchen erhalten, welche von einem, der

Gegenwart zugewandten Jacob Grimm erforſcht und zuſam-

mengeſtellt, fuͤr die lebendige Kunde des einheimiſchen Rechts

von großer Bedeutung werden koͤnnten. Auch in dem Par-

ticularrecht der einzelnen deutſchen Staaten findet ſich das

Volksrecht in manchen eigenthuͤmlichen Erſcheinungen, welche

nicht bloß eine allgemeine nationale Rechtsidee unter beſonderen

Modificationen wiedergeben. Daß ſich eben in dieſer Sphaͤre

ſolche originelle Rechtsbildungen von wahrhaft volksthuͤmlichem

Gehalt nicht noch haͤufiger zeigen, als es in der That der Fall

iſt, erklaͤrt ſich wohl nur daraus, daß auf die Entſtehung der

meiſten deutſchen Staaten ſo viel Zufaͤlliges eingewirkt hat,

welches es nicht zu einem organiſchen Verwachſen der einzelnen

Theile und zu einer entſprechenden Rechtsbildung kommen ließ.

[[107]/0119]

I.

Das Volksrecht.

[[108]/0120]

[[109]/0121]

Viertes Kapitel.

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

Nimmt man das Volksrecht in ſeiner eigentlichen Bedeutung

als das im Volke entſtandene und in deſſen Bewußtſeyn lebende

Recht, ſo kann uͤber die Loͤſung der Frage, wie es erkannt

wird, nicht leicht ein Zweifel beſtehen. Das Volk in ſeiner

Geſammtheit oder in ſeinen engeren Kreiſen, wie nun der Um-

fang des Rechts ſich darſtellt, hat von demſelben eine unmit-

telbare Anſchauung, welche in den Zuſtaͤnden und Verhaͤltniſſen

des buͤrgerlichen Lebens die darin enthaltenen rechtlichen Mo-

mente erfaßt, und mit jenen zugleich die ſie beherrſchende Norm

kennt und handhabt. Ebenſo verhaͤlt es ſich mit jedem Ein-

zelnen, in deſſen Bewußtſeyn ſich vermoͤge ſeiner Stellung und

ſeiner Lebens- und Geſchaͤftserfahrung die gemeinſame Rechts-

kunde abſpiegelt; er bedarf keiner beſonderen Mittel, um dazu

zu gelangen, ſondern es genuͤgt ihm, wenn er ſich eben nur

ſeines Zuſammenhangs mit der Geſammtheit in dieſer Hinſicht

ſicher iſt. Sollte aber jemand, der außerhalb des Volkslebens

und der Volksanſchauung ſtaͤnde, geneigt ſeyn, ſich die Kenntniß

des darin enthaltenen Rechtes zu verſchaffen, ſo wuͤrde er ganz

nach Art eines Naturforſchers zu Werke gehen muͤſſen, indem

er auf dem Wege der Beobachtung ſich die ihm urſpruͤnglich

fremden Zuſtaͤnde aneignete Wie weit ihm dieß gelingen wird,

[110/0122]

Viertes Kapitel.

das haͤngt von der Beſchaffenheit des Gegenſtandes, von guͤn-

ſtiger Gelegenheit, und vor Allem von der Geſchicklichkeit, dem

Fleiße und der Treue des Forſchers ab. — In der oben an-

gegebenen Weiſe wird ſich die Rechtskunde unter den deutſchen

Voͤlkerſchaften zur Zeit ihres erſten Auftretens in der Geſchichte

verhalten haben; und als ein Beiſpiel des gelungenen Forſchens

vom Standpuncte des fremden Beobachters aus tritt uns das

Werk des Tacitus uͤber unſere Vorfahren entgegen.

Bei der weiterſchreitenden ſtaatlichen Entwicklung konnte

aber jene durchaus naive Auffaſſung des Rechts im Volke

nicht ganz ungetruͤbt bleiben; die Verwicklung der menſchlichen

Dinge in ihrer allmaͤligen Ausbildung ſchwaͤcht die Urſpruͤng-

lichkeit und Klarheit der Anſchauung, und wenn poſitive Satzun-

gen durch Geſetzgebung und Autonomie eingreifen, ſo iſt ſchon

eine ſinnende Ueberlegung, eine gewiſſe Kritik noͤthig, um ſich

des aͤußerlich feſtgeſtellten Materials im Zuſammenhange mit

dem geſammten volksthuͤmlichen Rechtsſtoff bewußt zu werden.

In beiden Beziehungen iſt fuͤr das Volk ein Anhalt, eine Lei-

tung noͤthig, welche ihm durch die Thaͤtigkeit beſonders erfah-

rener und weiſer Maͤnner in der Lehre und Anwendung des

Rechts geboten wird. So treten ſchon zur Zeit der alten Leges

die Sapientes hervor, die offenbar einen mehr als gewoͤhnlichen

Einfluß hatten, und deren ſich Karl der Große bei ſeiner Ge-

ſetzgebung wohl zu bedienen wußte. Auch Eike von Repkow,

ſo ſehr er aus der Fuͤlle ſeiner Erfahrung und im Bewußtſeyn,

nur als Organ des Volks etwas zu bedeuten, ſein unſterbliches

Werk ſchrieb, hatte ſchon neben dem ſchlichten Volksrecht ein

poſitives Rechtsmaterial vor ſich, deſſen er ſich nicht ohne

Studium bemaͤchtigen konnte. Denn er mußte die Kaiſergeſetze

beachten, Landrecht und Lehenrecht, geiſtliches und weltliches,

[111/0123]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

ſaͤchſiſches und ſchwaͤbiſches Recht gegen einander abwaͤgen,

und das ſchon damals ſo verzwickte Hof- und Dienſtrecht

zeigte ſich keiner gemeinſamen Rechtsanſchauung, ſondern nur

der genauen Erwaͤgung in den engen Kreiſen ſeiner Geltung

zugaͤnglich. — Spaͤter mit dem politiſchen Verfall der deut-

ſchen Nation zog ſich der einheitliche Kern des gemeinen Land-

und Lehenrechts immermehr zuſammen, und nur fuͤr das

Recht der einzelnen Staͤnde in ihren verſchiedenen Verzwei-

gungen blieb die volle Sicherheit der unmittelbaren Rechtsan-

ſchauung beſtehen. Auch dieſe ward durch die Reception des

roͤmiſchen Rechts gebrochen; die neue Lehre, welche allenthal-

ben eindrang, ſtand dem Volke ganz und gar fern, und ward

nur durch den Juriſtenſtand, der nicht mehr der Leiter und

Fuͤhrer, ſondern der ausſchließliche Vertreter des Volkes ſeyn

wollte, getragen und angewandt.

Das mußte denn freilich fuͤr diejenigen Inſtitute des

Volksrechts, welche ſich noch in Geltung erhalten, oder unter

der Einwirkung des modernen Lebens neu geſtaltet hatten,

von der groͤßten Bedeutung ſeyn. Die Juriſten, welche hier

ihre Schwaͤche fuhlten, wußten ſich nur durch die Anwendung

der ihnen thatſaͤchlich beiwohnenden Machtvollkommenheit zu

helfen: Abweichungen vom roͤmiſchen Recht mit einer gemein-

rechtlichen Wirkſamkeit ließen ſie nur dann gelten, wenn die

Auctoritaͤt ihres Standes ſie anerkannte, ohne daß man ſich

eben die Muͤhe nahm, dieſe auch wieder nach ihren letzten

Gruͤnden zu pruͤfen; fuͤr ſpeciellere Rechtsnormen dagegen for-

derten ſie ganz willkuͤhrlich, aber durch die Noth dazu gedrun-

gen, einen civilproceßmaͤßigen Beweis, ſey es durch die Pro-

ducirung eines guͤltigen Statuts oder die Darlegung eines

Gewohnheitsrechts. Denn wenn es auch der Theorie nach

[112/0124]

Viertes Kapitel.

eine allgemeine Gewohnheit ſeyn konnte, fuͤr welche man eine

Beweisfuͤhrung zuließ, ſo war doch deren Beſchaffenheit von

der Art, daß das Gelingen derſelben in dieſer Anwendung ſo

gut als unmoͤglich war. Man dachte naͤmlich nicht an das

Daſeyn eines ſelbſtaͤndigen Volksrechts und an die Moͤglich-

keit, dieſes unmittelbar zu erfaſſen; der Begriff war in den

des Gewohnheitsrechts aufgegangen, deſſen eigentliche Begruͤn-

dung eben in der Gewohnheit gefunden ward. Daher ſuchte

man die Bedeutung des Rechts in einer Reihe aͤußerer Hand-

lungen, in denen es ſich offenbart hatte, und ſtellte nur auf

dieſe den Beweis, indem man den Richter in der Rechtsfin-

dung aͤhnlich beſchraͤnkte, wie in der Pruͤfung jeder andern

Beweisfuͤhrung uͤber proceſſualiſche Thatſachen.

Neben dieſer Theorie uͤber den Beweis des Gewohnheits-

rechts entwickelte ſich aber ſeit der Mitte des 17. Jahrhun-

derts in Folge der germaniſtiſchen Richtung in der Jurispru-

denz eine ganz neue Lehre, indem man die ſelbſtaͤndige Exi-

ſtenz einheimiſcher Rechtsinſtitute annahm, und dieſen neben

dem roͤmiſchen Recht den Charakter der Gemeinrechtlichkeit bei-

legte. Inſofern dieſes deutſche Recht nicht mit dem ſchon feſt-

geſtellten Juriſtenrecht zuſammen fiel, mußte dafuͤr natuͤrlich

eine beſondere Methode zur Anwendung gebracht werden, und

zwar eine ſolche, welche auf anderen Principien beruhte, als

auf denen einer fuͤr das Studium des geſchriebenen Rechts

nothwendigen Exegeſe. So wie man aber lange Zeit uͤber

den eigentlichen Charakter dieſes deutſchen Rechts ſelbſt nicht

recht ins Klare und zu einer vollen Uebereinſtimmung kommen

konnte, ſo ſchwankte man auch uͤber die dafuͤr aufzuſtellende

Methode. Man ſah wohl ein, daß die Herbeiziehung ganz

fernſtehender roͤmiſcher Analogien zu keinem wiſſenſchaftlichen

[113/0125]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

Reſultate fuͤhre; aber wie man den einheimiſchen Rechtsinſti-

tuten ſelbſtaͤndig beikommen ſollte, das war eben die ſchwer

zu loͤſende Frage. Bald ſuchte man ſich auf dem Wege der

hiſtoriſchen Forſchung das noͤthige Material zu verſchaffen,

ohne aber zu deſſen vollſtaͤndiger Einſicht zu gelangen; man

berief ſich auch auf die Auctoritaͤt der Juriſten und nament-

lich auf die Spruͤche der Gerichtshoͤfe, wodurch man aber nicht

uͤber die bloß aͤußerliche Geltung eines Juriſtenrechts hinaus-

kam; man wollte auch wohl das Volksleben ſelbſt beobachten,

begnuͤgte ſich jedoch meiſtens damit, daß man ſich auf die

oft dunklen und unſicheren Rechtsſprichwoͤrter verließ; endlich

ſuchte man von den Particularrechten einen gemeinrechtlichen In-

halt abzuziehen, den man denn als das Weſen der Inſtitute

und die Natur der Sache hinſtellte. Allein alle dieſe Beſtre-

bungen entbehrten der ſicheren Grundlage eines wiſſenſchaftli-

chen Princips, und in der Ausfuͤhrung oft der gehoͤrigen Um-

ſicht und des richtigen Tactes. Auch ſah man ſich allenthal-

ben vom roͤmiſchen Recht eingeengt, welches in der Praxis der

Gerichtshoͤfe durchaus vorherrſchte, und zu dem man nicht

die rechte Stellung zu gewinnen wußte. — Wie es ſich nun

aber auch mit dem Werthe dieſer aͤlteren germaniſtiſchen Me-

thode verhalten mag, ſo ſteht doch jedenfalls ſo viel feſt, daß

ſie Rechtsſaͤtze, die wenigſtens theilweiſe als Volksrecht ſich

herausſtellen, zur allgemeinen Geltung bringen wollte, ohne

daß von einem ſtrengen Beweiſe des Gewohnheitsrechts die

Rede geweſen waͤre: vielmehr ward ein ſolcher fuͤr die einmal

wiſſenſchaftlich anerkannten Normen des einheimiſchen Rechts

von den Germaniſten fuͤr uͤberfluͤſſig gehalten, oder man ver-

langte hoͤchſtens die Anerkennung des betreffenden Inſtituts

im Particularrechte. Dieſe beiden Wege, das einheimiſche

Beſeler, Volksrecht. 8

[114/0126]

Viertes Kapitel.

Recht kennen zu lernen, gingen nun eine Zeit lang neben ein-

ander her: die aͤltere Theorie uͤber den Beweis des Gewohn-

heitsrechts ward fuͤr die ſpecielleren Rechtsformen feſtgehalten,

auch von den Germaniſten, die hierin keine Neuerung verſuch-

ten, wenn auch ausnahmsweiſe wohl einmal von einem Ge-

richtshofe nach einem geltenden Rechtsſatze unmittelbar im

Volke geforſcht ward; dagegen bekam die jener Theorie dem

Princip nach durchaus feindliche germaniſtiſche Methode im-

mer mehr Haltung, und fand ſelbſt, je mehr man ſich auf

dem Catheder und in den hoͤheren Gerichtshoͤfen damit be-

freundete, auch unter den Romaniſten mehr Anerkennung. Dieſe

mochten froh ſeyn, einige Lehren, welche ſich dem roͤmiſchen

Recht doch ſo gar nicht anbequemen ließen, aus den Pandecten

los zu werden, und ſo traten ſie allmaͤlig den Germaniſten

ein, wenn auch nur enges Gebiet ab, indem es dieſen uͤber-

laſſen blieb, ſich daſſelbe nach eigenem Ermeſſen ſelbſt zu be-

ſtellen, und hoͤchſtens einige bedenkliche Bemerkungen uͤber die

angebliche Gemeinrechtlichkeit der deutſchrechtlichen Lehren ver-

nommen wurden.

In neueſter Zeit iſt nun freilich die Wiſſenſchaft des deut-

ſchen Rechts um Vieles weiter gekommen, und auch die wun-

derliche Theorie von dem Beweiſe des Gewohnheitsrechts hat

durch die von Puchta dagegen erhobene Polemik (ein Haupt-

verdienſt ſeines Werkes uͤber das Gewohnheitsrecht!) eine un-

heilbare Wunde erhalten; aber deſſenungeachtet beſtehen doch

noch der Schwierigkeiten genug, wenn es ſich um die rechte

Erkenntniß des Volksrechts handelt. Das groͤßte Hinderniß

bleibt immer dieſes, daß wir uns in einem ſo verworrenen,

unorganiſch geſtalteten Rechtszuſtande befinden, in welchem die

verſchiedenartigſten Elemente unverbunden neben einander lie-

[115/0127]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

gen, das fremde Recht noch uͤberwiegt, und das Verhaͤltniß zwi-

ſchen dieſem und dem einheimiſchen, wie zwiſchen dem gemeinen

und particulaͤren Rechte weder in der Wiſſenſchaft noch in der

Praxis gehoͤrig befeſtigt iſt. Hat dieſer Zuſtand ſchon uͤber-

haupt dem Volksrecht einen großen Theil der ihm gebuͤhren-

den Bedeutung geraubt, ſo hat er ſich demſelben auch darin

feindlich bewieſen, daß es ſelbſt in ſeinem gegenwaͤrtigen Be-

ſtande vereinzelt daſteht, ohne ſich an eine allgemeine, ihm ent-

ſprechende Rechtsbildung anzulehnen, und daß es in vieler Hin-

ſicht von fremden, ja feindlichen Principien beengt und durch-

kreuzt wird, denen es nur wie durch ein Wunder nicht ganz

erlegen iſt. Das Volksrecht muß daher in einer zwiefachen

Beziehung aufgefaßt werden: einmal ſeinem ſelbſtaͤndigen Ge-

halte nach, und dann in ſeinem Verhaͤltniſſe zu den andern

Rechtsquellen. Wenn man nun auch in erſterer Hinſicht ſa-

gen duͤrfte: das Princip der Erkenntniß beruht noch immer

auf der unmittelbaren Anſchauung des Volkes ſelbſt, und wer

deren nicht von Haus aus theilhaftig iſt, der muß auf dem

Wege der Beobachtung dazu zu gelangen ſuchen; ſo ſtellt ſich

in jener andern Ruͤckſicht auf das Verhaͤltniß zu dem ſonſt

geltenden Rechte doch immer die Anforderung einer beſonde-

ren, nur durch ein gelehrtes juriſtiſches Studium zu gewin-

nenden Rechtskunde heraus. Aber auch jene ſelbſtaͤndige Auf-

faſſung des Volksrechts aus der unmittelbaren Anſchauung der

Lebensverhaͤltniſſe iſt nur moͤglich, wenn es ſich wirklich noch

ganz rein und mit fremdartigen Beſtandtheilen unverſetzt darin

abſpiegelt. Hat ſchon die Geſetzgebung, die Jurisprudenz,

vielleicht mit roher Hand, darein gegriffen; iſt im Laufe der

Zeiten den nationalen Rechtsinſtituten ihre weſentliche Baſis

entzogen, ragen ſie nur wie halbverfallene Ruinen aus einer

8*

[116/0128]

Viertes Kapitel.

fruͤheren, von andern Ideen getragenen Zeit heruͤber, und ſind

ſtatt der ſicheren Anſchauung nur noch mehr oder weniger un-

klare Vorſtellungen von ihrer eigentlichen Bedeutung geblieben:

da laͤßt ſich aus dem Volksleben allein nicht mehr die volle

Rechtskunde ſchoͤpfen, und ſelbſt die Wiſſenſchaft mit allem

Apparate der hiſtoriſchen Forſchung und der Entwicklung aus

der Vernunft der Dinge wird dann kaum vermoͤgen, fuͤr das

geltende Recht einen vollkommen ausgefuͤhrten und feſten

Bau zu errichten.

So viel wird aber im Allgemeinen anzunehmen ſeyn,

daß die Art und Weiſe, wie man zur Erkenntniß des Volks-

rechts gelange, wenigſtens dem Princip nach dieſelbe ſeyn muß,

mag man dabei nun einen wiſſenſchaftlichen oder einen beſon-

deren practiſchen Zweck verfolgen. Jene Trennung einer eige-

nen germaniſtiſchen Methode und einer ſtrengen Beweisfuͤh-

rung Behufs der Anwendung des Gewohnheitsrechts vor Ge-

richt hat, inſofern das Volksrecht dabei in Betracht kommt,

keinen inneren Grund, und hat ſich wohl nur deswegen ſo

lange erhalten, weil man theils dem wiſſenſchaftlichen Ergeb-

niß der germaniſtiſchen Studien, die an ſich noch weit davon

entfernt waren, den ganzen noch vorhandenen Rechtsſtoff des

Volksrechts zum Verſtaͤndniß und zur Anerkennung zu brin-

gen, kein rechtes Vertrauen abgewinnen konnte; theils aber un-

ter dem Gewohnheitsrecht nicht bloß wahres Volksrecht ver-

ſtanden wurde, ſondern auch manche durch die Laͤnge der Zeit

zu Recht gewordene factiſche Zuſtaͤnde, wobei denn unter dem

Namen der Obſervanz auch wohl ſolche Verhaͤltniſſe herbeige-

zogen wurden, welche dem Recht im objectiven Sinne eigent-

lich gar nicht angehoͤrten, und nur nach den Grundſaͤtzen der

unvordenklichen Verjaͤhrung zu beurtheilen waren. Indem ich

[117/0129]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

daher jetzt daran gehe, die Erkenntnißquellen des Volksrechts

genauer zu betrachten, darf ich die Erwaͤgung, zu welchem be-

ſonderen Zwecke das Recht erkundet werden ſoll, ganz bei

Seite. laſſen.

1. Es iſt ſchon bemerkt worden, daß das Volksrecht in

ſeiner urſpruͤnglichen Beſchaffenheit am Unmittelbarſten und

Sicherſten vom Volke ſelbſt, in dem es lebendig iſt, erkannt

wird. Wenn dieß nun im Allgemeinen auch nicht beſtritten

werden kann, ſo entſteht doch die weitere Frage, wie es ſich

mit dieſem Lebendigſeyn verhalte, und auf welche Weiſe es

ſich bewaͤhre. Man kommt naͤmlich, wenn man ſich dieſe wei-

teren Beziehungen nicht klar macht, leicht dahin, die Rechts-

kunde im Volke fuͤr etwas anzuſehen, was ſich von ſelbſt ver-

ſteht, und mit einer gewiſſen Nothwendigkeit jedem Einzelnen,

der in der großen Gemeinſchaft iſt, wie etwa die Sprache ſich

aufdraͤngt. Allein ein ſolches Verhaͤltniß wird ſelbſt bei einer

ganz naturgemaͤßen Entwicklung der Dinge nicht durchweg be-

ſtehen. Allgemeine Rechtswahrheiten, die ſich bei einer gewiſ-

ſen Ausbildung der buͤrgerlichen Geſellſchaft als unabweisliche

Anforderungen der menſchlichen Natur herausſtellen; Rechts-

grundſaͤtze, die aus der Tiefe der nationalen Sitte hervortre-

ten, und uͤber das geſammte Volk oder deſſen einzelne Gliede-

rungen einen unmittelbaren und gleichmaͤßigen Einfluß aus-

uͤben: dieſe werden von jedem verſtaͤndigen Individuum erfaßt,

und wenn auch mit groͤßerer oder geringerer Klarheit und

Sicherheit, gewußt und befolgt werden. Aber das Recht be-

ſteht nicht bloß aus ſolchen Allgemeinheiten; es praͤgt ſich bei

der Mannichfaltigkeit der Lebensverhaͤltniſſe und deren gegen-

ſeitigen Beziehungen in einer Fuͤlle verſchiedenartiger Inſtitute

aus, deren genaue Kunde ſich nur denen erſchließt, welche

[118/0130]

Viertes Kapitel.

durch ihre aͤußere Lage und ihre Geſchaͤfte in einer fortdauern-

den Beruͤhrung mit dem practiſchen Leben ſtehen, und erſt

durch die Erfahrung ſich fuͤr daſſelbe die gehoͤrige Sicherheit

und Einſicht erwerben. Das iſt gleichmaͤßig der Fall bei den

Inſtituten, welche dem oͤffentlichen Recht angehoͤren, oder den

Grundbeſitz betreffen, oder auf die Verhaͤltniſſe der Gewerbe

und des Verkehrs ſich beziehen; ja ſelbſt da, wo eine weitere

Betheiligung der Einzelnen ſtatt findet, wird ſich nach dem

verſchiedenen Grade, in welchem es der Fall iſt, eine dem Um-

fange nach verſchiedene Rechtskunde ergeben. Man nehme

nur das Familienrecht, und denke ſich hier die beſondere Stel-

lung des Hausvaters, der Frau, der Soͤhne und Toͤchter.

Selbſt wenn hier noch die ſchoͤne, einfache Idee des deutſchen

Familienrechts, welche ſich in dem Mundium darſtellt, rein zur

Anwendung kaͤme, und das Recht und die Pflicht des Schutzes

uͤber Perſonen und Sachen in den verſchiedenen Beziehungen

dem Bewußtſeyn der Betheiligten klar vorlaͤge; ſo wuͤrde man

doch wohl zunaͤchſt beim Hausvater das vollkommene Ver-

ſtaͤndniß der Verhaͤltniſſe erwarten, wenn auch die andern Fa-

milienglieder die ſie betreffende Seite derſelben genau kennen,

und mehr oder weniger mit dem Ganzen vertraut ſeyn ſollten.

Wir duͤrfen daher annehmen, daß die umfaſſende und le-

bendige Rechtskunde im Volke nicht bei Allen gleichmaͤßig ſich

finden kann, und daß gewiſſe Claſſen und Perſonen in dieſer

Beziehung als die Vertreter der Geſammtheit ſich herausſtel-

len. Es bedarf auch keiner weiteren Ausfuͤhrung, daß dieß

ein ganz anderes Verhaͤltniß iſt, als wenn ein beſonderer Ju-

riſtenſtand die ausſchließliche Herrſchaft uͤber das Recht aus-

uͤbt; denn wir denken uns hier die Kunde deſſelben nicht auf

diejenigen beſchraͤnkt, welche durch Studium und Berufswahl

[119/0131]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

ſie ſich zu eigen machen, ſondern wir erkennen eben nur den

natuͤrlichen und wohlbegruͤndeten Vorzug an, welcher mit der

bedeutenderen Stellung, der groͤßeren Erfahrung und, was ſich

von ſelbſt verſteht, mit der hoͤheren perſoͤnlichen Begabung der

einzelnen Volksgenoſſen verbunden iſt. Handelt es ſich denn

noch von einem beſonderen Standesrecht und uͤberhaupt von

den ihrer Geltung nach beſchraͤnkten Lehren des Volksrechts,

ſo iſt natuͤrlich auch hierauf wieder die noͤthige Ruͤckſicht zu

nehmen. Denn wer wollte wohl ſo thoͤricht ſeyn, die Kunde

des Handelsrechts bei dem Bauernſtande zu erwarten, oder

bei den Schwaben nach einem eigenthuͤmlichen fraͤnkiſchen

Rechtsinſtitute zu forſchen. — Aus dieſem Allen wird es deut-

lich ſeyn, was unter der Rede zu verſtehen iſt: das Volksrecht

lebt in dem Bewußtſeyn des Volkes, und bei dieſem iſt zu-

naͤchſt die Kunde deſſelben zu ſuchen.

Die aufgeſtellten Grundſaͤtze paſſen nun aber gleichmaͤßig,

mag ein Volksrecht noch in ſeinem ganzen Umfange beſtehen,

oder nur ſporadiſch in einzelnen Inſtituten und Rechtsan-

ſchauungen ſich erhalten haben. Denn im letzteren Fall liegt

im Weſentlichen fuͤr die noch geltenden Normen daſſelbe Ver-

haͤltniß vor, und der Unterſchied beſteht nicht in der Beſchaf-

fenheit, ſondern in dem Umfange der Rechtskunde. Daher

duͤrfen wir nun aber auch weiter annehmen: wer das Volks-

recht anders als aus der unmittelbaren Anſchauung und Le-

benserfahrung kennen lernen will, der iſt auf die Beobachtung

und Erforſchung deſſelben an geeigneter Stelle hingewie-

ſen. In einer ſolchen Lage aber befindet ſich regelmaͤßig der

deutſche Juriſt, welcher das noch geltende Volksrecht in den

Kreis ſeiner Kenntniſſe aufnehmen will. Die Beſchaffenheit

unſerer Gerichtsverfaſſung und der Gang des juriſtiſchen Stu-

[120/0132]

Viertes Kapitel.

diums, welches durchaus eine gelehrte Richtung hat, halten

ihn, wenn nicht ganz beſonders guͤnſtige Umſtaͤnde vorliegen,

vom eigentlichen Volksleben fern, und ſtellen ihn, wenigſtens

in vielen Beziehungen, auf den Standpunct eines außerhalb

deſſelben befindlichen Beobachters. Am Guͤnſtigſten iſt noch

die Lage des Advocaten, der mit den Parteien im unmittelba-

ren Verkehr ſteht, und dem ſie unbefangen ihr Herz aufſchlie-

ßen; ihm am Naͤchſten kommt der Unterrichter; ſchlimmer iſt

ſchon das Mitglied eines hoͤheren Gerichtshofs geſtellt, welches

faſt nur mit Acten verkehrt; am Meiſten iſt aber der Univer-

ſitaͤtsgelehrte als ſolcher dem Rechtsleben entfremdet, nament-

lich ſeitdem die Thaͤtigkeit der Spruchcollegien ſo beſchraͤnkt

worden iſt. Und doch ſind es gerade die zuletzt genannten

Claſſen der Juriſten, welche vorzugsweiſe die Foͤrderung un

ſeres Rechtes in Haͤnden haben. —

Vor Allem nun liegt es dem Juriſten ob, bei der Erkun-

dung des Volksrechts mit voller Unbefangenheit zu Werke zu

gehen. Das iſt freilich eine Anforderung, welche ſich ganz

von ſelbſt verſteht, und daher, ſcheint es, kaum beſonders her-

vorgehoben zu werden braucht. Aber bei dem uͤberwiegenden

Einfluß, welchen das Studium des roͤmiſchen Rechts auf die

heutige juriſtiſche Bildung ausuͤbt, und bei der noch unvoll-

kommenen Entwicklung, welche dem einheimiſchen Rechte bis

jetzt zu Theil geworden iſt, trifft es ſich nur zu haͤufig, daß

ſelbſt derjenige, welcher das im Volke lebende Recht ſich an-

zueignen bemuͤht iſt, fremdartige Begriffe auf daſſelbe uͤber-

traͤgt, und mit Analogien ſich begnuͤgend, oder doch das ei-

gentliche Lebensprincip uͤberſehend, zur wahren Erkenntniß nicht

gelangen kann. Der unbefangene, verſtaͤndige Sinn, der un-

getruͤbte, natuͤrliche Blick, der Eifer fuͤr das Wirkliche und

[121/0133]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

Wahre: das ſind bei dieſer wie bei jeder andern Beobachtung

die weſentlichen Erforderniſſe, um zur rechten Einſicht zu ge-

langen. Im Einzelnen koͤnnen dann freilich die Mittel und

Wege, welche dahin fuͤhren, ſehr verſchieden ſeyn, je nachdem

die Beſchaffenheit des Gegenſtandes und die zur Erforſchung

gebotene Gelegenheit ſich gerade verhalten. Oft wird man

nicht umhin koͤnnen, literaͤriſche Huͤlfsmittel zu gebrauchen,

welche, wenn ſie nur uͤberhaupt zuverlaͤſſig ſind, wichtige Dienſte

leiſten, und bei der gehoͤrigen Kritik und Sorgfalt den Man-

gel der unmittelbaren Wahrnehmung, wenigſtens theilweiſe,

erſetzen koͤnnen. Aehnlich verhaͤlt es ſich mit den Erkundi-

gungen, welche bei den Betheiligten ſelbſt eingezogen werden.

Wendet man ſich zu dieſem Zweck an erfahrene und zuver-

laͤſſige Leute, denen die betreffenden Rechtsverhaͤltniſſe ganz ge-

laͤufig ſind, und von denen man nach ihrer Stellung und

ihrem Charakter erwarten darf, daß ſie die Wahrheit nach be-

ſtem Wiſſen ſagen werden, ſo laͤßt ſich hier oft die ſicherſte

Auskunft erlangen. In dieſer Beziehung koͤnnten z. B. die

kaufmaͤnniſchen Pareres (ein Inſtitut, welches noch mancher

Ausbildung faͤhig und ſich auch auf andere Verhaͤltniſſe an-

wenden ließe) fuͤr die Wiſſenſchaft und die Praxis eine Be-

deutung bekommen, welche weit uͤber die bloße Feſtſtellung

von Ortsgebraͤuchen hinausginge; und die autonomiſche Belie-

bung, in der ſich fruͤher ſo oft das Volksrecht ausſprach, kann

unter Umſtaͤnden auch jetzt noch als Zeugniß deſſelben benutzt

werden. Auch in Geſetzen findet ſich zuweilen die im Volke

herrſchende Rechtsidee klar und rein ausgeſprochen, obgleich

oft auch eine beſchraͤnkte juriſtiſche Theorie oder verungluͤckte

legislative Experimente den urſpruͤnglichen Charakter verwiſcht

haben. — Geht man aber mit ſeinen Erkundigungen direct

[122/0134]

Viertes Kapitel.

ans Volk, ſo darf nicht vergeſſen werden, daß daſſelbe bei der

gegenwaͤrtigen Beſchaffenheit des ganzen Rechtsweſens die ein-

zelnen Inſtitute, die es noch unmittelbar lebendig erhaͤlt, nicht

immer mit einem ganz ſicheren Tacte beurtheilt; daß hier zu-

weilen Verwechslungen zwiſchen zufaͤlligen Motiven und der

eigentlichen, in den Verhaͤltniſſen ruhenden Rechtsregel vorkom-

men, welche nicht leicht ſtatt finden werden, wenn die Rechts-

uͤbung mit dem Geſchaͤftsleben Hand in Hand geht, und nicht

ausſchließlich den geſchulten Juriſten uͤberlaſſen iſt. Freilich

wird es ſich oft herausſtellen, daß, wenn der Juriſt ſolche Ver-

wirrung zu finden glaubt, der ſchlichte Geſchaͤftsmann, wie

man zu ſagen pflegt, den Nagel auf den Kopf getroffen hat,

waͤhrend jener, in ſeinen angelernten Rechtsbegriffen eingeſpon-

nen, den innern Zuſammenhang der Regel und der thatſaͤchli-

chen Verhaͤltniſſe nicht durchſchaut. Aber zuweilen liegt auch

die Schuld auf der andern Seite, und es muß in einem ſol-

chen Fall gerade die Gewoͤhnung an die juriſtiſche Zergliede-

rung und Deduction den Mann von Fach ſicher ſtellen, daß er

ſich nicht zur Annahme eines unbegruͤndeten Rechtsſatzes ver-

leiten laͤßt. Hier die rechte Mitte zwiſchen Zweifel und Glau-

ben zu halten, iſt die Aufgabe des wiſſenſchaftlichen und prac-

tiſchen Tactes, welcher uͤberhaupt bei einer ſo freien Thaͤtigkeit,

wie die bezeichnete iſt, von bedeutendem Einfluß ſeyn muß.

Allein auch eine ſolche Erkundigung im Volke nach den

Rechtsanſichten deſſelben bleibt immer nur eine mittelbare, wenn

auch noch ſo wichtige Quelle der Erkenntniß. Es wird daher unten

(Kap. 9.) noch beſonders zur Frage geſtellt werden, ob nicht

durch eine zweckmaͤßige Umbildung der gegenwaͤrtigen deutſchen

Gerichtsverfaſſung dem Volksrechte eine mehr unmittelbare Ver-

tretung geſichert werden kann. Jedenfalls wuͤrde es auch den

[123/0135]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

Juriſten eher zum Ziele fuͤhren, wenn er ſich durch die genaue

Beobachtung der Rechtsverhaͤltniſſe und Geſchaͤfte eine ſelbſtaͤn-

dige Anſicht verſchaffen, ſich ſelbſt als einen Genoſſen des Vol-

kes fuͤhlen lernen, und die in den Thatſachen ruhende ratio

ohne weitere Vermittlung verſtehen koͤnnte Und in der That,

bei gewiſſen allgemeinen Rechtsinſtituten kann auch der Juriſt

zu einer ſolchen unmittelbaren Wahrnehmung gelangen. Er

ſteht ſo gut in ſeiner Nation, wie jeder Andere, und wenn un-

gluͤcklicher Weiſe ſein Studium von der Art iſt, daß es ihn

eher von deren Anſichten entfernt, als daß es ſie recht ausbil-

dete und entwickelte, ſo iſt das doch kein Hinderniß, welches

durch den rechten Ernſt und das rechte Streben nicht ſollte

beſeitigt werden koͤnnen. Sind aber auch die Schwierigkeiten

groß, und bei dem eigentlichen Staͤnderecht oft unuͤberſteiglich,

weil dieſes eben wieder einen beſonderen buͤrgerlichen Wirkungs-

kreis vorausſetzt: ſo wird doch der gewiſſenhafte Juriſt ſtets

nach Kraͤften dahin ſtreben muͤſſen, ſich in die Denkweiſe des

Volkes zu verſetzen, und ſo viel moͤglich ſich ſelbſt als einen

Traͤger des Volksrechts zu fuͤhlen. Dann wird auch jede Be-

trachtung der Rechtsverhaͤltniſſe ihm eine ganz andere Ausbeute

geben, als wenn er ſich damit beſchiede, von außen her als

ein Fremder die Sachen anzuſehen, und er wird namentlich

der Gefahr entgehen, das, was lebendig wirkend vor ihm liegt,

bloß als eine todte Regel in ſich aufzunehmen, die er nur ſeinem

Gedaͤchtniſſe einzupraͤgen und auf das untergelegte Factum an-

zuwenden habe.

Aber es kommt nicht bloß darauf an, ſich den Rechtsſtoff

moͤglichſt vollſtaͤndig anzueignen, und ihn in ſeiner wahren Be-

deutung zu erfaſſen. Wenn die Wiſſenſchaft einmal an einen

Gegenſtand tritt, ſo kann ſie ihn nicht als etwas Einzelnes

[124/0136]

Viertes Kapitel.

oder als ein Aggregat von Einzelnheiten gelten laſſen; ſie muß

ſich des darin herrſchenden Gedankens bemaͤchtigen, und die

Principien erfaſſen, in denen das Weſen der Dinge enthalten iſt.

Auch das Volksrecht, ſo wie es einmal in den Kreis der Rechts-

wiſſenſchaft gezogen worden, muß dieſen Proceß durchmachen.

Doch braucht bei dem gegenwaͤrtigen Stande der Wiſſenſchaft

wohl kaum die Verwahrung hinzugefuͤgt zu werden, daß hier

nicht an die Unterordnung des lebendigen Rechts unter Be-

griffe, die nicht in der Sache ſelbſt liegen, ſondern anders wo-

her geholt werden, zu denken iſt. Die Aufgabe bleibt viel-

mehr die, die Principien des zur Erkenntniß gebrachten Rechts-

ſtoffs nachzuweiſen, und in ihrer innern Conſequenz darzuſtellen.

In dieſer Hinſicht kann die Wiſſenſchaft auch dem Leben einen

großen Dienſt erweiſen. Denn es ſtehen vielleicht alle Geſchaͤfte

in voller Harmonie mit der ſie beherrſchenden Rechtsregel, und

in jedem einzelnen Fall wird das Richtige getroffen; aber die,

welche bei der Abſchließung derſelben thaͤtig ſind, haben kein

beſtimmtes Bewußtſein von der allgemeinen Idee, welche ſie

leitet, ſie folgen nur ihrer Geſchaͤftskunde und ihrem richtigen

Gefuͤhle. Die Wiſſenſchaft ſtellt nun das Princip klar und

beſtimmt hin, und verſchafft dadurch auch ſeiner Durchfuͤhrung

im Einzelnen die gehoͤrige Sicherheit und Anerkennung. Ein

Beiſpiel mag dieß verdeutlichen. Man kann wohl ſagen, daß

faſt alle eigenthuͤmlichen Erſcheinungen des Handelsrechts, welche

ſich unmittelbar auf den Handelsverkehr der Kaufleute beziehen,

auf das Princip des kaufmaͤnniſchen Credits zu-

ruͤckzufuͤhren ſind; daß dieß der eigentliche leitende Gedanke

iſt, welcher die verſchiedenartigſten Rechtsinſtitute hervorgerufen

hat, und ihre beſondere Natur und ihr gegenſeitiges Verhaͤltniß

beſtimmt. So praͤgt ſich dieſes Princip in beſtimmten, allge-

[125/0137]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

mein anerkannten Einrichtungen auf das Deutlichſte aus, und

jeder reelle Kaufmann geht bei jedem einzelnen Geſchaͤfte, wel-

ches er abſchließt, von der Vorausſetzung aus, daß auch in

dem beſonderen Falle die Contrahenten gegenſeitig alle Regeln,

welche der kaufmaͤnniſche Credit auferlegt, ſtillſchweigend aner-

kennen, und auf dieſer Baſis (secundum bonam fidem)

operiren. Der kaufmaͤnniſche Credit (der hier aber natuͤrlich

im weiteren Sinne, und nicht bloß in Beziehung auf ſpaͤter

zu leiſtende Zahlungen aufgefaßt wird) iſt ſo zu ſagen die

Seele des Handelsrechts; er bringt die oft ſcheinbar ſo ſingu-

laͤren Handelsgebraͤuche zum rechten Verſtaͤndniß, und gewaͤhrt

fuͤr manche dunkle Inſtitute erſt die rechte Einſicht. Die ſchwie-

rigſten Lehren des Wechſelrechts, die Frage uͤber die rechtliche

Wirkung der Connoſſemente, uͤber die Perfection brieflich abge-

ſchloſſener Vertraͤge u. ſ. w. laſſen ſich nach dieſem Princip

leicht und mit Sicherheit loͤſen. — Aber freilich iſt unſere Ju-

risprudenz noch weit davon entfernt, ſich auf dieſe Weiſe mit

dem Volksrecht zu identificiren, und daſſelbe zum hoͤheren, wiſ-

ſenſchaftlichen Verſtaͤndniß zu erheben, ſo nothwendig das auch

gerade unter den gegenwaͤrtigen Verhaͤltniſſen, wo keine Volks-

gerichte die Rechtspflege in Haͤnden haben, ſeyn kann. Denn

der Kaufmann z. B. findet die Anerkennung und Befolgung

der in der Handelswelt allgemein angenommenen Normen ſo

natuͤrlich, und nimmt ſie ſo ſehr als ſich von ſelbſt verſtehend

an, daß er weiter nicht uͤber den letzten Grund ihrer Geltung

reflectirt, und auf Befragen vielleicht gar nichts als den allge-

meinen Brauch dafuͤr anzufuͤhren weiß, was denn nach der

aͤlteren Theorie noch eine beſondere Beweisfuͤhrung noͤthig ma-

chen wuͤrde. — Wie nachtheilig es aber wirkt, wenn die Ju-

risprudenz dem Volksrechte ein falſches Princip unterbreitet,

[126/0138]

Viertes Kapitel.

das zeigt, um bei dem Handelsrecht ſtehen zu bleiben, unſer

deutſches Wechſelrecht; denn zu welchen Ungerechtigkeiten und

zu welchen Verirrungen in der Geſetzgebung und der Theorie

hat die Anſicht, welche das Weſen des Wechſelbriefs in den

rigor cambialis, die Wechſelſtrenge ſetzte, ſchon Veranlaſſung

gegeben, und wie lange wird das noch nachwirken, auch ſeit-

dem ſie von Einert *) in ſeinem vortrefflichen Werke wiſſen-

ſchaftlich vernichtet worden iſt.

2. Die bisherige Ausfuͤhrung iſt von der Anſicht ausge-

gangen, daß das Volksrecht noch wirklich im Volksbewußtſeyn

lebendig ſey. Das muß nun auf gewiſſe Weiſe immer der

Fall ſeyn, wenn man nicht dahin kommen will, auch das Ab-

geſtorbene dem geltenden Rechte beizufuͤgen, oder Inſtitute zum

Volksrechte zu zaͤhlen, welche ihrer ganzen Natur nach nicht

zu dieſem, ſondern zu andern Rechtstheilen zu ſtellen ſind.

Indeſſen kann doch auch die Kunde von ſolchen Inſtituten,

welche urſpruͤnglich dahin gehoͤrt haben, im Volke geſchwaͤcht

werden, und zwar bis zu einem ſolchen Grade, daß die Si-

cherheit und Klarheit der Anſchauung verloren geht, und es

ſelbſt dem ſchaͤrfſten Auge ſchwer wird, den eigentlichen Charak-

ter in der noch beſtehenden Rechtsform zu erkennen. Eine

ſolche Erſcheinung kann verſchiedene Urſachen haben. Zuwei-

len hat ein Inſtitut in Folge einer im Staats- und Rechts-

leben vorgegangenen Umaͤnderung ſeine fruͤhere Bedeutung ver-

loren, ohne durch neue Bildungen vollſtaͤndig verdraͤngt zu

ſeyn, ſo daß die allgemeine Idee, worauf es beruhte, wirkungs-

los geworden iſt, und das daran haͤngende Recht nun ohne

*) C. Einert, das Wechſelrecht nach dem Beduͤrfniß des Wechſelge-

ſchaͤfts im 19. Jahrhundert. Leipzig, 1839.

[127/0139]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

ein lebendiges Princip haltungslos da ſteht. Anders ſtellt ſich

ſchon die Sache, wenn zwar das alte Princip erhalten wor-

den iſt, aber nicht in dem fruͤheren Umfang ſeiner Geltung,

vielleicht auch eine neue Form bekommen hat, und in dieſer

noch nicht zur vollſtaͤndigen Durchbildung gelangt iſt. Kommt

nun zu ſolchen Erſcheinungen noch eine allgemeine Hemmung

und Unterbrechung der Rechtsbildung hinzu, und ſinkt das

Volk in Folge unheilvoller Ereigniſſe zu einer energieloſen Paſ-

ſivitaͤt herab, wie es ſeit dem 17. Jahrhundert in Deutſchland

geſchehen: ſo wird, wie leicht zu erachten, die Beobachtung

des Rechts im Volke ſelbſt keine genuͤgende Kunde deſſelben

gewaͤhren koͤnnen, und die erhaltenen Ueberreſte fruͤherer Rechts-

zuſtaͤnde muͤſſen, ſoweit es uͤberhaupt moͤglich iſt, noch auf

andere Weiſe zum Verſtaͤndniß gebracht werden.

Dann bekommt aber das Verhaͤltniß der Wiſſenſchaft zum

Volksrecht eine eigenthuͤmliche Bedeutung; ſie zeigt ſich nicht

mehr bloß beobachtend und ordnend, ſondern ſie tritt ſelbſtaͤndi-

ger auf, indem ſie ſich auf dem Gebiete der hiſtoriſchen For-

ſchung bewegt, und hier das Material fuͤr die Conſtruction der

Rechtsinſtitute aufſucht. Doch ſtehen dieſe beiden Richtungen

der Methode ſich nicht ſchroff einander gegenuͤber; ſie haben

das Gemeinſame, daß ſie ſich in den Beſitz der leitenden

Principien zu ſetzen ſuchen, und ſchließen ſich nicht einander

aus, ſondern gehen ſich ergaͤnzend neben einander her, in der

Art, daß ſie bald von faſt gleicher Bedeutung fuͤr eine Lehre ſind,

bald aber die eine vor der andern mehr oder weniger zuruͤck

tritt. — Fragen wir nun, welcher von dieſen beiden Wegen

bis jetzt am Meiſten betreten worden, ſo zeigt ſich offenbar

derjenige, welcher durch das Volksleben zur wiſſenſchaftlichen

Erkenntniß fuhrt, im Vergleich mit dem anderen ſehr vernach-

[128/0140]

Viertes Kapitel.

laͤſſigt. Fuͤr das Handelsrecht iſt beziehungsweiſe in dieſer

Richtung noch das Meiſte geſchehen, indem theils die Betrach-

tung des Geſchaͤftsverkehrs unabweislich war, theils auch die

Leiſtungen anderer Nationen unmittelbar benutzt werden konn-

ten; auch ſonſt iſt im Einzelnen dadurch ſchon Manches ge-

foͤrdert worden. Aber allgemeinere Verſuche, das Volksrecht

im Volksleben ſelbſt zu erforſchen, ſind kaum angeſtellt wor-

den; und wenn einige bedeutende Maͤnner, unter denen na-

mentlich J. Moͤſer zu nennen iſt, ihr Streben darauf gerichtet

haben, ſo blieben ſie vereinzelt ſtehen, und fanden faſt gar

keine Nachfolger. Auch die hiſtoriſche Erforſchung unſeres

Rechts hat freilich noch nicht die Ergebniſſe geliefert, welche

allen Anforderungen der Wiſſenſchaft entſprechen, oder auch nur

immer das naͤchſte practiſche Beduͤrfniß befriedigen koͤnnen; al-

lein hier iſt, namentlich durch die Verdienſte von Eichhorn und

J. Grimm, die Arbeit doch viel umfaſſender, zuſammenhaͤn-

der und vergleichsweiſe auch erfolgreicher geworden. — Be-

trachten wir nun auch dieſes Verfahren, um zu ſehen, wie

darin eine Erkenntnißquelle des Volksrechts vorhanden iſt.

Zunaͤchſt iſt hier eine allgemeine Bemerkung voraus zu

ſchicken, welche fuͤr den wahren Hiſtoriker freilich ſehr uͤberfluͤſ-

ſig erſcheinen wird, aber dennoch gerade in Beziehung auf die

geſchichtliche Behandlung unſeres Rechts nicht erſpart werden

kann. Die Geſchichte hat es mit der Vergangenheit zu thun,

und zwar in ihrem ganzen Umfange, ſo daß ſie erſt da auf-

hoͤrt, wo die naͤchſte Gegenwart beginnt, welche ihren Aus-

gangspunct bildet. Auch dieſe hat wieder ihre ſelbſtaͤndige

Bedeutung, welche unmittelbar erfaßt und begriffen werden

will; ſie fuͤgt den uͤberlieferten Momenten neue Bildungen

hinzu, und bekommt ſo fuͤr die Zukunft ſelbſt den Charakter

[129/0141]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

einer hiſtoriſchen Auctoritaͤt. Es iſt daher nichts unwahrer und

unhiſtoriſcher, als das Verfahren mancher Leute, welche der

Gegenwart jede unbefangene Anerkennung verſagend, nur in

dem Alter der Inſtitute die Gewaͤhr ihrer inneren Begruͤndung

finden. Aber auch bei dieſer Auffaſſung geht man oft auf

das Allerwillkuͤhrlichſte zu Werke, greift aus der fruͤheren Zeit

gewiſſe Perioden heraus, die fuͤr beſondere Zwecke einen An-

haltspunct zu gewaͤhren ſcheinen, und errichtet aus dieſen

vereinzelten Bruchſtuͤcken dann ein Gebaͤude, fuͤr welches man

die ausſchließliche hiſtoriſche Begruͤndung in Anſpruch nimmt.

So giebt es eine ganze Schule von Politikern in Deutſchland,

welche die urſpruͤngliche germaniſche Rechtsbildung, wie ſie ſich

in der Herrſchaft des gemeinen Rechts und der gemeinen Frei-

heit darſtellt, durchaus ignorirt, und ebenfalls dem welthiſtori-

ſchen Bildungsproceß der modernen Zeit jede hoͤhere, nicht bloß

thatſaͤchliche Geltung abſpricht, ſo daß nur die verhaͤltnißmaͤ-

ßig kurze Periode der deutſchen Geſchichte, in welcher die ſchroffe

Sonderung des Staͤndeweſens und das privatrechtliche Princip

des Patrimonialſtaates ſich auspraͤgten, als das Muſter und

Ideal echtgermaniſcher Rechtsbildung dargeſtellt wird, deren

Wiederherſtellung vor Allem Noth thue. Vorurtheile mancher

Art, egoiſtiſches Intereſſe, Unwiſſenheit und geiſtige Beſchraͤnkt-

heit wirken dann zuſammen, um einer ſolchen Lehre eine, wenn

auch nur geringe, doch ſehr eifrige Schaar von Anhaͤngern

zuzufuͤhren. — Andere, welche ſich mehr auf dem Gebiete des

Civilrechts bewegen, ſchließen die Geſchichte des deutſchen Rechts

mit der Reception des roͤmiſchen Rechts ab, und erkennen von

da an nur eine gewiſſe aͤußerliche Bewegung in der Jurispru-

denz und der Geſetzgebung an, indem ſie anzunehmen ſcheinen,

daß die ſtille und nachhaltige Kraft, mit welcher jede nicht

Beſeler, Volksrecht. 9

[130/0142]

Viertes Kapitel.

ganz verkommene Nation auf ihre Rechtsbildung einwirkt, ſeit

jenem verhaͤngnißvollen Ereigniß in Deutſchland fuͤr immer

gebrochen ſey. Das einſeitige, den freien Blick fuͤr das That-

ſaͤchliche truͤbende Studium des fremden Rechts, welches einen

vorzugsweiſe gelehrten Standpunct vorausſetzt, iſt der gewoͤhn-

liche Grund einer ſolchen Verirrung. Wenn wir aber in der

hiſtoriſchen Forſchung eine wichtige und fruchtbare Quelle fuͤr

die Erkenntniß des Volksrechts finden, ſo denken wir ſie uns

ohne jene willkuͤhrliche und unwiſſenſchaftliche Beſchraͤnkung;

das ganze Gebiet der Geſchichte iſt ihr zur Ausbeute eroͤffnet,

und wenn ſie bei der Gegenwart angelangt iſt, ſo weiß ſie

dieſe im Zuſammenhange mit der Vergangenheit zu erfaſſen,

und geht in die unmittelbare Beobachtung und Wuͤrdigung

der heutigen Zuſtaͤnde uͤber.

Wie jeder andere Geſchichtſchreiber hat nun auch der

Rechtshiſtoriker alle Momente zuſammen zu faſſen, welche ihm

die einzelnen geſchichtlich begruͤndeten Ereigniſſe und Zuſtaͤnde

zur Anſchauung und zum Verſtaͤndniß bringen; er hat ihren

innern Zuſammenhang zu erkennen, und die allgemeinen Rechts-

ideen in ihrer hiſtoriſchen Bewegung aus den Thatſachen dar-

zuſtellen. So gewaͤhrt er nicht bloß die rechte Einſicht in

das geſammte Rechtsleben der Nation, ſondern ſtellt auch die

einzelnen Lehren klar und beſtimmt in ihrer eigenthuͤmlichen

Bedeutung hin. — Um zu zeigen, wie ſich die hiſtoriſche For-

ſchung eines Inſtituts in ſeiner geſchichtlichen Entwicklung be-

maͤchtigen kann, und wie dann die gewonnenen Reſultate ſich

auch fuͤr das Recht der Gegenwart als hoͤchſt fruchtbar und

einflußreich herausſtellen, waͤhle ich ein Beiſpiel an der Auf-

laſſung, deren Weſen und Bedeutung erſt in neuerer Zeit

recht erkannt worden iſt.

[131/0143]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

Soweit ſich die Quellen des deutſchen Rechts verfolgen

laſſen, findet ſich in denſelben der Grundſatz ausgepraͤgt, daß

dingliche Rechte an Grundſtuͤcken nicht durch Beſitzeinraͤumung

und Vertrag, ſondern nur durch eine feierliche, oͤffentliche Hand-

lung uͤbertragen werden koͤnnen, welche in ihrer ſpaͤteren Form

vor dem ordentlichen Gerichte der belegenen Sache vorgenom-

men werden mußte. Urſpruͤnglich war dieß fuͤr freies Eigen

das ungebotene Echteding, welches alle ſchoͤffenbaren Dingpflich-

tigen beſuchen mußten, und wo daher regelmaͤßig jeder Wider-

ſpruch gegen die vorzunehmende Auflaſſung (ſo nenne ich jenen

feierlichen Act der Uebertragung) ſofort von dem Betheiligten

oder deſſen geſetzlichen Vertreter geltend gemacht werden konnte;

wer dieß, obgleich er gegenwaͤrtig war, unterließ, der hatte ſich

ſeines Rechtes verſchwiegen. Indeſſen beruhte die Anweſenheit

aller Betheiligten doch nur auf einer Fiction, und es konnte

daher nicht fehlen, daß zuweilen eine bereits vollzogene Auf-

laſſung angefochten ward, ſelbſt wenn man das namentlich in

den nordiſchen Rechten ausgebildete Inſtitut der vorhergehen-

den Verkuͤndigung angewandt hatte. Solche Anfechtungen

mußten beſonders haͤufig werden, als ſich das Beiſpruchsrecht

der naͤchſten Erben bei Veraͤußerungen des Grundbeſitzes zur

allgemeinen Geltung erhoben hatte, und die Anfechtungsgruͤnde

dadurch ſo ſehr vermehrt worden waren. Neben der Auflaſ-

ſung entwickelte ſich daher zu ihrer Unterſtuͤtzung eine beſondere

Verjaͤhrung, indem der Empfaͤnger, welchem der Tradent ſo

lange Gewaͤhr zu leiſten hatte, erſt nach Ablauf von Jahr

und Tag gegen die dingliche Klage des Verletzten, der nicht

ſofort ſeinen Widerſpruch hatte erheben koͤnnen, geſichert ward

(die rechte Gewere erhielt). Das ward nun um ſo wichtiger,

als die alte Landesgemeinde der ſchoͤffenbar Freien im Echte-

9*

[132/0144]

Viertes Kapitel.

ding immermehr an Bedeutung verlor, und die Lehen- und

Voigtsgerichte, in den Staͤdten auch die Schoͤffenbank oder

der Stadtrath die Auflaſſung der zu ihrer Competenz gehoͤri-

gen Guͤter vor ſich vollziehen ließen. Denn die jetzt mehr

Platz greifende richterliche Vorunterſuchung, welche namentlich

das Recht an Erbguͤtern feſtſtellte, hatte doch nicht eine ſolche

Bedeutung, daß dadurch jede ſpaͤtere Anfechtung unmoͤglich

ward, da von einer eventuellen Haftung des Gerichts wegen

mangelhafter Berichtigung des Legitimationspunctes wohl vor

den neueren Geſetzgebungen keine Spuren vorkommen. Immer

aber blieb, ſo lange die deutſche Gerichtsverfaſſung beſtand,

die gerichtliche Auflaſſung die einzige Form, welche neben der

Erbfolge und dem Richterſpruch das Eigenthum oder irgend

ein dingliches Recht (die Gewere) an Immobilien uͤbertrug,

und wenn auch ſeit dem 13. Jahrhunderte, namentlich in den

Staͤdten, die ſchriftliche Aufzeichnung der vollzogenen Auflaſ-

ſung hinzukam, ſo war dieß nichts Weſentliches, und diente

bloß zur Sicherung des Beweiſes, erſetzte wenigſtens die feier-

liche Handlung ſelbſt nicht. — Durch das Princip der Auf-

laſſung ward nun dem deutſchen Recht des Grundbeſitzes eine

außerordentliche Feſtigkeit und Sicherheit gegeben; es ward da-

durch der Beſitztitel des Eigenthuͤmers unter die Garantie der

Oeffentlichkeit geſtellt, und jedes dingliche Recht in Beziehung

auf den Erwerb und die Prioritaͤt vollſtaͤndig geſchuͤtzt und

controlirt. Spaͤter, als das roͤmiſche Recht aufgenommen,

die deutſche Gerichtsverfaſſung geſprengt ward, aͤnderte ſich

das Verhaͤltniß: die Romaniſten, welche die mancipatio und

in jure cessio als einen etwaigen Anhalt im Juſtinianiſchen

Rechte nicht mehr vorfanden, uͤberſahen ganz die Bedeutung

des deutſchrechtlichen Inſtituts, und erkannten ſtatt deſſen fuͤr

[133/0145]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

das gemeine Recht nur die Beſitzuͤbertragung und den Ver-

trag an. In Particularrechten und namentlich in manchen

Stadtrechten erhielt ſich freilich noch die alte Einrichtung, aber

in der vereinzelten Stellung verlor ſie viel von ihrer urſpruͤng-

lichen Bedeutung, da uͤberhaupt die Oeffentlichkeit dem neu

ausgebildeten Gerichtsweſen fremd war, und die Juriſten ſich

mit zum Theil ganz abgeſchmackten Analogien aus dem roͤ-

miſchen Recht die Sache zu erklaͤren ſuchten, und ſie daher

immer mehr verwirrten. Die Grundſaͤtze uͤber das pignus

publicum, uͤber die gerichtliche Confirmation der Vertraͤge und

die Anmeldung einer großen Schenkung ſind in verſchiedener

Weiſe auf die Lehre von der Auflaſſung angewandt worden.

— Durch dieſe Umkehrung aber, welche das Recht des Grund-

beſitzes erfuhr, und durch die Herrſchaft, welche das in dieſer

Hinſicht fuͤr uns faſt ganz unbrauchbare roͤmiſche Recht er-

langte, hat Deutſchland einen großen Schaden genommen:

der Mangel eines geſicherten Beſitztitels mußte zu einer ver-

derblichen Rechtsunſicherheit fuͤhren, und der ganze Realcredit

ward auf das Tiefſte erſchuͤttert, als das elende roͤmiſche Hy-

pothekenweſen mit ſeinen Legal- und Conventionalpfaͤndern und

ſeinen Privilegien eine gemeinrechtliche Geltung erhielt. — Aber

gerade dieſes Unheil fuͤhrte zur beſſeren, freilich theuer erkauf-

ten Einſicht. Schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts

hatten einige ausgezeichnete Bearbeiter des ſaͤchſiſchen und luͤ-

biſchen Rechts das Weſen der dort noch erhaltenen Auflaſſung

richtiger erkannt, und dadurch auch zur allgemeineren Wuͤrdi-

gung derſelben weſentlich beigetragen. In ſpaͤterer Zeit nun,

als die Geſetzgebung auf eine Reform jener ſchlimmen Zu-

ſtaͤnde bedacht war, lehnte ſie ſich dabei wieder an das noch

nicht ganz untergegangene Inſtitut des alten Volksrechts an,

[134/0146]

Viertes Kapitel.

indem ſie deſſen Princip adoptirte, und demſelben nur eine an-

dere, zeitgemaͤße Form gab. Durch das Steuerweſen war

man ſchon darauf hingewieſen, den Grundbeſitz zu individua-

liſiren, und die einzelnen Grundſtuͤcke in oͤffentlichen Buͤchern

genau zu verzeichnen. Der leitende Gedanke der neueren Hy-

pothekenordnungen beſteht nun darin, ſolche oͤffentliche Buͤcher

als Grundlage des Realcredits zu benutzen, und die Erwerbung

eines dinglichen Rechts von der Eintragung in das Hypothe-

kenbuch abhaͤngig zu machen. Dieſe erſcheint alſo als eine Auf-

laſſung in foro rei sitae, nur daß die Schrift an die Stelle

des feierlichen, ſymboliſchen Actes getreten iſt, und nicht mehr

die Parteien ſelbſt unmittelbar dabei thaͤtig ſind, ſondern, durch

ſie veranlaßt, die oͤffentliche Behoͤrde die entſcheidende Hand-

lung vornimmt, indem man den Mangel des alten Echtedings

durch Edictalcitationen zu erſetzen ſucht. Oft mag man ſich frei-

lich gar nicht daruͤber klar geworden ſeyn, daß man ſich mit

dem ſogenannten Princip der Publicitaͤt und Specialitaͤt wie-

der auf dem Wege der altgermaniſchen Rechtsbildung befinde;

manche Geſetzgebung der angefuͤhrten Art laͤßt auch bald die

Conſequenz und Strenge, bald die Elaſticitaͤt des aͤlteren

Rechts, welches die Auflaſſung nicht nothwendig auf einzelne

Grundſtuͤcke beſchraͤnkte, gar ſehr vermiſſen; man hat oft die

verſchiedene Vertheilung des Grundbeſitzes und namentlich die

Moͤglichkeit der freien Zerſtuͤckelung im Gegenſatz zu den ge-

ſchloſſenen Stellen nicht gehoͤrig erwogen, und ſich ſo eine un-

geheure Laſt der Kataſtrirung und Buchfuͤhrung aufgeladen,

bei der Mittel und Zweck in keinem Verhaͤltniſſe ſtehen; die

Feſtſtellung des Legitimationspunctes iſt zum Theil mit einer

wahrhaft pedantiſchen Aengſtlichkeit geordnet. Solchen und

aͤhnlichen Ausſtellungen ſind dieſe neueren Geſetzgebungen viel-

[135/0147]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

fach ausgeſetzt; aber geht man naͤher darauf ein, ſo wird ſich

ſehr oft ergeben, daß gerade die mangelhafte Kenntniß von

dem Inſtitut der Auflaſſung in ſeiner fruͤheren, lebensvollen

Wirkſamkeit, welche nicht durch eine vollendete legislative Kunſt

erſetzt ward, dieſe Fehler begehen ließ. Auch in mancher an-

dern Beziehung wird die hiſtoriſche Forſchung, welche den in-

nern Zuſammenhang der ganzen Rechtsentwicklung aufdeckt,

und namentlich die verſchiedenen Mittel, deren man ſich in

den verſchiedenen Zeiten zur Sicherung des Privatcredits be-

dient hat, darlegt, der ſcheinbar modernen Schoͤpfung erſt

ihr rechtes Verſtaͤndniß ſichern. Dadurch gewinnt aber die

Lehre von der Auflaſſung, obgleich ſie ſich zunaͤchſt immer als

ein Inſtitut des ſpeciellen Rechts darſtellt, auch einen beſtimm-

ten gemeinrechtlichen Inhalt, und wenn ſie auch in ihren

einzelnen Erſcheinungen meiſtens erſt durch die neuere Geſetz-

gebung begruͤndet worden iſt, ſo hat ſie doch, als Ganzes be-

trachtet, ihre Wurzel im Volksrecht.

Bei ſolchen hiſtoriſchen Deductionen kommen namentlich

zwei Geſichtspuncte in Betracht, die man ſtets feſthalten muß,

um ſich die wiſſenſchaftliche Sicherheit und Unbefangenheit zu

bewahren. Zuvoͤrderſt hat man das Inſtitut, um welches es

ſich handelt, in ſeiner urſpruͤnglichen Beſchaffenheit zu erfor-

ſchen und die daſſelbe beherrſchenden Principien darzulegen;

dann aber muß man ihm in ſeiner weiteren Ausbildung oder

Verbildung nachgehen, um ſeine Stellung im Recht der Ge-

genwart gehoͤrig zu begreifen. Dabei darf freilich die volle

Freiheit der wiſſenſchaftlichen Forſchung in Anſpruch genom-

men werden; bald laͤßt ſich in weit entfernten Zeiten das

Princip noch beſtehender Einrichtungen, welche fruͤher vielleicht

einer groͤßeren Lebenskraft ſich erfreuten, nachweiſen, bald kann

[136/0148]

Viertes Kapitel.

man umgekehrt durch die Anſchaung der naͤchſten Umgebung

zum Verſtaͤndniß des Alterthums gefuͤhrt werden. Wo das

rechte Gleichgewicht zwiſchen dem ausgebildeten Sinn des Ge-

ſchichtsforſchers und des Beobachters ſich findet, da werden die

reichſten Fruͤchte der Arbeit zu erwarten ſeyn. — Es iſt auf-

fallend, wie ſehr dieß von unſeren Germaniſten oft verkannt

wird. Wie viele Muͤhe haben ſie ſich z. B. gegeben, das

Princip der ehelichen Guͤtergemeinſchaft feſtzuſtellen; wie viel

hiſtoriſche Gelehrſamkeit und juriſtiſcher Scharfſinn iſt darauf

verwandt worden! Hat aber auch nur Einer ſchon einmal

den Weg eingeſchlagen, welcher bei einem, wie es ſcheint, noch

in friſcher Geltung ſtehenden Inſtitute doch ſo leicht gebahnt

war, und ſich unbefangen an das Volk gewandt, um zu ſe-

hen, wie dieſes denn die Sache auffaßt, und wie ſich in ſei-

ner Anſchauungsweiſe die Verhaͤltniſſe ausnehmen? Freilich

wird man dann vielleicht zu Reſultaten kommen, welche den

roͤmiſch zugeſpitzten Rechtsbegriffen der Schule kaum faßlich

erſcheinen; aber wenn wir dem vorhandenen Rechtsſtoff unſere

Begriffe entlehnen, und dieſe nicht von Außen her in denſel-

ben hineintragen wollen, ſo werden ſich auch ſchon die Mittel

finden, um eine eigenthuͤmliche deutſche Rechtsanſchauung dem

juriſtiſchen Verſtaͤndniß zu erſchließen. — Indeſſen kann es

allerdings geſchehen, daß gewiſſe allgemeine Rechtsideen ſich

allmaͤlig aus dem Volksleben zuruͤckziehen, ohne daß zugleich

die Inſtitute, welche ſie urſpruͤnglich beherrſchten, ihre aͤußere

Geltung verlieren. Es wird ſpaͤter noch zur Frage kommen,

ob ſo etwas nicht bei der ehelichen Guͤtergemeinſchaft vorge-

gangen ſey; ohne Zweifel iſt es bei dem Lehenrecht der Fall

geweſen, da deſſen eigentliches Princip, die Lehenstreue in die

Unterthanentreue und Buͤrgerpflicht des modernen Staates

[137/0149]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

aufgegangen iſt; desgleichen bei den Reallaſten, welche, we-

nigſtens in ihrer fruͤheren Bedeutung, dem gegenwaͤrtigen Rechts-

leben in Beziehung auf die Verhaͤltniſſe des Grundeigenthums

und des Verkehrs nicht mehr entſprechen. In ſolchen Faͤllen

kann die hiſtoriſche Forſchung das abgeſtorbene Princip natuͤr-

lich nicht wieder ins Leben rufen; ſie muß ſich darauf be-

ſchraͤnken, den Thatbeſtand feſtzuſtellen und zu erklaͤren, und

es der Praxis uͤberlaſſen, ſich fuͤr den einzelnen Fall auf ir-

gend eine Weiſe die entſprechende Norm der Entſcheidung zu

verſchaffen. Das kann denn freilich leicht zur Unſicherheit

und Verwirrung fuͤhren; aber die willkuͤhrliche Annahme, daß

das aͤltere Recht noch das unbedingt geltende ſey, iſt nicht das

rechte Mittel, ſie zu beſeitigen. Wenn einem Inſtitute jede

wahre Lebenskraft ausgegangen iſt, ſo erſcheint es doch nur

rein zufaͤllig, wenn es uͤberhaupt noch exiſtirt; und vermag

das Volk ſelbſt nicht, es auszuſtoßen oder durch neue Bildun-

gen zu erſetzen, ſo iſt es die Aufgabe der Geſetzgebung, hier

reformatoriſch einzugreifen, und das gehoͤrige Gleichgewicht zwi-

ſchen der Rechtsregel und den Rechtsverhaͤltniſſen wieder her-

zuſtellen.

Nach dieſer allgemeinen Eroͤrterung laͤßt ſich nun auch

die Bedeutung des particulaͤren und ſtatutariſchen Rechts fuͤr

die hiſtoriſche Erforſchung des Volksrechts beſtimmen. Abge-

ſehen naͤmlich von den beſonderen Inſtituten, welche in jenen

Rechtsquellen auf eine eigenthuͤmliche Weiſe ausgebildet wor-

den ſind und ihre ſelbſtaͤndige Behandlung verlangen, iſt in

denſelben nur ein Huͤlfsmittel fuͤr die Begruͤndung des gemei-

nen Rechts enthalten, ohne daß dieſes ausſchließlich aus ihnen

geſchoͤpft werden koͤnnte. Man hat zwar wohl gemeint, aus

der Uebereinſtimmung mehrer oder vieler Particularrechte auf

[138/0150]

Viertes Kapitel.

die gemeinrechtliche Geltung gewiſſer Rechtsſaͤtze ſchließen zu

koͤnnen; allein wenn auch daraus eine gewiſſe Wahrſcheinlich-

keit fuͤr ein ſolches Verhaͤltniß folgen mag, ſo fehlt demſelben

doch jede Gewaͤhr einer wirklich nothwendigen Begruͤndung.

Denn bei dem ſelbſtaͤndigen Gange, den namentlich ſeit dem

16. Jahrhundert die Entwicklung der Particularrechte genom-

men hat, und bei der oft durch aͤußere Einwirkungen beſtimm-

ten Aehnlichkeit, die manche unter ihnen haben, laͤßt ſich von

ſolchen ſpeciellen Satzungen allein noch kein ſicherer Schluß

auf die gemeinrechtliche Regel machen. Viele Mißverſtaͤndniſſe

ſind dabei untergelaufen, und manche Einrichtung iſt nur aus

aͤußeren Ruͤckſichten der Zweckmaͤßigkeit getroffen worden. Da-

zu kommt, daß die ſpeciellen Geſetzgebungen meiſtens unter

dem unmittelbaren Einfluß der gerade herrſchenden Theorie

entſtanden ſind, welche ſich in der beſtimmten Zeit und unter

den gegebenen Verhaͤltniſſen allerdings mit einer gewiſſen All-

gemeinheit geltend machte, ohne jedoch bei der allmaͤligen Um-

bildung vieler gemeinrechtlichen Lehren anders als in den ein-

zelnen Geſetzen fuͤr die Dauer fixirt zu ſeyn. Man hat daher

in jedem einzelnen Fall zu erwaͤgen, ob und in welcher Weiſe

die allgemeine Rechtsidee durch eine ſolche Geſetzgebung eigen-

thuͤmlich modificirt worden iſt. Bedenkt man nun noch, daß

es unter dieſen Umſtaͤnden ganz zufaͤllig ſeyn kann, ob ein

Inſtitut, welches auf verſchiedene Weiſe aufgefaßt worden,

gerade in ſeiner rechten Bedeutung die weiteſte Verbreitung

gefunden hat, und daß in der Wiſſenſchaft die Zahl nicht auch

nothwendig das Gewicht der Gruͤnde beſtimmt, ſo wird wohl

die Annahme, daß die Uebereinſtimmung mehrer Particular-

rechte gemeines Recht bilde, keiner weiteren Widerlegung be-

duͤrfen. Oft ſtellt ſich ja auch die Sache ſo, daß eine ge-

[139/0151]

Erkenntnißquellen des Volksrechts.

meinrechtliche Lehre in verſchiedenen Formen ausgebildet wor-

den iſt, und daß man ſich damit begnuͤgen muß, das gemein-

ſame Princip mit wenigen allgemein guͤltigen Folgerungen

daraus anzugeben, dann aber die einzelnen Erſcheinungen, in

denen es ſich gruppenweiſe in den Particularrechten darſtellt,

beſonders zu betrachten, und die Regel, von der ſie wieder be-

herrſcht werden, nachzuweiſen, bis man endlich, den Boden des

gemeinen Rechts verlaſſend, zu der ſpeciellen Normirung in

den engeren Kreiſen der Landesrechte und Statute gelangt. —

Doch ſind dieſe ſpeciellen Rechtsquellen auch fuͤr die hiſtoriſche

Erforſchung des gemeinen Volksrechts von der groͤßten Wich-

tigkeit. Denn es zeigt ſich in ihnen, wie ſich die allgemeinen

Principien in dem Rechtsleben der einzelnen Laͤnder und Be-

zirke ausgepraͤgt haben; ob das Inſtitut, falls es ſchon von

einem hoͤheren Alter iſt, in ſeiner urſpruͤnglichen Reinheit er-

halten, oder ob es veraͤndert, beſeitigt und vielleicht von Neuem

wieder hergeſtellt worden iſt.

[[140]/0152]

Fünftes Kapitel.

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

Es ſind ſchon fruͤher die Urſachen angegeben worden,

warum das Volksrecht gerade auf dem Gebiete des gemeinen

Landrechts, welches ſowohl zum particulaͤren Rechte als auch

zum Staͤnderechte einen Gegenſatz bildet, nur in einer beſchraͤnk-

ten Geltung vorkommt. Denn gerade in dieſer Sphaͤre hat

ſich das roͤmiſche Recht feſtgeſetzt, und durch das Juriſtenrecht

ſeine Umbildung und weitere Entwicklung erhalten, ſo daß von

einer allgemeinen Herrſchaft des Volksrechts nicht die Rede

ſeyn kann. Daſſelbe kommt hier vielmehr nur inſofern in

Betracht, als es ſich dem roͤmiſchen Recht gegenuͤber ſelbſtaͤn-

dig geltend gemacht, oder doch dem Juriſtenrecht ſeinen In-

halt und ſeine beſtimmte Richtung gegeben hat. Um nun die

Bedeutung des Volksrechts in dieſer Beziehung zu wuͤrdigen,

wird es zuvoͤrderſt noͤthig ſeyn, das gemeine Landrecht in ſei-

nen einzelnen Theilen genauer zu betrachten, und die Beſchaf-

fenheit ſeines Inhalts von dem bezeichneten Standpuncte aus

zu beſtimmen. Es iſt dabei aber nicht auf eine vollſtaͤndige

Erwaͤgung des Details abgeſehen, wofuͤr es auch noch an den

noͤthigen Vorarbeiten fehlt; der Zweck der folgenden Ausfuͤh-

rung geht vielmehr nur dahin, eine allgemeine Charakteriſtik

des Einfluſſes, welchen das Volksrecht in dieſer Sphaͤre aus-

geuͤbt hat, an die Darlegung des Einzelnen anzuknuͤpfen.

I. Das Privatrecht.

Hier findet ſich das Volksrecht theilweiſe noch in einer

ſehr ausgebreiteten Wirkſamkeit. Namentlich das Fami-

[141/0153]

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

lienrecht iſt trotz ſeiner romaniſtiſchen Faͤrbung dadurch in

ſehr weſentlichen Puncten der nationalen Rechtsanſchauung

treu erhalten worden. Das ſtellt ſich zunaͤchſt in dem Recht

der Ehe dar. Es giebt kein tieferes, juriſtiſch und ſittlich voll-

endeteres Symbol im heutigen Rechtsleben als die Trauung,

welche, in Verbindung mit den vorbereitenden Handlungen,

den ſtrengſten Formalismus und die weiteſte Publicitaͤt mit

der frommen Innigkeit des deutſchen Familienſinns in ſich

vereinigt; ſie iſt es, von der die proteſtantiſche Volksſitte das

Daſeyn der Ehe abhaͤngig macht, ohne dafuͤr in einem fran-

zoͤſiſchen Civilact, oder gar in der ſogenannten Gewiſſensehe,

dem gehaltloſen Product juriſtiſcher Sophiſtik, einen Erſatz zu

finden. Es iſt daher nicht genug zu beklagen, daß gerade der

auf das Gebiet der gemiſchten Ehe verlegte Streit der kirchli-

chen Parteien der Durchfuͤhrung der Trauung als einer fuͤr

die Eingehung der Ehe weſentlichen Form große politiſche Hin-

derniſſe entgegenſetzt, und daß ſelbſt innerhalb der proteſtanti-

ſchen Kirche ſich uͤber dieſen Punct ein Conflict der geiſtlichen

und weltlichen Macht vorzubereiten ſcheint. Dieſe letztere Ge-

fahr moͤchte nun freilich, wenn die Staatsgewalt nur die

rechte Maͤßigung und Energie zeigt, nicht ſchwer zu beſeitigen

ſeyn; aber in Beziehung auf das zuerſt genannte Hinderniß

kann es allerdings nothwendig werden, daß die Geſetzgebung

ſich nach einer die Trauung formell erſetzenden Aushuͤlfe um-

ſehe. Es iſt indeſſen mit Sicherheit anzunehmen, daß die

Volksſitte die ſchoͤne Form, ſo weit es nur irgend moͤglich,

treu bewahren wird, und ſie hat dazu um ſo mehr Veranlaſ-

ſung, da ſie das feierliche Verloͤbniß gegen die formloſe spon-

satio hat zuruͤcktreten laſſen. Auch darin hat ſich der Pro-

teſtantismus dem deutſchen Volkscharakter wieder angeſchloſ-

[142/0154]

Fuͤnftes Kapitel.

ſen, daß er die Ehe aus dem Bann des Sacraments befreit

hat, und ſtatt der verzwickten Nichtigkeitsgruͤnde und anderer

Umwege des katholiſchen Kirchenrechts die Scheidung ehrlich

anerkennt. Aber dieß gehoͤrt ſchon nicht mehr zu der privat-

rechtlichen Seite des Eherechts; darunter faͤllt vor Allem die

gegenſeitige Stellung der Chegatten zu einander, mit beſonde-

rer Beziehung auf ihr beiderſeitiges Vermoͤgen. In dieſer Hin-

ſicht hat ſich nun freilich eine bedeutende Abweichung von der

aͤlteren deutſchen Rechtsanſchauung geltend gemacht, ſeitdem die

eheliche Voigtei des Mannes uͤber die Frau entweder ganz

beſeitigt, oder doch ſehr veraͤndert worden iſt; aber daß nichts

deſto weniger noch gegenwaͤrtig in dem privatrechtlichen Theile

des Eherechts ein weſentlich germaniſches Element vorherrſcht,

und ſich, wenn auch in ſehr verſchiedenen Formen, als eine

ſelbſtaͤndige Rechtsbildung darſtellt, ergiebt auch eine oberflaͤch-

liche Vergleichung der heutigen Zuſtaͤnde mit den Satzungen

des roͤmiſchen Rechts. — Ebenſo verhaͤlt es ſich mit der Stel-

lung der Eltern und der ehelichen Kinder. Ich denke hier-

bei nicht bloß an die mittelbare Einwirkung, welche die ehe-

liche Guͤtergemeinſchaft und die damit in Verbindung ſtehen-

den Inſtitute auch auf das Recht der Kinder ausuͤben, ſon-

dern namentlich auch an die gegenwaͤrtige Geſtaltung der vaͤ-

terlichen Gewalt. Es iſt freilich nicht richtig, wenn man die-

ſer eine ſelbſtandige muͤtterliche Gewalt gegenuͤber ſtellt, da

das, was man damit bezeichnen will, mehr in der Sitte wur-

zelt, als ſich zum beſtimmten Rechtsbegriff ausgebildet hat.

Auch will ich nicht behaupten, daß die Gewalt des deutſchen

Hausvaters uͤber ſeine Kinder ihrem Umfange nach beſchraͤnk-

ter geweſen ſey, als es nach dem ſpaͤteren roͤmiſchen Rechte

der Fall iſt; denn wenn ſo etwas heut zu Tage zuweilen be-

[143/0155]

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

gruͤndet erſcheint, ſo iſt das mehr ein Abfall von der alten

Zucht und dem ernſten Hausregiment, vor welchem verbildete

Schwaͤchlinge zuruͤckſchrecken, als ein Ausfluß urſpruͤnglich

deutſcher Sitte und Art. Aber die Gewalt des Vaters iſt bei

uns nie dem egoiſtiſchen Princip der einſeitigen Berechtigung

unterworfen geweſen; es hat von jeher auch die entſprechende

Verpflichtung, den Kindern gegenuͤber, in ſich getragen, ſo daß

das Recht nicht erſt von einer außer ihm ſtehenden Sitte be-

ſtimmt zu werden brauchte. Davon iſt die wichtige Folge ge-

blieben, daß die vaͤterliche Gewalt erliſcht, wenn ſie den Ver-

haͤltniſſen nicht mehr entſpricht, das Kind des Schutzes und

der Vertretung nicht mehr bedarf: alſo die Aufhebung durch

die Ehe der Tochter, welche ſich nun an den Mann anlehnt,

und durch die Errichtung eines ſelbſtaͤndigen Hausweſens von

Seiten des Sohnes, ſo daß das peculium profectitium, ca-

strense und quasi castrense faſt gar keine practiſche Be-

deutung bei uns haben. — Dieſen Verhaͤltniſſen nahe ver-

wandt iſt die Vormundſchaft, welche auch in ihrer gemeinrecht-

lichen Ausbildung weſentlich germaniſirt, nur durch die Geſetz-

gebung oft zu ſehr unter die Herrſchaft bloß aͤußerlicher, uͤber-

trieben laͤſtiger Garantien geſtellt worden iſt, und dadurch den

urſpruͤnglichen Charakter, welcher der des Familienſinns und

des Vertrauens iſt, verloren hat. Was dieſem Inſtitut aͤu-

ßerlich noch von unpaſſenden roͤmiſchen Verbraͤmungen an-

haͤngt, z. B. der Unterſchied zwiſchen tutela und cura mino-

rum, iſt durch das Volksleben thatſaͤchlich ſchon lange beſei-

tigt worden, indem ſich nur der natuͤrliche Abſtand zwiſchen

Kindern und Erwachſenen bei den verſchiedenen Altersſtufen

des Muͤndels geltend macht. Oder wird noch die Perſon des

Vormundes gewechſelt, wenn die tutela beendigt iſt? und hat

[144/0156]

Fuͤnftes Kapitel.

auch fuͤr den Juriſten der Unterſchied von auctoritas und

consensus eine andere Bedeutung, als die einer rechtsge-

ſchichtlichen Notiz? Dagegen hat ſich, getrennt von der Vor-

mundſchaft, aber doch auf verſchiedene Weiſe von ihr beſtimmt,

die Lehre von der Guͤterpflege, der cura bonorum, im mo-

dernen Rechtsleben entwickelt, ohne jedoch ihrem ganzen Detail

nach ſchon zu einer vollſtaͤndigen gemeinrechtlichen Durchbil-

dung gelangt zu ſeyn.

Dem Familienrecht ſtehen nun auch theilweiſe diejenigen

Rechtsverhaͤltniſſe nahe, welche man gewoͤhnlich unter dem

Begriff der Dienſtmiethe zuſammen zu faſſen pflegt, die aber

dadurch einen eigenthuͤmlichen Charakter bekommen, daß ſie in

einer beſtimmten Beziehung zum Hausweſen ſich befinden,

und auf gewiſſe Weiſe ein Mittelglied zwiſchen der Familien-

verbindung und dem rein obligatoriſchen Vertragsverhaͤltniſſe

bilden. Bei den Roͤmern wurden, abgeſehen von der Stel-

lung der Hausſoͤhne, die Geſchaͤfte der Privatperſonen vorzugs-

weiſe durch Sklaven verrichtet; wo dieſe nicht ausreichten, da

trat der Vertrag ergaͤnzend hinzu, ſey es in Folge eines Man-

dats, dem ſich die negotiorum gestio anſchloß, oder einer

Dienſtmiethe. Im Mittelalter waren es vorzugsweiſe die Hoͤ-

rigen in ihrer verſchiedenen Abſtufung, welche im Intereſſe ih-

rer Herren handelten, denn eigentliche Privatarbeiten wurden

ſelten in die Form des Lehenrechts gebracht; in den Staͤdten

bildete ſich aber das Handwerk und das Geſindeweſen zu ei-

ner eigenthuͤmlichen Geſtaltung aus. Die moderne Zeit kennt

in Deutſchland und dem uͤbrigen civiliſirten Europa außerhalb

der Familie nur freie Arbeit in Folge eines Vertrags: aber

wie in manchen andern Faͤllen iſt die Wirkung ſolcher Ver-

traͤge keine rein obligatoriſche. Ich ſehe hier ab von ſolchen

[145/0157]

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

Dienſtleiſtungen, welche von jemanden in Folge ſeiner oͤffent-

lichen Stellung gegen ein Honorar uͤbernommen werden, wie

die des Arztes, des Advocaten ſind; auch wird hier uͤberhaupt

nicht an eine ſolche Arbeit gedacht, die entweder nur vereinzelt

in Folge einer beſonderen Verabredung geleiſtet wird, oder

doch, wenn ſie auch einen gewiſſen Charakter der Dauer an

ſich traͤgt, den Dienenden nicht in das Hausweſen des Brod-

herrn eintreten laͤßt. Wo dieß aber auch der Fall iſt, kann

nach der Art der Arbeit und dem Stand und der Bildung

der Dienenden ein großer Unterſchied beſtehen. Die Wirth-

ſchaftsbeamten auf Landguͤtern und in Fabriken, die Hand-

lungsgehuͤlfen ſtehen, wenn die Jugend nicht eine gewiſſe

Zucht noͤthig macht, als freie Hausgenoſſen der Familie nahe,

und haben ſich der Hausordnung und was Recht und Sitte

verlangt, zu unterwerfen, ohne in ihrer perſoͤnlichen Freiheit

weiter beſchraͤnkt zu ſeyn, als ihr Dienſtverhaͤltniß es erfor-

dert. Anders ſtellt ſich die Sache ſchon bei den Handwer-

kern, wenigſtens fuͤr die Lehrlinge; beſonders hervorzuheben iſt

aber die Lage des Geſindes, d. h. ſolcher Perſonen, welche

gegen Koſt und Lohn gemeine Koͤrperdienſte leiſten, fuͤr welche

wenigſtens regelmaͤßig keine beſondere handwerksmaͤßige Ge-

ſchicklichkeit erfordert wird. Das iſt jedoch nicht das Eigen-

thuͤmliche des Verhaͤltniſſes; dieſes muß vielmehr darin geſucht

werden, daß Perſonen niederen Standes ſich dem Hausweſen

eines Anderen beigeſellen, um demſelben in einer untergeord-

neten Stellung durch taͤgliche Dienſtleiſtung zu nuͤtzen. Der

Dienſtbote, mag er nun im Hauſe oder außerhalb deſſelben

verwandt werden (der Betrieb der Landwirthſchaft iſt hier

nicht ausgeſchloſſen) tritt in eine dauernde Unterordnung zu

ſeiner Herrſchaft, und begiebt ſich fuͤr die Dienſtzeit eines we-

Beſeler, Volksrecht. 10

[146/0158]

Fuͤnftes Kapitel.

ſentlichen Theils ſeiner Freiheit, indem er nicht bloß die con-

tractlich uͤbernommene Arbeit, ſondern uͤberhaupt den in dem

Verhaͤltniß begruͤndeten Gehorſam zu leiſten hat. Aber er iſt

nicht bloß der einſeitig Verpflichtete, gegen Koſt und Lohn und

Herberge der Laune des Herrn uͤberlaſſen; auch darf er, ſo

lange er dem Hausweſen angehoͤrt, als Hausgenoſſe auf Sorge

und Pflege Anſpruch machen. Das Geſinderecht enthaͤlt nun

die leitenden Grundſaͤtze fuͤr dieß eigenthuͤmlich geſtaltete Rechts-

verhaͤltniß, welches nur aus einer unbefangenen Betrachtung

des Lebens und der darin waltenden Sitte juriſtiſch erfaßt

werden kann. Noch andere Momente kommen aber in Be-

tracht, wenn auf Landguͤtern Tageloͤhnerfamilien ihre Heimath

haben, und in der Sorge der Gutsherrſchaft einen, wenn auch

oft ſchwachen Erſatz des ihnen fehlenden Gemeindeverbandes

finden.

Was vorher von dem Einfluß des Volksrechts auf das

Familienrecht geſagt worden, das iſt auch, inſofern es ſich auf

das Verhaͤltniß der Ehegatten und der Eltern und Kinder be-

zieht, bei der Darſtellung des Erbrechts von Bedeutung.

Denn das Recht der Guͤtergemeinſchaft und das der ſtatuta-

riſchen Erbgebuͤhr beſchraͤnken in weſentlichen Puncten die ge-

ſetzliche Erbfolge des roͤmiſchen Rechts, welche ſonſt bis auf

einige, durch das Staͤndeweſen begruͤndete Modificationen, ge-

meines Landrecht geworden iſt. Eine ganz moderne Rechts-

bildung zeigt ſich dagegen in dem Inſtitut der Erbvertraͤge,

welche in ihrer heutigen Geſtalt auch dem aͤlteren deutſchen

Rechtsweſen fremd waren, und vorzugsweiſe unter dem Ein-

fluß des Juriſtenrechts entſtanden ſind, da das Volksrecht ih-

rer nur in einer ſehr beſchraͤnkten Anwendung bedurfte. Auch

die roͤmiſche Teſtamentslehre hat manche gemeinrechtliche Mo-

[147/0159]

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

dificationen erfahren, namentlich was die Form und die Voll-

ſtreckung der letztwilligen Verfuͤgungen anlangt, und zwar ur-

ſpruͤnglich durch die Einwirkung des Volksrechts, an deſſen

Stelle aber bald die Theorie der Juriſten trat.

Im Sachenrecht iſt, namentlich fuͤr das Recht der

Immobilien, noch Manches aus der aͤlteren deutſchen Rechts-

anſchauung uͤbrig geblieben, ſowohl in Beziehung auf den ei-

gentlichen Begriff der Gewere als auch ruͤckſichtlich der Art

ihrer Beſtellung. Was das Erſtere betrifft, ſo erinnere ich

nur an die Nachbarverhaͤltniſſe der Grundbeſitzer, an das Recht

der Selbſthuͤlfe gegen Beſchaͤdigung, namentlich durch fremdes

Vieh, vermoͤge der Pfaͤndung; in Beziehung aber auf die Er-

langung einer Gewere oder, nach jetzigem Sprachgebrauch, ei-

nes dinglichen Rechts an Immobilien, iſt vor Allem als ein

wichtiges, dem alten Volksrecht entlehntes Inſtitut die Auf-

laſſung in ihrer modernen Geſtaltung hierher zu rechnen,

indem ſie das Recht des Grundbeſitzes an den meiſten Orten

beherrſcht, und namentlich, wie fruͤher gezeigt worden, fuͤr die

neueren, auf der ſogenannten Publicitaͤt und Specialitaͤt ge-

bauten Hypothekenordnungen den einzigen gemeinrechtlichen

Anhalt gewaͤhrt. Dadurch iſt denn auch ein Erſatz geboten

fuͤr den, ſeit dem 17. Jahrhundert durch das zinsbare Dar-

lehn faſt ganz verdraͤngten deutſchrechtlichen Rentenkauf, wenig-

ſtens inſofern, als die bei dem letzteren Geſchaͤft ſofort mit der

Conſtitunung der Rente geſetzte dingliche Sicherheit durch die in

foro rei sitae beſtellte oͤffentliche Hypothek wiedergegeben iſt. Der

andere Punct freilich, wo Rentenkauf und Darlehn ſich ſcheiden,

naͤmlich die groͤßere Unabhaͤngigkeit des Schuldners und fol-

geweiſe des Grundbeſitzers, welche durch die Unkuͤndbarkeit der

Rente von Seiten des Kapitaliſten herbeigefuͤhrt ward, iſt

10*

[148/0160]

Fuͤnftes Kapitel.

nicht zur Ausgleichung gekommen. Indeſſen ließe ſich doch

gegenwaͤrtig, bei dem großen Gelduͤberfluß der langen Frie-

densjahre und dem ſolider begruͤndeten Wohlſtande der deut-

ſchen Grundbeſitzer, eine entſchiedene Tendenz erkennen, auch

hinſichtlich der Unkuͤndbarkeit das aͤltere Princip des deutſchen

Rechts wieder in Geltung zu bringen, und namentlich die rit-

terſchaftlichen Creditvereine haben zum Theil in dieſer Rich-

tung operirt. In ſolchen Faͤllen, wo die Unkuͤndbarkeit der

Schuldſcheine, welche auf den Grundbeſitz radicirt ſind, von

dem Anleiher dem Glaͤubiger gegenuͤber ſtipulirt worden, und

dieſer ſich, wenn er baares Geld haben will, durch Verkauf

(Ceſſion) helfen muß, tritt das Inſtitut des fruͤheren Volks-

rechts, wenn auch mit weſentlichen Modificationen, wieder

practiſch auf, und ſtellt ſich als den eigentlich gemeinrechtli-

chen Kern des ganzen Rechtsverhaͤltniſſes dar. Doch iſt da-

bei vorauszuſetzen, daß dieſes ſich wirklich im Particularrechte

die beſtimmte Anerkennung ſeiner Eigenthuͤmlichkeit erworben

hat, und daß Alles nicht bloß auf der, auch nach der roͤmi-

ſchen Vertragslehre moͤglichen obligatoriſchen Beſchraͤnkung des

Glaͤubigers beruht.

In dem ſo eben angefuͤhrten Beiſpiele, dem ſich das ſo

wichtige Recht der Staatspapiere nahe anſchließt, zeigt es ſich

auch, daß das roͤmiſche Obligationenrecht doch nicht ſo

unbedingt bei uns zur Anwendung kommt, als es von den

Romaniſten angenommen zu werden pflegt. Daſſelbe erhellt

auch aus dem, was fruͤher von der Dienſtmiethe geſagt wor-

den iſt; aber noch in manchen anderen Beziehungen macht ſich

auf dieſem Gebiete der Einfluß des Volksrechts geltend. Na-

mentlich iſt dieß der Fall bei Pachtungen von Landguͤtern mit

Ruͤckſicht auf das Inventar und die ſo gebraͤuchliche Praͤnu-

[149/0161]

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

meration des Pachtgeldes; desgleichen bei der Pachtung von

Nutzvieh und bei dem ſogenannten Viehverſtellvertrage. Ei-

nige Inſtitute des Handelsrechts ferner haben einen ganz all-

gemeinen Charakter, und ſind nicht bloß auf den Handels-

ſtand beſchraͤnkt. Beſonders hervorzuheben ſind aber die ſo-

genannten gewagten Geſchaͤfte, in denen ſich das Volksrecht

oft noch rein darſtellt, und deren Bedeutung man ganz und

gar verkennt, wenn man ſie unter den Gegenſatz des roͤmi-

ſchen Rechts von Spiel und Wette bringen zu koͤnnen glaubt.

Schon fuͤr das Spiel im engeren Sinne, welches ja ganz auf

der Volksſitte beruht, hat das heutige Recht eigenthuͤmliche

Grundſaͤtze; ganz ſelbſtaͤndig aber treten andere Geſchaͤfte auf,

welche von der groͤßten Bedeutung ſind, in alle Lebensverhaͤlt-

niſſe tief eingreifen, und zum Theil, um mit Erfolg betrieben

werden zu koͤnnen, beſondere Staatsanſtalten oder doch das

genoſſenſchaftliche Zuſammenwirken vieler Einzelnen voraus-

ſetzen. Dahin gehoͤren die Aſſecuranzgeſchaͤfte in ihren ver-

ſchiedenen Erſcheinungen, der Leibrentenvertrag, das Lotterie-

ſpiel — leider durch die Schuld der Regierungen faſt zur

Volksſitte geworden! u. a. m.

2. Das Criminalrecht.

Das gemeine deutſche Strafrecht ſtellt ſich faſt ganz als

ein Juriſtenrecht dar, mit einer uͤberwiegend romaniſtiſchen Faͤr-

bung, ſo daß das Volksrecht nur einen ſehr mittelbaren Ein-

fluß darauf ausgeuͤbt hat. Das zeigt ſich ſowohl in Bezie-

hung auf die Begriffsbeſtimmung der Verbrechen, als auch auf die

Art und das Maaß der Strafe. Was das Erſtere betrifft,

ſo wird man freilich ſagen, daß, wenn die buͤrgerliche Geſell-

[150/0162]

Fuͤnftes Kapitel.

ſchaft einen gewiſſen Grad der Ausbildung erlangt hat, im

Allgemeinen das, was fuͤr ein Verbrechen gelten ſoll, gleich-

maͤßig beſtimmt ſeyn wird, und daß die Juriſten, welche in

dieſer Hinſicht keine weſentliche Luͤcke gelaſſen, ihre Aufgabe

erfuͤllt haben, und zwar im Sinne der deutſchen Rechtsbil-

dung, welche fuͤr ſie in der peinlichen Halsgerichtsordnung

Karl V. vertreten war. So haben ſie den deutſchrechtlichen

Begriff der Vergiftung, des Diebſtahls u. ſ. w. ſich angeeig-

net, und wenn ſie auch in andern Faͤllen das roͤmiſche Recht

ohne Noth herangezogen, indem ſie z. B. ſtatt der Vergewal-

tigung das crimen vis aufſtellten, ſo ſey dieß ohne alle Be-

deutung, da die ſtrafbare Handlung als ſolche doch genuͤgend

beſtimmt werde. Ich will dagegen nun nicht die volksthuͤm-

liche Bedeutung des Strafrechts hervorheben, und das Juri-

ſtenrecht von dieſem Standpuncte aus einer Kritik unterzie-

hen; denn hier handelt es ſich bloß davon, das noch beſte-

hende Volksrecht nachzuweiſen, und dazu bietet ſich, wie ſchon

geſagt, gerade in dieſem Rechtstheile nur ſelten die Veranlaſ-

ſung dar. Denn wenn die Carolina auch im Ganzen von

dem roͤmiſchen Rechte nur wenig aufgenommen hat, ſo iſt ſie

doch in der Begriffsbeſtimmung der Verbrechen ſehr frag-

mentariſch, hat auch ihre Vorſchriften nicht immer gerade dem

Volksrecht entlehnt, und Manches ſelbſtaͤndig geordnet. Nur

der Fall waͤre hier noch einer beſondern Eroͤrterung zu unter-

ziehen, wenn ſich im Gegenſatz zu der von den Juriſten ver-

tretenen Rechtsbildung eine beſtimmte Rechtsanſchauung im

Volke erhalten haͤtte, und zwar mit einer ſolchen intenſiven

Kraft, daß ſie ſich als poſitives Recht darſtellte, dem auch der

Richter folgen muͤßte, wenn er uͤberhaupt dem Volksrechte

die ihm zukommende Bedeutung einraͤumen wollte. Ein ſol-

[151/0163]

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

cher Fall wird ſich freilich gerade auf dieſem Gebiete ſelten

finden; denn meiſtens wird die Volksanſicht nur mit einer

ſolchen Beſtimmtheit hervortreten, daß ſie etwa die Veranlaſ-

ſung zu einer neuen Geſetzgebung geben, auf das beſtehende

Recht jedoch keinen unmittelbaren Einfluß ausuͤben kann. In-

deſſen moͤchte das Letztere doch nicht unbedingt zu behaupten

ſeyn. So iſt z. B. der Begriff der Nothwehr weiter zu faſ-

ſen, als es von den Juriſten gewoͤhnlich geſchieht, indem ſie

die im Volksrecht begruͤndete Anſicht, daß die Vertheidigung

von Leib, Gut und Ehre bis aufs Aeußerſte gegen widerrecht-

liche Angriffe dadurch gerechtfertigt wird, ganz willkuͤhrlichen

Beſchraͤnkungen unterworfen, und dem natuͤrlichen Rechtsge-

fuͤhle mit einer rein polizeilichen Betrachtungsweiſe entgegen-

treten, den Fall aber, daß jemand die Vertheidigung eines

Andern, der ſich im Nothſtande befindet, uͤbernimmt, faſt gar

nicht beruͤckſichtigen. — Was ferner die Beſchaffenheit und

das Maaß der Strafen betrifft, ſo hat ſich in dieſer Bezie-

hung gegen die Grauſamkeit des Mittelalters eine Reaction

geltend gemacht, welche von der Bildung der neueren Zeit

hervorgerufen, auch in dem Juriſtenrecht ein Organ gefunden

hat. Zu bedauern iſt nur, daß man dabei kein Mittel gefun-

den hat, die ſo wirkſamen Ehrenſtrafen des aͤlteren Rechts auf

eine angemeſſene Weiſe zur Anwendung zu bringen, — ein

Uebelſtand, der aber auch darin ſeinen Grund haben mag, daß

mit dem Verfall des oͤffentlichen Lebens in Deutſchland die

Ehre ſelbſt und folgeweiſe die Aufhebung und Beſchraͤnkung

derſelben an Bedeutung verlieren mußte.

3. Der Proceß.

Hier iſt es mit dem Volksrechte am Schlimmſten beſtellt:

[152/0164]

Fuͤnftes Kapitel.

im Civil- und Criminalproceß ſind die Juriſten von der Na-

tion abgefallen, und haben ſich ihr eigenes Syſtem errichtet.

Weder in der Verfaſſung noch in dem Verfahren der deut-

ſchen Gerichte, wie ſie nach dem gemeinen Recht geordnet ſind,

vermag ich ein volksrechtliches Element zu erkennen.

4. Das Staatsrecht.

Der eigentliche Schwerpunct des heutigen deutſchen Staats-

rechts liegt in dem zur Verwirklichung gekommenen Staats-

begriff, deſſen deutlichſte Manifeſtation in der Souverainitaͤt

enthalten iſt. Denn wie der Souverain als der ſelbſtberech-

tigte Traͤger einer einheitlichen Staatsgewalt erſcheint, ſo iſt

dadurch auch ihm gegenuͤber ein Staatsbuͤrgerthum entſtanden,

welches die einzelnen Claſſen der Unterthanen in weſentlichen

Puncten gleichmaͤßig erfaßt; es iſt, ſtatt der einſeitigen Ver-

tretung geſonderter ſtaͤndiſcher Intereſſen, eine Repraͤſentation

des Volkes in ſeiner Geſammtheit in den Reichsſtaͤnden noth-

wendig geworden, und im Gegenſatz zu der landesherrlichen

Dienerſchaft der aͤlteren Zeit hat ſich das Inſtitut der Staats-

beamten entwickelt, welche nicht mehr berufen ſind, dem Lande

gegenuͤber die beſonderen fuͤrſtlichen Intereſſen zu wahren, ſon-

dern den im Geſetz ausgepraͤgten Staatswillen zur Ausuͤbung

zu bringen und als die Organe des Souverains in freier

Thaͤtigkeit fuͤr das gemeine Beſte zu ſorgen und zu wirken.

Die Genoſſenſchaften und Gemeinden und die weiteren Ter-

ritorialbezirke ſtehen daher auch nicht mehr in abgeſchloſſener

Haltung neben einander, nur durch das Regierhaus und den

landſtaͤndiſchen Verband zuſammengehalten, ſondern ſie kom-

men als die organiſchen Glieder des Staatsweſens in Betracht,

[153/0165]

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

und vermitteln zugleich die Beziehungen der Einzelnen zu den

naͤchſten Genoſſen und zur Geſammtheit, inſofern dieſe ſie

nicht unmittelbar zu Recht und Pflicht heranzieht. In dieſer

Geſtaltung des oͤffentlichen Rechts hat ſich ein nothwendiger

Entwicklungsproceß ausgepraͤgt, der auf der nationalen Erhe-

bung aus dem Particularismus des ſpaͤteren Mittelalters be-

ruht, aber leider bis jetzt nur in den einzelnen Staaten und

auch hier nicht vollkommen, in einer gemeinſamen Reichsver-

faſſung aber gar nicht zur Durchbildung gekommen iſt. Da-

her laͤßt ſich auch mit Beſtimmtheit behaupten: wenn das

deutſche Staatsrecht oft kuͤnſtlich, unzuſammenhaͤngend und

verworren erſcheint, ſo iſt das regelmaͤßig die Folge der Hem-

mungen und Hinderniſſe, welche die Nation bei der Vollzie-

hung jenes Bildungsproceſſes gefunden und nicht hat uͤber-

winden koͤnnen.

5. Das Kirchenrecht.

Wenn der religioͤſe Glaube eines Volkes wie Recht und

Sitte und Sprache auf dem Boden ſeiner Nationalitaͤt er-

wachſen iſt, und ſich die allgemein menſchliche Hingebung an

die Gottheit in einer eigenthuͤmlichen Form des Cultus aus-

gepraͤgt hat, ſo kann man ſagen, daß eine nationale Religion

beſteht, welche, inſoweit ſie eine rechtliche Seite darbietet, dem

Volksrechte angehoͤrt. So muͤſſen wir uns den Naturcultus

des germaniſchen Heidenthums denken. Anders aber ſtellte

ſich die Sache, als das Chriſtenthum eingefuͤhrt ward, und

um ſeiner ewigen Wahrheit willen, ohne Ruͤckſicht auf die be-

ſondere Nationalitaͤt, welche erſt allmaͤlig von demſelben durch-

drungen werden mußte, zur Herrſchaft gelangte. Die chriſt-

[154/0166]

Fuͤnftes Kapitel.

liche Kirche hat, inſofern ſie auf ein unwandelbares Dogma

errichtet iſt, keinen Platz fuͤr das beſondere Volksrecht. Aber

ſo wie, abgeſehen von gewiſſen Fundamentallehren, das Chri-

ſtenthum in den verſchiedenen Zeiten verſchieden iſt aufgefaßt

und verſtanden worden, ja ſelbſt nach der Individualitaͤt der

einzelnen Bekenner von den Zeitgenoſſen nicht auf die gleiche

Weiſe begriffen wird; ſo hat auch die Nationalitaͤt allmaͤlig

einen gewiſſen Einfluß auf daſſelbe gewonnen, welcher in ſei-

ner Richtung nach außen hin dem Kirchenrecht eine gewiſſe

nationale Faͤrbung gegeben hat. Konnte der Katholicismus

nur im Mittelpunct der romaniſchen Welt zu ſeiner mittelal-

trigen Geſtaltung ſich entwickeln, ſo tritt wiederum die Refor-

mation als die Reaction des germaniſchen Geiſtes gegen jene,

ſeinem innerſten Weſen widerſtrebende Erſcheinung auf. Ja inner-

halb des katholiſchen Kirchenrechts ſelbſt zeigen ſich gewiſſe

nach den Nationen verſchiedene Eigenthuͤmlichkeiten, welche

man als Nationalkirchen bezeichnet, ſo daß es auch nicht auf-

fallen kann, wenn in der evangeliſchen Kirche ſich verſchiedene

Formen der Verfaſſung ausgebildet haben, und das Regiment

derſelben an verſchiedenen Stellen geſucht werden muß. Daß

in dieſer Hinſicht das Volksrecht ſeine beſondere Bedeutung

hat, iſt gar nicht zu verkennen, und erklaͤrt ſich leicht, wenn

man das in der evangeliſchen Kirche herrſchende Princip der

Freiheit bedenkt, und ſich das Zeitalter der Reformation in

ſeiner tiefen, fuͤr Deutſchland durchaus nationalen Aufregung

vergegenwaͤrtigt. Es kommt dabei namentlich darauf an, die

ſelbſtaͤndige Bedeutung der Gemeinde im Gegenſatz zu der

ſtreng durchgefuͤhrten Conſiſtorialverfaſſung gehoͤrig zu wuͤrdi-

gen, — ein Geſichtspunct, der neulich von einem hochgeſtell-

ten Geiſtlichen ſo treffend bezeichnet worden iſt, daß ich es

[155/0167]

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

mir nicht verſagen kann, die Worte des wuͤrdigen Mannes

hier anzufuͤhren *).

„Mit dem weltlichen Regimente in der Kirche, oder der

hier zu Lande (in der Mark) herrſchenden, ſogenannten Re-

gierungs-Conſiſtorial-Verfaſſung, konnte ich mich nicht be-

freunden. Ich kannte in vieljaͤhriger fruͤherer Erfahrung und

Praxis die beſſere, die Presbyterial-Synodal-Verfaſſung,

wie ſie von der Reformation an in der evangeliſchen Kirche

in meinem Vaterlande, in der Grafſchaft Mark, Cleve, Juͤ-

lich und Berg, im Segen beſtanden hat und beſtehet. In

dieſer liegt das Kirchen-Regiment in der Kirche ſelbſt, in

den Gemeinden und ihrer unmittelbaren thaͤtigen Theilnahme

an allen ihren Angelegenheiten. In jener befinden ſich die

Gemeinden im Zuſtande der Paſſivitaͤt, da Alles was ge-

ſchehen ſoll, von der Behoͤrde vorgeſchrieben und befohlen

wird. Wenn jene ein lebendiges Intereſſe weckt und naͤhrt,

ſo erzeugt dieſe nothwendig Indifferentismus; denn wo

nichts Gemeinſchaftliches in der Fuͤrſorge und Pflege iſt,

da kann auch keine Gemeinſchaft in der Sache ſein. Was

ſich uns nicht mittheilt und unſere Theilnahme nicht in

Anſpruch nimmt, daran nehmen wir kein Intereſſe, haben

kein’s und koͤnnen kein’s haben. Wenn jene, in freier ſelbſt-

gehaltener Wahl der Prediger und Schullehrer, die Gemein-

den, ihre Aelteſten, Diakonen (Armenvorſteher) und alle Fa-

milienvaͤter elektriſirt und in Thaͤtigkeit ſetzt, ſo daß ſie in

dem Gewaͤhlten den fuͤr ſie paſſenden, anſprechenden Mann

ihrer Wahlverwandtſchaft ehren, lieben, hegen und pflegen,

*) S. R. Fr. Eylert, Charakter-Zuͤge und hiſtoriſche Fragmente aus

dem Leben des Koͤnigs v. Preußen Friedrich Wilhelm III. Th. I. S. 153

ff.

[156/0168]

Fuͤnftes Kapitel.

und der Tag, an welchem er ſein Amt antritt, ein Volks-

feſt iſt: ſo giebt und ſchickt dieſe den Gemeinden einen un-

bekannten Fremden, an dem eben in der Befoͤrderungsliſte

nun gerade die Reihe zur Anſtellung war, er mag der indi-

viduell rechte Mann ſein oder nicht. Wenn jene, durch das

Hineinziehen in das gemeinſchaftliche Intereſſe der Gemeinde,

in jedem Mitgliede das Gefuͤhl und Bewußtſein der Ge-

meinſchaft und des innigen, feſt verknuͤpften Zuſammenhangs

erhaͤlt und immer auffriſcht, und eben dadurch von Innen

heraus der kirchliche Geiſt waͤchſt, bluͤht und Fruͤchte traͤgt,

ſo iſolirt dieſe, haͤlt Alles aus einander und degradirt die

Kirche zu einer polizeilichen Anſtalt der Regierung. Geho-

ben, geſtaͤrkt, begeiſtert durch jene, durchkaͤltete mich dieſe.

Die oft knechtiſche Verehrung, die der ſein Departement

bereiſende, viſitirende Conſiſtorialrath findet, konnte mich

nicht blenden und entſchaͤdigen, und da ich ſonſt zu Hamm,

als Presbyter im Presbyterium, als Mitglied der Kreis-

und Provinzial-Synode, an den freiſinnigen, offenen, from-

men und redlich-ernſten kirchlichen Berathungen frohen An-

theil genommen, ſo konnte, ich geſtehe es freimuͤthig, mir

nicht gefallen der gruͤne Regierungstiſch, an welchem geiſt-

liche und weltliche Raͤthe, dieſe in der Mehrzahl, die Ange-

legenheiten der Kirche dictatoriſch, oft in gegenſeitiger colle-

gialiſcher Connivenz, oft in perſoͤnlicher Oppoſition, leiteten

und entſchieden. An dem Urbilde der chriſtlichen Kirche und

ihrer erſten apoſtoliſchen Verfaſſung mit Liebe und Sehn-

ſucht hangend, wollte und konnte ich nicht in Sympathie

kommen mit dieſem buͤreaukratiſchen Mechanismus, und ich

bin gewiß, daß wenn der Herr der Kirche kommen, ſie viſi-

tiren und ſeine Tenne fegen ſollte, er, wie einſt im Tem-

[157/0169]

Das Volksrecht als gemeines Landrecht.

pel zu Jeruſalem, ſo auch hier, die Tiſche umſtuͤrzen und

die Kraͤmer auseinander treiben wuͤrde.“

Schon aus dieſer kurzen Darſtellung ergiebt ſich die un-

mittelbar practiſche Bedeutung des Volksrechts fuͤr das ge-

meine Landrecht, welche um ſo hoͤher anzuſchlagen iſt, wenn

man die ſo ganz unguͤnſtigen Verhaͤltniſſe bedenkt, unter denen

die volksthuͤmliche Rechtsbildung in Deutſchland zu leiden

hatte. Noch beſtimmter aber wird ſich das Volksrecht in ſei-

nem ganzen Werthe zeigen, wenn daſſelbe im Einzelnen an

einem Inſtitute nachgewieſen werden kann, welches faſt nach

allen Seiten hin ſeine Zweige ausdehnt, und fuͤr das ganze

Volks- und Rechtsleben der Gegenwart von der allergroͤßten

Wichtigkeit iſt, — einem Inſtitute, welches ſo recht im deut-

ſchen Nationalcharakter ſeine Wurzel hat, und eben deswegen

von dem roͤmiſchen Recht und den Romaniſten auf alle Weiſe

beengt, gehemmt und unterdruͤckt, doch ſtets bei den traurig-

ſten Zuſtaͤnden des Vaterlandes ſein Leben friſtere, in neueſter

Zeit aber, da ſich in der Nation der Anfang einer freieren Er-

hebung zeigt, ſofort ſeine volle Kraft wieder entwickelt, und

auf die großartigſte Weiſe in das oͤffentliche und Privatleben

eingreift. Das iſt die Aſſociation, oder wie ich es mit einem

guten deutſchen Worte nenne, die Genoſſenſchaft, deren

rechtliche Natur und Bedeutung hier in kurzen Zuͤgen dem

juriſtiſchen Bewußtſeyn der Gegenwart naͤher gebracht werden

ſoll, indem verſucht wird, dem ihmeinwohnenden Princip, wel-

ches ſchon in den mannichfaltigſten Geſtaltungen ſich offenbart

hat, auch den wiſſenſchaftlichen Begriff abzugewinnen.

[[158]/0170]

Sechſtes Kapitel.

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

I. Geſchichtliche Einleitung.

Der Geſelligkeitstrieb iſt dem Menſchen eingeboren; die

Familie und der Staat beruhen darauf, ohne ihn laͤßt ſich

keine dauernde Vereinigung zu gemeinſamen Zwecken denken.

Aber die Wirkſamkeit dieſes Triebes iſt ſelbſt bei den edleren

Voͤlkern verſchieden, indem er bald in wenigen feſten Bildun-

gen, welche den ganzen Menſchen in Anſpruch nehmen, ſich

abſchließt, bald eine große Mannichfaltigkeit aͤußerer Erſcheinun-

gen hervorruft, in denen die beſonderen Beduͤrfniſſe und Zwecke

der Einzelnen auf die Dauer ihre Befriedigung finden. Zwar

ſetzt die hoͤchſte Entfaltung der Menſchheit im Staate ſtets

voraus, daß ſchon ein gewiſſer Bildungsproceß vorhergegangen,

waͤhrend deſſen ſich die Voͤlker in niedrigeren Formen zum Hoͤ-

heren vorbereiten, und ſo kann auch dem antiken Staat die

ihm entſprechende Erſcheinung des Mittelalters nicht verglichen

werden, da dieſes die Entwicklung des modernen Staates erſt

vorbereiten mußte, wie auch die Voͤlker der alten Welt eine

ſolche Vorſchule durchlaufen haben. Aber ſtellen wir auch

nur das Gleichartige zuſammen: eine wie ganz andere war

doch, verglichen mit dem politiſchen Leben unſerer Tage, die

Anziehungskraft, welche der antike Staat in ſeiner Bluͤthe

ausuͤbte, vor dem das eigentliche Familienleben und die niede-

ren Stufen des Gemeinweſens faſt ganz verſchwanden, mit

dem keine Perſoͤnlichkeit ſelbſtberechtigt in Widerſpruch gerathen

[159/0171]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

durfte. — Forſchen wir nun dem tieferen Zuſammenhange die-

ſer Erſcheinung nach, ſo ſtellt ſich der weſentliche Unterſchied

heraus, daß der antike Staat von einer verhaͤltnißmaͤßig gerin-

gen Zahl freier Buͤrger getragen ward, waͤhrend es die Auf-

gabe der modernen, durch das Chriſtenthum gelaͤuterten Zeit

iſt, die Idee des Vaterlandes und der Freiheit in einer zahl-

reichen, im Weſentlichen gleich berechtigten Bevoͤlkerung zur

Geltung zu bringen. Wie aber nun einmal die Natur des

Menſchen iſt, ſo laͤßt ſich die Menge von dem Hoͤchſten und

Allgemeinſten nicht fortwaͤhrend beherrſchen, ſie will das, woran

ihr Leben in Freude und Leid gebunden iſt, in unmittelbarer

Naͤhe erfaſſen; auch iſt bei den heutigen, ſelbſt raͤumlichen

Verhaͤltniſſen der Staaten, die Theilnahme Aller an der Aus-

uͤbung der hoͤchſten Gewalt undenkbar, und doch iſt es die

unmittelbare Ausuͤbung eines Rechts, die Macht, wonach Alle

ſtreben. Die Vorſehung hat daher wunderbar fuͤr die Menſch-

heit geſorgt, als ſie, nachdem das Alterthum in der grauen-

vollen Oede des roͤmiſchen Principats untergegangen war, die

Germanen zur Begruͤndung eines neuen Lebens in der Welt-

geſchichte auftreten ließ, ausgeruͤſtet nicht nur mit der noͤthi-

gen Naturkraft, um koͤrperlich und geiſtig eine umfaſſende Re-

generation zu bewirken, ſondern auch mit dem tiefen Familien-

ſinn und mit jenem Aſſociationsgeiſte, welcher, der hoͤchſten

Entwicklung zum Staate faͤhig, ſich doch auch in den niedern

Sphaͤren des Lebens, in der Gemeinde und der Genoſſenſchaft,

mit einer beſchraͤnkteren Wirkſamkeit genuͤgen ließ, ſo wie neben

der Liebe zum großen Vaterlande auch die zur trauten Hei-

math ſich erhalten konnte. Das germaniſche Mittelalter be-

wegte ſich daher vorzugsweiſe in jenen engeren Kreiſen, und

auch die deutſche Geſchichte bietet noch zur Zeit, als die Na-

[160/0172]

Sechſtes Kapitel.

tion ſchon politiſch in Verfall gerathen war, in dem corpora-

tiven Leben ein Bild der Fuͤlle und Tuͤchtigkeit dar. Aber

vor der ſeit dem 17. Jahrhundert einſeitig erweiterten Fuͤrſten-

gewalt trat auch die Selbſtaͤndigkeit und freie Bewegung der

Corporationen zuruͤck, welche keinen nationalen Anhalt fanden,

an dem ſie ſich haͤtten erheben koͤnnen; es ward auf ihre Ko-

ſten eine einheitliche Staatsgewalt begruͤndet, welche ſich in

der unmittelbaren Herrſchaft auch uͤber das Einzelne und

Kleine gefiel, und den Deutſchen blieb von ihrer urſpruͤngli-

chen Ausruͤſtung faſt nur der Familienſinn uͤbrig. So erloſch

auch der Aſſociationsgeiſt in ſeiner bildenden Kraft faſt ganz

da ihm ſeine erſte Bedingung, die Freiheit, verſagt war, und

allein England zeigte noch, was er zu wirken vermoͤge. — In

neuerer Zeit aber hat ſich Manches gebeſſert: hat es die Na-

tion auch noch nicht erreicht, in den hoͤheren Beziehungen des

Staatslebens zu einem befriedigten Daſeyn zu gelangen, ſo

iſt doch an dem feſten Unterbau der politiſchen Freiheit mit

Erfolg gearbeitet worden; die Gemeinden namentlich haben

eine wuͤrdigere Stellung erhalten, und auch der Aſſociations-

geiſt regt ſich wieder mit friſcher Kraft, und vereint die Ein-

zelnen zur gemeinſamen Beſtrebung. Daher iſt aber die juri-

ſtiſche Beurtheilung der Genoſſenſchaften auch vorzugsweiſe

dem Rechtsleben der Gegenwart zu entnehmen, indem die hi-

ſtoriſche Deduction an die Zeit anzuknuͤpfen hat, in welcher

jener Geiſt noch in ungeſchwaͤchter Wirkſamkeit unter den Deut-

ſchen thaͤtig war. Das 17. und 18. Jahrhundert, in denen

gerade das heutige Juriſtenrecht ausgebildet worden, gewaͤhren

in dieſer Hinſicht faſt gar keine Ausbeute, und nur bei der

Betrachtung einzelner Inſtitute iſt auf ſie Ruͤckſicht zu

nehmen.

[161/0173]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

II. Begriff und Arten der Genoſſen-

ſchaften.

Es iſt hier zuerſt der Gattungsbegriff feſtzuhalten, unter

den auch die Genoſſenſchaft faͤllt, und das iſt der der Corpo-

ration. Die Corporation aber iſt die Vereinigung mehrer Per-

nen, zur Erreichung gemeinſchaftlicher Zwecke auf die Dauer

errichtet. Schon durch dieſe beabſichtigte Dauer des Zuſam-

menwirkens unterſcheidet ſie ſich von der bloßen Gemeinſchaft

(communio), ſey dieſe nun zufaͤllig oder durch Vertrag ent-

ſtanden, und erhaͤlt dadurch einen gewiſſen organiſchen Cha-

rakter, der ſie befaͤhigt, nachhaltig in das ganze Staats- und

Rechtsleben einzugreifen. Außerdem iſt aber noch ein weſent-

liches Merkmal der Corporation, daß dabei nicht die einzelnen

Mitglieder als ſolche ausſchließlich oder nur vorzugsweiſe in

Betracht kommen, ſondern daß eben durch die Vereinigung

ein ſelbſtaͤndiges Rechtsſubject hervorgerufen wird, welches,

wenn auch durch die einzelnen Mitglieder in ihrem allmaͤligen

Wechſel getragen, doch in ſich ſelbſt ſeine Beſtimmung hat,

und durch ſeinen Zweck, ſeine Verfaſſung und den verfaſſungs-

maͤßigen Beſchluß der Geſammtheit oder ihrer Vertreter un-

abhaͤngig von dem Willen der Einzelnen da ſteht. In dieſer

Hinſicht liegt der Corporation der weitere Begriff der juriſti-

ſchen Perſon unter, von der ſie eine beſondere Art bildet; ſie

unterſcheidet ſich aber von der Stiftung und aͤhnlichen Inſti-

tuten dadurch, daß eben eine Mehrheit von Perſonen ihr Sub-

ſtrat bildet, und von dem Collegium, wenigſtens nach der ge-

woͤhnlichen Bedeutung eines ſolchen, durch den ſelbſtaͤndigen

Zweck, welchen ſie verfolgt, waͤhrend jenes nur die als Einheit

ſich darſtellende Vereinigung mehrer coordinirten Beamten iſt.

Die Corporation theilt ſich aber wieder in zwei Arten;

Beſeler, Volksrecht. 11

[162/0174]

Sechſtes Kapitel.

ſie iſt entweder eine Gemeinde oder eine Genoſſenſchaft. Die

erſtere iſt an einen beſtimmten geographiſchen Bezirk gebun-

den, und erfaßt, wenn auch auf verſchiedene Weiſe, alle Be-

wohner deſſelben, ſo daß eine Ausnahme davon beſonders be-

gruͤndet ſeyn muß, und diejenigen, welche nicht im Gemein-

deverband ſtehen, als Eximirte oder als Fremde zu betrachten

ſind; ſie hat ferner eine unmittelbare politiſche Bedeutung,

und ſchließt ſich als ein vermittelndes Glied zwiſchen den Ein-

zelnen und der Geſammtheit, dem Staatsorganismus als in-

tegrirender Theil an. Die Genoſſenſchaft dagegen iſt nicht

nothwendig und nicht einmal gewoͤhnlich auf einen beſtimmten

Bezirk beſchraͤnkt, und hat keine ſo gleichmaͤßig wirkenden

Zwecke wie die Gemeinde; ſie zieht daher nicht alle Bewohner

in ihre Rechtsſphaͤre, ſondern nur ſolche, welche aus beſonde-

ren Gruͤnden ihr angehoͤren. Auch bildet ſie, ſo groß auch

im Allgemeinen ihre politiſche Bedeutung ſeyn kann, fuͤr ge-

woͤhnlich doch keinen Theil der Staatsverfaſſung, und wenn

in einzelnen Faͤllen eine ſolche Beziehung beſteht, eine Stadt-

verfaſſung z. B. auf Zuͤnften beruht, oder die Provinzialritter-

ſchaft in einer Landesverfaſſung eine beſtimmte Stellung ein-

nimmt, ſo iſt das nicht die Folge des genoſſenſchaftlichen Prin-

cips, ſondern einer Verſchmelzung deſſelben mit andern Inſti-

tutionen. Es kann freilich unter Umſtaͤnden wohl gar ein

Zweifel beſtehen, ob man eine Corporation als Genoſſenſchaft

oder als Gemeinde aufzufaſſen hat, z. B. bei dem Deichver-

bande und der ſogenannten Markengenoſſenſchaft, welche oft

die Grundlage eines wahren Gemeindeweſens ſind, aber doch,

wenn ſie auch einen ganzen Bezirk gleichmaͤßig erfaſſen, ihrer

urſpruͤnglichen Beſtimmung nach nur die Erreichung eines

einzelnen Zweckes zum Ziele hatten. Indeſſen iſt auch zu er-

[163/0175]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

waͤgen, daß uͤberhaupt die Rechtsinſtitute in ihrer freien Ent-

faltung nicht immer ſo von einander getrennt bleiben, daß ſie

nach beſtimmten juriſtiſchen Begriffen genau zu claſſificiren

ſind, und daß namentlich in Zeiten, welche noch keine ſcharf

ausgepraͤgte Staatsgewalt kennen, das rein politiſche und das

privatrechtliche Element der Rechtsbildung vielfach in einander

uͤberzugreifen pflegen. Es kommt dann vor Allem darauf an

das Gemeinſame in dem hoͤheren Inſtitute, welches hier die

Corporation iſt, darzuſtellen, und dem Beſonderen, der Genoſ-

ſenſchaft, wiederum eine ſelbſtaͤndige Betrachtung zu widmen.

In Beziehung auf dieſe Verhaͤltniſſe beſteht nun aber

eine große Verſchiedenheit zwiſchen dem roͤmiſchen und deut-

ſchen Rechte. Jenes kennt fuͤr die Vereinigung der Menſchen

zu beſtimmten Zwecken, abgeſehen von der uͤbrigens durchweg

als communio behandelten Ehe, nur zwei, einander ſchroff

gegenuͤberſtehende Formen: die universitas und die communio,

welche, wenn ſie durch Vertrag eingegangen iſt, societas heißt.

Erſtere tritt als die reine Durchfuͤhrung des Begriffs der juriſti-

ſchen Perſon auf: die einzelnen Mitglieder kommen nur in

ihrer Beziehung zur Geſammtheit in Betracht, und dieſe iſt

in den Angelegenheiten der Corporation ausſchließlich berech-

tigt und verpflichtet. Die Bedeutung einer ſolchen universi-

tas aber war, wie leicht zu erachten, in dem roͤmiſch-byzanti-

niſchen Reiche nicht erheblich; nur die Stadtgemeinden nehmen

wenigſtens ein juriſtiſches Intereſſe in Anſpruch; die Genoſ-

ſenſchaften dagegen kommen, abgeſehen von einigen aͤrmlichen,

polizeilich beſchraͤnkten Erſcheinungen, faſt gar nicht vor: es

fehlte dazu der Aſſociationsgeiſt und die Freiheit der Bewe-

gung. — Im Gegenſatz zur univcrsitas beruht nun die

communio durchaus auf dem Willen der Einzelnen: nur dieſe

11*

[164/0176]

Sechſtes Kapitel

ſind pro rata berechtigt und verpflichtet, und ſelbſt eine ſoli-

dariſche Verhaftung muß erſt durch andere Mittel, z. B. durch

ein Mandat begruͤndet werden. Die Gemeinſchaft als ſolche

hat keine ſelbſtaͤndige Perſoͤnlichkeit, ſie haͤngt in ihrer Exiſtenz

davon ab, ob die Einzelnen ihre Mitglieder bleiben oder blei-

ben wollen: der Tod oder der freiwillige Ruͤcktritt eines Ein-

zigen hebt die ganze Vereinigung auf; an einen Uebergang

auf die Erben iſt nicht zu denken; ſelbſt vertragsmaͤßige Ver-

abredungen uͤber die Dauer koͤnnen nur auf beſtimmte Zeit,

hoͤchſtens bis auf den Tod eines Geſellſchafters geſchloſſen

werden. — Zwiſchen dieſen Extremen kennt das roͤmiſche Recht

keine Vermittlung; es geſtattet ſtets die Frage: liegt im Fall

einer ſolchen Vereinigung eine universitas oder eine com-

munio vor?

Ganz anders aber verhaͤlt ſich die Sache nach deutſchem

Rechte. Selbſt in der Gemeinde finden ſich hier Modificatio-

nen des ſtrengen Begriffs der juriſtiſchen Perſon, indem na-

mentlich in Beziehung auf gewiſſe Gemeindeguͤter Sonder-

rechte der einzelnen Mitglieder vorkommen, fuͤr welche das

roͤmiſche Recht keine entſprechenden Begriffe hat. Noch mehr

aber haben ſolche Abweichungen bei der deutſchen Genoſſen-

ſchaft ſtatt, indem hier unter den mannichfaltigſten Combina-

tionen das Recht der Geſammtheit mit dem der einzelnen

Mitglieder durchwachſen iſt, und namentlich in Beziehung

auf das Vermoͤgen eine Verbindung der universitas mit

der communio vorliegt. Daraus ſind denn ganz ſelbſtaͤndige

Inſtitute hervorgegangen, deren rechtliche Beurtheilung nur

dann moͤglich wird, wenn man dem allgemeinen Princip, wel-

ches hier gewaltet hat, nachgeht, und zugleich jede beſondere

Erſcheinung in ihrer Eigenthuͤmlichkeit auffaßt. Man kann

[165/0177]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

dieß in der juriſtiſchen Terminologie ſo ausdruͤcken, daß bei

jeder Art der Genoſſenſchaft zu unterſuchen iſt, in wieweit der

Begriff der universitas von dem der communio modificirt

wird; nur verſteht es ſich von ſelbſt, daß beide nicht in bloß

aͤußerlicher Verbindung neben einander gedacht werden duͤrfen,

ſondern daß ſie ſich eben zu einem organiſchen Gefuͤge zuſam-

mengethan haben, welches gerade das Weſen des Inſtituts

ausmacht *), aber in ſeinen verſchiedenen Erſcheinungen wieder

verſchieden geſtaltet ſeyn kann, je nachdem der beſondere Zweck

der Vereine und ihre eigenthuͤmlichen Verfaſſungen es mit ſich

bringen. Im Folgenden ſollen nun zuvoͤrderſt die wichtigſten

Arten der Genoſſenſchaften, wie ſie im heutigen Rechtsleben

vorkommen, kurz angegeben werden.

1. Genoſſenſchaften von unmittelbar politi-

ſcher Bedeutung. Dahin kann man auf gewiſſe Weiſe

den deutſchen Bund rechnen; desgleichen den deutſchen Zoll-

verein, wenn er nicht mehr auf Kuͤndigung ſtaͤnde. Außerdem

ſind die einzelnen regierenden Haͤuſer zu nennen, ſowohl in

ihrer Geſammtheit als auch in den ſelbſtaͤndigen Linien; die

Corporationen der landſaͤſſigen Ritterſchaft, inſofern ſie be-

ſtimmte politiſche Rechte ausuͤben; die Univerſitaͤten und geiſt-

lichen Stifter unter derſelben Vorausſetzung; die Zuͤnfte und

Gilden, wenn auf ihnen noch die ſtaͤdtiſche Verfaſſung beruht.

2. Genoſſenſchaften der Grundbeſitzer eines

beſtimmten Bezirkes. Hier kommen die Ueberreſte der

*) So hat z. B. Mittermaier (Grundſaͤtze des deutſchen Privatrechts

[6. Aufl.] I. §. 251.) richtig erkannt, daß die Gewerkſchaft im Bergrecht

weder eine reine universitas noch eine societas iſt; aber er laͤßt beide

Begriffe nur neben einander beſtehen, ohne zu zeigen, wie ſie zu einer

neuen, ſelbſtaͤndigen Rechtsbildung zuſammengefloſſen ſind.

[166/0178]

Sechſtes Kapitel.

alten Markengenoſſenſchaften in Betracht; ferner die Deich-

und Siehlverbaͤnde. — Fuͤr landwirthſchaftliche Zwecke, na-

mentlich in Beziehung auf die Berieſelung und den Wieſen-

bau, hat ſich in Deutſchland der Aſſociationsgeiſt noch nicht

ſo thaͤtig erwieſen, als zu wuͤnſchen waͤre. Dagegen finden

ſich in den waſſerarmen Staͤdten haͤufig Genoſſenſchaften fuͤr

die Herbeiſchaffung des noͤthigen Waſſervorraths durch die

entſprechenden Anſtalten.

3. Kirchliche Genoſſenſchaften. Das Kirchſpiel

hat uͤberwiegend den Charakter der Gemeinde, wenn es auch

nicht immer mit der rein politiſchen Commune zuſammen faͤllt;

auch diejenigen Genoſſenſchaften, welche ſich zu beſonderen re-

ligioͤſen Zwecken innerhalb oder neben der Kirche gebildet ha-

ben, kommen erſt unten (Nr. 7.) in Betracht. Hier ſind alſo

nur ſolche kirchliche Vereine zu nennen, welche in ſelbſtaͤndiger

Haltung und nicht mit andern Einrichtungen, z. B. einer Uni-

verſitaͤt, einer Garniſon verbunden, außerhalb der allgemeinen

Landes-Kirchenverfaſſung errichtet worden ſind. Die tolerir-

ten Secten pflegen ſich ſo zu conſtituiren.

4. Genoſſenſchaften fuͤr Handel und Gewerbe

(Fabrikation und Handwerke). In dieſer Beziehung ſind zwei

Arten zu unterſcheiden: die Verbindung der Betheiligten zur

Wahrung ihrer gemeinſamen Intereſſen bei getrennter Arbeit,

worauf die alten Innungen beruhen, und zur Foͤrderung ge-

meinſchaftlicher Unternehmungen mit gemeinſamen Kraͤften,

um daraus directen Gewinn zu ziehen. Dahin gehoͤren die

großen induſtriellen und commerciellen Unternehmungen, welche

regelmaͤßig als Actiengeſellſchaften auftreten; die Aſſecuranz-

compagnien, welche dritte Perſonen gegen Gefahr verſichern;

die Gewerkſchaften beim Bergbau, die Pfaͤnnerſchaften bei den

[167/0179]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

Salinen; die Schiffsrhedereien, welche freilich, wenn ſie ſich

nur auf ein einzelnes Schiff beziehen, verhaͤltnißmaͤßig von

kurzer Dauer, und ohne die rechte corporative Haltung ſind.

Die offene Handelsgeſellſchaft und die Commandite dagegen

ſtellen ſich mehr als eine durch das genoſſenſchaftliche Princip

modificirte Form des Geſellſchaftsvertrags heraus; nur nach

außen hin treten ſie formell in der gemeinſchaftlichen Firma

und Geſchaͤftsfuͤhrung als ein Ganzes auf, und ſind auch

ruͤckſichtlich des Erloͤſchens nicht an die ſtrengen Grundſaͤtze

der roͤmiſchen societas gebunden.

5. Genoſſenſchaften zur Befoͤrderung der

Communicationsmittel. Das Unterſcheidende iſt hier,

daß die Erlangung eines unmittelbaren Gewinns nicht der

Hauptzweck bei der Errichtung ſolcher Vereine iſt, ſondern ein

allgemeineres oͤffentliches Intereſſe ſie hervorruft. Das pflegt

namentlich bei den Eiſenbahnbauten der Fall zu ſeyn, welche

von Actiengeſellſchaften ausgehen.

6. Genoſſenſchaften gegen eine gemeinſchaft-

liche Gefahr. Sie beruhen auf dem Princip der gegenſei-

tigen Verſicherung, und ſollen nur von dem Einzelnen einen

zu befuͤrchtenden Schaden abwenden, aber keinen Gewinn ab-

werfen. Die Seeaſſecuranz wird wohl ſelten ſo bewirkt, deſto

haͤufiger aber die Verſicherung gegen Feuer- und Hagelſcha-

den; auch manche Lebensverſicherungsgeſellſchaften, Todtenbe-

liebungen, Verſorgungsanſtalten fuͤr Wittwen und Waiſen ge-

hoͤren hierher; desgleichen die ſo wichtigen ritterſchaftlichen Cre-

ditvereine, inſofern ſie den Genoſſen eine Garantie gegen das

Sinken des Realcredits gewaͤhren ſollen, wenn ſchon bei der

Stiftung wohl meiſtens die Abſicht, den ſchon geſunkenen Cre-

dit zu heben, vorherrſchend geweſen iſt.

[168/0180]

Sechſtes Kapitel.

7. Genoſſenſchaften fuͤr religioͤſe, ſittliche,

wiſſenſchaftliche, kuͤnſtleriſche, oͤkonomiſche und

geſellige Zwecke. Solcher Vereine iſt gerade in der neue-

ſten Zeit wieder eine große Zahl entſtanden, welche zuweilen

freilich bei ihrem kurzen Beſtande und der Unvollſtaͤndigkeit

ihrer Organiſation noch keine rechte juriſtiſche Haltung in ſich

tragen, oft aber ſchon zu einer feſten Begruͤndung gelangt

ſind. Zu den religioͤſen Genoſſenſchaften ſind die noch er-

haltenen oder wieder belebten Vereine zu rechnen, an denen

der Katholicismus des Mittelalters ſo reich war; ferner die

neu entſtandenen Bibel- und Miſſionsgeſellſchaften. Sitt-

liche Zwecke werden vorzugsweiſe durch die Vereine fuͤr Ar-

men- und Krankenpflege, fuͤr Unterricht und Erziehung ver-

wahrloſter Kinder, fuͤr Beſſerung entlaſſener Straͤflinge, durch

Maͤßigkeitsvereine u. ſ. w. angeſtrebt; wiſſenſchaftliche

Zwecke durch die uͤberall verbreiteten Vereine der Naturfor-

ſcher, Aerzte, Hiſtoriker, Philologen; kuͤnſtleriſche Zwecke

finden in den Kunſt- und Muſikvereinen, den Liedertafeln

ihre Befriedigung; oͤkonomiſche in den Vereinen der Land-

wirthe und Induſtriellen, geſellige Beduͤrfniſſe, wie Spiel,

Converſation, Lectuͤre, in den Klubbs, deren faſt keine Stadt

mehr entbehren kann. Eine eigenthuͤmliche Stellung nehmen

noch die Freimaurerlogen ein.

8. Die Genoſſenſchaften in der Familie. Die

Familie des hohen Adels bildet an ſich ſchon eine Genoſſen-

ſchaft; der niedere Adel hat es nur durch beſondere Veran-

ſtaltungen (geſammte Hand im Lehenrecht, Ganerbſchaften) zu

entſprechenden Inſtituten bringen koͤnnen, welche aber gegen-

waͤrtig ihre eigentliche Bedeutung verloren haben, und faſt

ganz durch das Familienfideicommiß abſorbirt ſind. Von ganz

[169/0181]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

allgemeinem Einfluß dagegen, obgleich durchaus eigenthuͤmli-

cher Art und gegenwaͤrtig vielfach beſchraͤnkt und gebrochen,

iſt die eheliche Genoſſenſchaft des germaniſchen Rechts.

Doch kommt hier das genoſſenſchaftliche Princip nur beſchraͤnkt

zur Anwendung; denn die Dauer der Vereinigung iſt eine be-

ſchraͤnkte, da ſie nur auf zwei beſtimmte Perſonen geht, und

die Fortfuͤhrung uͤber den Tod des einen Ehegatten hinaus,

zwiſchen dem uͤberlebenden und den Kindern, an ſich ſchon

zufaͤllig und in der Wirkung beſchraͤnkt, nur mittelbar mit ihr

zuſammenhaͤngt; auch bringt es die Verbindung der Ehegatten,

ſo innig ſie iſt, zu keiner ſelbſtaͤndigen Perſoͤnlichkeit der Ehe,

welche als ſolche weder berechtigt noch verpflichtet wird. Die

deutſche eheliche Genoſſenſchaft iſt daher eher eine Rechtsge-

meinſchaft zu nennen, aber eine ſolche, welche nicht von dem

ſtrengen Princip der roͤmiſchen communio beherrſcht wird.

III. Entſtehung der Genoſſenſchaften.

Die Genoſſenſchaft kann auf eine zwiefache Weiſe entſte-

hen: entweder auf dem Wege der hiſtoriſchen Entwicklung oder

durch einen beſtimmten Act der Conſtituirung. Im erſten Fall

fuͤhrt das Beduͤrfniß und der im Aſſociationsgeiſte begruͤndete

Trieb allmaͤlig zur genoſſenſchaftlichen Vereinigung, indem die

Verbindung der Einzelnen nach und nach ſo innig mit dem

gemeinſamen Zweck ſich identificirt, daß die Gemeinſchaft ſelbſt

als eine ſelbſtaͤndige Perſoͤnlichkeit hervortritt, und ſich gleich-

maͤßig in ihr eine Verfaſſung entwickelt, welche der freien Be-

wegung im Innern und nach außen die gehoͤrige Form und

Haltung gewaͤhrt. So ſehen wir im Mittelalter die Marken-

genoſſenſchaften, die Eides- und Fehdebuͤndniſſe freier Ge-

ſchlechter, die Innungen der Stadtbuͤrger, die ritterſchaftlichen

[170/0182]

Sechſtes Kapitel.

Corporationen, die Familien des hohen Adels u. ſ. w. in lang-

ſamer Entwicklung, oft unter Kampf und Noth, ſich zur ge-

noſſenſchaftlichen Verbindung geſtalten, und in feſten Formen

ſich abſchließend endlich eine beſtimmte corporative Stellung

gewinnen. Es laͤßt ſich dieſer Entwicklungsproceß mit der

allmaͤligen, zum Theil unbewußten Entfaltung des Gemeinde-

und Staatsweſens vergleichen, und gerade die Genoſſenſchaft

war es, welche im Mittelalter nicht wenig von dem an ſich

zog, was jetzt dem Staate und deſſen allgemeiner Organiſa-

tion gebuͤhrt. Jene Vereine gewannen, indem ſie zum Da-

ſeyn gelangten, einen betraͤchtlichen Antheil an der oͤffentlichen

Gewalt, welche noch nicht in einer geordneten Staatsverfaſ-

ſung ihre volle Ausbildung erlangt hatte; oder ſie ſetzten ſich

mit den herrſchenden Maͤchten in ein beſtimmtes Verhaͤltniß,

indem ſie bald durch Kampf auf ihre Koſten ſich ſtaͤrkten,

bald durch Unterwerfung Anerkennung und Schutz ſo wie

Freiheiten und Rechte mancher Art ſich zu verſchaffen wußten. —

Anders als durch eine ſolche allmaͤlige Entwicklung ſind

manche Genoſſenſchaften ſofort durch einen beſtimmten juriſti-

ſchen Act conſtituirt worden, indem Einzelne zu einem gemein-

ſamen Zweck, wie weit oder eng dieſer nun war, ſich auf die

Dauer vereinigten, und durch die ganze Anlage ihrer Verbin-

dung und durch die Verfaſſung, welche ſie ſich gaben, es

gleichfalls zur Corporation brachten, welche denn, je nach den

Umſtaͤnden, ganz unabhaͤngig da ſtand, inſofern die Genoſſen

ſich innerhalb ihrer Rechtsſphaͤre hielten, und kraͤftig genug

waren, dieſe ſelbſtaͤndig zu ſchirmen, oder der Anerkennung

und dem Schutz der Oberen unterworfen ward, wie es eben

nothwendig oder raͤthlich erſchien. Auf dieſe Weiſe ſehen wir

Staͤdtebuͤndniſſe, landſchaftliche Corporationen, Erbverbruͤderun-

[171/0183]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

gen, Ganerbſchaften, religioͤſe Vereine, geiſtliche Ritterorden

u. ſ. w. entſtehen. Doch ſoll damit nicht geſagt ſeyn, daß

ſtets die eine Art der Genoſſenſchaften ſo, die andere anders

begruͤndet worden: die reiche Mannichfaltigkeit des mittelaltri-

gen Rechtslebens hat ſich auch dabei auf die verſchiedenſte

Weiſe geltend gemacht.

Fragen wir nun, ob denn auch gegenwaͤrtig, im moder-

nen Staate die Genoſſenſchaft noch auf jene zwiefache Art her-

vorgerufen werde, ſo ſoll nicht durchaus in Abrede geſtellt wer-

den, daß es nicht auf dem Wege der allmaͤligen Entwicklung

auch jetzt noch geſchehen koͤnne; es iſt ſogar anzunehmen, daß

die eine oder die andere der vielen vorhandenen Genoſſenſchaf-

ten in der angegebenen Weiſe auch in neuerer Zeit zum Be-

wußtſeyn ihrer Exiſtenz, zur organiſchen Geſtaltung und zur

allgemeinen Anerkennung gekommen iſt. Aber gegenwaͤrtig,

wo uͤberhaupt die bewußte That ſtatt der ſtillen Naturbildung

einzugreifen pflegt, wenn uͤberhaupt tuͤchtige Kraͤfte vorhanden

ſind und ſich frei bewegen koͤnnen, — gegenwaͤrtig wird doch

regelmaͤßig eine neue Genoſſenſchaft durch einen beſtimmten

juriſtiſchen Act conſtituirt werden, indem die Einzelnen, welche

den Verein gruͤnden wollen, nachdem ſie uͤber den Zweck und

die Organiſation deſſelben einig geworden ſind, die Erklaͤrung

abgeben, daß die Genoſſenſchaft, der jetzt auch ein beſtimmter

Name beigelegt zu werden pflegt, als ſolche beſtehen ſoll, und

daß ſie, die Gruͤnder, ſich nun als Mitglieder derſelben anſe-

hen. Inſofern dieſe Willenserklaͤrung durch die Uebereinſtim-

mung der Einzelnen erſt moͤglich wird, beruht ſie nothwendig

auf einem Vertrage; allein an und fuͤr ſich iſt ſie kein Ver-

trag, wenigſtens nicht im gewoͤhnlichen Sinne, ſondern eben

ein conſtituirender Act, mit welchem ſich der Geſammtwille

[172/0184]

Sechſtes Kapitel.

von dem Einzelwillen abloͤſt, und zu einer neuen Form ſich verkoͤr-

pert. Der Aſſociationsgeiſt mit ſeiner ſchaffenden Kraft, der auch

in der Stille der geſchichtlichen Entwicklung ſich verbergen kann,

tritt hier mit einer concentrirten Wirkſamkeit auf, und ruft ein be-

wußtes Handeln und durch dieſes die Genoſſenſchaft hervor.

Allein dieſe Auffaſſung der Sache iſt nicht die gewoͤhn-

liche; vielmehr iſt die Anſicht allgemein verbreitet, daß jede

juriſtiſche Perſon und alſo auch die Genoſſenſchaft nicht durch

Privatwillkuͤhr, ſondern nur durch die Staatsgewalt ins Leben

gerufen werden kann. Dabei herrſcht freilich in der weitern

Durchfuͤhrung der Lehre keine Uebereinſtimmung: bald ſoll der

Act der Conſtituirung nur vom Staate ausgehen koͤnnen, ſo

daß jede andere dabei entwickelte Thaͤtigkeit juriſtiſch nicht in

Betracht zu kommen ſcheint, oder die ertheilte Confirmation

gar nur als eine beliebig zuruͤckzuziehende Conceſſion gedeutet

wird; bald wird die ausdruͤckliche Staatsgenehmigung als eine

nothwendige Form verlangt, welche dem Act der Begruͤndung

nur das Siegel der Legalitaͤt aufdruͤckt; bald ſoll auch die

ſtillſchweigende Genehmigung des Staates durch wiſſentliche

Duldung und thatſaͤchliche Anerkennung genuͤgen, ſo daß es

ausreichend iſt, wenn der Staat nur Kunde von der juriſti-

ſchen Perſon erhalten hat, und nicht verbietend dagegen ein-

ſchreitet. Daß dieſe Anſichten, welche ſich nicht ſelten bei dem-

ſelben Schriftſteller in bunter Miſchung neben einander finden,

ihrem Weſen nach verſchieden ſind, liegt auf flacher Hand:

die erſte ſieht in der Staatsgewalt die ausſchließliche Quelle

der juriſtiſchen Perſon; die zweite verlangt nur bei der Be-

gruͤndung ihre Mitwirkung, und laͤßt dabei alſo auch andere

Factoren zu; die dritte endlich raͤumt die Moͤglichkeit der Exi-

ſtenz auch unabhaͤngig von der Staatsgewalt ein, da, was ge-

[173/0185]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

duldet wird, ſchon beſtehen muß. — Daß nun der Staat ſich

im Allgemeinen zur juriſtiſchen Perſon nicht gleichguͤltig ver-

halten kann, und daß ihm ein beſtimmter Einfluß auf die-

ſelbe gebuͤhrt, iſt nicht in Abrede zu ſtellen; zunaͤchſt fragt es

ſich aber, ob und inwiefern ihre Begruͤndung von ſeinem

Willen abhaͤngt, und die Privatwillkuͤhr hierbei ausgeſchloſſen

iſt. Das ſoll nun mit beſonderer Beziehung auf die Genoſ-

ſenſchaft hier erwogen werden, wobei die verſchiedenen daruͤber

beſtehenden Anſichten einer Kritik zu unterziehen ſind.

1. Gewoͤhnlich behauptet man, jede juriſtiſche Perſon

ſey als ſolche eine Fiction, und koͤnne deswegen nur durch die

hoͤchſte Gewalt im Staate zur Exiſtenz kommen. Allein Bei-

des iſt nicht richtig. Die Genoſſenſchaft namentlich und die

Gemeinde ſind ſo wenig eine Fiction, als der Staat es ſelber

iſt; es liegt in der ſo geordneten Geſammtheit ein organi-

ſches Leben, eine Perſoͤnlichkeit, deren Bedeutung man

ganz mißverſteht, wenn man ſie bloß im Gegenſatz zu der

des einzelnen Menſchen auffaßt, ſo wie es auch nicht richtig

iſt, wenn man ſie ausſchließlich auf den civilrechtlichen, freilich

beſonders wichtigen Punct der Vermoͤgensfaͤhigkeit bezieht.

Daß aber ferner eine ſolche Perſoͤnlichkeit, die immerhin als

eine juriſtiſche bezeichnet werden mag, nur durch den Staats-

willen ſoll entſtehen koͤnnen, iſt einfach eine petitio principii,

welche durch die Geſchichte und das Rechtsleben der germani-

ſchen Voͤlker widerlegt wird. Auch iſt ſchon auf den Wider-

ſpruch aufmerkſam gemacht worden, deſſen ſich diejenigen ſchul-

dig machen, welche dem ausdruͤcklichen Staatswillen die ſtill-

ſchweigende Anerkennung und Duldung ſubſtituiren. Es ver-

haͤlt ſich damit, wie mit der aͤlteren Theorie von der Entſte-

hung des Gewohnheitsrechts: weil man ſich das Geſetz als

[174/0186]

Sechſtes Kapitel.

die ausſchließliche Quelle des Rechts dachte, ſo ließ man das

Gewohnheitsrecht nur durch die ausdruͤckliche oder ſtillſchwei-

gende Genehmigung des Staats entſtehen, und nahm, um ein

falſches Princip aufrecht zu erhalten, zu Fictionen ſeine Zuflucht.

2. Die Nothwendigkeit der Staatsgenehmigung wird

auch auf das roͤmiſche Recht zuruͤckgefuͤhrt. Allein dieſes,

ohne Ahnung von dem germaniſchen Aſſociationsgeiſte und

den dadurch hervorgerufenen Inſtituten, verlangt nur aus po-

lizeilichen Gruͤnden, welche mit der Verfaſſung der Monarchie

zuſammenhingen, eine Beſtaͤtigung der collegia und cor-

pora, die erſt in Folge ausdruͤcklicher Geſetze beliebt ward,

und das heutige Recht und namentlich die deutſchrechtliche

Genoſſenſchaft nicht beruͤhrt. Zwar koͤnnte man hiergegen

einwenden wollen, das Juriſtenrecht habe dieſe beſchraͤnkende

Vorſchrift in Deutſchland recipirt und generaliſirt; allein wenn

auch die Juriſten in dieſer Beziehung die gleichen Principien

verfochten haͤtten, was, wie gezeigt, nicht der Fall geweſen iſt,

ſo wuͤrde doch die Beobachtung des im Volke waltenden

Rechtslebens zeigen, daß ſie mit ihrer Anſicht nicht durchge-

drungen ſind. Denn es finden ſich in deutſchen Laͤndern, wo

das roͤmiſche Princip nicht ausdruͤcklich ſanctionirt worden iſt,

viele Genoſſenſchaften, die keine Staatsgenehmigung erhalten

haben, und welche doch auch der entſchiedenſte Romaniſt nicht,

ohne ſich laͤcherlich zu machen, ſelbſt in Beziehung auf das

Vermoͤgen, als bloße communio behandeln duͤrfte. Man

denke ſich nur einen ſchon lange in anerkannter Wirkſamkeit

beſtehenden geſelligen Klubb, der nicht confirmirt worden, mit

einem bedeutenden Vermoͤgen, und laſſe ein austretendes

Mitglied oder die Erben eines verſtorbenen die Theilungsklage

anſtellen!

[175/0187]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

3. Eine eigenthuͤmliche Auffaſſung der hier behandelten

Frage findet ſich bei v. Savigny. Er ſagt *):

„Die Nothwendigkeit der Staatsgenehmigung zur Ent-

ſtehung jeder juriſtiſchen Perſon hat, unabhaͤngig von poli-

tiſchen Ruͤckſichten, einen durchgreifenden juriſtiſchen Grund.

Der einzelne Menſch traͤgt ſeinen Anſpruch auf Rechtsfaͤ-

higkeit ſchon in ſeiner leiblichen Erſcheinung mit ſich: weit

allgemeiner als bei den Roͤmern, deren zahlreiche Sklaven

eine ſo wichtige Ausnahme bildeten. Durch dieſe Erſchei-

nung weiß jeder Andere, daß er in ihm eigene Rechte zu ehren,

jeder Richter, daß er in ihm ſolche Rechte zu ſchuͤtzen hat.

Wird nun die natuͤrliche Rechtsfaͤhigkeit des einzelnen Men-

ſchen durch Fiction auf ein ideales Subject uͤbertragen, ſo

fehlt jene natuͤrliche Beglaubigung gaͤnzlich; nur der Wille

der hoͤchſten Gewalt kann dieſelbe erſetzen, indem er kuͤnſt-

liche Rechtsſubjecte ſchafft, und wollte man dieſelbe Macht

der Privatwillkuͤhr uͤberlaſſen, ſo wuͤrde unvermeidlich die

hoͤchſte Ungewißheit des Rechtszuſtandes entſtehen, ſelbſt ab-

geſehen von dem großen Misbrauch, der durch unredlichen

Willen moͤglich waͤre. Zu dieſem durchgreifenden juriſti-

ſchen Grunde treten aber noch politiſche und ſtaatswirth-

ſchaftliche Gruͤnde hinzu u. ſ. w.“

Ich ſehe nicht ein, wie dieſer Grund mit Fug ein juri-

ſtiſcher genannt werden kann. Denn ein ſolcher muß doch aus

einer Rechtsregel herzuleiten ſeyn; die erhoͤhte Rechtsſicherheit

aber, welche durch die Staatsgenehmigung erlangt werden ſoll,

iſt kein juriſtiſches, ſondern ein politiſches Moment, da ſie auf

der Zweckmaͤßigkeit beruht. Mit demſelben Rechte koͤnnte man

*) Syſtem des heutigen roͤmiſchen Rechts. II. S. 277. 278.

[176/0188]

Sechſtes Kapitel.

die Formloſigkeit der Vertraͤge, welche nach heutigem gemeinen

Rechte als Regel gilt, vom Standpuncte der Rechtsſicherheit

aus anfechten. Auch verliert dieſer, von v. Savigny hervor-

gehobene Grund ſeine beweiſende Kraft dadurch, daß (a. a. O.

S. 275) angenommen wird, die Staatsgenehmigung koͤnne

„auch ſtillſchweigend, durch wiſſentliche Duldung und thatſaͤch-

liche Anerkennung, ertheilt werden.“ Denn wenn dieſes der

Fall iſt, ſo tritt ja gerade die formelle Bedeutung der Staats-

genehmigung, die nur bei deren ausdruͤcklicher Ertheilung ge-

wahrt werden koͤnnte, ganz in den Hintergrund. Außerdem

aber fragt es ſich, ob nicht die Rechtsſicherheit eben ſo gut und

noch beſſer auf andere Weiſe zu erlangen ſeyn ſollte, z. B.

durch die Vorſchrift, daß jede Conſtituirung einer juriſtiſchen

Perſon bei der Ortsobrigkeit anzuzeigen und durch oͤffentliche

Blaͤtter bekannt zu machen ſey. Denn wenn ſelbſt die Staats-

genehmigung nicht gehoͤrig veroͤffentlicht wuͤrde, ſo duͤrfte der

Rechtsſicherheit damit doch nur auf beſchraͤnkte Weiſe gehol-

fen ſeyn, — namentlich in Beziehung auf das groͤßere Pu-

blicum; denn dem Richter fehlt es auch ohne dieß nicht an

Anhaltspuncten, die rechtliche Natur ſolcher Vereine zu erfor-

ſchen, und noͤthigenfalls kann er ja zu einer Beweisauflage

ſchreiten.

4. Es bleibt jetzt nur noch zu erwaͤgen, ob es Gruͤnde

giebt, welche vom Standpuncte des modernen Staates aus

und im Intereſſe des oͤffentlichen Wohls die Staatsgenehmi-

gung der Genoſſenſchaft als durchaus nothwendig erſcheinen

laſſen. Daß dieſes nun ganz allgemein fuͤr alle Inſtitute die-

ſer Art der Fall ſey, laͤßt ſich nicht behaupten. Denn es muß,

im Gegenſatz zu der in Deutſchland ſo uͤbertriebenen Bevor-

mundung freier Buͤrger durch die Staatsgewalt, der Grund-

[177/0189]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

ſatz einer nationalen Politik und einer geſunden Jurisprudenz

feſtgehalten werden, daß nur da, wo das hoͤhere Intereſſe der

Geſammtheit es zum allgemeinen Beſten dringend erheiſcht,

der Staat ſich mit den Angelegenheiten der Einzelnen befaſſe,

und ſie in ihrer freien Bewegung durch Genehmigung und Ober-

aufſicht beſchraͤnke. Daraus laſſen ſich folgende Regeln ableiten.

a. Der Staat hat vermoͤge ſeines Oberaufſichtsrechts

(der hohen Staatspolizei) die Aufgabe, die genoſſenſchaftlichen

Verbindungen im Allgemeinen zu uͤberwachen, die Entartung

des Aſſociationsgeiſtes zu verhindern, und wenn ſich derſelbe

in verderblichen und gefaͤhrlichen Erſcheinungen offenbart, mit

Verboten und Strafgeſetzen dagegen einzuſchreiten. Aber es

ſteht ſchon ſchlimm, wenn eine ſolche Handlungsweiſe von Sei-

ten der Staatsgewalt nothwendig wird; noch ſchlimmer iſt

es, wenn ſie aus uͤbertriebener Aengſtlichkeit zu leicht zur po-

lizeilichen Praͤvention greift, und dem geſunden Sinn des Vol-

kes und der Macht der Oeffentlichkeit zu wenig vertraut. Denn

vor Allem iſt dahin zu ſtreben, den guten Kraͤften die rechte

Bahn anzuweiſen und ſie darauf zu erhalten, nicht aber ſie

aus Furcht vor Mißbrauch zu ſchwaͤchen oder zu toͤdten. Ge-

rade der Aſſociationsgeiſt der Deutſchen, im Geiſte einer frei-

ſinnigen und nationalen Politik geleitet, kann zur Kraͤftigung

und Concentrirung der Nation ſehr weſentlich beitragen, da

er ſich in ſeiner Wirkſamkeit nicht auf einzelne Staatsgebiete

beſchraͤnkt. Daß aber Vereine mit einer verbrecheriſchen Ten-

denz nie eine juriſtiſche Exiſtenz erhalten duͤrfen, verſteht ſich

von ſelbſt, ſo wenig die Staatsgenehmigung ſolchen Genoſſen-

ſchaften, welche unter dem Schein der Geſetzlichkeit ein verbo-

tenes Ziel verfolgen, zu Statten kommen darf.

b. Alle Genoſſenſchaften, welche eine unmittelbare poli-

Beſeler, Volksrecht. 12

[178/0190]

Sechſtes Kapitel.

tiſche Bedeutung in Anſpruch nehmen, und uͤberhaupt in die

allgemeine Staatsverfaſſung eingreifen, koͤnnen ſo wenig wie

die Gemeinde einſeitig durch Privatwillkuͤhr, ohne Zuthun der

Staatsgewalt errichtet werden. So hat ſeit dem Anfange des

vorigen Jahrhunderts der alte Landesadel in Mecklenburg be-

harrlich darnach geſtrebt, ſich innerhalb der Ritterſchaft als

eine beſondere Corporation zu conſtituiren, ohne daß ihm die-

ſes nach gemeinem deutſchen Staatsrecht und nach der dorti-

gen Landesverfaſſung haͤtte gelingen koͤnnen. — Den rein po-

litiſchen Corporationen muͤſſen auch die entſprechenden kirchli-

chen gleich geachtet werden; ja es kann hier, außer der Ge-

nehmigung des Staates, auch noch die der Kirchenobern noth-

wendig werden. Eine volle Freiheit der kirchlichen Aſſociation

ſetzt die Trennung der Kirche vom Staat, oder doch die An-

erkennung der Privatwillkuͤhr in dieſer Rechtsſphaͤre voraus;

aber weder das Eine noch das Andere iſt ja in Deutſchland

Rechtens. Daher ſtellt ſich das Verfahren der ſogenannten Altlu-

theraner in Preußen, welche nach oͤffentlichen Blaͤttern damit um-

gehen, eigenmaͤchtig neben der Landeskirche fuͤr ſich ein beſonderes

kirchliches Geweinweſen zu begruͤnden, als unſtatthaft heraus.

c. Genoſſenſchaften, welche uͤber ihre eigentliche Sphaͤre

hinaus Rechte in Anſpruch nehmen, wodurch ſie Dritte be-

ſchraͤnken und verletzen wuͤrden, beduͤrfen, abgeſehen von dem

Widerſpruchsrecht der Betheiligten, der Staatsgenehmigung.

So koͤnnte es in einem Lande, wo Gewerbefreiheit herrſcht,

an und fuͤr ſich unbedenklich ſeyn, wenn in gewiſſen Gewer-

ken ſich genoſſenſchaftliche Vereine zur gegenſeitigen Foͤrderung

und Unterſtuͤtzung bildeten; wollten dieſe aber einſeitig die Be-

treibung des Gewerbes durch Ungenoſſen von beſonderen Vor-

ſchriften abhaͤngig machen, vielleicht gar die Abgeſchloſſenheit

[179/0191]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

und das Monopolweſen der Zuͤnfte wieder einfuͤhren, ſo wuͤrde

das durchaus rechtswidrig ſeyn.

d. Unternehmungen von großartigem Umfange, welche

fuͤr den Staat und das gemeine Beſte von unmittelbarem In-

tereſſe ſind, z. B. bedeutende Eiſenbahnbauten, koͤnnen nicht

einſeitig von Privatvereinen ausgehen; die Staatsgenehmigung

mit einer voraufgehenden Vorunterſuchung iſt hier fuͤr noth-

wendig zu halten, ſo daß, bevor ſie ertheilt worden, nur vor-

bereitende Verhandlungen ſtattfinden, und erſt, nachdem ſie er-

folgt iſt, der Act der Conſtituirung vor ſich gehen kann. Denn

daß dieſer durch die Staatsgenehmigung erſetzt werde, laͤßt ſich

nicht annehmen; er wird dadurch nur rechtlich moͤglich ge-

macht. Wann aber ein ſolcher Fall vorliegt, wo die Privat-

willkuͤhr zur Begruͤndung der Genoſſenſchaft nicht ausreicht,

das iſt, in Ermangelung eines Geſetzes, nach der Erwaͤgung

der beſonderen Verhaͤltniſſe zu entſcheiden; gewoͤhnlich wird

die Staatsgewalt aber ſchon dadurch in Stand geſetzt ſeyn,

ihre Cognition geltend zu machen, daß ohne ſie die Durchfuͤh-

rung des genoſſenſchaftlichen Zweckes nicht zu erreichen iſt, in-

dem z. B. eine Eiſenbahngeſellſchaft ohne die Anwendung ei-

nes Expropriationsgeſetzes, ohne ein Abkommen mit der Poſt

u. ſ. w. keine Ausſicht auf Erfolg hat.

e) Schwieriger iſt die Frage, wie der Staat ſich bei

ſolchen Genoſſenſchaften zu verhalten habe, welche an ſich von

bedeutender Wichtigkeit, das oͤffentliche Wohl doch nur mittel-

bar beruͤhren, wie das mehr oder weniger bei den meiſten in-

duſtriellen und commerciellen Unternehmungen der Fall iſt.

Denn dieſe koͤnnen bald durch Schwindelei und Betrug, bald

durch unſolide Begruͤndung, z. B. bei Aſſecuranzcompagnien,

die Einzelnen, welche ſich dabei betheiligen, in großen Schaden

12*

[180/0192]

Sechſtes Kapitel.

bringen, indem leichtſinnige und betruͤgeriſche Speculanten auf

Koſten ihrer getaͤuſchten Mitbuͤrger ſich bereichern. Kann man

auch, in Erwaͤgung dieſer Uebelſtaͤnde, geneigt werden, fuͤr

ſolche Unternehmungen die Staatsgenehmigung ſtets fuͤr wuͤn-

ſchenswerth zu halten, ſo bleibt es doch zweifelhaft, ob ſie wirk-

lich ein ſicheres Gegenmittel enthaͤlt, und ob nicht der Scha-

den, den eine uͤbertriebene Bevormundung mit ſich fuͤhrt, die

Nachtheile, welche durch ſie beſeitigt werden ſollen, uͤberwiegt.

Am Ende wird ſich doch der Grundſatz auch hier bewaͤhren,

daß jeder Einzelne fuͤr ſeinen Vortheil am beſten zu ſorgen

pflegt, und wo ein tuͤchtiges oͤffentliches Leben beſteht, welches

namentlich in den Volksgerichten und der freien Preſſe ſeine

Organe findet, da wird auch das Volk ſelbſt ſchon im Allge-

meinen eine Controle auszuuͤben wiſſen. Der Staat ſorge

nur durch angemeſſene Strafgeſetze fuͤr eine ſtrenge Ahndung

wirklich betruͤgeriſcher Schwindeleien.

f. Daß uͤberhaupt eine weiſe Geſetzgebung, welche das

Recht der Genoſſenſchaft umfaßte, und namentlich hinſichtlich

ihrer Entſtehung einen feſten Formalismus wahrte, ſehr wohl-

thaͤtig einwirken und ſowohl die Rechtsſicherheit befoͤrdern, als

auch uͤberhaupt der Entartung des Aſſociationsgeiſtes mit Er-

folg entgegen treten koͤnnte, ſoll gar nicht in Abrede geſtellt

werden. Nur waͤre zu wuͤnſchen, daß eine ſolche Geſetzgebung

eben das ganze Inſtitut, und nicht bloß die Actiengeſellſchaft

ins Auge faßte, ſo wie es ihre Hauptaufgabe ſeyn muͤßte, die

leitenden Principien nur inſoweit zu fixiren, daß die freie Be-

wegung des Rechtslebens in ſeiner organiſchen Entfaltung da-

durch nicht bedroht wuͤrde. Namentlich moͤchte auch darauf

Ruͤckſicht zu nehmen ſeyn, ob nicht manche Genoſſenſchaften

in ein beſtimmtes Verhaͤltniß zur Gemeinde gebracht werden

[181/0193]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

koͤnnten, damit, wenn auch eine Anerkennung und Beaufſich-

tigung noͤthig ſeyn ſollte, die hoͤchſte Staatsgewalt nicht im-

mer mit ſolchen Kleinigkeiten behelligt wuͤrde.

IV. Verfaſſung der Genoſſenſchaft.

Im Aſſociationsgeiſt liegt nicht bloß der Trieb, welcher

die Einzelnen zur genoſſenſchaftlichen Vereinigung zuſammen-

fuͤhrt, ſondern es iſt darin auch die organiſirende Kraft ent-

halten, welche eine dem Zweck und Beduͤrfniß entſprechende

Geſtaltung der Genoſſenſchaft hervorruft. Dabei kommt es

nun theils auf die Thaͤtigkeit der einzelnen Mitglieder an, theils

auf die Stellung, welche die Geſammtheit als ſolche einnimmt.

Die erſtere bietet wieder eine doppelte Seite dar, je nachdem

der Zweck der Genoſſenſchaft unmittelbar durch die Leiſtungen

der einzelnen Mitglieder ganz oder doch theilweiſe erfuͤllt wird,

ſo daß der Verein nur die Richtung derſelben auf das gemein-

ſame Ziel und ihre zweckmaͤßige Verbindung und Verwendung

beſtimmt; oder nur die Genoſſenſchaft als ſolche fuͤr die Er-

reichung ihres Zieles nach außen hin thaͤtig wirkend auftritt,

ſo daß das Verhaͤltniß der einzelnen Mitglieder nur inſofern

ſie die Traͤger der Geſammtheit ſind, einer Beſtimmung be-

darf. Bei denjenigen Genoſſenſchaften aber, welche die Errei-

chung eines Gewinnes fuͤr die Mitglieder bezwecken, oder doch

am Vermoͤgen der Geſammtheit beſtimmte Sonderrechte zu-

laſſen, kommt in Beziehung auf dieſe Verhaͤltniſſe noch man-

ches Eigenthuͤmliche zur Erwaͤgung. — Der Inbegriff derje-

nigen Satzungen nun, welche das Recht der Genoſſenſchaft in

Beziehung auf ihre innere Organiſation und ihre Thaͤtigkeit

nach außen hin enthalten, bildet die Verfaſſung. Dieſe

beſtimmt die Art und Weiſe,

[182/0194]

Sechſtes Kapitel.

1) wie der Wille der Genoſſenſchaft als ſolcher zu Stande

kommt, damit er als ein einheitlicher Wille der Ge-

ſammtheit gelte;

2) wie die Geſchaͤftsfuͤhrung in den Angelegenheiten der

Geſammtheit vor ſich geht;

3) wie die einzelnen Mitglieder rechtlich zur Geſammtheit

ſtehen.

So wie es ſich nun von den Angelegenheiten der Ge-

noſſenſchaft als ſolcher handelt, ſcheint es das Natuͤrlichſte zu

ſeyn, daß alle Mitglieder gleichmaͤßig daran Theil nehmen,

und daß namentlich, wenn es ſich von der Faſſung eines Be-

ſchluſſes handelt, die Einſtimmigkeit oder doch das Mehr der

Stimmen entſcheide. Aber das laͤßt ſich doch nur bei ſehr

einfachen Verhaͤltniſſen durchfuͤhren; gewoͤhnlich beſchraͤnkt ſich

die Thaͤtigkeit aller, in der Generalverſammlung repraͤſentirten

Mitglieder nur auf die wichtigeren Angelegenheiten, waͤhrend

die Abmachung der laufenden Geſchaͤfte und die Vollziehung

der Corporationsbeſchluͤſſe den beſonders dazu conſtituirten Be-

hoͤrden uͤberlaſſen iſt. Wie es ſich damit nun in den einzelnen

Faͤllen verhalten ſoll, das pflegt ſofort bei der Errichtung der

Genoſſenſchaft ausdruͤcklich in ihren Statuten ausgeſprochen

zu ſeyn, welche auch meiſtens den Zweck des Vereins beſtimmt

angeben, und außerdem uͤber die Aufnahme neuer Mitglieder

und deren Austritt oder Ausſchließung, uͤber die Beitraͤge, uͤber

die etwaige Aufloͤſung des Vereins u. ſ. w. das Naͤhere vor-

ſchreiben. Die Statuten ſind das Geſetz der Genoſſenſchaft,

welches ſie ſich vermoͤge der Autonomie giebt: denn dieſe

iſt die, urſpruͤnglich auch den Gemeinden zuſtehende Befugniß

freier Corporationen, innerhalb ihrer Rechtsſphaͤre d. h. ſoweit

nicht die Rechte Dritter oder ein beſtimmtes oͤffentliches In-

[183/0195]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

tereſſe dabei in Betracht kommt, ihre Verfaſſung ſelbſtaͤndig

zu ordnen, und dauernde Normen, welche die Corporation als

ſolche und alſo auch alle einzelnen Mitglieder binden, guͤltig

zu erlaſſen. Den Gemeinden iſt dieſe Autonomie faſt ganz

entriſſen, obgleich ſie denſelben erſt die rechte Selbſtaͤndigkeit

giebt, und weiſe beſchraͤnkt und den Anforderungen des mo-

dernen Staats unterworfen, das beſte Mittel ſeyn wuͤrde, die

ſo laͤſtige und demuͤthigende Bevormundung der Buͤrger durch

eine ſtets thaͤtige Regierungsgewalt zu beſeitigen. Den Ge-

noſſenſchaften ſteht die Autonomie noch zu, inſofern nicht die

Anforderungen des Staates und die Rechte dritter Perſonen

ihre Ausuͤbung beſchraͤnken.

In der Regel iſt daher die Verfaſſung jeder einzelnen Ge-

noſſenſchaft nach ihren beſonderen Statuten und, was dieſen

gleichkommt, nach der Obſervanz zu beurtheilen; doch laſſen

ſich einige allgemeine Grundſaͤtze aufſtellen, welche, wenn nicht

ſpecielle Gruͤnde entgegenſtehen, ihre Anwendung finden muͤſſen.

1. Der Wille der Genoſſenſchaft ſpricht ſich in der Ma-

joritaͤt der ſtimmberechtigten Mitglieder aus, und zwar derje-

nigen, welche in einer Generalverſammlung erſchienen ſind,

vorausgeſetzt, daß alle dazu ordnungsmaͤßig geladen, was je-

doch auch durch eine Bekanntmachung in oͤffentlichen Blaͤt-

tern geſchehen kann, und daß dabei die Gegenſtaͤnde der Ver-

handlung und Beſchlußnahme ausdruͤcklich angegeben worden

ſind. Denn unter dieſer Vorausſetzung muͤſſen die Ausblei-

benden ſich dem Beſchluß der Majoritaͤt fuͤgen, weil anzuneh-

men iſt, daß ſie fuͤr den beſonderen Fall auf ihr Stimmrecht

verzichtet haben. Eine Uebertragung der Stimme des Aus-

bleibenden auf einen andern Genoſſen oder die Abgabe der

Stimme durch einen Bevollmaͤchtigten laͤßt ſich juriſtiſch kaum

[184/0196]

Sechſtes Kapitel.

rechtfertigen, wenn die Statuten es nicht ausdruͤcklich geſtat-

ten, und hat auch unter dem Geſichtspuncte der Zweckmaͤßig-

keit betrachtet, Manches gegen ſich.

2. Stimmberechtigt iſt im Zweifel jeder Genoſſe. In

ſolchen Vereinen, bei welchen die Mitgliedſchaft von dem Er-

werb einer beſtimmten Quote am Geſammtvermoͤgen, welche

das Sonderrecht des Einzelnen repraͤſentirt, abhaͤngt, muͤſſen

die Stimmen nach der Zahl ſolcher Quoten, welche jeder Ein-

zelne inne hat, berechnet werden: alſo bei der Actiengeſellſchaft

nach Actien, bei der Gewerkſchaft nach Kuxen, bei der Rhe-

derei nach Schiffsparten. Doch kann hier eine Beſchraͤnkung

auf ein Maximum der Stimmen, welche der Einzelne, auch

wenn er hoͤher bei dem Verein intereſſirt iſt, fuͤhren darf, ſehr

angemeſſen ſeyn.

3. Ueber wohlerworbene Sonderrechte des Einzelnen kann

ohne deſſen Zuſtimmung von der Majoritaͤt nicht verfuͤgt wer-

den, es ſey denn, daß die Verfaſſung daruͤber etwas Anderes

beſtimmt. Ein ſolches Sonderrecht hat aber der Genoſſe als

Mitglied des Vereins, nicht in ſeiner Stellung außerhalb deſ-

ſelben; in dieſer Beziehung tritt er als ein tertius auf, z. B.

wenn er als Kaufmann mit dem Verein contrahirt hat.

4. Die in der Genoſſenſchaft verfaſſungsmaͤßig conſti-

tuirten Gewalten (Vorſteher, Ausſchuß, Deputation, Direction,

Adminiſtration u. dgl.) haben, ſoweit ihre Amtsſphaͤre reicht,

im Innern der Genoſſenſchaft eine freie Bewegung, ſind aber

ſowohl der Geſammtheit als auch den einzelnen Mitgliedern

wegen ihrer Sonderrechte verhaftet. In derſelben Weiſe ver-

treten ſie die Genoſſenſchaft nach außen hin, und beduͤrfen nur

dann eines beſonderen Syndicats, wenn ſie ſich nicht durch die

Statuten und das Wahlprotokoll gehoͤrig legitimiren koͤnnen.

[185/0197]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

V. Vermoͤgensverhaͤltniſſe der Genoſſen-

ſchaften, insbeſondere vom Geſammt-

eigenthum.

Wie ſchon erwaͤhnt worden, kommt bei der Genoſſenſchaft

der Begriff der juriſtiſchen Perſon nicht immer rein zur An-

wendung; es koͤnnen dabei Sonderrechte der einzelnen Genoſ-

ſen beſtehen, welche eher dem Recht der communio, als dem

der universitas zu entſprechen ſcheinen, und gerade bei den

Vermoͤgensverhaͤltniſſen iſt dieß vorzugsweiſe der Fall. Es iſt

aber damit nur der allgemeine Geſichtspunct angegeben, wel-

chen man bei der juriſtiſchen Beurtheilung feſthalten muß; bei

der Verſchiedenheit des Zwecks und der Verfaſſung, welche ſich

bei den einzelnen Arten der Genoſſenſchaften finden, treten wie-

der ſehr weſentliche Modificationen jenes Princips ein, welche

hier vor Allem naͤher zu betrachten ſind.

1. Wenn das Vermoͤgen der Genoſſenſchaft bloß dem

Vereinszwecke dient, ohne daß ein beſonderes Intereſſe der ein-

zelnen Mitglieder dabei in Betracht kommt, ſo ſind dieſe un-

mittelbar nicht dabei betheiligt, und das ganze Rechtsverhaͤltniß

wird nach dem ſtrengen Princip der juriſtiſchen Perſon beurtheilt.

Daſſelbe gilt, wenn den einzelnen Genoſſen gewiſſe Vortheile

zufließen, aber nur in Folge der Verfaſſung oder einer be-

ſtimmten Beſchlußnahme, ohne daß ihnen eine unmittelbare

Berechtigung am Vermoͤgen der Geſammtheit zuſteht, wenn

alſo z. B. ein Kunſtverein unter ſeinen Mitgliedern Gemaͤhlde

auslooſen oder Kupferſtiche vertheilen laͤßt.

2. Anders ſtellt ſich die Sache ſchon, wenn in der Ge-

noſſenſchaft, wie es auch in der deutſchen Gemeinde der Fall

ſeyn kann, den einzelnen Mitgliedern beſtimmte Sonderrechte

an dem Corporationsgut als Nutzungsrechte zuſtehen, welche

[186/0198]

Sechſtes Kapitel.

einen ſelbſtaͤndigen dinglichen Charakter an ſich tragen, und

den Berechtigten nicht ohne ihre Zuſtimmung entzogen werden

koͤnnen, ſo daß, wenn dieß aus hoͤheren Staatszwecken. doch

geſchieht, das Princip der Expropriation zur Anwendung ge-

bracht wird. Solche Verhaͤltniſſe finden ſich namentlich bei

den Markengenoſſenſchaften, aber zuweilen auch bei den Deich-

verbaͤnden, geiſtlichen Stiftern, Zuͤnften, Gilden u. ſ. w. Das

Recht der Einzelnen kann aber dabei ſeinem Umfange und ſeinem

Inhalte nach ſehr verſchieden ſeyn, ſo daß es bald nur einzelne

Nutzungsrechte an einzelnen Guͤtern der Corporation befaßt,

bald aber das ganze gemeinſame Vermoͤgen davon ergriffen

wird. Dabei bekommt denn die Art der Ausuͤbung ihre naͤ-

here Beſtimmung in der Verfaſſung der Genoſſenſchaft, welche

das Recht der Geſammtheit und das der Einzelnen in ihrer

wechſelſeitigen Beziehung feſt ſtellt, und die harmoniſche Durch-

fuͤhrung des ſo beſtimmten Verhaͤltniſſes ſichert. Daſſelbe Prin-

cip findet auch bei der Familie des hohen Adels ſeine Anwen-

dung, nur daß es hier durch die bevorzugte Stellung des Fa-

milienhauptes eigenthuͤmlich modificirt wird.

3. Die dritte Claſſe, welche unter den Genoſſenſchaften

in Beziehung auf das Vermoͤgensrecht hervorzuheben iſt, hat

das Beſondere, daß die im Eigenthum enthaltenen Rechte

nicht bloß zwiſchen der Geſammtheit und den einzelnen Mit-

gliedern vertheilt ſind, ſondern daß ſich die doppelte Seite des

ganzen Inſtituts in der Weiſe an dem Vermoͤgen darſtellt,

daß daſſelbe zugleich als einheitliches Corporationsgut, unter

dem Geſichtspunct der universitas, und in ideelle Theile zer-

legt, als Miteigenthum der einzelnen Genoſſen nach dem Prin-

cip der communio in Betracht kommt. Die Vermittlung die-

ſer Begriffe liegt wieder in der Verfaſſung der Genoſſenſchaft,

[187/0199]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

welche die Subſtanz des Vermoͤgens auf die Dauer mit der

Geſammtheit verbindet, es aber zugleich ſeinem Werthe nach

in einzelne Theile zerlegt, an welchen den Mitgliedern ein pri-

vatives Eigenthum zuſteht. Schon im aͤlteren deutſchen Rechte

finden ſich ſolche Verhaͤltniſſe in den Ganerbſchaften, den Ge-

werkſchaften der Bergbauintereſſenten u. ſ. w. ausgebildet; im

modernen Rechte ſind noch die ſo ſehr wichtigen Actienvereine

hinzugekommen. Faſſen wir dieſe letzteren etwas naͤher ins

Auge. Der Actienverein iſt eine Genoſſenſchaft, und das Ver-

moͤgen gehoͤrt der Corporation als ſolcher und dient deren

Zwecken; beſondere Nutzungsrechte der einzelnen Genoſſen, wie

ſie noch bei den Gemeinern der Ganerbſchaft in Beziehung auf

Wohnung, Wieſe, Wald, Jagd u. ſ. w. ſich finden, kommen

hier nicht vor. Aber das Corporationsvermoͤgen dient nicht

bloß der Geſammtheit, ſondern auch dem Intereſſe der Einzel-

nen: es wird nach Bruchtheilen, welche dem Einlagecapital

entſprechen, in ideelle Theile zerlegt, und dieſe, durch die Actie

repraͤſentirt, gehoͤren dem Inhaber zu vollem Eigenthum, inſo-

fern es nicht von dem Princip der Genoſſenſchaft beſchraͤnkt

wird. Eine ſolche Beſchraͤnkung aber beſteht darin, daß die

Theilungsklage fuͤr die Actionaͤre wegfaͤllt, und daß uͤberhaupt

in allen Beziehungen, wo nicht der ideelle Vermoͤgenstheil als

ſolcher oder deſſen Repraͤſentant, die Actie, in Betracht kommt,

das corporative Princip dem Sonderrechte uͤberlegen iſt.

a. Die Actie iſt dem Privatverkehr uͤberlaſſen, und kann

durch bloße Aushaͤndigung in das Eigenthum eines Andern

uͤbergehen. Mit dem Erwerb der Actie iſt zugleich fuͤr den

Inhaber die Wirkung verbunden, daß er dadurch in die Ge-

noſſenſchaft aufgenommen wird, aͤhnlich, wie es bei der Rhe-

derei durch Erwerbung von Schiffsparten und bei den Ge-

[188/0200]

Sechſtes Kapitel.

werkſchaften durch die einer Kuxe geſchieht, nur daß im letzte-

ren Fall die Eigenſchaft der Sache als eines Immobile eine

beſondere Form der Uebertragung (die Auflaſſung durch Ein-

tragung in das Gegenbuch) noͤthig macht.

b. Zuweilen geſchieht es, daß eine Genoſſenſchaft durch

Actienzeichnung ein Capital aufbringt, welches ihrem Intereſſe

dient, ohne daß gerade jedes Mitglied Actionaͤr zu ſeyn braucht,

oder die Actien auch nur nothwendig in den Haͤnden der Ge-

noſſen ſich befinden. Dann liegt ein eigenthuͤmliches Verhaͤlt-

niß vor: die Contrahirung einer Schuld von Seiten der Ge-

noſſenſchaft in der Form der Actienzeichnung, und die Actio-

naͤre ſind hier die Glaͤubiger, ihre Actie iſt ein Schuldſchein,

der ſich regelmaͤßig beſtimmt verzinſt, unkuͤndbar iſt und auf

den Inhaber lautet. — Dieſe Glaͤubiger kommen daher in

Beziehung auf die Genoſſenſchaft als Dritte zu ſtehen, und koͤn-

nen, wenn ſie ihr auch anderweitig angehoͤren, im Allgemeinen

keine bevorzugte Stellung in derſelben in Anſpruch nehmen;

aber daß ſie mit ihren Anſpruͤchen auf Verzinſung u. ſ. w.

befriedigt werden muͤſſen, ehe fuͤr die Genoſſen als ſolche von

einer Dividende die Rede ſeyn kann, folgt ſchon aus der all-

gemeinen Beſchaffenheit des Rechtsverhaͤltniſſes.

c. Bei den Genoſſenſchaften, welche commercielle und

induſtrielle Unternehmungen zu ihrem Zwecke haben, und fuͤr

die Genoſſen einen Gewinn direct beabſichtigen oder doch nicht

ausſchließen, repraͤſentirt die Actie nicht die beſtimmte Quote

des urſpruͤnglichen Einlagecapitals, worauf ſie lautet, ſondern

die Quote des relativen Werthes, den das Corporationsvermoͤ-

gen in ſeiner Totalitaͤt hat, alſo mit Beruͤckſichtigung des Be-

triebes, der Conjuncturen, des oͤffentlichen Credits u. ſ. w., wie

er ſich im Courſe darſtellt. Dem Actionaͤr kommt daher jede

[189/0201]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

Steigerung dieſes Werthes zu Gute, unmittelbar durch die

Dividende, mittelbar durch eine Erhoͤhung des Verkaufsprei-

ſes er muß ſich aber auch die Verminderung deſſelben gefal-

len laſſen, ſey es nun, daß dieſe durch aͤußere Umſtaͤnde her-

beigefuͤhrt wird, oder daß die verfaſſungsmaͤßige Thaͤtigkeit der

Genoſſenſchaft durch Anleihen, Neubauten u. ſ. w. darauf ein-

wirkt. Daher kommt es, daß der Preis ſolcher Actien, ganz

ohne Verhaͤltniß zur gegenwaͤrtigen Dividende, ſchwanken kann,

und daß ſie zum Gegenſtande der Speculation und der Agiotage

gemacht werden. — In den Faͤllen, wo nur geſellſchaftliche

Zwecke durch die Herbeiſchaffung des Einlagecapitals verfolgt

werden ſollen, ſtellt ſich die Sache anders, namentlich dann,

wenn nicht einmal die Verzinſung der Einſchuͤſſe beabſichtigt

wird, ſondern dieſe als ein Opfer der Einzelnen fuͤr das ge-

meinſame Intereſſe erſcheinen, welches ſie in der Genoſſenſchaft

und als deren Mitglieder verfolgen. Dann hoͤrt die Actie

uͤberhaupt auf, als Vermoͤgenstheil etwas zu bedeuten.

4. Da fruͤher die eheliche Genoſſenſchaft erwaͤhnt wor-

den, ſo iſt auch von dem Guͤterrechte derſelben hier kurz zu

handeln. Es beſtand nach dem aͤlteren deutſchen Rechte, um

Runde’s ſehr bezeichnenden Ausdruck zu gebrauchen, eine Guͤ-

tervereinigung unter den Ehegatten, indem das beiderſeitige

Vermoͤgen ſich waͤhrend der Ehe als ein Ganzes darſtellte,

welches aber nach deren Aufhebung wieder in ſeine urſpruͤng-

lichen Theile aufgeloͤſt ward, ſo daß alſo durch die nur tem-

poraͤre Vereinigung die Eigenthumsverhaͤltniſſe nicht unmittel-

bar umgeſtaltet, ſondern nur dem beſonderen Recht der Ehe

dienſtbar gemacht wurden. Das beſtimmende Princip dabei

war das Mundium oder die Voigtei des Ehemannes, welcher

auch in Beziehung auf das Vermoͤgen als das Organ der

[190/0202]

Sechſtes Kapitel.

Gemeinſchaft die aͤußere Herrſchaft ausuͤbte und die Leitung

der Oeconomie hatte, waͤhrend die Frau ihn nur bei Veraͤuße-

rungen von Immobilien beſchraͤnkte, und im engeren Kreiſe

der Haushaltung ſich einer ihr nach deutſcher Sitte gebuͤh-

renden groͤßeren Selbſtaͤndigkeit erfreute. Daher ſagt der Sach-

ſenſpiegel: es giebt kein gezweiet Gut in der Ehe; und: der

Mann nimmt der Frauen Gut in ſeine Gewere zu rechter

Vormundſchaft, — zwei Grundſaͤtze, welche dem gemeinen

Landrecht angehoͤrten, und nur in dem Recht der einzelnen

Staͤmme und Staͤnde, namentlich mit Ruͤckſicht auf die ehe-

liche Errungenſchaft und die Erbgebuͤhr, welche dem uͤberleben-

den Ehegatten am Vermoͤgen des verſtorbenen zukam, naͤher

beſtimmt und modificirt waren. — Indeſſen konnte es doch

auch ſchon nach aͤlterem Rechte geſchehen, daß die Ehegatten

ſich wahre Eigenthumsrechte an ihrem Vermoͤgen zuwandten,

was vermittelſt einer wechſelſeitigen Vergabung von Todeswe-

gen durch die Auflaſſung geſchah. Dadurch ward die bloß

temporaͤre Guͤtervereinigung zu einer wahren Guͤtergemeinſchaft

umgebildet. Der Ehemann behielt zwar die in ſeiner Voigtei

liegenden Rechte, aber er war nun auch bei Veraͤußerung der

von ihm eingebrachten Immobilien an die Zuſtimmung der

Frau gebunden, und nach Aufhebung der Ehe bekam der uͤber-

lebende Ehegatte das ganze in der Gemeinſchaft vorhandene

Vermoͤgen nach Eigenthumsrecht. Dieſes Rechtsverhaͤltniß,

welches urſpruͤnglich nur durch ein beſonderes Geſchaͤft hervor-

gerufen werden konnte, ward ſpaͤter in manchen Landesrechten

und Statuten die geſetzliche Regel, ſo daß die Eingehung der

Ehe daſſelbe bewirkte, wie die wechſelſeitige Vergabung. Dar-

auf beruht das Princip der ſogenannten innern oder materiel-

len Guͤtergemeinſchaft, welche freilich ſowohl hinſichtlich ihres

[191/0203]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

Umfangs als auch ihrer rechtlichen Natur wieder in verſchie-

denartigen Erſcheinungen vorkommt, da das leitende Princip

nicht immer ſtreng durchgefuͤhrt worden iſt. Die ſogenannte

aͤußere oder formelle Guͤtergemeinſchaft dagegen entſpricht im

Weſentlichen noch dem aͤlteren Rechte, und weicht von demſel-

ben meiſtens nur durch die Erweiterung der ehelichen Erbge-

buͤhr ab. — Dieß beſondere Vermoͤgensverhaͤltniß wird aber

in beiden Faͤllen beſtimmt und uͤberhaupt moͤglich gemacht

durch das Weſen der deutſchen Ehe ſelbſt, alſo, wenn man

will, durch die Verfaſſung der Genoſſenſchaft: denn nur durch

die beſtimmte Stellung, welche der Ehemann vermoͤge ſeiner

Voigtei, die Frau als Vorſteherin der Haushaltung einnehmen,

koͤnnen die, an ſich einander ſchroff begrenzenden Eigenthums-

rechte in die gehoͤrige Ausgleichung gebracht werden. Doch

macht das moderne Rechtsleben auch hier ſeine beſonderen An-

ſpruͤche geltend: die uͤberwiegende Bedeutung des Grundbeſitzes

hat ſich allmaͤlig verloren, und ſo entſpricht es dem Weſen der

Sache nicht mehr, daß der Mann unbedingt uͤber die Fahrniß,

mit Einſchluß der Capitalien, welche fruͤher in den unbeweglichen

Renten enthalten waren, ſoll ſchalten koͤnnen. In dieſer Bezie-

hung iſt im Intereſſe der Frau eine Beſchraͤnkung zu machen,

welche ſich auch aus dem heutigen Volksrecht deduciren laͤßt,

wie denn ja auch in aͤlterer Zeit die Verfuͤgung des Mannes

uͤber alle beweglichen Sachen in den beſonderen Verhaͤltniſſen

ihre Grenze gehabt haben muß, und z. B. gewiß nicht unbe-

dingt und unmittelbar uͤber die Gerade, uͤber Kleider, Kleino-

dien u. ſ. w. ſich erſtreckt hat, wenn auch eine eventuelle Ver-

haftung des ganzen Frauenguts fuͤr die Schulden des Man-

nes beſtand. — Allein noch ein Einwand laͤßt ſich gegen die

oben gegebene Darſtellung der ehelichen Guͤtergemeinſchaft er-

[192/0204]

Sechſtes Kapitel.

heben, welcher neulich wirklich gemacht worden, und zu dem

verzweiflungsvollen Schritt gefuͤhrt hat, den Mann fuͤr den

alleinigen Eigenthuͤmer der vereinigten Vermoͤgensmaſſe zu er-

klaͤren. Duncker *) behauptet naͤmlich, das Mundium des Ehe-

mannes, die eheliche Voigtei beſtehe gegenwaͤrtig gar nicht

mehr als ein gemeinrechtliches Inſtitut, und koͤnne daher auch

nicht benutzt werden, um ein anderes gemeinſchaftliches Inſti-

tut darauf zu begruͤnden. Wenn Eichhorn behaupte, die ehe-

liche Vormundſchaft koͤnne als eine Wirkung der beſondern

ehelichen Guͤterverhaͤltniſſe vorkommen, ſo kehre er das ganze

Verhaͤltniß gerade um, denn in dem aͤlteren Rechte erſcheine

das Guͤterverhaͤltniß als eine Wirkung der ehelichen Vormund-

ſchaft. — Allein wenn es auch richtig iſt, daß die Geſchlechts-

vormundſchaft uͤberhaupt in ihrer allgemeinen Geltung dem

modernen Rechtsleben entfremdet worden, ſo iſt damit nicht

geſagt, daß ſie nicht in dem beſonderen Verhaͤltniß der Ehe-

gatten noch eine ausgedehnte Wirkſamkeit hat bewahren koͤn-

nen, und daß dieſe nicht gerade durch das Inſtitut der Guͤ-

tergemeinſchaft feſtgehalten worden iſt. Betrachtet man un-

befangen das gegenwaͤrtige Rechtsleben, ſo erſcheint die ehe-

liche Guͤtergemeinſchaft im Weſentlichen noch ebenſo wirkſam,

wie ſie unter dem Einfluß der Voigtei des Ehemanns ſich

ausgebildet hat, und in den ſpeciellen Rechtsquellen feſtgeſtellt

worden iſt. Sie hat ſich alſo nicht bloß in einer beſchraͤnkten,

bloß aͤußerlichen Geltung erhalten, ſondern als ein lebensvolles

Inſtitut, mit allen ihren Vorausſetzungen und Conſequenzen,

und alſo auch mit der Voigtei des Ehemanns, inſofern dieſe

fuͤr ihre Durchfuͤhrung weſentlich nothwendig iſt. Es liegt

*) L. Duncker, das Geſammteigenthum (Marburg 1843) S. 217 ff.

[193/0205]

Fortſetzung. — Das Recht der Genoſſenſchaft.

hier eine organiſche Rechtsbildung vor, deren einzelne Beſtand-

theile ſich gegenſeitig bedingen, und welche in ihrer Totalitaͤt

anerkannt zu werden verlangt. Der Umſtand, daß ſich der

Begriff der ehelichen Voigtei außerhalb dieſer Sphaͤre nicht in

ſeiner fruͤheren Geltung erhalten hat, iſt noch kein Grund, ihn

auch hier fuͤr beſeitigt zu halten; und wenn die aͤlteren Juri-

ſten, ſeine Bedeutung verkennend, die Guͤtergemeinſchaft ohne

ein ſolches leitendes Princip bloß aus dem Begriff eines ſoge-

nannten dominium in solidum glaubten deduciren zu koͤn-

nen, ſo war das eine Verirrung, deren ſchlimme Folgen ge-

rade durch die richtige, im Volksrecht begruͤndete Theorie, ſo

weit es vom Standpuncte des gemeinen Rechts aus geſchehen

kann, zu bekaͤmpfen ſind. — Nur dann, wenn die Guͤtergemein-

ſchaft nicht nach dem Geſetze eintritt, ſondern durch Vertrag

beſtellt wird, kann es zur Frage kommen, ob damit zugleich

die eheliche Voigtei, welche doch zum oͤffentlichen Recht gehoͤrt,

guͤltig conſtituirt worden. Dagegen wuͤrde ſich mit den von

Duncker angefuͤhrten Gruͤnden Erhebliches einwenden laſſen;

aber es wuͤrde dann auch die Erwaͤgung der weiteren Frage

nicht wohl zu vermeiden ſeyn: ob uͤberhaupt die vertragsmaͤ-

ßige Eingehung der Guͤtergemeinſchaft unbedingt gemeines Land-

recht iſt, und ohne alle Ruͤckſicht auf die particulaͤre Rechts-

verfaſſung einſeitig von den Ehegatten beliebt werden kann.

Es waͤre zu wuͤnſchen, daß dieß einmal zum Gegenſtande

einer genauen Unterſuchung gemacht wuͤrde.

Im Obigen iſt nur eine Skizze von den Vermoͤgensver-

haͤltniſſen der Genoſſenſchaften enthalten. Das Eigenthuͤmliche

beſteht, wie gezeigt worden, darin, daß ſich neben den Anſpruͤ-

chen der Geſammtheit ſelbſtaͤndige Sonderrechte der einzelnen

Genoſſen darſtellen, oder daß doch die Vereinigung das Recht

Beſeler, Volksrecht. 13

[194/0206]

Sechſtes Kapitel.

der Einzelnen zu einer Gemeinſchaft zuſammenfuͤhrt, fuͤr deren

harmoniſche Bewegung und Leitung in der beſonderen genoſ-

ſenſchaftlichen Verfaſſung die entſprechenden Mittel gegeben

ſind. — Den Inbegriff dieſer Vermoͤgensrechte in ihrer ver-

ſchiedenartigen Zuſammenſtellung und Geſtaltung nenne ich

das Geſammteigenthum, welches alſo an und fuͤr ſich

ein weiter Begriff iſt, und erſt durch die Beſchaffenheit der

einzelnen Genoſſenſchaft (und beziehungsweiſe der einzelnen Ge-

meinde), in der es ſich findet, ſeine naͤhere Beſtimmung er-

haͤlt *)

*) Aus dem Vorſtehenden ergiebt ſich, daß ich der fruͤher in der Lehre

von den Erbvertraͤgen aufgeſtellten Theorie uͤber das Geſammteigenthum

durchaus treu geblieben bin, von ſo verſchiedenen Seiten ſie auch angefoch-

ten worden iſt. Nur in der a. a. O. Th. I. S. 88. gegebenen Defini-

tion heißt es beſſer ſtatt „Proprictaͤt“: Eigenthum, — damit

es nicht

ſcheine, daß bloß an die roͤmiſche proprietas im Gegenſatz zu den im Ei-

genthum liegenden Nutzungsrechten zu denken ſey. — Auf eine Widerle-

gung der Gegner und namentlich Dunckers, der mit ſo vielem Scharfſinn

meine Anſicht bekaͤmpft hat, kann ich hier nicht eingehen; doch moͤchte

ſchon in dieſem ganzen Kapitel ein Beitrag dazu gegeben ſeyn, da es da-

bei vor Allem auf eine Verſtaͤndigung uͤber das Weſen und die Bedeutung

der Genoſſenſchaft ankommt.

[[195]/0207]

Siebentes Kapitel.

Das Volksrecht als gemeines Ständerecht.

Es giebt wenige Begriffe in unſerem Rechte, deren Feſt-

ſtellung ſo ſchwierig iſt, als der eines Standes im juriſtiſch-

politiſchen Sinne. Schon die Vieldeutigkeit des Wortes fuͤhrt

leicht zur Verwirrung, da man ganz verſchiedene Verhaͤltniſſe

damit bezeichnet. So ſpricht man von einem Stande der

Freiheit, der Civitaͤt, und verſteht darunter eine gewiſſe Qua-

lification der einzelnen Individuen nach gemeinſamen Merkma-

len; in einer andern Bedeutung wird der Ausdruck unmit-

telbar auf eine beſtimmte Perſon bezogen, welche zur Theil-

nahme an der Ausuͤbung gewiſſer Hoheitsrechte befugt iſt

(Reichsſtand, Landſtand), und in der Mehrheit bezeichnet man

damit wohl die Geſammtheit dieſer Perſonen als ein corpora-

tives Ganze gedacht (Landſtaͤnde, Staͤnde). Außerdem denkt

man ſich unter einem Stande eine gewiſſe Claſſe der Bevoͤl-

kerung im Gegenſatz zu dem Volksganzen, indem man bei

derſelben etwas Gemeinſames, beſonders Charakteriſtiſches fin-

det, welches ſie von den uͤbrigen unterſcheidet. Faßt man nun

aber auch die Staͤnde, wie es gewoͤhnlich geſchieht, in dieſem letzte-

ren Sinne auf, ſo kommt es doch weiter darauf an, jenes un-

terſcheidende Merkmal, wodurch ſie ſich von der uͤbrigen Bevoͤl-

kerung abſondern, genau anzugeben, und das hat wieder ſeine

Schwierigkeiten. Denn der Sprachgebrauch des gemeinen Le-

bens, der auch auf die Jurisprudenz und die Geſetzgebung zu-

ruͤckgewirkt hat, iſt hier ſehr unbeſtimmt und ſchwankend.

13*

[196/0208]

Siebentes Kapitel.

Bald denkt man vorzugsweiſe an eine gewiſſe Gleichheit durch

Geburt und Herkunft, und ſpricht z. B. von einem Adels-

ſtande; bald ſieht man auf den Beruf und die Hauptbeſchaͤf-

tigung der Einzelnen, und unterſcheidet einen beſondern Stand

der Staatsbeamten, Soldaten, Aerzte, Advocaten, Fabrikanten,

Handwerker u. ſ. w.; bald endlich legt man den Nachdruck

auf die Stellung der Einzelnen in der Geſellſchaft, und nimmt

hoͤhere und niedere, vornehme und geringe Staͤnde an. — Be-

vor nun von den Staͤnden und ihrem Rechte uͤberhaupt ge-

handelt werden kann, iſt es vor Allem noͤthig, den juriſtiſchen

Begriff, welcher dabei zum Grunde liegt, genauer feſtzuſtellen.

1. Wir haben es hier mit den Staͤnden in der zuletzt

angefuͤhrten Bedeutung zu thun, nach welcher darunter ge-

wiſſe Claſſen der Bevoͤlkerung im Gegenſatz zu dem Volks-

ganzen zu verſtehen ſind. Was ſonſt noch mit demſelben Aus-

druck bezeichnet wird, findet keine weitere Beruͤckſichtigung.

2. Das Unterſcheidende, welches einer gewiſſen Claſſe ge-

meinſam, ſie zur Bedeutung eines Standes erhebt, kommt nur

dann in Betracht, wenn es wirklich eine rechtliche Natur hat,

und juriſtiſch erfaßt werden kann. Eine bloß ſociale Auszeichnung,

eine Stellung, welche nur im Allgemeinen ein politiſches Ge-

wicht giebt, genuͤgt noch nicht, auch wenn eine groͤßere Anzahl

von Perſonen daran Theil nimmt, um fuͤr ſie den Rechtsbe-

griff eines eigenen Standes zu begruͤnden. Man wird dabei

mit gewiſſen Abſtufungen auf den allgemeinen Gegenſatz zwi-

ſchen der gebildeten und ungebildeten Bevoͤlkerung hingefuͤhrt

werden, der freilich von großer politiſcher und ſocialer Bedeu-

tung iſt, aber den allgemeinen Modificationen des Staatsbuͤr-

gerthums und nicht dem beſonderen Staͤndeweſen angehoͤrt.

[197/0209]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

3. Zur naͤheren Begriffsbeſtimmung eines Standes iſt ferner

noch das Merkmal hinzuzunehmen, daß er ein ſelbſtaͤndiges Le-bensprincip in ſich traͤgt, und mit dieſem die beſondere Sphaͤre in

welcher er ſich bewegt, ausfuͤllt. Wenn daher eine gewiſſe Claſſe von

Perſonen ihre eigentliche Beſtimmung und Bedeutung nur von au-

ßen her erhaͤlt, und ſich in ihrer Thaͤtigkeit nur einer hoͤheren Anfor-

derung dienſtbar zeigt, ſo iſt ſie nicht zu den Staͤnden im en-

geren juriſtiſchen Sinne zu rechnen. Dieſer Geſichtspunct iſt

namentlich in Beziehung auf die Staatsbeamten feſt zu hal-

ten; er kommt aber auch bei andern Perſonen, welche einem

beſtimmten Beruf nachgehen, und durch ihre Beſchaͤftigung zu

einer gewiſſen Gemeinſchaft verbunden ſind, alſo bei den Kuͤnſt-

lern, Gelehrten, Aerzten u. ſ. w. in Betracht.

4. Dieſes ſelbſtaͤndige Lebensprincip, welches die einzel-

nen Staͤnde beherrſcht, ruft auch das beſtimmte, abgeſonderte

Intereſſe hervor, welches ſie in ihrer allgemeinen Richtung

und mit den ihnen eigenthuͤmlichen Inſtitutionen verfolgen;

es begruͤndet ferner die abgeſchloſſene Haltung, welche ſie un-

ter einander und der uͤbrigen Bevoͤlkerung gegenuͤber einneh-

men, und die ſich ganz von ſelbſt geltend macht, ſo bald es

ſich nicht von dem einzelnen Mitgliede als ſolchem, ſondern

von dem Stande als Ganzes betrachtet, handelt.

Faſſen wir nun in dieſem engeren Sinn den Begriff

eines Standes auf, und betrachten wir dann unbefangen das

deutſche Volk in ſeiner gegenwaͤrtigen ſocialen und politiſchen

Verfaſſung, ſo wird ſich wohl bald ergeben, daß von einem

conſequent durchgebildeten Staͤndeweſen in ſeiner ſchroffen Ab-

ſonderung nicht mehr die Rede ſeyn kann. Dieſe Form der

Rechtsbildung, welche ſich im ſpaͤteren Mittelalter entwickelte,

[198/0210]

Siebentes Kapitel.

als das Princip der gemeinen Freiheit in ſeiner einheitlichen

Kraft gebrochen war, iſt wieder durch die im Staate ausge-

praͤgte Idee des gemeinſamen politiſchen Lebens beſiegt wor-

den; das Staͤndeweſen in ſeiner fruͤheren ausſchließlichen Herr-

ſchaft iſt zu Grabe getragen, und was ſich von demſelben noch

erhalten hat, darf doch nur auf eine beſchraͤnkte Geltung An-

ſpruch machen, da es nur neben und in der Geſammtheit, nicht

aber im Conflict mit dieſer beſtehen kann. Nur inſofern hat

es noch in Deutſchland eine gewiſſe Selbſtaͤndigkeit bewahrt,

als es bloß der Entwickelung des ſtaatlichen Princips hat

weichen muͤſſen, nicht aber dem einer rein nationalen Durchbil-

dung dienſtbar geworden iſt.

Bei einer Darſtellung des Staͤnderechts kommt es nun

darauf an, das demſelben Eigenthuͤmliche beſtimmt hervorzu-

heben, und zugleich die Grenze zu bezeichnen, wo ſeine Herr-

ſchaft aufhoͤrt, und es in den hoͤheren Begriff des Staatsbuͤr-

gerthums und des gemeinen Landrechts aufgeht. Wenn das

Staͤndeweſen in dieſer doppelten Beziehung betrachtet, und

nicht bloß in einzelnen poſitiven Inſtituten, ſondern als eine

Seite des nationalen Rechtslebens der Gegenwart aufgefaßt

wird, ſo wird ſich auch beſtimmen laſſen, inwiefern ſich darin

noch wirkliches Volksrecht abſpiegelt, oder es nur als ein ver-

kuͤmmerter Ueberreſt abgeſtorbener Zuſtaͤnde und Verhaͤltniſſe

daſteht. Zu der großen Schwierigkeit, mit welcher eine ſolche

Darſtellung im Allgemeinen zu kaͤmpfen hat, kommt aber noch

der beſondere Umſtand hinzu, daß ſich gerade in dieſer Lehre

die politiſche Anſchauung mit der juriſtiſchen leicht vermiſchen,

ja die letztere ganz uͤberwaͤltigen wird. Das ernſte Streben,

das geltende Recht in ſeiner poſitiven Beſtimmtheit unbefan-

gen aufzufaſſen, wird gegen die einſeitige Vernachlaͤſſigung

[199/0211]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

oder Ueberſchaͤtzung thatſaͤchlich beſtehender Verhaͤltniſſe und

noch wirkſamer Elemente allein bewahren, waͤhrend umgekehrt

deren juriſtiſches Verſtaͤndniß ohne die gehoͤrige Erwaͤgung ih-

rer innern politiſchen Bedeutung nicht zu erlangen iſt, wenn

man nicht eine todte Theorie fuͤr eine lebendige Rechtskunde

eintauſchen will. Die folgende Darſtellung hat es aber allein

mit dem gemeinen deutſchen Staͤnderecht zu thun; was nur

particularrechtlich von den Inſtituten des aͤlteren Rechts fort-

beſteht oder zu einer eigenthuͤmlichen Geſtaltung umgebildet iſt,

findet keine weitere Beruͤckſichtigung, wie intereſſant und wich-

tig uͤbrigens auch die naͤhere Betrachtung deſſelben ſeyn mag.

Faßt man nun die ſtaͤndiſchen Elemente, welche noch im

heutigen gemeinen Rechte vorhanden ſind, ſcharf ins Auge, ſo

findet man ſie vorzugsweiſe auf dem Gebiete, welches den Be-

ſitz und den Verkehr im weiteren Sinne umſchließt, und wo

der Gegenſatz von Stadt und Land bei den geſonderten In-

tereſſen und Beduͤrfniſſen eine beſtimmte Abgrenzung zulaͤßt.

Darnach waͤre denn der Stand der Grundbeſitzer und der Ge-

werbtreibenden zu unterſcheiden, und bei der weiteren Ausfuͤh-

rung wuͤrden auf der einen Seite die Gutsbeſitzer und Bauern,

auf der andern die Kaufleute, Fabrikanten und Handwerker in

ihrer rechtlichen Verſchiedenheit naͤher zu betrachten ſeyn. Doch

iſt auch die Bedeutung der Geburtsſtaͤnde in Erwaͤgung zu

ziehen, und ſo iſt es am Zweckmaͤßigſten, die Eroͤrterung an

die hergebrachte Eintheilung in den Stand des Adels, der

Bauern und der Stadtbuͤrger anzuſchließen.

I. Der Adel.

Der Charakter eines mit beſtimmten Vorrechten verſehe-

nen, abgeſchloſſenen Geburtsſtandes laͤßt ſich bloß bei dem

[200/0212]

Siebentes Kapitel.

hohen Adel erkennen, d. h. bei dem Inbegriff der fruͤher reichs-

ſtaͤndiſchen Familien und derjenigen fruͤher reichsfreien Dyna-

ſtengeſchlechter, welche etwa ausnahmsweiſe mit jenen ein glei-

ches Familienrecht haben und nachweiſen koͤnnen. Obgleich

nun der hohe Adel Deutſchlands unter dem Einfluß der neue-

ren Geſchichte in ſouveraine und mediatiſirte Haͤuſer zerfallen,

und dadurch in wichtigen Beziehungen eine Ungleichheit unter

ihnen begruͤndet iſt, ſo betrifft dieſe doch mehr die aͤußere poli-

tiſche Stellung, als das innere Recht der Familie, welches

ſeiner weſentlichen Grundlage nach fuͤr alle gemeinſchaftlich

geblieben. Hier finden wir nun noch ein ganz eigenthuͤmlich

durchgebildetes Standesrecht, welches von ſelbſtaͤndigen Princi-

pien beherrſcht, in ſeiner Sphaͤre dem gemeinen Landrecht voll-

berechtigt gegenuͤber tritt. Das Geſammthaus und die einzel-

nen ſelbſtaͤndigen Linien deſſelben treten als eine Genoſſen-

ſchaft auf, welche auch den einzelnen Mitgliedern gegenuͤber

eine beſtimmte, und zum Theil eine das Sonderintereſſe der-

ſelben beherrſchende Stellung und Berechtigung einnimmt; das

Organ der Geſammtheit iſt die autonomiſche Beliebung, mag dieſe

ſich nun in der Form eines Vertrags der vollberechtigten Agnaten

oder in der Dispoſition des Familienhauptes ausſprechen. Da-

her kommt die hochadliche Familie unter die allgemeine Lehre

von den Genoſſenſchaften zu ſtehen, und ihr eigenthuͤmliches

Recht, namentlich auch in Beziehung auf das Familienvermoͤ-

gen, laͤßt ſich nur unter dieſem Geſichtspuncte richtig auffaſ-

ſen. Die Abgeſchloſſenheit und innere Einheit des Standes

aber zeigt ſich, auch abgeſehen von den einzelnen Inſtituten,

vor Allem in dem Princip der Ebenbuͤrtigkeit, welches ſelbſt die

Bundesgeſetzgebung als ein Recht der Mediatiſirten anerkannt

hat. — Betrachtet man nun dieſes Standesrecht des hohen

[201/0213]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

Adels in ſeiner Entſtehung und thatſaͤchlichen Begruͤndung, in

ſeinem Verhaͤltniß zu der allgemeinen Rechtsbildung in Deutſch-

land und namentlich auch mit Ruͤckſicht auf die Rechtsan-

ſchauung, welche ſich bei den Betheiligten und bei den uͤbri-

gen Claſſen der Nation findet, ſo iſt nicht zu verkennen, daß

man es hier mit einem Volksrechte zu thun hat, welches frei-

lich, wie jedes Standesrecht, nur in einer beſtimmten Sphaͤre

gilt, aber in dieſer auch mit einer abſoluten Wirkſamkeit dem

gemeinen Landrecht derogirt. Fuͤr die ſouverainen Haͤuſer iſt

dieß Verhaͤltniß auch in der Weiſe ausgepraͤgt, daß ihre Ver-

faſſung mit der der einzelnen deutſchen Staaten organiſch ver-

bunden iſt; aber auch den mediatiſirten Familien, welche, frei-

lich zum großen Vortheil der politiſchen Entwicklung der Na-

tion, ihre weſentlichen Hoheitsrechte verloren haben, iſt noch eine

ſehr bevorzugte Stellung geblieben, welche namentlich dann, wenn

ſie dieſelbe, eingedenk der fruͤheren Zeiten, im allgemeinen deut-

ſchen Intereſſe benutzen, die hoͤhere vaterlaͤndiſche und politiſche

Weihe erlangen, und eine allgemeine, freudige Anerkennung fin-

den wird.

Ganz verſchieden nun von dem Recht des hohen Adels

iſt dasjenige, welches fuͤr den niederen Adel in Deutſchland

gilt; es ſtellt ſich gewiſſermaaßen als die ſchwache Nachah-

mung des in jenem vollzogenen Entwicklungsproceſſes dar,

welche nicht zur vollen juriſtiſchen Ausbildung gekommen iſt.

— Die Entſtehung des niedern Adels faͤllt in die Zeit, in

der ſich aus den gemeinfreien Grundbeſitzern und den ange-

ſehenen Dienſtmannen eine landſaͤſſige Ritterſchaft bildete,

der dann die alten Dynaſtengeſchlechter einverleibt wurden, in-

ſofern ſie nicht die Reichsſtandſchaft erwarben und in den ho-

hen Adel uͤbergingen, oder ſich nicht der unmittelbaren Reichs-

[202/0214]

Siebentes Kapitel.

ritterſchaft anſchloſſen. Die letztere nahm nun allerdings, ſo

lange die Reichsverfaſſung beſtand, eine exceptionelle Stellung

ein, hat aber gegenwaͤrtig ihre gemeinrechtliche Bedeutung ver-

loren, und iſt fuͤr eine allgemeine Darſtellung des geltenden

deutſchen Adelsrechtes von untergeordneter Wichtigkeit; wir

koͤnnen daher zunaͤchſt die landſaͤſſige Ritterſchaft ausſchließ-

lich ins Auge faſſen. Dieſe aber war einer Landeshoheit un-

terworfen, und konnte politiſch nur in der Territorialverfaſſung

eine Bedeutung gewinnen: das unterſchied ſie ſchon weſent-

lich vom Reichsadel. Es fehlte ihr ferner die genoſſenſchaft-

liche Abgeſchloſſenheit der einzelnen Familien, und folgeweiſe

deren Autonomie; nur durch die corporative Verbindung der

ritterſchaftlichen Geſchlechter eines beſtimmten Bezirkes ward

etwas Aehnliches erreicht, und die einzelnen Familien ſuchten

durch Ganerbſchaften und die geſammte Hand im Lehenrecht,

ſo wie ſpaͤter durch Fideicommißſtiftungen ein gemeinſchaftliches

Vermoͤgen zu conſtituiren, fuͤr welches namentlich die Unver-

aͤußerlichkeit und die Untheilbarkeit der Subſtanz in Anſpruch

genommen ward. Doch ſtellt ſich dieſes Beſtreben nur in

vereinzelten Erſcheinungen heraus, ohne daß es mit dem We-

ſen der Ritterſchaft im nothwendigen Zuſammenhange geſtanden

haͤtte; dieſe war vielmehr im Allgemeinen auf Geburt, ritter-

liche Lebensart und einen entſprechenden Grundbeſitz begruͤn-

det, jedoch ſo, daß das letztere Erforderniß oft uͤberwog, inſo-

fern die Lehnsfaͤhigkeit nicht immer auf einen beſtimmten Ge-

burtsſtand beſchraͤnkt war, und der Inbegriff der roßdienſtpflich-

tigen Vaſallen in manchen Laͤndern den politiſch berechtigten

Ritterſtand ausmachte. Denn das Lehenrecht, welches nach

und nach die einzelnen Dienſtrechte in ſich aufnahm, war vor-

zugsweiſe fuͤr dieſe Verhaͤltniſſe normirend. — Indeſſen hatte

[203/0215]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

ſich die Ritterſchaft, wenn auch mit manchen Abweichungen,

in den einzelnen deutſchen Laͤndern doch mit einer gewiſſen

Gleichfoͤrmigkeit ausgebildet, und durch die uͤberwiegende Be-

deutung, welche ſie in den landſtaͤndiſchen Corporationen ge-

wonnen, eine ſichere Haltung erlangt, welche ſich auch den ih-

rem Intereſſe dienſtbaren Inſtituten mittheilte; fuͤr eine gewiſſe

Periode, die etwa vom Ende des 14. bis zum Anfang des 17.

Jahrhunderts gerechnet werden kann, iſt daher auch ein eige-

ner Stand der Ritterſchaft mit einem beſonderen Rechte, wel-

ches wenigſtens den Charakter der bedingten Gemeinrechtlichkeit

an ſich trug, anzuerkennen.

Allein in neuerer Zeit hat ſich dieß Verhaͤltniß weſentlich

veraͤndert. Die Bedeutung der landſtaͤndiſchen Verfaſſung trat

immermehr vor der zur wahren Staatsgewalt heranwachſen-

den Landeshoheit zuruͤck, wodurch ſchon im Allgemeinen die

ſelbſtaͤndige Haltung der Ritterſchaft weſentlich bedroht ward.

Dazu kam, daß mit der Veraͤnderung des Militairweſens die

alten Roßdienſte außer Uebung kamen, was, in Verbindung

mit der neu begruͤndeten Staats- und Finanzwirthſchaft, dem

Lehenrecht ſein eigentliches Lebensprincip entzog, und es zu

einem beſonders modificirten Recht des Grundbeſitzes herunter-

druͤckte. Indem nun gleichzeitig in Folge großer oͤkonomiſcher

Verwirrungen und der uͤberwiegenden Macht des beweglichen

Vermoͤgens ein betraͤchtlicher Theil der Landguͤter in fremde

Haͤnde uͤberging, verlor ſich die ſelbſtaͤndige Bedeutung eines

beſonderen Ritterſtandes, und was in dieſer Hinſicht aus der

aͤlteren Verfaſſung noch beſtehen blieb, ward faſt allgemein in

der Form eigenthuͤmlicher Realrechte an den ritterſchaftlichen

Grundbeſitz gebunden. Das Recht des Ritterſtandes loͤſte ſich

in das Recht der Ritterguͤter auf, trat alſo aus dem Staͤnde-

[204/0216]

Siebentes Kapitel.

recht in das Sachenrecht uͤber. Wo ſich daher auch noch eine

eigene Landes- oder Provinzialritterſchaft in corporativer Abge-

ſchloſſenheit erhalten hat, da fehlt doch regelmaͤßig fuͤr dieſelbe

die Eigenſchaft eines beſonderen Geburtsſtandes, und es iſt

nur das eigenthuͤmliche Intereſſe der großen Grundbeſitzer,

welches die Einzelnen in ihrer Vereinigung gleichmaͤßig erfaßt,

und ihnen theils dem Buͤrger- und Bauernſtande gegenuͤber,

theils in ihrer Beziehung zur Staatsgewalt eine beſtimmte

Stellung anweiſt. Allein wenn dieſem Intereſſe auch die wei-

teſte politiſche Vertretung gegeben wird, ſo erzeigt ſich das

doch nur nach außen hin und im Verhaͤltniß zur Geſammt-

heit wirkſam; im Innern des Standes findet ſich kein beſon-

deres Recht, und namentlich die einzelne Familie, deren ſelb-

ſtaͤndige Bedeutung dem Adelsrecht ſeine beſtimmte Richtung

giebt, wird davon unmittelbar nicht betroffen.

Es iſt nun aber, dem Begriff der landſaͤſſigen Ritterſchaft

gegenuͤber, der des niedern Adels zu betrachten, um zu ſehen,

inwiefern ſich in dieſem Inſtitut ein beſtimmtes Standesrecht

nachweiſen laͤßt. Hier tritt nun freilich die Familie als das

entſcheidende Moment hervor; denn wenn der niedere Adel

uͤberhaupt einen eigenen Stand bildet, ſo iſt es allein der Vor-

zug der Geburt, welcher ihn dazu macht: andere Erforderniſſe,

namentlich eine ritterliche Lebensart und ein gewiſſer Grund-

beſitz, kommen dabei nicht in Betracht. Aber es erſcheint uͤber-

haupt bedenklich, einen ſolchen Stand im rechtlichen Sinne

anzunehmen. Einmal iſt naͤmlich zu erwaͤgen, daß der niedere

Adel nicht bloß durch die Geburt, ſondern auch durch die Ver-

leihung erworben werden kann, und daß uͤberhaupt der hoͤhere

Staatsdienſt, ſowie gewiſſe Ritterorden und Titel diejenigen

Vorrechte zu ertheilen pflegen, welche man gewoͤhnlich als die

[205/0217]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

des Adelsſtandes anfuͤhrt. Betrachtet man dieſe aber vom

Standpuncte des gemeinen Rechts aus, ſo ergiebt ſich, daß ſie

weniger eine juriſtiſche als eine ſociale Bedeutung haben, und je-

denfalls nicht von einer ſolchen intenſiven Kraft ſind, daß darauf

ein beſonderes Standesrecht begruͤndet werden koͤnnte. Aehn-

lich verhaͤlt es ſich mit dem Wappenrecht, deſſen ſich auch

manche nichtadeliche Familien erfreuen, ohne daß ſie dazu eines

beſonderen Wappenbriefes beduͤrften; beim Adel iſt der her-

koͤmmliche Gebrauch eines beſonderen Wappens nur gebraͤuch-

licher, wie er denn uͤberhaupt ein groͤßeres Gewicht auf ſeine

Familie legt, als in andern Kreiſen der Bevoͤlkerung gewoͤhn-

lich iſt. Damit iſt aber die genoſſenſchaftliche Abſchließung,

wie beim hohen Adel, noch nicht gegeben, und was man die

Autonomie des niedern Adels nennt, iſt nichts anders als der

haͤufigere Gebrauch der Fideicommißſtiftungen, der ſich bei dem-

ſelben findet, ohne daß er gemeinrechtlich dabei beſonders pri-

vilegirt waͤre. Auch enthaͤlt das Familienfideicommiß nicht, wie

die autonomiſche Beliebung, ein Geſetz, welches unmittelbar die

Familie und nur mittelbar das Vermoͤgen erfaßt; ſondern es

iſt eben eine Dispoſition, die unmittelbar auf das letztere geht,

und namentlich den Grundbeſitz nach Art einer andern Real-

belaſtung, wenn auch auf beſondere Weiſe, afficirt. Von den

einzeln vorkommenden Stammguͤtern, bei denen ſich in verſchie-

dener Weiſe die Wirkung des Beiſpruchsrechts der naͤch-

ſten Erben und die Bevorzugung der Agnaten bei der Suc-

ceſſion in den Grundbeſitz erhalten haben, kann ebenſowenig

ein beſonderes Standesrecht des niedern Adels hergeleitet wer-

den; daſſelbe iſt vielmehr im Zweifel auch hinſichtlich des Ver-

moͤgens nach den Grundſaͤtzen des gemeinen Landrechts zu

beurtheilen.

[206/0218]

Siebentes Kapitel.

Das fruͤhere Standesrecht der landſaͤſſigen Ritterſchaft

iſt daher gegenwaͤrtig ebenſowenig bei der Geſammtheit der

Rittergutsbeſitzer als bei den zum niedern Adel gehoͤrigen Per-

ſonen zu finden; jenen fehlt die unmittelbare Beziehung zwi-

ſchen den Geburtsrechten und dem Grundbeſitz, und dieſen

mangelt, ein wie großes Gewicht auch auf Herkunft und Fa-

milie gelegt werden mag, die materielle Baſis eines entſpre-

chenden Vermoͤgens, um die in Anſpruch genommene bevor-

zugte Stellung mit einer ſo allgemeinen Wirkſamkeit, wie es

bei einem Stande erwartet werden darf, durchzufuͤhren. Doch

ſoll damit nicht behauptet werden, daß nicht von den fruͤheren

Zuſtaͤnden noch ſehr bemerkliche Spuren im gegenwaͤrtigen

Rechtsleben vorhanden ſind. Es iſt verhaͤltnißmaͤßig noch der

groͤßte Theil der Ritterguͤter im Beſitz adlicher Familien; die-

ſelben liefern noch jetzt der ſtehenden Armee die meiſten Offi-

ciere; in mancher Landes- und Provinzialverfaſſung ferner iſt dem

adelichen Theil der Ritterſchaft eine bevorzugte Stellung ge-

waͤhrt; auch zeigt ſich gerade hier ein Beſtreben, durch Fidei-

commißſtiftungen mit beſonderen Succeſſionsordnungen ein be-

ſtimmtes Vermoͤgen an die Familie zu knuͤpfen, und deren

Glanz, wenn auch auf Koſten der einzelnen Mitglieder, auf-

recht zu erhalten. Mit dieſen Erſcheinungen ſteht denn auch

der Plan patriotiſcher Maͤnner in Verbindung, den Adel uͤber-

haupt mit dem ritterſchaftlichen Grundbeſitz zu identificiren,

und durch die Beſchraͤnkung der gemeinrechtlichen Erbfolge

einen ſelbſtaͤndigen, in der Zahl ſeiner Mitglieder beſchraͤnkten

Ritterſtand zu begruͤnden, von dem man ſich namentlich große

politiſche Vortheile verſpricht. Bringt man es nun zur Frage, ob

eine ſolche Einrichtung den gegenwaͤrtigen deutſchen Verhaͤltniſſen

angemeſſen ſeyn moͤchte, ſo iſt natuͤrlich die erſte unabweisbare

[207/0219]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

Vorausſetzung, daß es dabei nicht auf eine Bevorrechtung des

neu zu ſchaffenden Ritterſtandes in Beziehung auf die allge-

meinen Laſten und Pflichten, welche der Staat den Einzelnen

auferlegt, abgeſehen iſt; daß vielmehr, ſo weit eine Abweichung

nicht durchaus nothwendig erſcheint, das Princip der Gleich-

heit vor dem Geſetze ſtreng durchgefuͤhrt werde. Es iſt alſo

der Plan nur darauf gerichtet, die politiſche Berechtigung der

Standesgenoſſen auf eine dem heutigen Staatsleben entſpre-

chende Weiſe zu erhoͤhen, gewiſſermaaßen neben der gemeinen

Freiheit eine beſondere zu begruͤnden, aͤhnlich wie es ſich ſchon

zur Zeit der altgermaniſchen Volksverfaſſung verhalten konnte.

Wenn nun auch fuͤr eine ſolche Einrichtung manche Gruͤnde

und namentlich das gewichtige Beiſpiel Englands zu ſprechen

ſcheinen, ſo ſtellt ſich bei einer naͤheren Erwaͤgung die Sache

doch als ſo bedenklich im Princip und ſo ſchwierig in der Aus-

fuͤhrung dar, daß wohl beſſer ganz darauf verzichtet, und die

politiſche Regeneration des Volkes von einer andern Seite ver-

ſucht wird. Es ſind dabei namentlich folgende Puncte zu be-

ruͤckſichtigen:

1. Es fehlt einer ſolchen Inſtitution fuͤr Deutſchland die

rechte geſchichtliche Vorbereitung; ſie wuͤrde ſich als eine neue

Schoͤpfung erſt zu conſolidiren und dabei mit den allergroͤß-

ten Hinderniſſen zu kaͤmpfen haben. Denn ſie wuͤrde gleich-

maͤßig im Widerſpruch ſtehen mit der allgemeinen Richtung

der Zeit, welche zur moͤglichſten Gleichſtellung der Staatsbuͤr-

ger hindraͤngt, und mit dem Familienſinn des deutſchen Adels,

welcher ſich in allen ſeinen einzelnen Gliedern wieder erkennen

will. Auch widerſpricht die Zuruͤckſetzung der meiſten Fami-

lienglieder, welche bei der Majoratsordnung unvermeidlich iſt,

der heutigen allgemeinen Rechtsanſchauung im Volke; ſolche

[208/0220]

Siebentes Kapitel.

Rittergutsbeſitzer, welche dieſelbe theilen, wuͤrden ſich daher frei-

willig nicht leicht zu einer bloßen Abfindung der Toͤchter und

juͤngeren Soͤhne verſtehen wollen, da ſie nur ausnahmsweiſe

ſo bedeutend werden koͤnnte, daß dadurch eine ſtandesmaͤßige

Verſorgung geſichert waͤre. Die geiſtlichen Stifter des Mit-

telalters, welche in dieſer Beziehung ſo Vieles leiſteten, ſind

ja bis auf wenige Ueberreſte verſchwunden; und um neue zu

errichten fehlt es, auch wenn das Vermoͤgen da waͤre, an der

rechten Neigung zur frommen Aufopferung und Freigebigkeit.

Gerade der Umſtand, daß die Familien des hohen Adels regel-

maͤßig ſo beguͤtert ſind, daß ſie alle ihre Mitglieder ſtandes-

maͤßig verſorgen koͤnnen, ſichert am beſten ihre unabhaͤngige und

abgeſchloſſene Stellung; auch iſt in dieſer Sphaͤre ein ſolcher Sinn

heimiſch, daß der Einzelne, ohne ſich verletzt zu fuͤhlen, vor dem

Intereſſe der Familie und des Standes zuruͤcktritt, die alther-

gebrachten Beſchraͤnkungen wenigſtens ohne Murren ertraͤgt.

2. Der Umſtand aber, daß eben dieſe Vermoͤgenskraͤfte

und dieſe Geſinnungen bei denjenigen Familien, aus welchen

der neue Majoratsadel zu bilden waͤre, nur ſelten gefunden

werden duͤrften, enthaͤlt einen ſittlichen und einen politiſchen

Grund gegen die ganze Inſtitution. Einen ſittlichen Grund

— weil Unfriede und Hader und Neid in den Familien dar-

aus entſtehen wuͤrden; einen politiſchen — weil zu befuͤrchten,

daß der Majoratsadel ſeinen uͤberwiegenden Einfluß darauf

verwenden wuͤrde, die juͤngeren Soͤhne moͤglichſt fruͤh und

leicht im Staatsdienſt vortheilhaft unterzubringen, wenn auch

das gemeine Beſte und andere gleich oder mehr befaͤhigte Be-

werber darunter leiden ſollten. Trotz des ungeheuren Privat-

erichthums in England und der durch die Colonien gebotenen

Gelegenheit zur leichteren Verſorgung muͤſſen doch die Hoch-

[209/0221]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

kirche und die Armee dazu dienen, um die zuruͤckgeſetzten Mit-

glieder der vornehmen Haͤuſer, die nicht etwa durch eine Hei-

rath ihr Gluͤck machen, unterzubringen, — von den Penſionen

und Sinecuren gar nicht zu reden. Was wuͤrde erſt bei aͤhn-

lichen Anforderungen einer weit zahlreicheren Ariſtokratie in

dem verhaͤltnißmaͤßig armen Deutſchland geſchehen! Man

ſagt zwar, der nicht adelige Theil der Familie tritt in den

Buͤrgerſtand uͤber; aber es wird immer eine nicht gewoͤhnliche

Tuͤchtigkeit verlangt, wenn die Betreibung eines buͤrgerlichen

Gewerbes ohne bedeutende Capitalien ſo gelingen ſoll, daß ſie

die Anſpruͤche, welche der adelige Sproͤßling aus dem elterli-

chen Hauſe mitbringt, befriedigt. Auf ein ſicheres Fortkom-

men der Einzelnen iſt hier nicht zu rechnen.

3. Auch das iſt nicht zu uͤberſehen, daß durch einen

maͤchtigen Majoratsadel allerdings eine gewiſſe Stabilitaͤt der

oͤffentlichen Verhaͤltniſſe geſichert wird, falls er zu der ganzen

Staatsverfaſſung und der Rechtsanſchauung des Volkes im

rechten Verhaͤltniß ſteht; daß aber, wenn ohne die umſichtige

Beruͤckſichtigung aller Intereſſen den großen Grundbeſitzern

eine uͤberwiegende Gewalt gegeben wuͤrde, gerade dadurch ſehr

leicht eine ſehr entſchiedene Bewegung des uͤbrigen Volkes ge-

gen jenes Uebergewicht hervorgerufen werden koͤnnte. Ueber-

haupt aber iſt, um eine maͤchtige, wohl organiſirte Ariſtokratie

ohne Gefahr zu ertragen, eine feſt gegruͤndete Volksfreiheit noͤ-

thig; ſoll jene in Deutſchland erhoͤht werden, ſo muß auch

dieſe ſich gleichmaͤßig in freier Bewegung entfalten koͤnnen.

II. Der Bauernſtand.

Beim Adel haben wir geſehen, wie die groͤßere Rechts-

gleichheit im modernen Staate ſeine bevorzugte Stellung ge-

Beſeler, Volksrecht. 14

[210/0222]

Siebentes Kapitel.

ſchwaͤcht hat; bei dem Bauernſtande laͤßt ſich die entgegenge-

ſetzte Bemerkung machen, daß die allmaͤlig erfolgte Emancipa-

tion der Perſon und des Grundbeſitzes ſein Recht erhoͤht, und

durch die Aufhebung oder Milderung der fruͤheren Belaſtun-

gen ihn dem gemeinen Recht und der gemeinen Freiheit zu-

gefuͤhrt hat. Denn wenn man ſonſt von einem beſonderen

Bauernſtande und Bauernrechte handelte, ſo dachte man da-

bei faſt nur an die in Folge der Hoͤrigkeit oder der Voigtei

in ihrem Rechte beſchraͤnkte laͤndliche Bevoͤlkerung; die von

Alters her freien Bauern, wie die frieſiſchen, deren Blut nach

altgermaniſcher Rechtsanſchauung reiner und edler iſt, wie das

der adeligen Familien, welche je zu den Dienſtmannen gehoͤrt

haben, — die befaßte man mit ihrem freien Communalweſen

und ihrem unbelaſteten Grundbeſitz wenigſtens gemeinrechtlich

nicht unter dem Bauernſtande. Aber gerade die Hoͤrigkeit der

Bauern iſt, was die Perſon betrifft, ganz aufgehoben, und

die neueren Abloͤſungsordnungen haben den Zweck, auch die

druͤckendſten Belaſtungen des baͤuerlichen Grundbeſitzes zu ent-

fernen; die Voigteipflichtigkeit aber, wenigſtens inſoweit ſie

dem Landesherrn gegenuͤber beſtand, iſt wie die Lehenstreue

des Vaſallen in die dem Souverain als Traͤger der hoͤchſten

Staatsgewalt ſchuldige Unterthanenpflicht aufgegangen. — Was

bildet denn jetzt noch das Charakteriſtiſche des Bauernſtandes?

und iſt ein ſolcher noch uͤberhaupt im juriſtiſchen Sinne an-

zunehmen? Bei der Beantwortung dieſer Fragen iſt ein dop-

pelter Geſichtspunct ins Auge zu faſſen, naͤmlich einmal die

perſoͤnliche Lage der Bauern, und dann die beſondere Beſchaf-

fenheit ihres Grundbeſitzes, der Bauernguͤter.

Soll nun der Bauernſtand in Beziehung auf ſeine Be-

ſchaͤftigung und ſeinen naͤchſten Lebensberuf naͤher beſtimmt

[211/0223]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

werden, ſo laͤßt er ſich von den Beſitzern der Ritterguͤter und

groͤßeren Freihoͤfe im Allgemeinen dadurch unterſcheiden, daß

er den Landbau nicht bloß als Hauptgewerbe treibt, ſondern

daß er auch mit eigener Hand unmittelbar dabei thaͤtig iſt,

und ſich nicht auf die allgemeine Leitung und Beaufſichti-

gung des mehr fabrikmaͤßig gefuͤhrten Betriebes beſchraͤnkt.

Vor den Tageloͤhnern zeichnet er ſich dagegen dadurch aus,

daß er die Landwirthſchaft fuͤr eigene Rechnung und in der

Regel auf eigenem Grund und Boden treibt, waͤhrend er ſich

von den Ackerbuͤrgern durch ſeine Wohnung auf dem Lande

und ſeine Theilnahme am laͤndlichen Communalweſen im Ge-

genſatz vom ſtaͤdtiſchen unterſcheidet. Durch dieſe naͤhere Be-

grenzung des Bauernſtandes wird freilich im Allgemeinen ſeine

Lebensart, ſein Betrieb und das ihm eigenthuͤmliche Intereſſe

beſtimmter hervorgehoben; aber das beſondere Standesrecht

bekommt dadurch noch nicht ſeinen Inhalt: es ließen ſich die-

ſelben Verhaͤltniſſe auch unter der Herrſchaft des gemeinen

Landrechts in vollſtaͤndiger Wirkſamkeit denken. Man kann

jedoch noch ein neues Moment hinzunehmen, welches, wenn

es allgemein zur Anwendung kaͤme, der Beurtheilung ſchon

eine beſtimmtere juriſtiſche Seite darboͤte: das iſt die beſchraͤnkte

Rechtsfaͤhigkeit der Bauern bei der Abſchließung ihrer wichti-

geren Geſchaͤfte, namentlich inſofern ſie ſich auf die Verhaͤlt-

niſſe der Familie und des Grundbeſitzes beziehen, — eine Be-

ſchraͤnkung, die theils aus der Gutsherrſchaft und Voigtei,

theils aus einer allgemeinen Tendenz der Staatsgewalt auf

Bevormundung der Unterthanen hervorgegangen iſt. Aller-

dings liegt darin ein Moment, welches auch fuͤr das geltende

Recht noch von Bedeutung iſt, aber doch kaum mehr von ei-

ner ſo großen und allgemein wirkſamen, daß man darauf ein

14*

[212/0224]

Siebentes Kapitel.

eigenes Standesrecht gruͤnden koͤnnte. Einmal darf man naͤm-

lich nicht uͤberſehen, daß oft, wenn die Beſtaͤtigung baͤuerlicher

Contracte durch die Obrigkeit nothwendig iſt, keine Beſchraͤn-

kung der Rechtsfaͤhigkeit vorliegt, ſondern nur die Neigung des

Volkes zu einem ſtrengen Formalismus ſeiner wichtigeren Ge-

ſchaͤfte ſich geltend gemacht hat, und alſo in den beſtehenden

Einrichtungen ein Beduͤrfniß befriedigt worden iſt, welches alle

Staͤnde theilen, wodurch bei den Bauern aber gerade die Ge-

richtlichkeit der Geſchaͤfte vorzugsweiſe beguͤnſtigt wird. Außer-

dem hat jene Beſchraͤnkung, inſofern ſie die Familienverhaͤlt-

niſſe betrifft, nach Aufhebung der Leibeigenſchaft und bei ei-

ner allgemeineren Anerkennung der ſtaatsbuͤrgerlichen Frei-

heit weſentlich in ihrer Bedeutung verloren; und auch in

Beziehung auf die den Grundbeſitz betreffenden Geſchaͤfte

iſt durch die veraͤnderte Lage des Gegenſtandes Manches ver-

aͤndert worden. Dieſer Punct iſt nun noch genauer zu be-

trachten.

Wenn man die neueren Geſetzgebungrn, durch welche eine

beſſere Stellung des Bauernſtandes in Beziehung auf ſeine

agrariſchen Verhaͤlniſſe bezweckt wird, beurtheilt, ſo pflegt man

darin oft eine einſeitige, wenn auch politiſch nothwendige Be-

guͤnſtigung jenes Standes zu finden, fuͤr welche keine ſtreng

juriſtiſche Begruͤndung gegeben werden koͤnne. Das iſt nun

auf gewiſſe Weiſe auch ganz richtig; denn der durch das Her-

kommen feſtgeſtellte Zuſtand war allerdings von der Art, daß

die Umwandlung deſſelben ein neues Recht ſchaffen mußte,

welches dem Bauernſtande im Allgemeinen die groͤßeren Vor-

theile gewaͤhrt, obgleich die Abloͤſung der Reallaſten nicht un-

entgeldlich, ſondern nach dem Princip der Expropriation ge-

ſchieht. Wenn man jedoch nicht bloß die naͤchſte Vergangen-

[213/0225]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

heit ins Auge faßt, ſondern auch die fruͤheren Zeiten beachtet,

ſo ergiebt ſich, daß der Bauernſtand auch manche arge Unbill

in Deutſchland erlitten hat, fuͤr welche er wohl durch eine

milde Beruͤckſichtigung ſeiner Beduͤrfniſſe eine Verguͤtung ver-

diente. Ich denke hier nicht bloß an die Bedruͤckungen, wo-

durch die minder maͤchtigen Gemeinfreien im ſpaͤteren Mittel-

alter um viele wichtigen Rechte an ihren Guͤtern und nament-

lich am Gemeindevermoͤgen gebracht worden ſind; auch die

Bauern, welche von jeher hoͤrig waren, ſind oft in dem Recht,

welches ſie am Grundbeſitz hatten, ſchmaͤhlich gekraͤnkt wor-

den. Wie ſehr auch die Hoͤrigkeit mit ihren Frohnden und

Zinſen auf ihnen laſtete, ſo laͤßt ſich doch ziemlich allgemein

nachweiſen, daß ſie eine gewiſſe dingliche Berechtigung an ih-

rem Baugut hatten, welche ihnen willkuͤhrlich nicht entzogen

werden durfte. Seit dem 16. Jahrhundert aber, als die Guts-

herrn den eigenen Betrieb der Landwirthſchaft unmittelbar vom

Hofe aus immermehr erweiterten, und die Romaniſten geneigt

waren, dem deutſchen Colonat die roͤmiſche Zeitpacht unterzu-

breiten, ſind viele Bauernfamilen um ihr Recht gebracht wor-

den, indem man ſie eigenmaͤchtig legte und ihren Beſitz mit

dem Hoffelde vereinigte. Aehnliches iſt auch hie und da bei

der Aufhebung der Leibeigenſchaft geſchehen, indem man den

fruͤher Hoͤrigen zwar die perſoͤnliche Freiheit gab, dafuͤr aber

die auf das Baugut Berechtigten zu Tageloͤhnern oder Zeitpaͤch-

tern herunterdruͤckte.

Bedenkt man ſolche Ereigniſſe, und erwaͤgt ferner, wie

ſehr „der arme Mann“ durch Dienſtzwang und willkuͤhrliche

Belaſtung im Einzelnen oft bedraͤngt worden iſt, ſo ſtellen ſich

die neueren Abloͤſungsordnungen, inſoweit ſie den Bauern-

ſtand beguͤnſtigen, als einen Act der in der Geſchichte walten-

[214/0226]

Siebentes Kapitel.

den Gerechtigkeit, und nicht als eine einſeitige Bevorzugung

heraus. Wie es ſich nun aber auch damit verhalten mag, ſo

viel ſteht jedenfalls feſt, daß in Folge jener Geſetze und der

dadurch bewirkten Aufhebung der Reallaſten das Eigenthuͤm-

liche des Bauernrechts, inſofern es auf der beſonderen Be-

ſchraͤnkung des Grundbeſitzes beruhen ſoll, immermehr ſich ver-

wiſcht, und daß vielleicht die Zeit nicht fern iſt, wo in den

deutſchen Staaten ein ſolches Rechtsverhaͤltniß nach alter Weiſe

durchgefuͤhrt, fuͤr eine particularrechtliche Singularitaͤt gilt.

Wird dann etwa auch noch zuweilen ein feſter Zins auf eine

Bauernhufe gelegt, ſo ſtellt ſich das nach heutiger Rechtsan-

ſchauung ja kaum anders heraus, als wenn ein Grundſtuͤck

fuͤr eine beſtimmte Summe mit einer oͤffentlichen Hypothek

belaſtet worden; an eine Gewere am ganzen Gut mit den dar-

aus folgenden Rechten denkt jetzt in einem ſolchen Fall ja kei-

ner mehr.

Der baͤuerliche Grundbeſitz bietet aber der juriſtiſchen Be-

trachtung noch eine andere Seite dar, naͤmlich ſeine Untheil-

barkeit. Wir finden etwas Aehnliches auch bei Ritterguͤtern,

aber nur in Folge der Einwirkung des adeligen Familienrechts

und der politiſchen Verhaͤltniſſe, welche ſich aus dem Lehen-

weſen und der landſtaͤndiſchen Verfaſſung herſchreiben, ſo daß

das Intereſſe des landwirthſchaftlichen Betriebes nur einen un-

tergeordneten Einfluß darauf ausgeuͤbt hat. Bei den Bauern-

guͤtern hat aber gerade dieſe letzte Ruͤckſicht die Untheilbarkeit

vorzugsweiſe begruͤndet, indem uͤberhaupt die eigenthuͤmliche

Geſtaltung des Bauernrechts mehr von dem Beduͤrfniß der

Landwirthſchaft bedingt iſt, als umgekehrt dieſe einem allge-

meineren Standesintereſſe dienſtbar gemacht hat. Dazu kam

nun, daß die Anſpruͤche der Gutsherrſchaft und der landes-

[215/0227]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

herrlichen Kammer am Sicherſten von wohlarrondirten, geſchloſ-

ſenen Stellen befriedigt wurden, und daß auch das eigenthuͤm-

liche Verhaͤltniß der einzelnen Hufe zu der Gemeinde und den

Gemeindeguͤtern in dieſer Sphaͤre eine große Stabilitaͤt des

Beſitzes begruͤndeten. Das Bauernrecht bekam aber durch die

Untheilbarkeit der geſchloſſenen Hufen zum großen Theil ſeine

eigenthuͤmliche Haltung, ſo daß die wichtigſten Rechtsinſtitute

unmittelbar daran geknuͤpft waren. Dieß gilt namentlich von

der beſondern Erbfolge in Bauernguͤter; aber auch die Guts-

abtretung mit Altentheil und die Interimswirthſchaft haͤngen

nahe damit zuſammen, wenn ſie auch urſpruͤnglich aus der

Nothwendigkeit, daß in der baͤuerlichen Oeconomie ein tuͤchti-

ger Wirth an der Arbeit ſelbſt Theil nehmen muß, hervorge-

gangen ſind. — In neuerer Zeit iſt nun bekanntlich von verſchie-

denen Seiten her die freie Theilbarkeit des baͤuerlichen Grund-

beſitzes verlangt worden, waͤhrend man umgekehrt von einem

andern Standpuncte aus darin nur Unheil und Verderben er-

blickt hat. Ohne auf dieſen Streit, der ſo ganz allgemein,

ohne Ruͤckſicht auf die beſondere Bodencultur und Landesver-

faſſung nicht wohl entſchieden werden kann, hier naͤher einzu-

gehen, iſt nur die Thatſache feſtzuhalten, daß in vielen Gegen-

den wirklich der geſchloſſene baͤuerliche Grundbeſitz geſprengt

worden iſt, und daß es wahrſcheinlich immer haͤufiger geſche-

hen wird, je weniger ein ſpecielles Intereſſe der Gutsherrſchaft

und auch der Finanzen, welche ſich immermehr den indirecten

Abgaben zuwenden, gegen ein ſolches Verfahren ankaͤmpft.

Damit geht denn aber wieder eine wichtige Eigenthuͤmlichkeit

des Bauernrechts verloren. — Eine andere Urſache, welche

daſſelbe Ergebniß herbeifuͤhrt, iſt darin zu ſuchen, daß durch

die jetzt ſo haͤufige Auftheilung der Gemeindeguͤter das

[216/0228]

Siebentes Kapitel.

laͤndliche Communalweſen ſeinen urſpruͤnglichen Haltpunct

verliert.

Die Bauerngemeinde iſt, wenigſtens in vielen Gegenden,

aus der Markengenoſſenſchaft hervorgegangen, ſo daß die

Stellung des Einzelnen in der Gemeinde weſentlich von ſeiner

Berechtigung an der Allmende bedingt wurde. Iſt es nun

auch nicht zu billigen, wenn da, wo dieſes Verhaͤltniß noch

thatſaͤchlich begruͤndet war, die neueren Communalordnungen

keine Ruͤckſicht darauf genommen, ſondern nach abſtracten Grund-

ſaͤtzen das Gemeindeweſen geordnet haben; ſo iſt doch auch

ſo viel klar, daß, wenn jene alten Zuſtaͤnde entweder allmaͤlig

verkommen, oder durch eine Separation der Feldmark beſeitigt

worden ſind, ſie nicht mehr dazu dienen koͤnnen, die Grund-

lage fuͤr eine tuͤchtige und organiſche Geſtaltung der Bauern-

ſchaften abzugeben. Durch dieſe Veraͤnderungen, welche nichts

Willkuͤhrliches, ſondern nur eine Folge der allgemeinen Um-

geſtaltung der Landwirthſchaft geweſen ſind, iſt nun aber eine

Reform der Landgemeinden vorbereitet worden. Denn ſie ha-

ben dadurch den ihnen noch anhaͤngenden privatrechtlichen Cha-

rakter verloren, und ſind einer hoͤheren Ausbildung im Sinne

der politiſchen Organiſation um Vieles zugaͤnglicher gemacht.

Namentlich iſt dadurch die Durchfuͤhrung einer groͤßeren Rechts-

gleichheit fuͤr die ganze laͤndliche Bevoͤlkerung, die ja immer-

mehr einen gemiſchten Charakter bekommt, ſehr erleichtert wor-

den; denn wenn auch in Betreff der agrariſchen Verhaͤltniſſe

die Grundbeſitzer und namentlich die Vollbauern als vorzugs-

weiſe intereſſirt erſcheinen, und ſtets auf gewiſſe Weiſe den

Kern der Gemeinde ausmachen werden, ſo fehlt es doch auch

nicht an Beziehungen, welche eine allgemeinere Theilnahme an

den Angelegenheiten derſelben wuͤnſchenswerth machen. Will

[217/0229]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

man aber auch nur diejenigen, welche ein beſtimmtes Landei-

genthum in der Feldmark haben, zur politiſchen Berechtigung

in der Gemeinde zulaſſen, ſo muß doch, wenn das alte Maaß

verloren gegangen iſt, ein neues, den beſtehenden Verhaͤltniſſen

entſprechendes aufgefunden, oder das alte muß, wenn es nicht

mehr genuͤgt, auf eine zeitgemaͤße Weiſe umgeaͤndert werden.

Aber gerade hierin liegt zum großen Theil die Schwierigkeit,

welche einer Regeneration des laͤndlichen Communalweſens ent-

gegenſteht. Es iſt nicht bloß zu beſtimmen, welche Rechte die

Landgemeinde ausuͤben ſoll, ſondern auch, wie ſie zu organiſi-

ren iſt, und namentlich, aus welchen Elementen man ſie zu-

ſammenſetzen will. Dabei ſteht ſich denn das Intereſſe der

Gutsherrn und der Bauern oft ſchroff entgegen, wenigſtens

inſofern jene eine Exemtion von der Gemeinde und vielleicht

gar eine Bevormundung derſelben in Anſpruch nehmen; und

uͤberhaupt iſt die große Umwandlung der agrariſchen Verhaͤlt-

niſſe, die ſeit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Deutſch-

land begonnen hat, in den meiſten Laͤndern noch gar nicht

zum Abſchluß gekommen.

Wir ſtehen noch mitten in der Bewegung, deren welt-

hiſtoriſche Bedeutung oft auf eine merkwuͤrdige Weiſe ver-

kannt wird.

Faſſen wir das Geſagte nun noch einmal kurz zuſammen,

ſo laͤßt ſich im Allgemeinen behaupten: daß auch der Bauern-

ſtand mit ſeinem beſonderen Rechte in neuerer Zeit Vieles von

ſeiner Eigenthuͤmlichkeit verloren hat, ja daß er in den wich-

tigſten Beziehungen den uͤbrigen gemeinfreien Staatsbuͤrgern

gleichgeſtellt worden iſt. Dieſer Entwicklungsproceß wird denn

in ſeinem weiteren Verlaufe dahin fuͤhren, daß auch die noch

[218/0230]

Siebentes Kapitel.

beſtehenden Ueberreſte ſchon veralteter Zuſtaͤnde einer neuen

Rechtsbildung weichen muͤſſen. Die Gutsobrigkeit namentlich,

inſofern ſie nicht als Dienſtherrſchaft auftritt, und die Patri-

monialgerichtsbarkeit werden vor dem herrſchenden Princip

des Staates und der freien Gemeinde verſchwinden. Daß aber

der Bauernſtand noch immer in einer mehr eigenthuͤmlichen

und abgeſchloſſenen Haltung daſteht, als andere Claſſen der

Bevoͤlkerung, das erklaͤrt ſich theils aus ſeiner Beſchaͤftigung

und aͤußeren Lage, theils aber auch aus ſeiner beſonderen Na-

tur und Gemuͤthsart.

Im Allgemeinen haͤngen die Bauern an dem Hergebrach-

ten und Alten, wenn ſie auch keine Neuerung ſcheuen, welche

ihrem klar erkannten Intereſſe dient; die Familien vermiſchen

ſich nur ſelten mit ſolchen aus andern Staͤnden, und ſelbſt

bei einem durch die Umſtaͤnde gebotenen Wechſel des Beſitzes

kommt nicht leicht ein fremdes Element in ihre Reihen. Da-

her hat ſich, wie auch die aͤußern Verhaͤltniſſe ſonſt veraͤndert

ſeyn moͤgen, gerade hier noch Vieles von alter Sitte und Art

erhalten, deſſen Kunde fuͤr die richtige Beurtheilung des wirk-

lich Beſtehenden oft wichtiger iſt, als das Studium der poſi-

tiven Geſetze. Auch wird ſich ohne Zweifel aus den neu be-

gruͤndeten Verhaͤltniſſen unter guͤnſtigen Umſtaͤnden wieder

manche eigenthuͤmliche Rechtsbildung entwickeln, ſobald fuͤr be-

ſondere Inſtitute ein beſtimmtes Beduͤrfniß vorliegt, und das

gemeine Landrecht zu deren Befriedigung nicht ausreicht. Denn

es fehlt gerade in dieſem Kreiſe noch am Wenigſten an der

natuͤrlichen Kraft und Begabung, durch welche auf dem Wege

der unbewußten Entwicklung das Angemeſſene und Billige

zur bindenden Norm umgewandelt wird.

[219/0231]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

III. Der Buͤrgerſtand.

Wir haben es hier nicht mit dem Staatsbuͤrgerthume zu

thun, noch mit dem ſogenannten dritten Stande im Gegenſatz

zu den beiden bevorzugten Claſſen des mittelalterigen Feudal-

weſens. Der Buͤrgerſtand, von dem hier die Rede, iſt der

ſtaͤdtiſche, wie er ſich aus dem ſtaͤdtiſchen Gemeinweſen und

dem gewoͤhnlichen Betriebe ſtaͤdtiſcher Gewerbe herausgebildet

hat. In dieſer beſtimmten Erſcheinung iſt das Buͤrgerthum

ein Product des ſpaͤteren Mittelalters, und haͤngt mit der be-

ſondern Geſtaltung der Stadtverfaſſung im Gegenſatz zu der

Ritterſchaft und den Landgemeinden nahe zuſammen; ſeine

letzte Entwicklung iſt namentlich in der Zeit zu ſuchen, als es

den Handwerkerinnungen faſt allgemein gelang, die Herrſchaft

der Geſchlechter und der Kaufherren zu ſtuͤrzen, oder doch ne-

ben ihnen in ſelbſtaͤndiger Berechtigung ſich bei dem Stadtre-

gimente zu betheiligen. Denn nun ging der Genuß der Frei-

heitsrechte, welche die ſtaͤdtiſche Verfaſſung gewaͤhrte, auf die

ganze Buͤrgerſchaft uͤber, und dieſe ſtrebte in ihrem einſeitigen

Intereſſe nach einer ausſchließlichen Ausuͤbung ihrer Gewerbe,

wodurch die Trennung von Stadt und Land erſt recht ausge-

bildet und befeſtigt ward. Aber auch dieſe Verhaͤltniſſe ſind

den maͤchtigen Einwirkungen der modernen Zeit nicht entgan-

gen, und die Alles erfaſſende Kraft des Staates ſo wie der

große Umſchwung, der im Handel und in der Induſtrie ſtatt

gefunden, haben die wichtigſten Veraͤnderungen hervorgerufen.

Die beſonderen Corporationsrechte, in welche die ſtaͤdtiſche

Gemeinde fruͤher ihre Ehre und ihre Sicherheit ſetzte, haben

in der neueſten Zeit, welche ein wuͤrdig ausgeſtattetes Commu-

nalweſen als eine organiſche Gliederung des Staates mit einer

allgemeinen Wirkſamkeit in Anſpruch nimmt, ſchon Vieles von

[220/0232]

Siebentes Kapitel.

ihrer Bedeutung verloren, und werden es immer mehr thun.

Steht aber auch jetzt noch die Stadtgemeinde in einer bevor-

zugten Haltung da, ſo iſt es doch nicht gerade der Buͤrgerſtand

im engeren Sinne, der ſich darin ausſchließlich vertreten ſieht.

Denn die Staͤdte umſchließen jetzt mehr wie je eine ſehr ge-

miſchte Bevoͤlkerung, von der ein bedeutender Theil ohne alle

Beziehung zum ſtaͤdtiſchen Gewerbe ſteht, waͤhrend er doch ge-

rade durch Intelligenz, Bildung und Reichthum fuͤr die Com-

mun von der groͤßten Bedeutung iſt, und namentlich wenn er

den entſprechenden Grundbeſitz erworben hat, auch thaͤtig in

das oͤffentliche Weſen eingreifen kann, falls hier nicht eine

veraltete Verfaſſung engherzige Beſchraͤnkungen macht. Die-

ſem Theile der Bevoͤlkerung ſehr nahe ſtehen die Kaufleute,

welche bei dem groͤßeren Handelsverkehr betheiligt ſind, und

ihre Geſchaͤfte nicht auf die Stadt und deren naͤchſte Umge-

bung beſchraͤnken. Die Handwerker dagegen ſind theils durch

die Einfuͤhrung der Gewerbefreiheit unter das gemeine Recht

der Gegenwart geſtellt, welche die freie Concurrenz der Arbeit

will; oder wo ſie noch ihre alten Privilegien zum großen

Nachtheile des Gemeinweſens bewahrt haben, da ſehen ſie

ſich vielfach von der Fabrikation uͤberfluͤgelt oder abhaͤngig ge-

macht, und in dieſer liegt jedenfalls eine Beſtimmung, welche

uͤber die fruͤher hergebrachten Grenzen des buͤrgerlichen Gewer-

bes hinausragt. Zu dieſem Allen kommt nun noch der Um-

ſtand hinzu, daß die verſchiedenen Beſtandtheile der Bevoͤlke-

rung im Staate immer mehr zuſammen fließen, und daß na-

mentlich die ſcharfe Grenze zwiſchen Stadt und Land immer-

mehr verwiſcht wird. Es giebt einmal eine große Anzahl klei-

nerer Landſtaͤdte, in denen der Ackerbau uͤberwiegt, und ein

duͤrftiges Gewerbeweſen nur die wenig lohnende Nebenbeſchaͤf-

[221/0233]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

tigung der Hauswirthe iſt. Solche Ortſchaften, die meiſtens

nur mit Muͤhe die Laſt einer eigenen, verhaͤltnißmaͤßig koſtſpie-

ligen Verwaltung tragen, werden jetzt durch das fruͤher werth-

volle Stadtrecht ſehr beſchwert, und es wuͤrde ihnen ſowohl

als dem Staate am Beſten damit gedient ſeyn, wenn ſie in

die Ordnung der Flecken oder Doͤrfer zuruͤcktreten koͤnnten.

Der Landmann dagegen ſtrebt bei erhoͤhter Freiheit und verbeſ-

ſertem Wohlſtande immermehr nach ſtaͤdtiſchen Gebraͤuchen und

Gewerben; der reiche Handelsſtand kommt durch den Erwerb

von Landguͤtern, durch Heirathen zwiſchen der Geburts- und

Geldariſtokratie der Ritterſchaft immer naͤher zu ſtehen, und

die Fabrikation endlich bindet ſich nicht an das ſtaͤdtiſche Weich-

bild, ſondern geht den Orten nach, wo Waſſerkraft und wohl-

feile Handarbeit zu finden iſt. Bedenkt man nun, daß die

Landgemeinde durch Theilung der Gemeindeguͤter, die Stadt-

gemeinde aber durch die Aufhebung oder das Herabkommen

des Zunftweſens immer mehr von ihrer Eigenthuͤmlichkeit ver-

lieren, und daß gewiſſe Intereſſen, auch wenn ſie ſich nicht

unmittelbar auf das Staatsganze beziehen, doch einen gemein-

ſchaftlichen Charakter an ſich tragen, ſo iſt eine allmaͤlige

Ausgleichung und Annaͤherung zwiſchen Stadt und Land faſt

nothwendig gegeben. Ja wo der Grundbeſitz frei veraͤußerlich

und theilbar, und neben einer vollen Gewerbefreiheit eine bluͤ-

hende Fabrikation beſteht, da wird, wenigſtens fuͤr gewiſſe all-

gemeine Beziehungen, die gleichmaͤßige Ausbildung des Ge-

meindeverbandes nur natuͤrlich erſcheinen. Verlangen aber auch

die agrariſchen Verhaͤltniſſe der Landgemeinde im Gegenſatz zu

dem in den Staͤdten concentrirten Gewerbe ihre ſelbſtaͤndige

Vertretung, ſo geſtattet doch jedenfalls die hoͤhere Gliederung

des Communalweſens in Kreiſen, Provinzen u. dgl. eine ge-

[222/0234]

Siebentes Kapitel.

meinſchaftliche Organiſation, in welcher die verſchiedenen Inter-

eſſen neben einander zur Geltung kommen, und in dem ge-

meinſamen Ziele ihre Ausgleichung und Vereinigung finden.

Soll alſo von einem beſonderen Rechte des Buͤrgerſtan-

des die Rede ſeyn, ſo muß daſſelbe ſeinen Schwerpunct an-

derswo als in der ſtaͤdtiſchen Gemeinde haben. In dem Privat-

recht, Criminalrecht, Proceß u. ſ. w. iſt er aber auch nicht zu

ſuchen; denn was ſich in dieſer Beziehung im Laufe der Zei-

ten ſtatutariſch entwickelt hat, iſt entweder vor der modernen

Geſetzgebung gefallen, oder traͤgt doch keine natuͤrliche Lebens-

kraft mehr in ſich. Hoͤchſtens koͤnnen Modificationen einzelner

Rechtstheile, z. B. des ehelichen Guͤterrechts, hier frei geſtellt

werden, ohne daß dadurch auch nur dem gemeinen Landrecht ein

weſentlicher Abbruch zu geſchehen brauchte. Soll in dieſer

Sphaͤre alſo noch ein ſelbſtaͤndiges Staͤnderecht gelten, ſo muß

es im ſtaͤdtiſchen Gewerbe begruͤndet ſeyn; aber hier reicht

eine allgemeine Betrachtung nicht aus. Noch mehr faſt, wie

Ritterſchaft und Bauern, ſcheidet ſich der Handwerker vom Fa-

brikanten und von beiden wieder der Kaufmann; dieſer Unter-

ſchied muß feſtgehalten werden, wobei aber zugleich wieder-

holt darauf aufmerkſam zu machen iſt, daß namentlich der Fa-

brikant nicht an die Stadt gebunden erſcheint.

1. Das Recht der Handwerker und Fabri-

kanten. Es gab eine Zeit, in welcher die corporative Ver-

faſſung der Gewerke in ihrer zunftmaͤßigen Ausbildung eine tiefe

Bedeutung hatte, und unmittelbar aus dem Volksleben her-

ausgewachſen, dem ſtaͤdtiſchen Buͤrgerthum einen kraͤftigen

Haltpunct gewaͤhrte. Das Beduͤrfniß fuͤhrte zu dieſen genoſ-

ſenſchaftlichen Vereinen, welche dem Gewerbe Wuͤrde und

Kraft verliehen, die kunſtfertige Betreibung derſelben foͤrderten

[223/0235]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

und auf eine einflußreiche Stellung in der ſtaͤdtiſchen Verfaſ-

ſung einen wohlbegruͤndeten Anſpruch hatten. Es iſt nichts

ehrenhafter, als die deutſche Handwerkerzunft zur Zeit ihrer

Bluͤthe, da ſie die Anforderungen der Induſtrie noch befrie-

digte, und in ihrem Kreiſe Gewerbfleiß mit einem tuͤchtigen

Buͤrgerſinn und einem wuͤrdigen Familienleben verbunden war.

Auch heute noch ſind nicht alle Spuren der fruͤheren Zuſtaͤnde

verwiſcht, und der Meiſter, welcher nach den verſchiedenen Sei-

ten ſeiner Wirkſamkeit hin ſeine Stellung tuͤchtig ausfuͤllt, ge-

hoͤrt zum Kern des ſtaͤdtiſchen Mittelſtandes. Aber mit dem

eigentlichen Weſen des alten Handwerkerrechts iſt es doch vor-

bei: die Zunftverfaſſung in ihrer Abgeſchloſſenheit und aus-

ſchließlichen Berechtigung, welche urſpruͤnglich ein ſo natuͤrli-

ches und geſundes Lebensprincip in ſich trug, iſt unter den

veraͤnderten Verhaͤltniſſen der neueren Zeit zu einer laͤſtigen

Beſchraͤnkung der Induſtrie geworden, welche, wie jede gereifte

Kraft, vor Allem der freien Bewegung bedarf, und wenn ſie

auch in beſtimmten Formen ihr weiſes Maaß finden kann,

dieſes nicht aus einer entſchwundenen Zeit in abgeſtorbenen

Inſtituten heruͤbernehmen darf. Die Staatsgewalt, das Wohl

der Geſammtheit im Auge haltend, hat, wenn ihr die noͤthige

Energie beiwohnt, dieſe Feſſeln zu brechen, ſollte es auch ohne

eine augenblickliche Verletzung des Privatrechts nicht geſchehen

koͤnnen; dagegen wird ſie die Ausbildung genoſſenſchaftlicher

Vereine in zeitgemaͤßer Form unter den Gewerken billig be-

guͤnſtigen, weil ſich darin nur der Aſſociationsgeiſt mit ſeinen

heilſamen Folgen bethaͤtigen kann. — Nun iſt freilich die

Zunftverfaſſung noch bei weitem nicht in ganz Deutſchland

aufgehoben; aber wo ſie noch in alter Weiſe vorkommt, kann

ſie keinen Anſpruch mehr darauf machen, ein Inſtitut des le-

[224/0236]

Siebentes Kapitel.

bendigen Volksrechts zu ſeyn: ſie iſt, wenn auch verbrieft und

verſiegelt, zu einem bloßen Gewohnheitsrecht heruntergeſunken.

Und wie duͤrftig und unbedeutend ſind auch die Rechtsverhaͤlt-

niſſe, die ſich gegenwaͤrtig in dieſer Sphaͤre darſtellen: ein

todtes Formenweſen, ohne friſche Kraft und inneres Leben,

kaum unterbrochen durch aͤrgerliche Competenzſtreitigkeiten der

einzelnen verwandten Zuͤnfte unter einander oder durch ein

kleinliches Ueberwachen der Pfuſcher und Landhandwerker, ſtets

bedroht durch die Anforderung der Mitbuͤrger auf freie Concur-

renz und durch die Uebermacht der Fabrikation.

Die Fabrikanten dagegen verfolgen ein beſtimmtes und

gemeinſchaftliches Intereſſe, welches ſich vorzugsweiſe im Ge-

genſatze zu dem der Landwirthe geltend macht. Erſt in neue-

ſter Zeit iſt man in Deutſchland der richtigen Einſicht naͤher

gekommen, daß zuletzt doch dieſe ſcheinbar ſo getrennten In-

tereſſen in dem hoͤheren Ziele der nationalen Kraft und Wohl-

fahrt ihre Vereinigung finden; aber noch beſteht der Kampf,

und ganz kann er der Natur der Verhaͤltniſſe nach nie aufhoͤ-

ren. Hier die weiſe Vermittlung, auch in der Landesverfaſ-

ſung durchzufuͤhren, iſt die Aufgabe der ſtaatsmaͤnniſchen Weis-

heit, welche bei der Beruͤckſichtigung des Theiles ſtets das

Ganze im Auge behaͤlt. Aber zu einem eigenen Stande der

Fabrikanten hat man es doch nicht gebracht, und dazu wird

es auch nicht kommen, wenn auch an und fuͤr ſich, wenigſtens

in Staaten, wo die Induſtrie dauernd und ſolide begruͤndet

worden, dazu dieſelbe Veranlaſſung gegeben iſt, als etwa fuͤr

die Abſchließung der großen Grundbeſitzer in einem Stande

der Ritterſchaft. Denn die moderne Zeit widerſtrebt uͤberhaupt

dem geſonderten Staͤndeweſen, und die Fabrikanten ſo wenig wie

die Kaufleute machen einen Anſpruch darauf, ſich dem Staats-

[225/0237]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

buͤrgerthume in einer ſelbſtaͤndigen Haltung gegenuͤber zu ſtel-

len. Was ſich aber etwa als ein eigenes Recht der Fabri-

kanten herausſtellt, das haben ſie faſt ganz mit den Kaufleu-

ten gemein, indem manche Inſtitute des Handelsrechts, welche

ſich nicht auf den ſtreng kaufmaͤnniſchen Verkehr beziehen, auch

ihnen zu Gute kommen.

2. Das Recht der Kaufleute. Inſofern dieſes ei-

nen eigenthuͤmlichen Charakter an ſich traͤgt, iſt es im Han-

delsrecht enthalten; denn außerhalb ſeines Geſchaͤftsverkehrs

iſt der Kaufmann dem gemeinen Landrecht unbedingt unter-

worfen. Im heutigen Handelsrecht aber, welches hier im wei-

teren Sinn mit Einſchluß des See- und Wechſelrechts ge-

nommen wird, zeigt ſich freilich Alles voller Leben und Fri-

ſche, wie es von einer Zeit zu erwarten iſt, in welcher Indu-

ſtrie und Verkehr einen ſo unerhoͤrten Aufſchwung genommen

haben, und mit ihren guten und ſchlimmen Folgen das ganze

Volksleben durchdringen, ſo daß ſelbſt der Grundbeſitz bedroht

iſt, als Waare in den Kreis der kaufmaͤnniſchen Speculation

gezogen zu werden.

Daß wir es nun beim Handelsrecht mit einem lebendi-

gen, unmittelbar aus dem Geſchaͤftsverkehr hervorgegangenen

Volksrechte zu thun haben, ſteht fuͤr den Kundigen außer

Frage: das roͤmiſche Recht, die Geſetze, das Juriſtenrecht und

bloße Gewohnheiten ſind fuͤr das gemeine Handelsrecht nur

Quellen von untergeordneter Bedeutung; es iſt vielmehr in

den Rechtsverhaͤltniſſen ſelbſt enthalten, und will aus dem Le-

ben erkannt werden. Hier finden ſich die leitenden Principien,

welche der geſchaͤftskundige Mann in unmittelbarer Anſchauung

mit Sicherheit anwendet, und der Juriſt nur zur conſequenten

Beſeler, Volksrecht. 15

[226/0238]

Siebentes Kapitel.

Deduction zu benutzen und fuͤr beſondere Faͤlle in die rechte

Beziehung zu den poſitiven Geſetzen und zu allgemeinen Rechts-

grundſaͤtzen zu bringen hat. Damit iſt aber nicht geſagt, daß

das Handelsrecht ein durchaus anomaliſches Recht ſey. Es

zeigen ſich hier vielmehr Principien von einer ganz ſelbſtaͤndi-

gen Bedeutung wirkſam, welche nur deswegen eine beſchraͤnk-

tere Geltung haben, weil an dem Verkehr, worauf ſie ſich be-

ziehen, nicht die ganze Bevoͤlkerung Theil nimmt. Doch be-

ſchraͤnkt ſich derſelbe auch nicht ausſchließlich auf die Kauf-

leute. Es iſt ſchon bemerkt worden, daß manche Inſtitute

des Handelsrechts auch fuͤr die Fabrikanten von Wichtigkeit

ſind; der Gutsbeſitzer, welcher ſeine Producte abſetzt, wird

gleichfalls in dieſen Kreis hineingezogen, wenn auch ſchon der

Umſtand, daß er keine kaufmaͤnniſche Buchfuͤhrung hat, fuͤr

ihn weſentliche Modificationen noͤthig macht; das Seerecht er-

faßt in wichtigen Beziehungen auch den Schiffer und das

Schiffsvolk; in manchen Gegenden an der Seekuͤſte ſind die

Landleute ihre eigenen Rheder und Commiſſionaͤre, und trei-

ben, wenn auch meiſtens nur im Kleinen, Handelsgeſchaͤfte

mit ihren Producten; am Wechſelgeſchaͤft nimmt, wenn auch

in beſchraͤnkter Weiſe, taͤglich eine große Zahl von Perſonen

aus allen Claſſen Antheil, und der Capitaliſt endlich kann als

ſtiller Geſellſchafter oder als Inhaber von Actien und Schiffs-

parten ohne alle Kunde der kaufmaͤnniſchen Geſchaͤfte doch da-

bei betheiligt ſeyn. Betrachtet man die Sache unter dieſem

Geſichtspuncte, ſo braucht man es nicht fuͤr eine Inconſequenz

der franzoͤſiſchen Geſetzgebung zu halten, wenn ſie, obgleich

allem Staͤndeunterſchiede feindlich, doch das Handelsrecht und

die Handelsgerichte in ihrer ſelbſtaͤndigen Geltung anerkannt

[227/0239]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

hat; und in England, ſo viel ich weiß, gehen dieſe Inſtitute

ganz in das common law auf, welches eben nur nach dieſer

Seite hin ſeine beſondere Ausbildung erhalten hat. — Will man

das Handelsrecht daher ein Standesrecht der Kaufleute nen-

nen, ſo iſt dieß doch nur in einem ſehr beſchraͤnkten Sinne zu

nehmen; denn keine ausſchließliche Berechtigung macht es da-

zu, ſondern allein der thatſaͤchlich begruͤndete Umſtand, daß die

Kaufleute ſich vorzugsweiſe und in einigen Beziehungen aus-

ſchließlich deſſelben bedienen, und daß es folgeweiſe durch ſie

und ihre Geſchaͤfte ſeinen eigenthuͤmlichen Charakter erhalten

und bewahrt hat.

Es kann aber noch beſonders zur Frage kommen, ob das

Handelsrecht nur uͤberhaupt als ein Volksrecht aufzufaſſen iſt,

und ob es nicht vielmehr als ein Voͤlkerrecht im Sinne des

roͤmiſchen jus gentium betrachtet werden muß. Schon im 2.

Kapitel iſt hieruͤber im Allgemeinen gehandelt und gezeigt wor-

den, daß das Volksrecht nicht nothwendig ein ausſchließlich

nationales zu ſeyn braucht. Doch kommen hier freilich noch

beſondere Momente in Betracht. Es iſt naͤmlich ein Unter-

ſchied, ob ſich bei verſchiedenen Voͤlkern unter dem Einfluß

derſelben Beduͤrfniſſe und bei uͤbereinſtimmenden Verhaͤltniſſen

gewiſſe Rechtsinſtitute gleichartig, aber doch in einer ſelbſtaͤndi-

gen Entwicklung ausgebildet haben, oder ob der Geſchaͤftsver-

kehr, der im Welthandel die verſchiedenen Voͤlker zuſammen-

fuͤhrt, das Recht als ſein unmittelbares Product hervorruft,

und die einzelne Nation ſich nur als einen der großen Facto-

ren dieſer Rechtsbildung darſtellt. Und in der That verhaͤlt

es ſich alſo mit dem Handelsrecht in ſeiner ganzen Compoſi-

tion und ſeinen wichtigſten Inſtituten, ſo daß die beſondere

15*

[228/0240]

Siebentes Kapitel.

Geſtaltung deſſelben bei den einzelnen Voͤlkern nur als eine

Modification der allgemeinen Rechtsideen der gebildeten Welt

erſcheint. Indeſſen darf man doch auch hier dieſer beſtimm-

ten Auspraͤgung des Allgemeinen in ſeiner nationalen Erſchei-

nung keine zu geringe Bedeutung beilegen. Denn theils ſind

doch die Verſchiedenheiten, welche darin bei den einzelnen Voͤl-

kern vorkommen, nicht gering; theils aber nimmt das Han-

delsrecht in ſeiner ſpeciellen Beſchraͤnkung den Charakter eines

wahren Volksrechts an, indem es ſich bei dem Handelsſtande

eines beſtimmten Volkes in unmittelbarer Geltung feſtgeſetzt,

mit dieſem ſich gewiſſermaaßen identificirt hat, ſo daß es in

deſſen Bewußtſeyn ſelbſtaͤndig exiſtirt, und in das fremde Recht

nicht aufgeht, wenn es auch in demſelben ſich im Weſentlichen

wiederholt, und in manchen Stuͤcken daraus ergaͤnzt werden

kann. Da nun das gemeine deutſche Handelsrecht von einer

ſolchen Beſchaffenheit iſt, daß es in ſeiner Eigenthuͤmlichkeit

und ſelbſtaͤndigen Haltung eine entſchieden nationale Faͤrbung

an ſich traͤgt, ſo duͤrfen wir es auch als einen integrirenden

Theil unſeres gemeinen Rechts betrachten, wie das auch von

anderen Voͤlkern geſchieht, welche in der allgemeinen Bewe-

gung des Welthandels doch ihrer eigenen Perſoͤnlichkeit auch

in dieſer Beziehung ſich bewußt bleiben. Das nationale Ele-

ment des deutſchen Handelsrechts zeigt ſich aber nicht bloß in

der Modification einzelner Inſtitute, ſondern auch in ganz ei-

genthuͤmlichen Rechtsbildungen, wie denn z. B. der deutſche

Buchhandel in voller Selbſtaͤndigkeit ſich entwickelt hat. Ueber-

haupt aber iſt das Handelsrecht den Deutſchen nicht von Außen

her fertig zugetragen worden, ſondern ſie haben ſelbſt an der

Ausbildung deſſelben thaͤtigen Antheil genommen; das zeigt

die allgemeine Geſchichte des Handels, und ergiebt ſich auch

[229/0241]

Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.

aus einzelnen quellenmaͤßigen Zeugniſſen, welche bis ins 12.

Jahrhundert hinauf verfolgt werden koͤnnen *).

*) In der Verfaſſungsurkunde, welche Conrad von Zaͤhringen im

Jahre 1120 der Stadt Freiburg im Breisgau ertheilte, kommt folgende

Stelle vor, welche faſt woͤrtlich in die Handfeſte der Stadt Bern von

1218 uͤbergegangen iſt: Si quando disceptatio vel questio inter bur-

genses meos orta fuerit, non secundum meum arbitrium vel recto-

ris eorum discucietur. Sed pro consuetudinario et legitimo jure

omnium mercatorum precipue autem Coloniensium examinabitur

judicio. — In dieſer aͤlteſten Verfaſſungsurkunde von Freiburg kommt

keine andere Beziehung auf das Recht von Koͤlln und namentlich keine

auf die Verfaſſung dieſer Stadt vor; ſo daß die auf einen weniger deut-

lichen Ausdruck des ſpaͤteren Stadtrodels begruͤndete Anſicht von einer

Uebertragung der Koͤllner Stadtverfaſſung auf Freiburg mit den

daraus hergeleiteten Folgerungen ſich wohl als ganz unhaltbar herausſtellt.

Die jura Colonie des Stadtrodels bezeichnen eben das zu Koͤlln geltende

Handelsrecht.

[[230]/0242]

Achtes Kapitel.

Das Volksrecht in ſeinem Verhaͤltniſſe zur Ge-

ſetzgebung.

Die Frage, in welchem Verhaͤltniß das Volksrecht zur

Geſetzgebung ſteht, iſt ſchon fruͤher (im 2. Kap.) beilaͤufig er-

oͤrtert worden. Es ward angenommen, daß ſich die Geſetzge-

bung ſelbſt bei einer ganz normalen Rechtsbildung nicht noth-

wendig auf eine bloß nachhelfende und ergaͤnzende Thaͤtigkeit

zu beſchraͤnken brauche, ſondern daß ſie auch, das Recht im

Geiſte der Nation entwickelnd, einen ſelbſtaͤndigen ſchoͤpferiſchen

Einfluß geltend machen koͤnne. Eine beſondere Bedeutung

ward ihr aber fuͤr den Fall beigelegt, wenn ſich die Nothwen-

digkeit einer durchgreifenden Reform des ganzen Rechtsweſens

zeigt, ſo daß es nicht bloß auf die Befeſtigung und Fortbil-

dung des Volksrechts ankommt, ſondern durch die Wegraͤu-

mung der beſtehenden Hinderniſſe einer nationalen Rechtsent-

wicklung uͤberhaupt erſt freie Bahn gemacht werden muß. —

Ich knuͤpfe hier an jene Eroͤrterung wieder an, um ſie mit

beſonderer Ruͤckſicht auf den gegenwaͤrtigen Rechtszuſtand in

Deutſchland weiter zu fuͤhren, — ohne Anſpruch freilich auf

eine erſchoͤpfende Behandlung des eben ſo ſchwierigen als wich-

tigen Gegenſtandes, ſondern nur in der Abſicht, einige der

wichtigſten Puncte, auf welche es dabei ankommt, hervor zu

heben, und zur Verſtaͤndigung uͤber die ganze Frage einen

Beitrag zu liefern.

Betrachtet man nun unbefangen den Zuſtand des gegen-

waͤrtigen deutſchen Rechtsweſens, ſo ergiebt ſich wohl ſo viel,

[231/0243]

Das Volksrecht und die Geſetzgebung.

und daruͤber ſind auch alle, denen in dieſen Sachen ein Ur-

theil zuſteht, einverſtanden, daß die Geſetzgebung hier noch eine

weite und ſchwierige Aufgabe vor ſich habe. Der Grund davon

iſt in der mangelhaften Beſchaffenheit des gemeinen ſowohl

als des particulaͤren Rechtes zu ſuchen, und dieſe erklaͤrt ſich

wieder aus dem gehemmten und geſtoͤrten Entwicklungsgange,

welchen das deutſche Volk waͤhrend der letzten Jahrhunderte

in ſeinen nationalen und politiſchen Beziehungen genommen

hat. Das gemeine Recht iſt ſeinem ganzen Weſen nach und

in ſeinen Hauptbeſtandtheilen unter dem vorherrſchenden Ein-

fluß der Juriſten ausgebildet worden, welche es aber nicht ver-

mocht haben, daſſelbe in Beziehung auf ſeinen materiellen In-

halt und auf ſeine formelle Geſtaltung ſo, wie es das Be-

duͤrfniß des Volkes erheiſchte, feſtzuſtellen. Namentlich herrſcht

das roͤmiſche Recht darin noch auf eine ganz unziemliche Weiſe

vor, und auch die Verbindung deſſelben mit dem deutſchrecht-

lichen Elemente zu einer hoͤheren, organiſchen Einheit iſt bis

jetzt nicht gelungen. So erſcheint es oft zweifelhaft, von wel-

cher Seite her die Normen fuͤr die Beurtheilung beſtimmter

Rechtsverhaͤltniſſe zu entnehmen ſind, und durch das ganze

gemeine Recht zieht ſich ein Dualismus hindurch, welcher dem

richtigen Verſtaͤndniß und der ſicheren Anwendung deſſelben

hindernd entgegen tritt. — Noch groͤßer aber und gefaͤhrlicher

iſt die Verwirrung, welche in dem particulaͤren Rechte herrſcht.

Die Entſtehung deſſelben reicht zum großen Theile in die Zei-

ten hinauf, wo die heutige Abgrenzung der deutſchen Staats-

gebiete noch nicht feſtgeſtellt war, ſondern die einzelnen politi-

ſchen Bezirke, die jetzt meiſtens nur eine provinziale oder lo-

cale Bedeutung haben, einer gewiſſen Selbſtaͤndigkeit ſich er-

freuten. Dieſe machte ſich nun, namentlich im 16. und 17.

[232/0244]

Achtes Kapitel.

Jahrhundert dadurch geltend, daß man der damaligen gemein-

rechtlichen Theorie gegenuͤber, das einheimiſche Recht in ſeiner

particulaͤren Geltung durch die Geſetzgebung oder die Autono-

mie zu bewahren ſuchte, wodurch denn eine große Anzahl ein-

zelner Landes- und Statutarrechte hervorgerufen wurden. Schon

im Allgemeinen iſt dieſen ſpeciellen Rechtsquellen, welche in

den meiſten deutſchen Staaten in wunderlichen Verſchlingun-

gen neben einander herlaufen, kein zu großer Werth beizule-

gen; es ſind großen Theils ſehr unvollkommene Arbeiten, de-

nen man die geringe Ausbildung, welche zur Zeit ihrer Abfaſ-

ſung die Kunſt der Geſetzgebung erlangt hatte, deutlich an-

ſieht, — oft voll von Willkuͤhrlichkeiten und Mißverſtaͤndniſ-

ſen, ohne eine tiefere Beziehung zu dem noch vorhandenen

Volksrecht. Sind aber auch manche dieſer Geſetzgebungen

von hoͤherem Werth, und haben ſie auch uͤberhaupt als ein

Damm gegen das roͤmiſche Recht einen nicht geringen Nutzen

geleiſtet, ſo iſt doch gegenwaͤrtig, wo das einheimiſche Recht

in ſeiner ſelbſtaͤndigen Haltung anerkannt wird, ihre Beſtim-

mung als erfuͤllt anzuſehen. Ja ſie treten jetzt einem freieren

Rechtsleben hindernd entgegen, weil ſie den modernen Rechts-

verhaͤltniſſen nicht mehr entſprechen, und auch mit der fortge-

ſchrittenen Theorie des gemeinen Rechts nicht mehr uͤberein-

ſtimmen. — Aehnlich wie mit dieſen Geſetzgebungen verhaͤlt

es ſich mit den aͤlteren landesherrlichen Verordnungen, welche

oft, obgleich ſie aͤußerlich noch gelten, mit der heutigen Geſtal-

tung des oͤffentlichen Weſens kaum zu vereinigen ſind; als aber mit

dem Verfall der alten landſtaͤndiſchen Verfaſſung die Geſetzge-

bung ausſchließlich in die Haͤnde des Landesherrn, oder, wie

ſich die Sache meiſtens thatſaͤchlich geſtaltete, der Beamten

kam, da brach eine wahre Suͤndfluth von zum Theil ſehr un-

[233/0245]

Das Volksrecht und die Geſetzgebung.

reifen Geſetzen uͤber Deutſchland ein, welche auch namentlich,

bei der mangelhaften Organiſation der geſetzgebenden Gewalt,

den Nachtheil brachte, daß ſich die Grenze zwiſchen der Rechts-

pflege und der Verwaltung immermehr verwiſchte, und die Re-

gulirung der Verhaͤltniſſe vom Standpunct einer bloß polizeili-

chen Betrachtungsweiſe aus vorzugsweiſe das leitende Princip

der Regierungen ward.

So iſt es gekommen, daß faſt jeder deutſche Staat, auch

der kleinſte, eine Geſetzſammlung aufzuweiſen hat, vor deren

Umfang die wenigen organiſchen Geſetze großer und maͤchtiger

Reiche beſchaͤmt zuruͤckſtehen muͤſſen; daß aber auch dieſe Maſſe

meiſtens als ein todter unorganiſcher Klumpen da liegt, bei

aller Weitlaͤuftigkeit und allem Detail unvollendet und frag-

mentariſch, ohne beſtimmt ausgepraͤgte Principien und innere

Einheit, oft ſelbſt im Einzelnen ohne die ſichere Beglaubigung

der geſetzlichen Sanction. Daher erklaͤrt es ſich, daß das Stu-

dium der Particularrechte ſo ſchwierig und oft ſo wenig loh-

nend iſt; ja wenn man die ſehr tuͤchtigen Arbeiten, welche na-

mentlich in neueſter Zeit auf dieſem Gebiet geliefert ſind, be-

trachtet, ſo beſteht ihr Verdienſt oft mehr darin, daß ſie, wenn

auch vielleicht unbewußt, die Schwaͤche und Unhaltbarkeit der

vorhandenen Zuſtaͤnde nachgewieſen, als in dem, was ſie wirk-

lich zum Verſtaͤndniß des geltenden Rechts beigetragen haben.

Leider beſchraͤnken ſich dieſe Arbeiten auch faſt immer nur auf

das geſchriebene Particularrecht, ſo daß man uͤber das eigent-

liche Volksrecht, wie es noch in der Sitte und den Lebens-

verhaͤltniſſen ſich ausſpricht, ſo gut wie gar keinen Aufſchluß

erhaͤlt. — Wo nun aber das Particularrecht nicht ausreicht,

da kommt das gemeine Recht zur Anwendung. Allein auch

dieſes hat, wie ſchon erwaͤhnt, ſeine großen Schwaͤchen, und

[234/0246]

Achtes Kapitel.

betrachtet man es namentlich in ſeiner Bedeutung als ſubſidiaͤ-

res Recht, ſo ſtellt ſich der ſchlimme Uebelſtand heraus, daß

in Folge der eigenthuͤmlichen Satzungen des particulaͤren und

der davon unabhaͤngigen Fortbildung des gemeinen Rechts

zwiſchen beidem keine innere organiſche Verbindung beſteht.

Iſt daher die Lehre der aͤlteren Theorie, jedes Statut ſey moͤg-

lichſt nach dem roͤmiſchen Recht zu interpretiren und zu ergaͤn-

zen, gegenwaͤrtig auch fuͤr beſeitigt zu halten, ſo ſetzt es doch

oft eine ſchwierige rechtshiſtoriſche Unterſuchung voraus, um

nur zu beſtimmen, ob fuͤr ein Statut deutſches oder roͤmiſches

Recht, und ferner welches Princip des deutſchen Rechts, aus

welcher Periode ſeiner Entwicklung die ergaͤnzende Norm zu

liefern hat. Wie es bei einem ſolchen Stande der Sachen

mit der Rechtsſicherheit und uͤberhaupt mit der Rechtspflege

in Deutſchland beſtellt iſt, laͤßt ſich leicht denken; um dieſen

Uebelſtaͤnden aber gruͤndlich abzuhelfen, bedarf es einer durch-

greifenden Reform, welche nicht bloß die einer zeitgemaͤßen,

nationalen Rechtsbildung entgegenſtehenden Hinderniſſe ent-

fernt, ſondern auch neue, dem Beduͤrfniß entſprechende Schoͤ-

pfungen hervorruft.

Fragt man nun, welches denn die Mittel und Wege ſind,

die dem deutſchen Volke fuͤr ein ſolches Werk zu Gebote ſte-

hen, ſo wird dazu ein vereinzeltes Unternehmen, eine beſchraͤnkte

Anwendung der vorhandenen Kraͤfte nicht ausreichen; es iſt

ein allgemeiner nationaler Aufſchwung, die auf das gemein-

ſame Ziel hin gerichtete Bewegung aller Factoren der Rechts-

bildung noͤthig, um etwas Wuͤrdiges fuͤr die Dauer zu errei-

chen. Dieſe Factoren ſind aber: das Volksleben, die Wiſſen-

ſenſchaft und die Geſetzgebung; in ihrer vereinten Wirkſamkeit

iſt die Kraft vorhanden, welche eine Regeneration unſeres Rechts-

[235/0247]

Das Volksrecht und die Geſetzgebung.

weſens zu Stande bringen kann; vereinzelt wird keine zum

Ziele kommen. Die Geſetzgebung aber iſt vor Allem darauf

angewieſen, durch Wegſchaffung des Unorganiſchen, Unpaſſen-

den und Veralteten dem ganzen Entwicklungsproceß eine freie

Bahn zu bereiten, die Rechtsinſtitute, welche das Volksleben

und die Wiſſenſchaft ausgebildet haben, zu befeſtigen und zu

vollenden, und endlich mit freier, ſchoͤpferiſcher Kunſt Neues

hervorzurufen und zu begruͤnden. Iſt ihr aber dieſe Aufgabe

im Allgemeinen mit Beſtimmtheit zu vindiciren, ſo kann es

doch geſchehen, daß wieder daruͤber verſchiedene Anſichten be-

ſtehen, in welchem Umfange und bis zu welchem Grade ſie

thaͤtig einzugreifen hat, — ein Streit, der in mancher Hinſicht

mehr noch durch die gegebenen Verhaͤltniſſe, als durch eine

allgemein guͤltige Beweisfuͤhrung ſeine Erledigung finden

wird. Wie es ſich nun in dieſer Beziehung mit der Aufgabe

der Geſetzgebung in Deutſchland verhaͤlt, und auf welche Weiſe

man dieſelbe auffaſſen und naͤher beſtimmen kann, das ſoll

hier in der Kuͤrze angedeutet werden.

1. Das kuͤhnſte und großartigſte Unternehmen waͤre nun

ohne Zweifel dieſes, wenn der ganze in Deutſchland vorhan-

dene Rechtsſtoff einer Reviſion unterzogen, und in freier, prin-

cipienmaͤßiger Durchbildung durch einen großen, conſtituiren-

den Act der Geſetzgebung geordnet und feſtgeſtellt wuͤrde. Bei

dieſem Werke, welches man mit dem Ausdruck Codification

zu bezeichnen pflegt, wuͤrde es denn vor Allem darauf ankom-

men, die allgemeinen Rechtsgrundſaͤtze und die einzelnen Rechts-

inſtitute in ihren leitenden Principien klar und beſtimmt hin-

zuſtellen, und nur da, wo es fuͤr die Rechtsſicherheit durchaus

noͤthig waͤre, wie im Proceß und uͤberhaupt wo es ſich um

beſtimmte Formen und Friſten handelt, ein fein ausgearbeite-

[236/0248]

Achtes Kapitel.

tes Detail zu geben. Dem gemeinen Recht, und zwar in ſei-

ner unbedingten Geltung, wuͤrde dadurch die weiteſte Herrſchaft

bereitet werden, indem ſpecielle Rechtsbildungen nur dann,

wenn ein dringendes Beduͤrfniß ſie erheiſchte, anzuerkennen

waͤren, was namentlich in einzelnen Partien des Staatsrechts

und im Recht des laͤndlichen Grundbeſitzes, ſowohl wegen ſei-

ner eigenen Beſchaffenheit als auch hinſichtlich des Staͤndewe-

ſens und der Familie, der Fall ſeyn moͤchte. So wie aber

eine ſolche Codification nur durch eine einheitliche geſetzgebende

Gewalt ins Leben gerufen werden koͤnnte, ſo muͤßte auch al-

lein durch ſie eine Abaͤnderung und Fortbildung des Geſetz-

buchs moͤglich ſeyn; die weitere Ausfuͤhrung ſeines Inhalts

aber koͤnnte, innerhalb der vom Geſetz gezogenen Grenzen, dem

Volksleben, der Jurisprudenz und der Autonomie uͤberlaſſen

werden. Mit dieſen Anforderungen waͤre denn aber zugleich

geſetzt, daß es ſich nicht um eine bloß aͤußerliche Feſtſtellung

des Rechtsſtoffs handle; das Ganze wuͤrde uͤber den Begriff

einer gewoͤhnlichen Codification, welche doch nur in einem ein-

heitlich geordneten Staatsweſen vor ſich gehen kann, hinaus-

greifen, und den Charakter einer politiſchen Reconſtituirung der

Nation an ſich tragen, welche dadurch aus dem Particularis-

mus und der Zerriſſenheit zur organiſchen, auch formell in

der Verfaſſung ausgepraͤgten Einheit ſich erhoͤbe. Es fehlt

freilich nicht an patriotiſch geſinnten Maͤnnern, welche der An-

ſicht ſind, daß eine Codification in Deutſchland durch eine

freie Vereinigung der Regierungen auf dem Wege einer com-

miſſariſchen Verhandlung zu Stande kommen koͤnne, und daß

es dazu einer eigentlichen Verfaſſungsveraͤnderung nicht beduͤrfe.

Aber abgeſehen davon, daß das Staatsrecht dann doch von

dem Plane ausgeſchloſſen bliebe; angenommen ferner, daß auf

[237/0249]

Das Volksrecht und die Geſetzgebung.

dem angedeuteten Wege wirklich das große Ziel erreicht wer-

den koͤnnte: ſo iſt doch ſchon von vorn herein mit Fug zu

bezweifeln, daß es nur zu einer friedlichen Verſtaͤndigung uͤber

das gemeinſame Unternehmen kommen wird. Bedenkt man

alle Vorausſetzungen, welche dazu noͤthig ſind, und alle Con-

ſequenzen, welche daran haͤngen, ſo ſcheinen, damit das Werk

nur uͤberhaupt in Angriff genommen werde, und noch mehr,

damit es die Gewaͤhr der Dauer erlange, große Veraͤnderun-

gen in der politiſchen Geſtaltung Deutſchlands noͤthig zu ſeyn,

deren Moͤglichkeit freilich nicht in Abrede zu ſtellen iſt, auf die

aber nicht mit Wahrſcheinlichkeit gerechnet werden darf, und

welche daher auch nicht als Baſis eines ſofort in der Gegen-

wart zu beginnenden Unternehmens dienen koͤnnen. Dazu

taugt nur das, was den beſtehenden Verhaͤltniſſen entſpricht,

und dieſe zeigen uns bei der in ihrer organiſchen Ausbildung

ſo unvollkommenen Bundesverfaſſung keine concentrirte ein-

heitliche Gewalt in Deutſchland, welche zur Durchfuͤhrung ei-

ner gemeinſamen Geſetzgebung durchaus noͤthig ſeyn wuͤrde,

ſondern eine Reihe neben einander ſtehender, zu Trutz und

Schutz verbundener Souverainitaͤten, bei denen die Bereitwil-

ligkeit, weſentliche Hoheitsrechte zu opfern, kaum anzunehmen

ſeyn moͤchte, auch wenn die ſo verſchieden berechtigten Land-

ſtaͤnde, deren Beirath und Zuſtimmung doch einzuholen waͤre,

kein Hinderniß bereiten ſollten. In fruͤherer Zeit, als das

alte Reich noch nicht ganz gebrochen war, haͤtte ſich die Sache,

wenigſtens was das Aeußere der Verfaſſung betrifft, noch

leichter gemacht; aber damals fehlte es der Form an dem rech-

ten Geiſt und der noͤthigen Kraft, und Herrmann Conring,

der Vater der deutſchen Rechtsgeſchichte, ſchloß ſein beruͤhmtes

Werk ebenſo vergeblich mit einem Antrage auf die Abfaſſung

[238/0250]

Achtes Kapitel.

eines volksthuͤmlichen deutſchen Geſetzbuchs *), als Thibaut ei-

nen aͤhnlichen Vorſchlag vor Eroͤffnung des Wiener Congreſ-

ſes wiederholte. Sollte jetzt der Geiſt ſo ſtark geworden ſeyn,

daß er auch die Form bezwaͤnge? Ich bezweifle es; aber

wollte Gott, daß ich mich irrte.

Die Hinderniſſe, welche einer Codification in Deutſchland

entgegen ſtehen, ſind alſo zunaͤchſt rein politiſcher Natur; ob

es auch noch andere giebt? ob unſere Zeit fuͤr ein ſolches Un-

ternehmen den Beruf hat? ob es auch nur dem deutſchen

Rechte heilſam? das ſind Fragen, deren Loͤſung freilich ſchwer,

ja mit voller Sicherheit erſt dann moͤglich iſt, wenn auch der

Erfolg bei der Beurtheilung zu Rathe gezogen werden kann.

Was namentlich den Beruf unſerer Zeit betrifft, ſo ſcheint es

freilich nicht, als ob die deutſche Nation (denn mit dieſer ha-

ben wir es nur zu thun) in ihrem gegenwaͤrtigen Beſtande

zu großartigen politiſchen Schoͤpfungen beſonders befaͤhigt iſt,

und eine ſolche wuͤrde doch immer eine umfaſſende Codification

ſeyn. Sie ſetzt, wenn ſie nicht bloß das Beſtehende regiſtri-

ren will, eine Energie in der Arbeit und Vollziehung voraus,

wie ſie auch bei hochbegabten Voͤlkern nur ſelten zu finden

iſt; ſelbſt die Entwerfung und Durchfuͤhrung des großen deut-

ſchen Zollvereins, der ſchoͤnſten Hoffnung des Vaterlandes, iſt

damit nicht zu vergleichen, wenn auch das freilich noch nicht

ganz geſicherte Gelingen dieſes großartigen Unternehmens ge-

eignet iſt, Muth und Zuverſicht und Vertrauen auf die Zu-

kunft der Nation zu erwecken. Daß es uns aber an der

Macht der Sprache, an der rechten Bildung und wiſſenſchaft-

*) H. Conring, de origine juris Germanici (Helmstad. 1643)

cap. XXXV.

[239/0251]

Das Volksrecht und die Geſetzgebung.

lichen Begabung fehlen ſollte, um einen großen Act der Ge-

ſetzgebung auf wuͤrdige Weiſe zu vollziehen, das moͤchte ich

nicht behaupten; in dieſer Beziehung ſcheint die Gegenwart

vor Allem dazu berufen. Auch daß die lebendige Kunde des

geſammten poſitiven Rechts, namentlich in ſeinen germaniſti-

ſchen Beſtandtheilen, noch nicht gewonnen iſt, duͤrfte kein we-

ſentliches Hinderniß ſeyn; denn wenn wir uns nur im Beſitz

der richtigen wiſſenſchaftlichen Methode befinden, ſo laͤßt ſich

ein ſolcher Mangel durch das auf ein beſtimmtes Ziel gerich-

tete Studium bald erſetzen, und ſelbſt wenn ein tieferes Ein-

gehen, als eben moͤglich, noch manche Luͤcken ausfuͤllen koͤnnte,

ſo wird die Kunſt des Geſetzgebers, von der rechten politiſchen

Einſicht und einer nationalen Rechtsanſchauung getragen, da-

fuͤr ſchon einen Erſatz zu geben wiſſen. Ueberhaupt entziehen

einzelne Schwaͤchen, welche allem Menſchlichen anhaͤngen, ei-

nem an ſich großen und guten Werke noch nicht ſein Ver-

dienſt. Leiſten wir, was wir vermoͤgen, ſo haben wir unſere

Schuldigkeit gethan, und koͤnnen es getroſtes Muthes den

Nachkommen uͤberlaſſen, unſere Fehler zu verbeſſern; denn auch

nur Weniges vollbringen iſt wuͤrdiger und maͤnnlicher, als

traͤge zu ruhen und den Spaͤteren die ganze Arbeit zu uͤber-

laſſen. — Aber wuͤrde eine ſolche Codification auch nur heil-

ſam ſeyn? Wuͤrde ſie nicht der freien Bewegung der Rechts-

bildung im Volke und in der Wiſſenſchaft ein Hinderniß be-

reiten? Es iſt wohl außer Zweifel, daß ein mißlungenes Ge-

ſetzbuch den groͤßten Schaden anrichten kann; ein ſolches wer-

den wir jedoch nicht machen wollen, und, wenn nur die rech-

ten Kraͤfte, welche in der Nation vorhanden ſind, darauf ver-

wandt werden, auch nicht machen. Es wird aber uͤberhaupt

ſchwer ſeyn, ohne die Rechtsſicherheit, auf deren Erlangung

[240/0252]

Achtes Kapitel.

doch ſo Vieles ankommt, zu gefaͤhrden, dem Geſetzbuch eine

ſolche Elaſticitaͤt zu verleihen, daß ſich fuͤr jedes auftauchende

Beduͤrfniß unmittelbar aus den Verhaͤltniſſen heraus ſofort die

entſprechende Norm geſtalten kann.

Der ſelbſtaͤndigen Entwicklung des Volksrechts wird da-

her leicht ein Abbruch geſchehen, wofuͤr auch die groͤßte Sorg-

falt und Wachſamkeit der geſetzgebenden Gewalt nicht immer

einen Erſatz bieten duͤrfte. Auch die Wiſſenſchaft wuͤrde in

der Behandlung des Gegenſtandes mehr gebunden ſeyn, was

indeſſen, da es ſich nur auf die practiſche Application bezoͤge,

weniger zu bedeuten haͤtte, indem ſie ihren Einfluß auf die

Geſetzgebung mittelbar immer geltend machen koͤnnte. Dage-

gen iſt zu bedenken, daß wenn nur wirklich der geſammte na-

tionale Rechtsſtoff in ſeinen leitenden Principien von dem Ge-

ſetzbuch umſchloſſen wird, ſich nicht leicht eine neue Rechtsbil-

dung zeigen kann, welche nicht an ein beſtehendes Inſtitut in

organiſcher Verſchmelzung anzulehnen waͤre; und vor Allem iſt

darauf der Nachdruck zu legen, aus einer wie großen Verwir-

rung und Belaſtung die Nation durch eine umfaſſende Codifi-

cation erloͤſt werden wuͤrde, und wie dieſelbe, eben weil ſie eine

gemeinſame waͤre, dem ſtets ſich vordraͤngenden Particularis-

mus mit dem entſchiedenſten Erfolge entgegen wirken muͤßte.

2 Iſt nun aber auch auf eine umfaſſende Codification fuͤr

Deutſchland, wenigſtens wie die Sachen jetzt ſtehen, nicht zu

hoffen, ſo ließe ſich doch wohl fuͤr einzelne Rechtstheile und

Inſtitute eine gewiſſe Gemeinſchaft der Geſetzgebung erreichen.

In der That hat ja auch die Bundesverſammlung Einiges

dieſer Art zu Stande gebracht, und in einem beſchraͤnkteren

Kreiſe iſt etwas Aehnliches im Zollverein geſchehen, dem ſich,

auch wenn er nicht uͤber das ganze Bundesgebiet ausgedehnt wer-

[241/0253]

Das Volksrecht und die Geſetzgebung.

den ſollte, doch eine gemeinſame Regulirung des Muͤnzweſens,

der Communicationsmittel u. dgl. anſchließen koͤnnte. Jeder

Schritt, der in dieſer Beziehung zu einer groͤßeren nationa-

len Einheit fuͤhrt, iſt als ein gluͤckliches Ereigniß zu preiſen;

aber zu einer recht organiſchen Durchbildung und Geſtaltung

iſt es in dieſen gemeinſamen Anordnungen, die vorzugsweiſe den

Charakter von adminiſtrativen Maaßregeln an ſich tragen, doch

noch nicht gekommen. Die Thaͤtigkeit namentlich, welche die

Bundesverſammlung in dieſer Richtung entwickelt hat, iſt keine

erfreuliche, dem nationalen Beduͤrfniß entſprechende geweſen;

und wenn man dieß auch als eine zufaͤllige, aus den beſon-

deren Zeitverhaͤltniſſen hervorgegangene Erſcheinung mildernd

erklaͤren wollte, ſo zeigt ſich doch das Uebel tief in der Ver-

faſſung begruͤndet, welche, in ſich unvollendet, einer freien, ſchaf-

fenden Wirkſamkeit faſt unuͤberſteigliche Hinderniſſe entgegen

ſetzt. So wie eine gemeinſame Geſetzgebung, ſey es fuͤr den

ganzen deutſchen Bund oder fuͤr einzelne Staaten, welche ſich

genoſſenſchaftlich naͤher an einander geſchloſſen haben, in feſter

Haltung auftreten und die hoͤheren Intereſſen des Staats-

und Volkslebens ihrer nationalen Entwicklung entgegen fuͤhren

will, ſo werden ſich faſt dieſelben Schwierigkeiten ergeben,

welche vorher als einer allgemeinen Codification entgegen ſtehend

beſonders hervorgehoben worden ſind. Hat doch weder der

Bund noch der Zollverein bis jetzt auch nur den Verſuch ge-

macht, eins der dringendſten Beduͤrfniſſe zu erfuͤllen, und eine

gemeinſame Handelsgeſetzgebung zu begruͤnden, ſo ſehr man

auch ſonſt geneigt iſt, die materiellen Intereſſen zu beguͤnſtigen.

Noch ſchwerer wird es daher halten, fuͤr andere Rechtstheile

dergleichen ins Werk zu richten, wenn es auch fuͤr die Wiſſen-

ſchaft eine wuͤrdige Aufgabe iſt, darzuthun, daß aus der Be-

Beſeler, Volksrecht. 16

[242/0254]

Achtes Kapitel.

ſchaffenheit des Rechtes ſelbſt kein Grund gegen ein ſolches

Unternehmen herzunehmen iſt.

3. Nach dieſem Allen ſteht es alſo feſt, daß nur in den

einzelnen deutſchen Staaten gegenwaͤrtig eine freie Bewegung

der Geſetzgebung moͤglich iſt; und in dieſem engeren Kreiſe iſt

denn auch eine große Thaͤtigkeit derſelben wahrzunehmen. Da-

bei kann nun aber eine doppelte Richtung eingeſchlagen wer-

den. Entweder begnuͤgt man ſich damit, einzelne Rechtstheile

und Inſtitute, fuͤr welche eine legislative Normirung beſonders

dringend erſcheint, particularrechtlich feſt zu ſtellen, oder man

ſtrebt, nach dem Vorgange von Oeſterreich und Preußen, eine

vollſtaͤndige Codification an, indem man darauf ausgeht, das

ganze gemeinrechtliche Material zugleich mit dem Particular-

recht zu verarbeiten, und dadurch fuͤr den einzelnen Staat eine

ſelbſtaͤndige Rechtsbildung zu begruͤnden. Gegen ein ſolches

Unternehmen iſt nun freilich vom nationalen Standpuncte aus

manches gegruͤndete Bedenken zu erheben; denn wohin ſoll es

mit unſerer, im gemeinen Recht vertretenen Rechtseinheit kom-

men, wenn ein Staat nach dem andern ſich davon abloͤſt, und

unbekuͤmmert um die andern, ſein Weſen fuͤr ſich beſtellt! Auf

der andern Seite kann aber nicht in Abrede geſtellt werden,

daß der unſichere und ſchwankende Zuſtand des gemeinen Rechts

in Verbindung mit der mangelhaften Beſchaffenheit der Par-

ticularrechte nicht wohl zu ertragen iſt, und daß es ſich als

die unabweisbare Aufgabe einer gewiſſenhaften Staatsregierung

darſtellt, das gemeine Beſte auch in dieſer Beziehung, ſo weit

es an ihr liegt, durch eine zeitgemaͤße Geſetzgebung zu foͤrdern.

Dabei koͤnnte man freilich, wie es in fruͤherer Zeit zu geſchehen

pflegte, den Weg einſchlagen, daß man das gemeine Recht in

ſeiner allgemeinen Geltung fortbeſtehen ließe, und es nur durch

[243/0255]

Das Volksrecht und die Geſetzgebung.

ſpecielle Satzungen veraͤnderte und beſchraͤnkte. Allein fuͤr ge-

wiſſe Rechtstheile erſcheint dieß Verfahren gegenwaͤrtig doch

bedenklich. Die meiſten deutſchen Staatsgebiete ſind erſt in

neueſter Zeit aus verſchiedenen, urſpruͤnglich einander fremden

Elementen zuſammengewachſen, und es iſt daher, wenn es zu

einer organiſchen Verſchmelzung derſelben kommen ſoll, die

Aufſtellung eines Staatsgrundgeſetzes noͤthig geworden, in

welchem die wichtigſten Puncte der Staatsverfaſſung ihre feſte

Ordnung und Beſtimmung erhalten. Bei einem ſolchen Werke

wird man ſchon, wenn man ſich auch von allgemeinen natio-

nalen Ideen, die einmal in der Gegenwart ihre Verwirklichung

finden wollen, leiten laͤßt, doch eine gewiſſe Selbſtaͤndigkeit

und Vollſtaͤndigkeit anſtreben muͤſſen, da das gemeine Recht

nur ſelten eine ganz ſichere Aushuͤlfe gewaͤhrt, bei den politi-

ſchen Schwankungen der gegenwaͤrtigen Zeit aber der Streit

gerade auf dieſem Gebiet um ſo gefaͤhrlicher werden kann, weil

daſſelbe dem ergaͤnzenden und befeſtigenden Einfluß der Ge-

richtspraxis faſt ganz entzogen iſt. Man ſagt wohl, ſolche

Verfaſſungsverhaͤltniſſe muͤßten ſich, wie in England, allmaͤlig

aus dem Volke entwickeln; aber man bedenkt dabei nicht, daß

es ſich in Deutſchland zunaͤchſt nur um die legislative Feſt-

ſtellung ſchon lange vorbereiteter Zuſtaͤnde handelt, und wie

viel Blut und Noth den Englaͤndern ihre Verfaſſung gekoſtet

hat. Es waͤre doch wohl der Muͤhe werth, den Verſuch zu

machen, ob nicht durch eine weiſe Benutzung der fruͤher ge-

machten Erfahrungen und mit den Huͤlfsmitteln, welche die

fortgeſchrittene Bildung an die Hand giebt, ſo ſchwere Opfer

erſpart werden koͤnnten. So ſehen wir denn auch die Ver-

faſſungsurkunden, welche in Deutſchland bereits rechtsbeſtaͤndig

geworden ſind, in ſelbſtaͤndiger Haltung und ohne ſich als eine

16*

[244/0256]

Achtes Kapitel.

bloße Modification des gemeinen Rechts anzukuͤndigen, da ſte-

hen, und in den Staaten, wo ſie noch fehlen, wird die Sache

wohl denſelben Entwicklungsgang nehmen. — Auch die par-

ticulaͤren Geſetzgebungen uͤber das Criminalrecht pflegen den-

ſelben abſoluten Charakter an ſich zu tragen, was nur zu bil-

ligen iſt, da die nothwendige Reform des gemeinen Rechts ſich

hier nicht mit einigen Specialgeſetzen durchfuͤhren laͤßt. Ebenſo

wird es mit den Proceßordnungen kommen, wenn auch dieſe

ihre definitive Feſtſtellung erlangen; nur wird hier ſchon die

Loͤſung der Aufgabe unendlich ſchwieriger ſeyn, ſo daß die in

den kleineren Staaten vorhandenen Kraͤfte dazu wohl kaum

ausreichen werden. Das iſt aber in einem noch hoͤheren Grade

bei der Abfaſſung eines buͤrgerlichen Geſetzbuchs der Fall; und

es waͤre gut, wenn man ſich, ehe an ein ſolches Werk Hand

angelegt wuͤrde, erſt recht gewiſſenhaft pruͤfte, ob man dazu

auch den Beruf und die Gewaͤhr des Gelingens habe. Auch

iſt hier das Beduͤrfniß doch nicht ſo dringend, wie in den an-

dern Rechtstheilen, und ſchon dadurch Bedeutendes zu errei-

chen, wenn nur das Unbrauchbare und Veraltete entfernt, und

einzelne Partien, z. B. der Formalismus der Rechtsgeſchaͤfte,

das Guͤterrecht der Ehegatten, das Hypothekenweſen, tuͤchtig

und feſt geordnet wuͤrden. Dabei koͤnnte man denn namentlich

auch darauf ſein Beſtreben richten, den noch beſtehenden Inſti-

tuten des Volksrechts zur allgemeinen Anerkennung und zur

freien Bewegung zu verhelfen, wie dieß oben in Beziehung

auf das Recht der Genoſſenſchaften angedeutet worden iſt.

Ueberhaupt aber wird es die Aufgabe der geſetzgebenden Ge-

walt ſeyn, eine ſolche Thaͤtigkeit zu entwickeln, daß ſie die

Rechtsideen, welche ſchon im Volke vorhanden ſind und nach

einer Verkoͤrperung ringen, klar und beſtimmt ins Leben ruft,

[245/0257]

Das Volksrecht und die Geſetzgebung.

oder ſolche Inſtitute ſchafft, welche dem wahren Beduͤrfniß des

Volks- und Staatslebens entſprechen. Weiß ſie hier das Rechte

zu treffen, ſo wird auch die neue Schoͤpfung bald mit dem

Beſtehenden verwachſen, und in das gemeinſame Bewußtſeyn

uͤbergehen.

Es iſt nicht meine Abſicht, es weiter auszufuͤhren, wie

in dem angegebenen Sinne eine Reform unſeres Rechtsweſens

unter den beſtehenden Verhaͤltniſſen anzuſtreben ſey; koͤnnten

doch auch bei einer ſolchen Aufgabe die Kraͤfte des Einzelnen

nur Unvollkommenes leiſten. Nur dem Gerichtsweſen will ich

in dieſer Beziehung noch eine beſondere Betrachtung widmen,

weil kein Rechtstheil inniger mit dem Volksrecht verknuͤpft iſt,

und von der Art, wie jenes kuͤnftig bei uns geordnet wird,

auch die Geltung und Bedeutung des letzteren weſentlich be-

dingt iſt.

[[246]/0258]

Neuntes Kapitel.

Das Volksrecht in ſeinem Verhaͤltniß zu dem

Gerichtsweſen.

Wie uͤberhaupt die verſchiedenen Inſtitutionen, in denen

ſich das Rechtsleben eines Volkes darſtellt, mit einer fort-

dauernden Wechſelwirkung in einander uͤbergreifen, und von

denſelben allgemeinen Ideen beherrſcht, ſich gegenſeitig voraus-

ſetzen und bedingen; ſo verhaͤlt es ſich auch mit dem Gerichts-

weſen in ſeiner Beziehung zu dem geſammten poſitiven Rechte

und zu deſſen einzelnen Theilen. Es kommt hier nicht bloß

die eigentliche Staatsverfaſſung in Betracht, mit welcher die

Verfaſſung der Gerichte in der naͤchſten Verbindung ſteht, ja

zu der ſie, wenigſtens ihren Grundzuͤgen nach, unmittelbar ge-

rechnet werden kann; ſondern der allgemeine Charakter, der in

einem beſtimmten Rechte ausgepraͤgt iſt, wird ſich auch, wenn

nicht ganz beſondere Umſtaͤnde eingewirkt haben, bei der Ge-

richtsverfaſſung und dem gerichtlichen Verfahren finden, und

deren Beſchaffenheit beſtimmen. Dadurch wird nun aber eine

Mannichfaltigkeit der Rechtsbildung moͤglich, welche nicht bloß

in den eigenthuͤmlichen Sitten und Einrichtungen der Voͤlker,

alſo uͤberhaupt in der Nationalitaͤt ihren Grund hat, ſondern

auch von den verſchiedenen Entwicklungsperioden, in denen

ſich das Recht eines Volkes befinden kann, abhaͤngt. Denn

je nachdem die Kunde deſſelben mehr oder weniger allgemein

verbreitet iſt, oder ſich nur im Beſitze eines beſonderen Juri-

ſtenſtandes befindet, werden auch die Organiſation und die

[247/0259]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

ganze Stellung der Behoͤrden, von denen es anzuwenden iſt,

verſchieden ſeyn. Es zeigen ſich in dieſer Beziehung dieſelben

Gegenſaͤtze und dieſelben Uebergaͤnge, welche bereits fruͤher bei

der allgemeinen Eroͤrterung uͤber die Natur und die Bedeu-

tung des Volksrechts betrachtet worden ſind; auch mußte da-

bei auf das Gerichtsweſen ſchon einige Ruͤckſicht genommen

werden. Indeſſen verlangt dieſes noch eine beſondere Unter-

ſuchung, welche naͤher auf die Sache eingehen, und ſich mit

einigen Fragen von der hoͤchſten practiſchen Wichtigkeit, welche

gerade jetzt in Deutſchland an der Tagesordnung ſind, ausfuͤhr-

licher beſchaͤftigen kann. Es iſt dabei aber beſtimmter, als es

haͤufig geſchieht, die Verfaſſung der Gerichte von dem gericht-

lichen Verfahren zu trennen, wenn auch beides wieder in ei-

nem nothwendigen und engen Zuſammenhange ſteht.

I. Die Verfaſſung der Gerichte.

Sieht man einmal von den weniger weſentlichen Bezie-

hungen ab, welche bei der Gerichtsverfaſſung in Betracht kom-

men koͤnnen, ſo wird ſich deren Verſchiedenheit auf drei For-

men zuruͤckfuͤhren laſſen, welche von der Art und Weiſe, wie

die Gerichte beſetzt werden, ihre Beſtimmung erhalten. Ent-

weder naͤmlich iſt die Rechtspflege in den Haͤnden von Rich-

tern, welche, ohne daß von ihnen ein beſonderes Rechtsſtudium

verlangt wuͤrde, aus dem Volke genommen werden; oder die

Gerichte werden nur mit Juriſten beſetzt, welche ſich zu ihrer

Amtsfuͤhrung beſonders vorbereitet haben, und dieſelbe als ih-

ren Hauptberuf anſehen; oder endlich man hat eine Einrich-

tung getroffen, wodurch eine Vermittlung zwiſchen jenen bei-

den Formen herbeigefuͤhrt wird, indem zugleich Volksrichter und

Juriſten an der Rechtspflege Theil nehmen. Darnach hat

[248/0260]

Neuntes Kapitel.

man Volksgerichte, Juriſtengerichte und gemiſchte Gerichte zu

unterſcheiden.

1. Die Volksgerichte. Sie ſetzen einen Rechtszu-

ſtand voraus, in welchem ſich noch die Herrſchaft des Volks-

rechts in ihrem ganzen Umfange findet. Das iſt freilich, wie

ſchon fruͤher bemerkt worden, nicht ſo zu verſtehen, daß uͤber

die ganze Bevoͤlkerung gleichmaͤßig die Rechtskunde ausgegoſ-

ſen ſey; aber das Recht muß doch eine ſolche Beſchaffenheit

haben, daß es ſeinen Grundzuͤgen nach in dem allgemeinen

Bewußtſeyn des Volkes lebt, und auch in ſeinen Einzelnhei-

ten dem klugen und erfahrenen Geſchaͤftsmanne zugaͤnglich und

verſtaͤndlich iſt. Perſoͤnliche Begabung, practiſche Uebung und

beſondere Neigung, der es um eine recht gruͤndliche Kenntniß

des Rechts zu thun iſt, koͤnnen dann wohl dem Einzelnen eine

uͤberwiegende Auctoritaͤt verſchaffen; aber es iſt nur der Grad

und nicht die eigenthuͤmliche Art ſeines Wiſſens, was ihn vor

Andern auszeichnet. Daher iſt in Zeiten, wo das Recht noch

das Gemeingut der Buͤrger iſt, die Handhabung deſſelben in

großen Verſammlungen moͤglich; und wenn aus Gruͤnden der

Zweckmaͤßigkeit fruͤhe ſchon eine geringere Anzahl von Schoͤf-

fen damit betraut wird, ſo bleibt doch im Weſentlichen das

alte Verhaͤltniß beſtehen, indem namentlich die Beſetzung der

offenen Stellen aus der ganzen ſchoͤffenbaren Gemeinde geſche-

hen kann.

2. Die Juriſtengerichte. Dieſe ſetzen ſchon die

Bildung eines beſonderen Juriſtenſtandes voraus, dem die

Rechtspflege ausſchließlich zugefallen iſt. Man braucht dabei

aber natuͤrlich nicht an ploͤtzliche Uebergaͤnge zu denken, ſo wie

es auch gar nicht nothwendig iſt, daß das Volk, ſelbſt wenn

ſchon die Jurisprudenz in groͤßter Feinheit ſich ausgebildet

[249/0261]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

hat, ganz aus den Gerichten weiche. Allein in Deutſchland

haben ſich ſeit dem 16. Jahrhundert die Verhaͤltniſſe that-

ſaͤchlich ſo geſtaltet, daß mit wenigen Ausnahmen faſt nur

die Juriſten als Richter thaͤtig ſind, was denn mit der Re-

ception des roͤmiſchen Rechts und mit der ganzen Entwicklung

unſeres Staats- und Rechtsweſens auf das Engſte zuſam-

men haͤngt.

3. Die gemiſchten Gerichte. Dieſelben Urſachen,

welche bei einem Volke einen beſonderen Juriſtenſtand hervor-

rufen, machen auch eine Umaͤnderung in der Gerichtsverfaſſung

noͤthig. Denn ſo lange die Kunde weniger und leicht faßli-

cher Geſetze, die unbefangene Betrachtung und verſtaͤndige

Wuͤrdigung der Lebensverhaͤltniſſe ausreichen, um mit Sicher-

heit das Recht zu finden, ſo lange kann dieß Geſchaͤft auch

dem Volksgericht uͤberlaſſen bleiben. Wenn aber in Folge der

geſchichtlichen Entwicklung die umfaſſende Rechtskunde nur

von Einzelnen durch ein beſonderes Studium erlangt wird, ſo

iſt es natuͤrlich, daß dieſe auch bei der Rechtspflege einen her-

vorragenden Einfluß gewinnen. Die Volksgerichte gehen dann,

wie wir geſehen haben, in die Juriſtengerichte uͤber, oder ſie

erleiden doch eine weſentliche Modification, indem ihnen ein

beſonderes juriſtiſches Element beigeſellt wird. Dieß kann nun

aber wieder auf verſchiedene Weiſe geſchehen. Der eine Fall

iſt dieſer, wenn man die richterliche Thaͤtigkeit trennt, je nach-

dem ſie auf die Feſtſtellung der Thatſache, um deren Beur-

theilung es ſich handelt, oder auf die Anwendung des Rechts-

ſatzes gerichtet iſt. Das Erkenntniß uͤber das factum uͤber-

laͤßt man den Geſchwornen, welche im ſteten Wandel aus dem

Volke hervorgehen; uͤber das jus aber haben nur die Juriſten

zu entſcheiden. Schon den Roͤmern war dieſe Theilung der

[250/0262]

Neuntes Kapitel.

Richtergewalt, wenn auch nur in einer beſchraͤnkten Anwen-

dung, bekannt; ſie hat ſich aber auch ſelbſtaͤndig bei germani-

ſchen Voͤlkern, namentlich bei den Englaͤndern in der jury

oder dem Schwurgericht geltend gemacht. Zwar laͤßt ſich dieſe

Einrichtung ihrer urſpruͤnglichen Entſtehung nach nicht auf

eine ſolche uͤberlegte Vermittlung zwiſchen Volks- und Juriſtenge-

richte zuruͤck fuͤhren; denn in Rom hatte ſie in der Jurisdic-

tion des Praͤtors ihre beſondere Veranlaſſung, und als ſie

zuerſt unter den germaniſchen Voͤlkern aufkam, gab es bei ih-

nen noch keinen eigenen Juriſtenſtand. Aber es iſt unzwei-

felhaft, daß wenigſtens die engliſche Nation mit dem merk-

wuͤrdigen politiſchen Tacte, der ihr eigen iſt, das alte Inſtitut

zu dieſem Zwecke benutzt hat, und daß man mit deſſen ſpaͤte-

ren Nachbildungen in anderen Staaten daſſelbe hat erreichen

wollen. — Von dieſer Modification der reinen Volksgerichte

iſt eine andere zu unterſcheiden. Es wird im Ganzen die ur-

ſpruͤngliche Gerichtsverfaſſung beibehalten; allein man verfaͤhrt

bei der Beſetzung der Gerichte auf eine ſolche Weiſe, daß darin

ſowohl Volksrichter als auch Juriſten ihren Platz finden, welche

ſich mit ihren Kenntniſſen und ihrer Anſchauungsweiſe gegen-

ſeitig ergaͤnzen, indem ſie in ihrer Vereinigung nicht nur die

ſchlichte und einfach verſtaͤndige Betrachtungsweiſe der Lebens-

verhaͤltniſſe, ſondern auch die umfaſſende Kunde des poſitiven

Rechts und die Conſequenz und Schaͤrfe der juriſtiſchen De-

duction vertreten. Eine Hinweiſung auf dieſe Combination

enthalten ſchon die rechtskundigen Berather, welche in den al-

ten deutſchen Volksrechten vorkommen; ſpaͤter zeigt ſich ein

ſolches Beduͤrfniß in der Sitte der Gerichte, Rechtsbelehrungen

einzuholen, wodurch die Competenz der Oberhoͤfe hervorgerufen

und auch die eigenthuͤmliche Stellung der Juriſtenfacultaͤten

[251/0263]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

als Spruchcollegien begruͤndet ward. Zu einer feſten und durch-

gebildeten Geſtaltung ſchien die Einrichtung ſolcher gemiſchten

Gerichte aber ſeit dem 16. Jahrhundert in Deutſchland gelan-

gen zu wollen, als man nach dem Vorgange des Reichskam-

mergerichts bei den meiſten collegialiſch zuſammengeſetzten Ju-

ſtizhoͤfen einen Theil der Stellen mit gelehrten und einen Theil

mit ungelehrten Richtern beſetzte, und auf dieſe Weiſe nament-

lich dem roͤmiſchen Recht einen gewiſſen Einfluß ſichern wollte,

der aber freilich bald uͤbermaͤchtig ward, und auch das volks-

thuͤmliche Element in der Gerichtsverfaſſung faſt ganz unter-

druͤckte. Wo dagegen das roͤmiſche Recht keine ſo unmittel-

bare und allgemeine Geltung erhielt, und die Volksfreiheit

nicht ganz vor der Beamtenherrſchaft zuruͤcktrat, wie in den

meiſten Kantonen der Schweiz, da hat ſich jene Einrichtung,

welche noch immer als Schoͤffengericht paſſend bezeichnet wird,

in lebendiger Wirkſamkeit erhalten, und ſelbſt in Deutſchland

hat man neuerlich mit einigen Handelsgerichten und mit den

wuͤrtembergiſchen Oberamtsgerichten den Verſuch ihrer Wieder-

einfuͤhrung gemacht.

Wenn man nun dieſe verſchiedenen Formen der Gerichts-

verfaſſung aufmerkſam pruͤft, und es namentlich zur Frage

ſtellt, welche von ihnen wohl diejenige ſeyn moͤchte, der ſich

fuͤr die gegenwaͤrtigen Beduͤrfniſſe Deutſchlands der beſte Er-

folg verſprechen laſſe; ſo wird ſich wohl ſoviel bald herausſtel-

len, daß die reinen Volksgerichte nicht wieder herzuſtellen ſind.

Es bedarf, um zu dieſer Anſicht zu gelangen, gar nicht erſt

einer beſonderen Unterſuchung, ob uͤberhaupt eine ſolche Ein-

richtung noch moͤglich iſt, wenn das Rechtsweſen bereits bis

zu einem gewiſſen Grade der Ausbildung gelangt iſt; denn es

kann wenigſtens immer noch zweifelhaft bleiben, wann denn

[252/0264]

Neuntes Kapitel.

der Zeitpunct gekommen, wo eine Umaͤnderung nothwendig ge-

worden iſt. Allein wir Deutſchen haben einmal im Verlauf

unſerer Geſchichte und namentlich in Folge der Aufnahme des

roͤmiſchen Rechts ein Element in unſere ganze Denk- und Le-

bensweiſe aufgenommen, welches nicht bloß an die aͤußere

Auctoritaͤt der Geſetze gebunden, ſondern mit unſerm ganzen

Rechtsweſen verwachſen iſt, und nur von einer gebildeten Ju-

risprudenz richtig erfaßt werden kann. Die weiteſte und gruͤnd-

lichſte Reform, welche in dieſer Beziehung durchgefuͤhrt wuͤrde,

waͤre nicht im Stande, dieſes rein juriſtiſche Element ganz zu

vertilgen; ſie koͤnnte nur darauf ausgehen, daſſelbe auf be-

ſtimmte einfache und durchgreifende Principien zuruͤck zu fuͤh-

ren, und dieſe namentlich in das rechte Verhaͤltniß zu der im

Volke lebendigen Rechtsanſchauung zu ſetzen. Da es ſich nun

nie mit Sicherheit vorausſehen laͤßt, ob nicht den einfachſten

Rechtsverhaͤltniſſen, fuͤr welche dem Volke ein vollkommen kla-

res Verſtaͤndniß gegeben waͤre, auch etwas Juriſtiſches anhaͤngt,

fuͤr deſſen ſichere Beurtheilung eine beſondere Rechtskunde noͤ-

thig wird, ſo folgt, daß ein reines Volksgericht nur in ganz

beſonderen Faͤllen ausnahmsweiſe die Rechtspflege mit genuͤ-

gender Sicherheit handhaben koͤnnte. Dagegen ließe ſich nun

wohl einwenden, daß eine vollſtaͤndige Reform unſeres Rechts-

weſens nur durch eine umfaſſende Codification zu erreichen ſey,

dieſe aber ſo eingerichtet werden muͤſſe, daß jeder verſtaͤndige

und gebildete Mann aus dem Volke in den Stand geſetzt

werde, das Recht kennen zu lernen und vermoͤge ſeiner geſun-

den Urtheilskraft auch als Richter anzuwenden. Allein wenn

in dieſer Hinſicht ohne Zweifel auch Vieles geleiſtet werden

kann, und wenn das vollſtaͤndige Scheitern ſolcher Plaͤne, wie

ſie wenigſtens urſpruͤnglich der preußiſchen Geſetzgebung zu

[253/0265]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

Grunde lagen, noch keinen ſicheren Beweis gegen die Aus-

fuͤhrbarkeit derſelben liefert, da es dabei nicht bloß auf die po-

pulaͤre Form und ſelbſt auf den Inhalt der Geſetze, ſondern

auch auf die einem friſchen Rechtsleben guͤnſtige Staatsverfaſ-

ſung und uͤberhaupt auf das ganze oͤffentliche Leben einer Na-

tion ankommt; ſo laͤßt ſich doch mit Fug bezweifeln, ob unter

den gegenwaͤrtigen ſocialen Verhaͤltniſſen ein Geſetzbuch die

angegebene Aufgabe ſollte erfuͤllen koͤnnen. Das richtige Ver-

ſtaͤndniß der Rechtsprincipien in ihrem innern Zuſammenhange

und die conſequente Deduction aus denſelben, die Interpretation

des Textes, und waͤre er auch noch ſo klar und durchſichtig

gefaßt, dann die Benutzung der literaͤriſchen Huͤlfsmittel, der

fruͤheren Praͤjudicate u. ſ. w. — dieß Alles erheiſcht immer

eine ſo intenſive und nachhaltige Beſchaͤftigung mit dem Recht,

auch wenn es in einem Geſetzbuch zuſammengefaßt iſt, und

mit deſſen Anwendung, daß die Juriſten, welche daraus ihren

beſonderen Beruf machen, nicht entbehrt werden koͤnnen.

Sind wir nun aber genoͤthigt die reinen Volksgerichte,

wenigſtens als ein allgemeines Inſtitut, fuͤr unſere Zeit zu

verwerfen, ſo iſt damit noch nicht die Rechtfertigung der Ju-

riſtengerichte gegeben; gegen dieſe laſſen ſich vielmehr ſehr ge-

wichtige Gruͤnde vorbringen. Es iſt ſchon eine beachtungswer-

the Thatſache, daß ſich gegen ſie in Deutſchland eine allge-

meine Mißſtimmung verbreitet hat, welche dem aufmerkſamen

Beobachter auch bei der Unvollkommenheit der Organe, welche

bei uns die oͤffentliche Meinung hat, nicht entgehen kann. Da-

bei kommt freilich zur Erwaͤgung, daß der Grund dieſer Un-

zufriedenheit zum großen Theil in der verworrenen und un-

volksthuͤmlichen Beſchaffenheit unſeres Rechtsweſens uͤberhaupt,

und nicht bloß in der Mangelhaftigkeit der Gerichtsverfaſſung

[254/0266]

Neuntes Kapitel.

liegt, ſo wie auch Manches auf dieſe uͤbertragen wird, was

zunaͤchſt das gerichtliche Verfahren angeht. Es iſt wohl un-

zweifelhaft, daß ein tuͤchtiges Geſetzbuch und ein geordneter,

raſcher Proceßgang mit Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit des

Verfahrens Viele mit der beſtehenden Gerichtsverfaſſung aus-

ſoͤhnen wuͤrde. Aber dieſe ſelbſt hat doch ihre großen Gebre-

chen, welche hier einzeln hervorzuheben ſind.

1. Faſſen wir zuvoͤrderſt die politiſche Seite der Sache

naͤher ins Auge, ſo ſtellt ſich namentlich der Nachtheil heraus,

daß das Volk, von jeder Theilnahme an den richterlichen Ge-

ſchaͤften ausgeſchloſſen, ſeinen eigenen Angelegenheiten entfrem-

det wird, und ſich nur zu leicht daran gewoͤhnt, die uͤber ihm

ſtehende Macht als eine feindliche anzuſehen oder doch mit

Mißtrauen zu betrachten; daß es aber jedenfalls, wie ſchon J.

Moͤſer ſo klar dargethan hat, das Gefuͤhl der Ehre und Frei-

heit verliert, welches nur durch eine ſelbſtaͤndige Berechtigung

im oͤffentlichen Leben erhalten und genaͤhrt wird. Es zeigen

ſich hier die Erſcheinungen, welche uͤberhaupt durch die Unter-

druͤckung eines freien Staats- und Gemeindeweſens und durch

die ewige Bevormundung der Unterthanen von Seiten der

herrſchenden Claſſen hervorgerufen werden, — und welche es,

in Verbindung mit unſerer politiſchen Zerriſſenheit dahin ge-

bracht haben, daß die ſonſt ſo edle und ſtolze deutſche Nation

an feſter Haltung und Selbſtvertrauen unendlich verlieren,

und dem Auslande faſt zum Geſpoͤtte werden konnte.

2. Dieſes Uebel wird nun aber noch vergroͤßert, wenn

die Juriſten, mit denen die Gerichte ausſchließlich beſetzt ſind,

als Staatsbeamte in einer gewiſſen Abhaͤngigkeit von der Re-

gierungsgewalt ſtehen, wodurch die erſte Bedingung einer gu-

ten Rechtspflege bedroht wird. Und leugnen laͤßt es ſich nicht,

[255/0267]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

daß die deutſche Gerichtsverfaſſung in dieſer Hinſicht ihre gro-

ßen Schwaͤchen hat. Man hat es freilich nicht an Bemuͤ-

hungen fehlen laſſen, ſichere Garantien fuͤr die Unabhaͤngigkeit

der Richter und fuͤr eine unparteiiſche Juſtiz zu begruͤnden.

Als ſchon die alte volksthuͤmliche Gerichtsverfaſſung gebrochen

und die Herrſchaft des Juriſtenſtandes entſchieden war, zeigte

man ſich doch gerade in der Aufſtellung ſolcher Mittel ſehr

thaͤtig: die Concurrenz der Landſtaͤnde bei der Beſetzung der

hoͤheren Landesgerichte, die Competenz der Reichsgerichte und

das Inſtitut der Actenverſendung ſind darunter beſonders her-

vorzuheben. Noch mehr aber wirkte vielleicht der eigenthuͤm-

liche Sinn des Juriſtenſtandes, der, wie es haͤufig bei bevor-

zugten Claſſen der Fall iſt, mit ſeinen Vorurtheilen und An-

maaßungen doch ein ſehr ehrenhaftes Selbſtgefuͤhl und eine

hohe Meinung von der richterlichen Amtspflicht verband, und

dadurch, namentlich in den hoͤheren Juſtizcollegien, angetrieben

wurde, ſich eine vollkommen unabhaͤngige Haltung zu bewah-

ren. Deſſen ungeachtet aber zeigt ſich, wenn man tiefer in das

Rechtsleben der letzten Jahrhunderte bildet, wie wenig oft die

Wirklichkeit den Anforderungen des poſitiven Rechts entſprach;

wie ſelbſt die Reichsgerichte dem oft gegruͤndeten Verdacht der

Parteilichkeit und einer elenden Venalitaͤt nicht entgehen konn-

ten, und wie ſchwach es uͤberhaupt mit einem Rechtsweſen

beſtellt iſt, welches ohne von dem lebendigen Geiſt der Frei-

heit beſeelt zu ſeyn, ſich nur in einem aͤußerlichen Mechanis-

mus hinſchleppt. — Mehr Beweglichkeit, Kraft und Elaſtici-

taͤt hat nun freilich, ſeitdem das alte Reich zu Grunde gegan-

gen iſt, das Regiment in Deutſchland erhalten; wie Vieles

wird jetzt auf adminiſtrativem Wege raſch abgemacht, was

fruͤher den ſchwerfaͤlligen Juſtizgang durchzumachen hatte. Aber

[256/0268]

Neuntes Kapitel.

ſo nothwendig und heilſam das in mancher Beziehung ſeyn

mag, — fuͤr die Unabhaͤngigkeit der Richtergewalt liegt darin

auch eine gefaͤhrliche Klippe. Denn weil ſowohl die Admini-

ſtration wie die Juſtiz gleichmaͤßig von Beamten und zwar

von Juriſten beſorgt zu werden pflegt, ſo theilt ſich leicht die

mehr polizeiliche Behandlung der Geſchaͤfte und eine gewiſſe

diplomatiſche Betrachtungsweiſe der Rechtspflege mit, ſelbſt

wenn ſie formell in beſonderen Behoͤrden getrennt organiſirt

iſt. Dazu kommt, daß nur noch in wenigen Laͤndern eine

Concurrenz der Landſtaͤnde bei der Beſetzung der Richterſtellen

ſtatt findet; daß die Reichsgerichte ganz und die Competenz

der Juriſtenfacultaͤten als Spruchcollegien ſo gut wie ganz

beſeitigt ſind. Dafuͤr finden ſich freilich wieder andere Ga-

rantien: die Bundesverſammlung nimmt Beſchwerden wegen

Cabinetsjuſtiz an, und die Unabſetzbarkeit der Richter, außer

durch Urtheil und Recht, kann als ein Princip des gemeinen

deutſchen Staatsrechts angeſehen werden. Aber der Begriff

der Cabinetsjuſtiz iſt in der Praxis ein ſehr ſchwankender ge-

worden, und an dem Princip der Unabſetzbarkeit der Richter

iſt ſchon hie und da geruͤttelt. Auch iſt es nicht bloß die of-

fene Gewalt, welche die Unabhaͤngigkeit in Gefahr bringt; es

giebt auch formell untadelige Mittel der Einſchuͤchterung und

Verfuͤhrung, gegen welche nur eine nicht gewoͤhnliche Charak-

terfeſtigkeit ſich gehoͤrig zu ſchuͤtzen weiß. In Civilſachen wird

freilich eine Regierung es nicht leicht der Muͤhe werth halten,

die Unabhaͤngigkeit der Richter auf die Probe zu ſtellen; aber

in Criminalſachen und namentlich in politiſchen Proceſſen liegt

die Verſuchung doch nahe, einen hoͤheren Einfluß geltend zu

machen, der in den Zeiten heftiger Parteikaͤmpfe und großer

Bewegung vielleicht ſelbſt dem ſonſt gewiſſenhaften Staats-

[257/0269]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

mann gerechtfertigt erſcheint. — Dieſen in der Verfaſſung der

Gerichte begruͤndeten Maͤngeln koͤnnen nun freilich der Geiſt,

welcher das Volk wie die Regierung durchdringt, die Form

der Staatsverfaſſung und die Oeffentlichkeit des gerichtlichen Ver-

fahrens heilſam entgegen wirken; aber die Rechtsſicherheit, ich

meine die Unabhaͤngigkeit und Unparteilichkeit der Rechtspflege,

iſt ein ſo unſchaͤtzbares Gut, daß ſie nicht gehoͤrig gewahrt

ſcheint, ſo lange noch ein Mittel uͤbrig iſt, durch welches ſie

noch mehr erhoͤht werden kann.

3. Es bleibt aber nun noch zu erwaͤgen, ob die Juri-

ſten, auch abgeſehen von den bisher eroͤrterten Puncten, am

Meiſten geeignet ſind, die Rechtspflege auf die vollkommenſte

Weiſe zu handhaben. Dieß ſcheint auf den erſten Anblick al-

lerdings der Fall zu ſeyn. Denn es laͤßt ſich bei ihnen doch

die genaueſte Kunde des Rechts erwarten, und die fortwaͤhrende

Beſchaͤftigung mit der juriſtiſchen Praxis ſollte ihnen doch,

ſcheint es, eine Sicherheit und Gewandtheit in der Anwendung

der Rechtsregel auf die einzelnen Faͤlle und Verhaͤltniſſe geben,

womit die Geſchaͤftserfahrung und der ſchlichte, aber weniger

geuͤbte Verſtand der Layen ſchwerlich ſich vergleichen duͤrften.

Betrachten wir aber dieſe beiden Beziehungen etwas naͤher.

a. Inſofern die Rechtskunde nur durch eine wiſſenſchaft-

liche Thaͤtigkeit erlangt werden kann, wird ſie ſich vorzugs-

weiſe in dem Beſitz derjenigen befinden, welche darauf ein

gruͤndliches und umfaſſendes Studium verwenden, und das

ſind eben die Juriſten. Wenn es daher auf die Interpreta-

tion geſchriebener Geſetze ankommt, oder wenn das Recht auf

dem Wege der hiſtoriſchen Forſchung und einer doctrinellen

Methode erſt gefunden werden muß, ſo laͤßt ſich nicht abſe-

hen, wie man der Juriſten dabei entbehren will. Allein es

Beſeler, Volksrecht. 17

[258/0270]

Neuntes Kapitel.

giebt auch ein wichtiges Element im poſitiven Rechte, welches

unmittelbar von den Lebensverhaͤltniſſen ſelbſt getragen wird,

und welches wir in ſeiner ſelbſtaͤndigen Haltung als Volks-

recht bezeichnet haben. Von dieſem hat der Juriſt, der ver-

moͤge ſeines beſonderen Berufs dem Volksleben ferner ſteht,

meiſtens nur eine abgeleitete Kunde, indem es ihm an der

Fuͤlle der unmittelbaren Anſchauung fehlt, deren ſich derjenige

erfreut, welcher ſelbſt an den Geſchaͤften und Rechtsverhaͤltniſ-

ſen, um die es ſich handelt, betheiligt iſt. Die Juriſtengerichte

ſind daher auch genoͤthigt geweſen, in Faͤllen, wo das Volks-

recht ſeine Anwendung finden ſoll, ſich nach einer Aushuͤlfe

umzuſehen, worauf die Lehre vom Beweis des Gewohnheitsrechts

in der deutſchen Praxis beruht. Iſt nun auch die abgeſchmackte

Theorie der aͤlteren Schule, welche hier die Regeln des Civil-

rechts uͤber die Beweisfuͤhrung der Parteien anwandte, in

neuerer Zeit namentlich durch Puchta, wenn auch noch nicht

aus der Praxis verdraͤngt, ſo doch wiſſenſchaftlich vernichtet

worden; und muß auch zugegeben werden, daß die von die-

ſem Gelehrten vertretene Anſicht um Vieles beſſer und geſuͤn-

der iſt: ſo iſt doch dadurch dem in der Gerichtsverfaſſung be-

gruͤndeten Uebel noch nicht abgeholfen. Denn wenn der Juriſt

als Richter auch berechtigt und verpflichtet ſeyn ſoll, auf jede

Weiſe nach dem Daſeyn des Volksrechts zu forſchen, und er

dabei den Beweis der Parteien nur als ein Huͤlfsmittel anzu-

ſehen hat: ſo bleibt doch die doppelte Schwierigkeit, einmal,

daß er nicht immer mit Sicherheit wiſſen kann, wann wirk-

lich Grund vorhanden iſt, nach dem Volksrecht ſich zu erkun-

digen, und dann iſt keine Gewaͤhr gegeben, daß er es wirk-

lich findet und richtig auffaßt; denn er wird ſich regelmaͤßig

darauf beſchraͤnken muͤſſen, uͤber die Geltung einzelner Rechts-

[259/0271]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

ſaͤtze ſich zu unterrichten, waͤhrend doch nur die umfaſſende

Kunde und die klare Anſchauung aller in Betracht kommen-

den Verhaͤltniſſe zur Einſicht uͤber das, was Recht iſt, fuͤhren

koͤnnen. Man denke ſich nur einen Richter, welcher uͤber ei-

nen verwickelten, nur mit vollſtaͤndiger Geſchaͤftskunde richtig

zu entſcheidenden Fall aus dem Handelsrecht urtheilen ſoll,

uͤber den ſeine Buͤcher nichts oder nicht das Richtige enthal-

ten, und der nun genoͤthigt iſt, die Rechtsregel zu formuliren,

uͤber welche er ſeine Erkundigung einzuziehen hat; — wie

ſchwankend und unſicher wird da nicht leicht ſeine ganze Stel-

lung! Darauf wird man nun freilich erwidern, daß man ja

die Nothwendigkeit beſonderer Handelsgerichte gerne einraͤume,

obgleich manche Juriſten auch zu dieſem Zugeſtaͤndniß ſich un-

gerne entſchließen werden. Allein man taͤuſcht ſich ſehr, wenn

man glaubt, daß bloß in Handelsſachen das Volksrecht eine

ſolche Bedeutung hat. Das Recht der Genoſſenſchaften und

Gemeinden, die noch geltenden Inſtitute des Staͤnderechts, die

agrariſchen Verhaͤltniſſe und viele andere Faͤlle, welche der ge-

meinrechtlichen Darſtellung kaum erreichbar ſind, aber in den

engeren Kreiſen des Rechtslebens ſich zur juriſtiſchen Beur-

theilung darbieten, — ſie alle verlangen eine andere Rechts-

kunde, als ſie in den Juriſtengerichten zu finden iſt, und wenn

man billig ſeyn will, bei ihnen erwartet werden darf. Ja es

wird uͤberhaupt nur wenige Rechtsfaͤlle geben, wo nicht we-

nigſtens eine Seite, ein Punct ſich zeigt, fuͤr welche eine ſolche

Beurtheilung unmittelbar aus den Lebensverhaͤltniſſen heraus

nothwendig wird. Wie viel haben in dieſer Beziehung die

Roͤmer dem officium judicis, d. h. des Volksrichters im Ge-

genſatze zum Praͤtor uͤberlaſſen!

Das bezieht ſich freilich zunaͤchſt nur auf die Civilge-

17*

[260/0272]

Neuntes Kapitel.

richte; denn das Criminalrecht iſt ſeiner Natur nach viel ein-

facher und beſtimmter; hier ſtrebt Alles nach feſten, poſitiven

Geſetzen, und wo ſie fehlen, da iſt eine legislative Abhuͤlfe

dringend nothwendig, mag nun das Volksrecht oder das Ju-

riſtenrecht die beſtehende Luͤcke bisher ausgefuͤllt haben. Die

ausſchließliche Beſetzung der Criminalgerichte mit Juriſten iſt

daher auch weniger deswegen anzufechten, weil man bei ihnen

nicht die genuͤgende Kunde des Rechts vorausſetzen kann, als

deswegen, weil ihnen die Anwendung deſſelben nicht unbedingt

uͤberlaſſen werden darf. So viel aber iſt doch mit Grund

zu behaupten: wenn wirklich uͤber die Verbrechen und deren

Beſtrafung eine Unſicherheit in den Geſetzen beſtehen ſollte,

und die Willkuͤhr nur durch das billige Ermeſſen der Gerichte

eine Grenze erhielte; ſo wuͤrde es im Allgemeinen beſſer ſeyn,

daß auch die Volksanſicht dabei eine unmittelbare Vertretung

faͤnde, und daß die Ausuͤbung einer ſo gefaͤhrlichen Machtvoll-

kommenheit nicht ausſchließlich den Juriſten uͤberlaſſen bliebe.

b. Wenn ſchon angenommen werden mußte, daß die Ju-

riſtengerichte fuͤr die practiſche Rechtskunde nicht ausreichen, ſo

gilt dieß noch viel mehr fuͤr die Anwendung des Rechts, welche

ja die eigentliche Aufgabe der richterlichen Amtsthaͤtigkeit iſt.

Gewoͤhnlich denkt man hierbei an eine bloß logiſche Schluß-

folgerung, indem die Unterordnung der Thatſache unter die

Rechtsregel das Urtheil hervorrufen ſoll, und es alſo nur dar-

auf anzukommen ſcheint, die Praͤmiſſen gehoͤrig feſtgeſtellt zu

haben, um mit Sicherheit die Concluſion zu ziehen. Aber

wenn damit auch die Operation im Ganzen richtig bezeichnet

iſt, ſo kommen bei deren Vollziehung doch noch ganz beſon-

dere Schwierigkeiten vor, welche namentlich daraus hervorge-

hen, daß ſich jus und factum nicht immer auf einem ge-

[261/0273]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

trennten Gebiete neben einander befinden, ſondern das Erſtere

oft unmittelbar in dem Letzteren enthalten iſt, und von dem-

ſelben beſtimmt und bedingt wird. Es kommt dann fuͤr den

Richter darauf an, die in den Thatſachen ruhende Rechtsregel

in der Weiſe zu erfaſſen, daß ſie ihrer allgemeinen Natur

nach und mit den beſonderen Modificationen des einzelnen Falls

richtig erkannt wird. Dieſe Beruͤckſichtigung der thatſaͤchlichen

Verhaͤltniſſe, auf welcher die Herrſchaft der bona fides be-

ruht, iſt namentlich in Civilſachen unerlaͤßlich, wenn nicht ſtatt

einer lebendigen, das Weſen der Dinge durchdringenden Ge-

rechtigkeit ein ſtarres Formenweſen oder gar die bloß das Aeu-

ßerliche erfaſſende Urtheilsfabrication einer oberflaͤchlichen Rou-

tine zur Geltung gelangen ſoll; ſie ſetzt aber auch den practi-

ſchen Blick und die Umſicht und Erfahrung des verſtaͤndigen

Geſchaͤftsmanns voraus, — Eigenſchaften, welche ſich der Ju-

riſt wohl im Allgemeinen fuͤr ſein Fach, aber unmoͤglich fuͤr

alle zu ſeiner Cognition kommenden Rechtsverhaͤltniſſe verſchaf-

fen kann, zumal in der modernen Welt, fuͤr die ſich, im Ge-

genſatz zu der antiken, mit der Fuͤlle und verworrenen Man-

nichfaltigkeit der Lebensverhaͤltniſſe auch die Schwierigkeit, ſie

nach allen Seiten hin richtig und ſicher aufzufaſſen, unendlich

geſteigert hat. Aus dieſem Grunde erſcheint die ausſchließliche

Beſetzung der Civilgerichte mit Juriſten ſehr bedenklich; aber

auch fuͤr die Criminalgerichte verhaͤlt es ſich nicht anders. Im

Allgemeinen tritt freilich in peinlichen Sachen die Rechtsregel

den Thatſachen, auf welche ſie angewandt werden ſoll, be-

ſtimmter gegenuͤber, als es in Civilſachen der Fall zu ſeyn

pflegt; denn in dem Verbrechen ſelbſt kann nicht die Norm

ſeiner Beurtheilung liegen, ſondern dieſe ſteht ſchon an und

fuͤr ſich feſt, und wird demſelben als Strafe feindlich gegen-

[262/0274]

Neuntes Kapitel.

uͤber geſtellt. Die Schwierigkeit iſt hier vielmehr in der juri-

ſtiſchen Feſtſtellung des Thatſaͤchlichen zu ſuchen, naͤmlich in

der vom Gericht abzugebenden Entſcheidung: ob eine Perſon

eine beſtimmte verbrecheriſche Handlung begangen hat, und

welche Art und welchen Grad des Verſchuldens ſie in ſich

ſchließt. Eine ſolche Entſcheidung wird aber namentlich dann

im hoͤchſten Grade ſchwierig, wenn ohne directe Beweismittel

bloß aus Anzeigen erkannt werden ſoll, und gerade mit Ruͤck-

ſicht auf ſolche Faͤlle wird auch die ausſchließliche Beſetzung

der Criminalgerichte mit Juriſten am Lebhafteſten angefoch-

ten. Auch ſcheint es ganz richtig zu ſeyn, wenn dagegen her-

vorgehoben wird, daß die geiſtige Thaͤtigkeit, welche der Rich-

ter dabei entwickeln muß, keine eigenthuͤmlich juriſtiſche iſt;

und es laͤßt ſich nicht leugnen, daß verſtaͤndige und gebildete

Layen in der Regel aus der Totalitaͤt der Anſchauung, welche

auf einer genauen Kunde aller in Betracht kommenden that-

ſaͤchlichen Verhaͤltniſſe und Perſoͤnlichkeiten beruht, einen eben-

ſo ſicheren Schluß auf Schuld und Unſchuld werden ziehen

koͤnnen, als die Juriſten, denen in einem ſolchen Fall keine

beſondere Erkenntnißquellen zu Gebote ſtehen. Daraus folgt

denn allerdings, daß die geſetzlichen Vorſchriften uͤber den An-

zeigebeweis nichts Anderes enthalten koͤnnen, als eine Art An-

leitung zum richtigen Urtheilen, und etwa eine Schranke ge-

gen reine Willkuͤhrlichkeiten und Unbeſonnenheiten; daß man

aber das Unmoͤgliche anſtrebt, wenn man dadurch eine juriſti-

ſche Garantie fuͤr die Richtigkeit des Urtheils gewinnen will.

Eine Nothwendigkeit der Juriſtengerichte fuͤr Criminalſachen

liegt daher nicht vor; es fragt ſich nur, ob es beſtimmte

Gruͤnde giebt, welche fuͤr ihre Beibehaltung oder Abſchaffung

ſprechen. Dieſe Frage iſt hier aber ohne Ruͤckſicht auf die

[263/0275]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

fruͤher hervorgehobenen Puncte zu eroͤrtern; denn was uͤberhaupt

gegen die ausſchließliche Competenz der Juriſtengerichte ſpricht,

das wird es auch namentlich bedenklich erſcheinen laſſen, die

Criminalurtheile ganz in ihre Haͤnde zu legen. Faſſen wir

alſo die Sache moͤglichſt beſtimmt, und ſtellen es zur Erwaͤ-

gung: wer bei der Wuͤrdigung eines Anzeigebeweiſes mehr ge-

eignet iſt das Wahre zu finden, ob der Juriſt oder der Laye.

Fuͤr jenen laͤßt ſich anfuͤhren, daß im Allgemeinen doch Uebung

und Studium einen Vorzug in den Geſchaͤften geben, und daß

alſo beſondere Gruͤnde vorliegen muͤßten, wenn es nicht auch

hier der Fall ſeyn ſollte. Die Aufgabe des Richters bei der

Beurtheilung eines Indicienbeweiſes hat man ſich doch ſo zu

denken, daß er auf den Grund der ihm dargelegten Thatſachen

und der ihm bekannt gewordenen Perſoͤnlichkeit des Angeſchul-

digten deſſen Verhalten ſich pſychologiſch conſtruiren, und ſich

daraus uͤber Schuld oder Unſchuld eine beſtimmte Ueberzeu-

gung bilden muß. Der tuͤchtige Criminaliſt wird aber eine

ſolche Verſtandesoperation mit mehr Sicherheit und Klarheit

vornehmen koͤnnen, als der ungeuͤbte Laye es wenigſtens re-

gelmaͤßig zu thun im Stande iſt; und wenn man auch dar-

auf ein beſonderes Gewicht legen will, daß der unbefangene

Sinn in Folge der lebendigen Anſchauung und des ſchlichten

Rechtsgefuͤhls ſehr oft das Rechte trifft, ohne eine ſyſtematiſche

Reflexion uͤber die einzelnen Momente, auf welche es ankommt,

und uͤber deren inneren Zuſammenhang anzuſtellen; ſo laͤßt

ſich doch nicht abſehen, wie die Gruͤndlichkeit dieſer Reflexion,

die, weil ſie eben das Nachdenken vor dem Schluß iſt, nie

ganz fehlen kann, der Wahrheit nicht nuͤtzen ſollte. Diejeni-

gen, welche dem Juriſten dieſen Vorzug nicht einraͤumen wol-

len, ja ihm die gewoͤhnliche Faͤhigkeit zur Beurtheilung eines

[264/0276]

Neuntes Kapitel.

Indicienbeweiſes abſprechen, denken auch gewoͤhnlich nur an

ſeine Stellung als Richter der That, nicht aber an die wichti-

gen Functionen des Anwaldes, welcher doch nur dann erfolg-

reich wirken kann, wenn er alle in Betracht kommenden Mo-

mente nicht nur im Einzelnen richtig zu erfaſſen, ſondern auch

mit der groͤßten Klarheit in ein beſtimmtes Reſultat zuſam-

men zu fuͤhren weiß. Man wende dagegen nicht ein, daß der

Advocat nothwendig einſeitig ſey; denn wenn er auch nur die

eine Seite zu vertreten hat, ſo wuͤrde er damit doch wenig

ausrichten, wenn er nicht Alles, was ihr gegenuͤber ſteht, eben-

ſo klar und beſtimmt vor Augen haͤtte. — Scheint nun aus

dieſer Erwaͤgung ein Uebergewicht des Juriſten uͤber den Layen

hervorzugehen, ſo iſt doch auch nicht zu verkennen, daß die ei-

genthuͤmliche Beſchaͤftigung des Erſteren ihn leicht dahin fuͤhrt,

zu viel Gewicht auf das Einzelne und Spitzige zu legen, und

daß er in Gefahr iſt, den einfachen und großen Ueberblick uͤber

die Verhaͤltniſſe zu verlieren. Man hat die Bemerkung ge-

macht, daß große Juriſten ſelten auch große Staatsmaͤnner

ſind, und der Grund, welcher ſich in dieſer Erſcheinung aus-

ſpricht, mag es auch rechtfertigen, wenn man ihnen die Cri-

minalurtheile nicht ausſchließlich uͤberlaſſen will; daß es viel-

mehr paſſend erſcheint, ihrer Schaͤrfe und Conſequenz die ein-

fache und natuͤrliche Betrachtungsweiſe nicht juriſtiſch gebilde-

ter Maͤnner beizugeſellen, damit beides ſich gegenſeitig trage

und ergaͤnze.

Faſſen wir nun das bisher Geſagte zuſammen, ſo ſtellt

ſich als deſſen Ergebniß heraus, daß, obgleich die reinen Volks-

gerichte nicht mehr an der Zeit, doch auch die reinen Juriſten-

gerichte nicht zu vertheidigen ſind, weil darunter der politiſche

Geiſt des Volkes leidet, die Unabhaͤngigkeit der Richter in ih-

[265/0277]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

nen nicht gehoͤrig gewahrt iſt, und die Rechtspflege ſelbſt nur

unvollkommen geuͤbt werden kann. Das weiſt denn auf die

dritte Art der Gerichte hin, naͤmlich auf die gemiſchten,

mit denen wir es nun noch beſonders zu thun haben. Die

beiden verſchiedenen Formen, in denen ſie vorkommen, naͤmlich

als Schwurgerichte und Schoͤffengerichte, ſind bereits oben

kurz charakteriſirt worden; hier iſt nun aber naͤher auf ihr

Weſen und ihre Bedeutung einzugehen.

In England, wo bekanntlich das Schwurgericht ſeine

moderne Ausbildung erhalten hat, kommt es fuͤr Civilſachen

ſo gut wie fuͤr Criminalſachen vor, und zwar, wenn auch mit

manchen Abweichungen, im Allgemeinen doch zu demſelben

Zweck, indem naͤmlich den Juriſten eine gewiſſe Anzahl von

Maͤnnern aus dem Volke beigeordnet wird, um uͤber das Fac-

tiſche des Proceſſes, uͤber den beigebrachten Beweis ein Ur-

theil abzugeben. Es iſt eine gruͤndlichere Einſicht in das We-

ſen des engliſchen Civilproceſſes noͤthig, als ich mir habe ver-

ſchaffen koͤnnen, und vor Allem wohl die unmittelbare Beob-

achtung der Gerichtspraxis ſelber, um daruͤber zu entſcheiden,

ob und in wiefern die Wirkſamkeit der Geſchwornen in dieſer

Anwendung von großer Bedeutung und von durchaus guͤnſti-

gem Erfolge iſt. Ohne Zweifel wird dadurch die Abwaͤgung

der Beweismittel mehr unter den Einfluß einer freien und le-

bendigen Rechtsanſchauung gebracht, ſo daß neben der law

of evidence die unbefangene Erwaͤgung der Totalitaͤt des

ganzen Rechtsfalls, welche durch das Verfahren in den engli-

ſchen Gerichten ſo ſehr beguͤnſtigt wird, moͤglich, und ein Mit-

tel gegeben iſt, welches den Mangel eines ſtrengen Formalis-

mus, der ſtets auf den juriſtiſchen Beweis der Rechtsgeſchaͤfte

bedacht iſt, einigermaaßen erſetzt. Die Franzoſen haben die

[266/0278]

Neuntes Kapitel.

Geſchwornen in Civilſachen nicht aufgenommen, und dafuͤr im

Notariat ein Inſtitut aufgeſtellt, welches fuͤr die formelle Rechts-

ſicherheit außerordentlich viel leiſtet, freilich aber auch große

Opfer verlangt, welche ſcheint es vermieden werden koͤnnten,

wenn die aͤußere Form weniger ausſchließlich in der Schrift

und namentlich in den Acten der Notare concentrirt waͤre.

Der deutſche Proceß, wenigſtens der gemeinrechtliche, iſt in die-

ſer Beziehung ganz verwildert, ſeitdem die Juriſten den Grund-

ſatz von der Klagbarkeit der formloſen Vertraͤge aufgebracht

haben, und fuͤr die daraus erwachſene Verlegenheit kein ande-

res Gegenmittel, als den Schiedseid aufzuſtellen wußten. Daß

hier eine Aushuͤlfe Noth thut, iſt außer Zweifel; es fragt ſich

nur, ob man ſich dem Princip des engliſchen oder dem des

franzoͤſiſchen anſchließen, d. h. ob man dem Richter eine freiere

Stellung bei der Beurtheilung des Factiſchen einraͤumen, oder

wieder zu einem ſtrengeren Formalismus zuruͤckkehren ſoll.

Ich glaube nun, daß in unſerem Rechtsleben noch die An-

haltspuncte fuͤr das Letztere vorhanden ſind, ohne daß man

genoͤthigt waͤre, ſich zu der Einſeitigkeit der franzoͤſiſchen Ge-

ſetzgebung, von welcher auch die preußiſche, wenn gleich in

anderer Art, nicht frei iſt, hinzuwenden *); aber auch wenn der

andere Weg einzuſchlagen, oder wenn von beiden Seiten auf

eine Reform hinzuarbeiten waͤre, ſo wuͤrde doch noch zu unter-

ſuchen ſeyn, ob man dazu gerade der Geſchwornen beduͤrfte,

und ob nicht paſſender eine andere Einrichtung zu treffen ſey.

Das fuͤhrt denn zu der Erwaͤgung, welche Bedeutung die an-

dere Art der gemiſchten Gerichte, naͤmlich die Schoͤffengerichte

fuͤr die Civilſachen haben koͤnnen.

*) Ich habe uͤber dieſen Gegenſtand weitlaͤuftiger gehandelt in der

Lehre von den Erbvertraͤgen II. 1. §. 2.

[267/0279]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

Wenn nun fruͤher hervorgehoben iſt, daß die Juriſtenge-

richte deswegen nicht ausreichen, weil die unmittelbare Kunde

des Volksrechts und die gehoͤrige Beruͤckſichtigung aller dem

Rechtsleben entnommenen Momente von ihnen nicht erwartet

werden kann, ſo ſcheint es doch, daß auch die Geſchwornen,

welche nur uͤber das Factiſche ohne unmittelbare Beziehung

auf das Recht erkennen ſollen, fuͤr dieſen Mangel keine Aus-

huͤlfe gewaͤhren. Ließe ſich aber eine ſolche Einrichtung tref-

fen, daß neben den Juriſten auch Maͤnner aus dem Volke an

der Rechtspflege in ihrem ganzen Umfange und ohne jene

Trennung der Functionen Theil naͤhmen, ſo wuͤrde eines Theils

jenes populaͤre Element des Rechts im Gegenſatz zu der ei-

gentlichen Jurisprudenz vertreten ſeyn, und andern Theils

koͤnnte dann auch dem Gerichte eher eine freiere Beurtheilung

des Factiſchen uͤberlaſſen werden, da hier, wenn auch in an-

derer Weiſe als bei dem Schwurgericht, durch die nicht juri-

ſtiſch gebildeten Schoͤffen die Volksanſicht ſich geltend machen

wuͤrde. Die Schwierigkeit, welche der Durchfuͤhrung einer

ſolchen, gewiß heilſamen Reform entgegenſteht, moͤchte haupt-

ſaͤchlich in der Beſchaffenheit unſeres ganzen Rechtsweſens zu

ſuchen ſeyn, welches durch und durch verworren und gelehrt,

einer volksthuͤmlichen Betrachtungsweiſe kaum zugaͤnglich er-

ſcheint. Daher erklaͤrt es ſich auch, daß in den Gerichten,

bei welchen in Folge fruͤherer Einrichtungen noch jetzt eine

ſolche Combination der Beiſitzer beſteht, die aus dem Volke

faſt ohne allen Einfluß auf die Urtheilsfaſſung ſind, und daß

auch da, wo man etwas Aehnliches wieder einzufuͤhren geſucht

hat, wie in den wuͤrtembergiſchen Oberamtsgerichten, ſich kein

rechter Erfolg heraus ſtellen will. Indeſſen darf man doch

auf ſolche einzelne Erſcheinungen kein zu großes Gewicht le-

[268/0280]

Neuntes Kapitel.

gen; der in Wuͤrtemberg gemachte Verſuch namentlich iſt

doch noch ſehr unvollkommen und mangelhaft geblieben *),

waͤhrend andere Einrichtungen aͤhnlicher Art beſonders bei den

Handelsgerichten zu uͤberraſchenden Reſultaten gefuͤhrt haben.

Daß aber in fruͤheren Zeiten das den Gerichten beigegebene

volksthuͤmliche Element dem juriſtiſchen gegenuͤber keine ſelb-

ſtaͤndige Haltung bewahren konnte, wird nicht auffallen, wenn

man bedenkt, wie die practiſche Jurisprudenz faſt ganz auf

das roͤmiſche Recht gebaut war, und auch in ihren deutſch-

rechtlichen Beſtandtheilen faſt ohne alle lebendige Beziehung

zu dem Volksleben ſtand. Dazu kam nun, daß die Juriſten-

und Beamtenherrſchaft nach allen Seiten hin feſt begruͤndet wurde,

und daß es dem Volke in ſeinem eingeengten und gebroche-

nen Gemeindeweſen an dem gehoͤrigen Muth und Selbſtver-

trauen fehlte, um jenen Maͤchten gegenuͤber ſeine Anſichten

und Beduͤrfniſſe geltend zu machen. In neuerer Zeit hat ſich

aber in der Wiſſenſchaft wie im Leben Vieles guͤnſtiger geſtal-

tet, und es laͤßt ſich mit Sicherheit annehmen, daß wenn es

auch in Deutſchland zu keiner umfaſſenden Codification kom-

men ſollte, das Rechtsweſen doch einen mehr volksthuͤmlichen

und natuͤrlichen Charakter erhalten wird. Geht nun die Ein-

fuͤhrung jener Schoͤffenverfaſſung Hand in Hand mit der Er-

weiterung der buͤrgerlichen Freiheit, und lehnt ſie ſich nament-

lich an ein wohl organiſirtes, wuͤrdig geſtelltes Gemeindeweſen

an, ſo iſt mit Grund zu hoffen, daß das ganze Inſtitut, auf

eine zeitgemaͤße Weiſe geordnet, ſeine Beſtimmung erfuͤllen

wird, zumal wenn es nicht auf einzelne Staaten vielleicht ge-

*) Vgl. Zeller, das Inſtitut der wuͤrtembergiſchen Oberamtsgerichts-

beiſitzer. Stuttgart, 1841.

[269/0281]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

ringen Umfangs beſchraͤnkt bleibt, ſondern zu einer allgemeine-

ren Geltung gelangt, und dadurch in den Kreis der gemein-

ſamen, nationalen Rechtsbildung hineingezogen wird. Dann

wird auch der zum Schoͤffen erkorene Buͤrger dem Juriſten

gegenuͤber mehr Selbſtvertrauen und Haltung gewinnen, und

waͤhrend er deſſen Auctoritaͤt in Fragen, welche zu ihrer rich-

tigen Beurtheilung eine tiefere Rechtskenntniß vorausſetzen,

gerne anerkennt, wird er doch auch uͤber die ihm gelaͤufigen

Rechtsverhaͤltniſſe ſeine eigene Meinung geltend zu machen

wiſſen. Eine ſolche gemiſchte Beſetzung der Gerichte muͤßte

dann aber, etwa mit Ausnahme eines Caſſationshofes, durch

alle Inſtanzen gehen; denn wenn ſie nur in der unterſten ſtatt

finden ſollte, ſo wuͤrde es leicht geſchehen, daß die verſchiedene

Zuſammenſetzung der Gerichte auch auf die Entſcheidungen

einen nachhaltigen Einfluß ausuͤbte, und die Wirkſamkeit der

ganzen Einrichtung bedrohte, — ein Uebelſtand, der ſich prac-

tiſch ſchon recht ſehr bemerklich gemacht hat, wo die Appella-

tion von Handelsgerichten an Juriſtengerichte geht. In die-

ſer Beziehung kann ich daher auch nicht mit Reyſcher uͤber-

einſtimmen, der in einem intereſſanten Aufſatze die Schoͤffen-

verfaſſung aͤhnlich, wie hier geſchehen, vertheidigt hat, ſie aber

auf die erſte Inſtanz beſchraͤnken zu wollen ſcheint *)

Es iſt nun aber weiter zu unterſuchen, ob die Schoͤffen-

gerichte nicht auch fuͤr die Criminalſachen einzufuͤhren ſind,

und zwar zu dem Zweck, die oben geruͤgten Maͤngel der Ju-

riſtengerichte dadurch zu beſeitigen, ohne daß man zu dem In-

ſtitut der Schwurgerichte ſeine Zuflucht zu nehmen brauchte.

*) S. Zeitſchrift fuͤr deutſches Recht und deutſche Rechtswiſſenſchaft.

VI. 2. S. 363 ff.

[270/0282]

Neuntes Kapitel.

Denn wenn auch eine Einrichtung deswegen, weil ſie fremden

Urſprungs, noch nicht verwerflich iſt, vielmehr, wenn entſchei-

dende Gruͤnde fuͤr ihre Annahme ſprechen, dieſe durchaus ge-

rechtfertigt, ja nothwendig erſcheint; ſo wird man doch zu ei-

ner ſolchen Nachahmung nicht greifen wollen, wenn ſich durch

die organiſche Fortbildung einheimiſcher Inſtitute daſſelbe oder

noch mehr erreichen laͤßt. Von Alters her ſind aber in Deutſch-

land ſtehende Gerichte mit der ungetheilten Competenz auch

uͤber das Factiſche hergebracht geweſen, und ſo lange ſich un-

ſer Rechtsweſen eines geſunden Zuſtandes erfreute, hat dieſe

Verfaſſung den Beifall und das Vertrauen der Nation fuͤr

ſich gehabt. Erſt als man ſich in Folge der Reaction gegen

die unertraͤglich gewordene Juriſten- und Beamtenherrſchaft

nach einer Abhuͤlfe umſah, hat man nach dem Vorgange der

Franzoſen und anderer Nationen eine Nachbildung der engli-

ſchen Schwurgerichte auch fuͤr Deutſchland in Antrag gebracht.

Es iſt nun auch außer Zweifel, daß große Vorzuͤge mit dieſer

Einrichtung verbunden ſind, und, was nicht hoch genug ange-

ſchlagen werden kann, ſie hat die Probe der Erfahrung auch

in den Laͤndern, die ſie aufgenommen haben, beſtanden, eine

tuͤchtige Wirkſamkeit bewaͤhrt und die Liebe der Voͤlker ge-

wonnen. Aber es bleibt doch immer zu erwaͤgen, wie viel zu

dieſem Erfolge das mit dem Schwurgerichte verbundene ge-

richtliche Verfahren, namentlich die Oeffentlichkeit und Muͤnd-

lichkeit der Verhandlungen und die Theilnahme des Volkes

an der Rechtspflege, welches beides aber auch der Schoͤffen-

verfaſſung zu vindiciren iſt, beigetragen haben, und ob nicht

gerade der Gegenſatz zu den deutſchen Juriſtengerichten jenem

Inſtitute einen ſo großen Glanz geben mußte. In der

Schweiz, wo man ſich doch auch auf die Freiheit verſteht,

[271/0283]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

und im Ganzen dem franzoͤſiſchen Weſen nicht abhold iſt, haͤlt

man nicht viel auf das Schwurgericht, und zieht ihm die

deutſche Schoͤffenverfaſſung vor, welche ſich hier noch zum

Theil in ununterbrochener Wirkſamkeit und urſpruͤnglicher Rein-

heit erhalten hat. Pruͤfen wir nun einmal unbefangen, wie

im Allgemeinen der Werth beider Inſtitute gegen einander ab-

gewogen zu ſtehen kommt.

1. Man hat einen Haupteinwand gegen die Jury in

der Schwierigkeit gefunden, welche der Trennung von jus

und factum auch in Criminalſachen entgegen ſteht. Freilich iſt

es in England nicht ganz unbeſtritten, in wieweit die Geſchwor-

nen auch uͤber den Rechtspunct entſcheiden koͤnnen; allein die

Praxis iſt doch gegen eine ſolche Ausdehnung ihrer Functio-

nen, und wenn es ſich um eine Nachahmung des Inſtituts han-

delt, ſo denkt man, wie in Frankreich, zunaͤchſt an jene Thei-

lung des Richteramts. In der That iſt dieſe aber in aller

Strenge des Begriffs nicht durchzufuͤhren, da das Verdict der

Geſchwornen, wenigſtens unter gewiſſen Umſtaͤnden, nicht bloß

ein Urtheil uͤber das Daſeyn von Thatſachen enthaͤlt, ſondern

darin auch deren Beſchaffenheit mit beſonderer Ruͤckſicht auf

die Willensbeſtimmung des Angeſchuldigten und uͤberhaupt de-

ren Beziehung zum Strafgeſetz, wodurch ſie unter den Begriff

eines Verbrechens fallen, feſtgeſtellt wird, was nicht ohne eine

gewiſſe Unterordnung des factum unter das jus zu denken

iſt. Dem Richter bleibt nun freilich, abgeſehen von der Lei-

tung der Verhandlungen, die Entwerfung der Fragen, welche

den Geſchwornen vorgelegt werden, und in deren Beantwor-

tung ihr Verdict beſteht, ſo wie, wenn auf Schuldig erkannt

worden, die Beſtimmung des Strafmaaßes, und das iſt aller-

dings der wichtigſte Theil der Rechtsanwendung; aber wenn

[272/0284]

Neunts Kapitel.

auch nur etwas davon den Geſchwornen uͤberlaſſen iſt, ſo muß

dieß bedenklich erſcheinen, da dieſelben doch nach der ganzen

Art ihrer Zuſammenſetzung und nach dem Princip des Inſti-

tuts zu einer ſolchen Function nicht beſtimmt ſind. Indeſſen

hat die Erfahrung gezeigt, daß dieſer Umſtand der Wirkſam-

keit der Schwurgerichte keinen Abbruch thut, daß vielmehr

eine ſolche beſchraͤnkte Theilnahme an der Rechtsanwendung

den Volksrichtern anvertraut werden kann, ſo daß ſich alſo

das Inſtitut maͤchtiger zeigt, als der demſelben untergebreitete

Begriff. Aber man kann nun noch einen Schritt weiter ge-

hen, und es zur Erwaͤgung ſtellen, ob es nicht angemeſſen

ſeyn ſollte, den Juriſten eine Theilnahme an der Thaͤtigkeit

der Geſchwornen einzuraͤumen, und dieſe umgekehrt zu den

Functionen der Juriſten mit herbei zu ziehen. Denn wenn

jene Thaͤtigkeit dadurch einer Seits eine groͤßere Sicherheit be-

kommen wuͤrde, welche die uͤberſichtliche Darſtellung des Ge-

richtspraͤſidenten nicht ganz erſetzen kann, ſo iſt es andrer

Seits nicht zu verkennen, daß ein gewiſſer Einfluß der Ge-

ſchwornen auf die Formirung der Fragen, von welcher die

Feſtſtellung des Verbrechens abhaͤngt, und auf die Beſtim-

mung des Strafmaaßes oft ſehr wuͤnſchenswerth waͤre. Das

weiſt denn eben darauf hin, die beiden Elemente der Schwur-

gerichte in ein Collegium zuſammen zu ruͤcken, und es dann

dem eigenthuͤmlichen Gewichte jedes Theils zu uͤberlaſſen, daß

es ſich nach ſeiner Weiſe geltend mache. Dadurch wuͤrde eine

gegenſeitige Ergaͤnzung und Beſchraͤnkung der einzelnen Be-

ſtandtheile des Gerichts begruͤndet werden, deren innerliche und

vollſtaͤndige Durchdringung die Geſammtheit zur gemeinſchaft-

lichen Anſchauung und Beſchlußnahme fuͤhrte. Bei den Schwur-

gerichten iſt es dagegen nicht wohl zu vermeiden, daß die Jury

[273/0285]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

bei der Abgabe ihres Verdicts nicht zuweilen von der Be-

ſchaffenheit der geſetzlichen Strafe, auf deren Abmeſſung ſie

unmittelbar nicht einwirken kann, ſich beſtimmen laͤßt, und ſo

der Verſuchung unterliegt, den ihr zur Beurtheilung vorgeleg-

ten Thatſachen Gewalt anzuthun.

2. Die Anforderungen, welche auch an die nicht juriſti-

ſchen Mitglieder der Schoͤffengerichte gemacht werden, ſind nun

freilich von der Art, daß ihre Erfuͤllung nicht in dem gleichen

Grade von jedem unbeſcholtenen Buͤrger erwartet werden kann.

Es iſt dafuͤr eine Umſicht, Selbſtaͤndigkeit und Geſchaͤftserfah-

rung noͤthig, welche es wenigſtens ſehr wuͤnſchenswerth ma-

chen, daß nur beſonders geeignete Perſonen mit dem Schoͤf-

fenamte bekleidet werden. Daher geſchieht hier die Beſetzung

der Stellen durch Wahl oder Verleihung. Auch iſt bei dem

großen Werthe, den Uebung und Erfahrung fuͤr die richterli-

chen Functionen haben, und wegen der nothwendigen Gleich-

ſtellung der Volksrichter mit den Juriſten, eine gewiſſe Dauer

des Amtes, wenn auch nicht gerade die lebenslaͤngliche, uner-

laͤßlich. Anders bei den Geſchwornen. Man ſieht deren Thaͤ-

tigkeit fuͤr eine ſolche an, welche unter gewiſſen allgemeinen

Vorausſetzungen jeder Buͤrger gleichmaͤßig auszuuͤben vermag,

und wenn daher an und fuͤr ſich die Richter der That auch

ſtehende ſeyn koͤnnten, ſo laͤßt man ſie doch aus den in den

Geſchwornenliſten enthaltenen Namen durch das Loos und

nur fuͤr die einzelnen Aſſiſen beſtellen. Die Verſchiedenheit die-

ſer Einrichtungen haͤngt genau mit dem Weſen der beiden In-

ſtitute zuſammen, und kann alſo nur im Zuſammenhang mit

deren Werth und Bedeutung im Allgemeinen, nicht aber ohne

Ruͤckſicht darauf gehoͤrig gewuͤrdigt werden; ſonſt moͤchte, wenn

man die Sache bloß fuͤr ſich betrachtet, der Vorzug doch ent-

Beſeler, Volksrecht. 18

[274/0286]

Neuntes Kapitel.

ſchieden auf Seiten des Schoͤffenthums ſeyn. Denn wie leicht

man ſich auch die Aufgabe der Geſchwornen denkt (und wir

haben ſchon bemerkt, daß ſie doch nicht ſo ganz einfach ſey),

ſo ſprechen doch erhebliche Gruͤnde dafuͤr, daß das mit beſon-

ders geeigneten, in den richterlichen Geſchaͤften erfahrenen Maͤn-

nern beſetzte Collegium im Allgemeinen mehr leiſten, und das

Rechte ſicherer treffen wird, als ein anderes, bei deſſen Zuſam-

menſetzung ſo Vieles vom Zufall abhaͤngt. In England frei-

lich, wo von Alters her die Einſtimmigkeit der Jury zur Ver-

urtheilung noͤthig iſt, liegt darin eine große Garantie, indem,

wenn auch in der Regel die Majoritaͤt ihre Anſicht durchſetzen

wird, den diſſentirenden Mitgliedern ein Mittel gegeben iſt, ihre

feſte Ueberzeugung bis auf das Aeußerſte zu vertheidigen. Wenn

das Verdict daher endlich zu Stande kommt, ſo ſtellt es ſich

als die Stimme der Geſammtheit heraus, in welcher der Eng-

laͤnder ſein ganzes Land vertreten ſieht, und dieſem wird ſich

am Ende jeder Einzelne bereitwillig unterwerfen. Aber die

nothwendige Einſtimmigkeit der Jury, deren Durchfuͤhrung in

Folge langer Gewoͤhnung und einer beſtimmt ausgebildeten

Praxis in England moͤglich iſt, wird ſich nicht fuͤglich bei der

Verpflanzung des ganzen Inſtituts in die Fremde mit uͤber-

tragen laſſen; auch hat man ſich allenthalben, wo das Schwur-

gericht aufgenommen worden, mit einer Mehrheit der Stim-

men begnuͤgt, deren verſchiedene Feſtſtellung immer den Cha-

rakter einer gewiſſen Willkuͤhrlichkeit an ſich traͤgt, ſobald die

abſolute Majoritaͤt nicht ausreichen ſoll. Daß man aber Be-

denken findet, dieſe bei den Geſchwornen gelten zu laſſen, waͤh-

rend man bei den ſtehenden Richtercollegien darin keine Gefahr

ſieht, weiſt doch darauf hin, daß fuͤr die Richtigkeit des Ver-

[275/0287]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

dicts mehr Garantien wuͤnſchenswerth ſcheinen, als fuͤr die des

richterlichen Urtheils.

3. Dagegen fragt es ſich, ob das Schwurgericht nicht

ruͤckſichtlich der Unabhaͤngigkeit und Unparteilichkeit einen Vor-

zug in Anſpruch nehmen kann. So viel ſit nun auch jeden-

falls gewiß, daß ein ſo weites Recuſationsrecht, wie hier, bei

einem Schoͤffengericht nicht wohl ſtatt finden kann, wenn ſich

gleich bei demſelben durch die Aufſtellung von Erſatzmaͤnnern

auch in dieſer Beziehung mehr thun laͤßt, als bei den Juri-

ſtengerichten. Es iſt aber uͤberhaupt nicht zu leugnen, daß

die Art, wie die Geſchwornen beſtellt werden, eine wichtige

Garantie fuͤr ihre Unabhaͤngigkeit giebt; denn wenn nur die

Entwerfung der erſten Liſten unbefangenen Haͤnden anvertraut

iſt, ſo ſcheint die Ausuͤbung eines unrechtmaͤßigen Einfluſſes

auf die Jury, namentlich inſofern dazu eine gewiſſe Vorberei-

tung, ein Aufwand von Zeit und langſam wirkenden Mitteln

noͤthig iſt, faſt unmoͤglich zu ſeyn. In jenen beiden Puncten

liegt auch offenbar die Staͤrke des Inſtituts, und wenn das

Schoͤffengericht keine entſprechende Garantie bieten koͤnnte, ſo

waͤre dieß ſchon genuͤgend, den Vorzug des Schwurgerichts

vor demſelben zu rechtfertigen; betrachten wir die Sache daher

etwas genauer.

a. Es kommt Vieles auf die Art und Weiſe an, wie

das Schoͤffencollegium beſetzt wird. Von den juriſtiſchen Mit-

gliedern deſſelben wird freilich im Allgemeinen gelten, was oben

von den Juriſtengerichten geſagt worden iſt, und nur der Un-

terſchied beſtehen, daß eben die Beiordnung eines volkthuͤmli-

chen Eiements ihnen mehr Haltung und eine freiere Stellung

gewaͤhrt. Die nicht juriſtiſchen Mitglieder aber muͤſſen nicht

nur aus dem Volke hervorgehen, ſondern es iſt auch ange-

18*

[276/0288]

Neuntes Kapitel.

meſſen, daß ihre Ernennung nicht einſeitig von der Regierung

geſchehe, ſondern von der Gemeinde vorgenommen werde,

wenn auch unter einer gewiſſen Controle der Regierung.

Nimmt man dann noch hinzu, daß auf ſie dasjenige nicht

paßt, was von der Abhaͤngigkeit der Juriſten als Staats-

beamten geſagt worden iſt, und die Wahl in der Regel nicht

nur auf die geſchickteſten, ſondern auch auf die rechtlichſten

und ehrenhafteſten Maͤnner fallen wird, ſo kann im Allgemei-

nen ihre eigene Unabhaͤngigkeit und durch ſie die des ganzen

Gerichts vollkommen gewahrt erſcheinen.

b. Die Unabhaͤngigkeit der Gerichte iſt aber nicht bloß

gegen unrechtmaͤßige Einwirkungen, welche, ſey es von oben

oder von unten her, verſucht werden moͤchten, zu ſichern; es

iſt auch eine Verirrung der oͤffentlichen Meinung durch Miß-

verſtaͤndniſſe, Vorurtheile, Leidenſchaften und abſichtliche Auf-

regung moͤglich, welche, wenn ſie auf die Entſcheidung der Ge-

richte irgend einen Einfluß ausuͤben ſollte, nicht weniger ver-

derblich wirken wuͤrde, als die Cabinetsjuſtiz. Nach dieſer Seite

hin aber ſcheint das Schoͤffengericht eine groͤßere Garantie dar-

zubieten, als das Schwurgericht. Denn wenn auch beide im

Volke wurzeln, und an der allgemeinen Stimmung, welche in

demſelben vorherrſcht, Theil nehmen, ſo iſt es doch ein großer

Unterſchied, ob jemand, welcher als Mitglied eines geſchloſſenen

Gerichtshofes ſich dieſer Stellung bewußt iſt, uͤber gewiſſe Ver-

haͤltniſſe, die gerade dem Tagesintereſſe verfallen ſind, ſich ein

Urtheil bildet, oder ob es ein ſolcher thut, welcher ganz uner-

wartet unter die Geſchwornen kommen kann. Iener wird ſich

bemuͤhen, in Beziehung auf ſolche Thatſachen, uͤber welche er

wahrſcheinlich als Richter wird entſcheiden muͤſſen, ſo viel an

ihm liegt, ſich die Unbefangenheit ſeines Urtheils zu bewahren,

[277/0289]

Das Volksrecht und das Gerichtswelen.

waͤhrend der letztere ſich wie jeder andere den aͤußern Eindruͤ-

cken hingiebt, dadurch vielleicht zu einer ganz einſeitigen An-

ſicht gelangt, und dieſe nun, ohne daß er es will, mit ſich in

den Gerichtshof nimmt. Freilich wird der gewiſſenhafte Mann

dadurch nicht unmittelbar ſich beſtimmen laſſen; aber daß ſein

den Verhandlungen entnommenes Urtheil durch eine ſolche vor-

gefaßte Meinung leicht eine ſchiefe Richtung erhalten kann, iſt

doch wohl unzweifelhaft.

c. Was endlich das Recuſationsrecht des Angeſchuldig-

ten betrifft, ſo kann dieß allerdings gegen die Schoͤffen nicht

ſo weit zugelaſſen werden, als gegen die Geſchwornen; allein

ihre oͤffentliche Stellung muß ſie auch gegen eine ganz un-

motivirte Verwerfung ſchuͤtzen, und wenn Gruͤnde dafuͤr ange-

geben werden (die ſich uͤbrigens gegen ein beſtimmtes Gerichts-

perſonal nicht ſo haͤufig finden werden, als gegen die erſte

große Geſchwornenliſte), ſo kann ſtets die gehoͤrige Ruͤckſicht

darauf genommen werden. Dagegen iſt von einem ſtaͤndigen

Richtercollegium außer der Erwaͤgung der allgemeinen Buͤr-

gerpflicht und der moraliſchen und juriſtiſchen Verantwortlichkeit

auch die Wahrung der Amtsehre zu erwarten, welche ſich bei

dem ſteten Wandel der Geſchwornen unter dieſen nicht wohl

in derſelben Weiſe ausbilden kann.

4. Die Verfaſſung der Schoͤffengerichte, welche ein ge-

ringeres Perſonal in Anſpruch nehmen, geſtattet es, daß ſie

fuͤr einen verhaͤltnißmaͤßig kleineren Bezirk angeordnet werden,

als die Schwurgerichte. Das kann nun unter Umſtaͤnden, na-

mentlich bei einer duͤnnen Bevoͤlkerung und bei unvollkomme-

nen Communicationsmitteln von großer Bedeutung werden,

und iſt jedenfalls fuͤr die Perſonal- und Localkenntniß des Ge-

richts, ſo wie fuͤr die Bequemlichkeit der Dingpflichtigen von

[278/0290]

Neuntes Kapitel.

Wichtigkeit. Ja es moͤchte uͤberhaupt angemeſſen ſeyn, die

Scheidung zwiſchen Polizeigerichten, wo nur Juriſten fungiren,

und Schwurgerichten nach der Beſchaffenheit der Verbrechen

ganz fallen zu laſſen, und dafuͤr die Schoͤffengerichte allgemein

durchzufuͤhren, in der Art, daß das niedere Gericht, fuͤr einen

kleineren Bezirk eingeſetzt, nur fuͤr die geringeren Vergehen

competent waͤre, das hoͤhere aber, welches den vollen Blutbann

haͤtte, uͤber die ſchwereren Verbrechen aburtheilte. Ließe ſich

eine ſolche Einrichtung durchfuͤhren, und dadurch das reine

Juriſtengericht ganz verbannen, ſo wuͤrde (das wird jeder zu-

geben, der uͤberhaupt gegen das Letztere eingenommen iſt) Vie-

les gewonnen ſeyn. Denn es hat doch etwas Unnatuͤrliches

an ſich und iſt nur durch die Nothwendigkeit zu entſchuldigen,

wenn jemand, deſſen Ehre, Freiheit und Vermoͤgen, kurz deſ-

ſen ganzes Lebensgluͤck auch durch eine geringere Strafe be-

droht iſt, nicht aller Garantien, welche das Recht gewaͤhren

kann, ſich ſoll erfreuen duͤrfen. Eine Durchfuͤhrung der Schwur-

gerichte auf alle dieſe Faͤlle hat aber große Bedenken, und iſt

bis jetzt auch nicht verſucht worden.

5. Auch der Punct darf nicht unbeachtet bleiben, daß es

von Wichtigkeit iſt, ein und daſſelbe Princip in der Rechts-

pflege herrſchen zu laſſen. Fuͤr Civilgerichte iſt, wie gezeigt

worden, das Schoͤffenthum der Jury unbedingt vorzuziehen;

wollte man nun dieſe fuͤr die Criminalſachen einfuͤhren, ſo

kaͤme ein Dualismus in die Gerichtsverfaſſung, was freilich

kein abſolutes Uebel iſt, aber doch wo moͤglich vermieden wer-

den muß. Auch in dieſer Hinſicht war das altdeutſche Recht

conſequent, wie es jetzt das engliſche iſt; denn wie hier die

Geſchwornen, waren dort die Schoͤffen in beiden Faͤllen thaͤ-

tig. Iſt aber eine ſolche Einheit in der Gerichtsverfaſſung

[279/0291]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

zu empfehlen, ſo ſoll damit doch natuͤrlich nicht geſagt ſeyn,

daß nicht die Civil- und Criminalgerichtsbarkeit nach der Com-

petenz der Behoͤrden getrennt ſeyn koͤnnte.

6. Eine ſolche allgemeine Einfuͤhrung der Schoͤffenge-

richte mit nicht juriſtiſchen Beiſitzern wuͤrde freilich die Thaͤ-

tigkeit des Volks mehr, wie bei der vereinzelten Anwendung

der Jury, in Anſpruch nehmen, und von den Einzelnen ein

nicht geringes Opfer an Zeit und Muͤhe fuͤr das allgemeine

Beſte erheiſchen. Das wuͤrde namentlich in ſolchen Bezirken

ſchwer empfunden werden, wo es an einer groͤßeren Anzahl

von Perſonen fehlte, deren buͤrgerliche Lage ihnen eine gewiſſe

Freiheit von taͤglich wiederkehrenden Berufsarbeiten und Muße

und Neigung fuͤr die oͤffentlichen Geſchaͤfte geſtattet. Zwar

wuͤrde ſich, wie in andern gemiſchten Behoͤrden, Manches

durch die juriſtiſchen Beiſitzer allein abthun laſſen; aber in

dieſer Beziehung waͤre doch ein gewiſſes Maaß zu halten, weil

große Vorſicht noͤthig, daß dadurch nicht ein entſchiedenes

Uebergewicht auf Seiten der Juriſten ſich bilde. Man darf

ſich in dieſer Hinſicht keiner Taͤuſchung uͤberlaſſen, und muß

eine Frage zur beſtimmten Entſcheidung bringen. Entweder

will die Nation von der ausſchließlichen Herrſchaft der Beam-

ten auch in den niederen Kreiſen des buͤrgerlichen Lebens be-

freit werden, und ſelbſtaͤndigen Antheil an den oͤffentlichen Ge-

ſchaͤften nehmen; dann muß ſie auch die Opfer nicht ſcheuen,

welche damit nothwendig verbunden ſind. Oder ſie iſt ſchon

ſo ſehr in der Gewoͤhnung der ewigen Bevormundung verfan-

gen, daß ſie ſich von ihrer Bequemlichkeit, Selbſtſucht und

Vergnuͤgungsſucht nicht losreißen kann, und lieber, als ſelbſt

handeln, andere fuͤr ſich will ſchalten und walten laſſen; dann

entſage ſie auch den Streben nach wahrhaft politiſcher Freiheit,

[280/0292]

Neuntes Kapitel.

und begnuͤge ſich mit den Genuͤſſen, welche das materielle

Wohlergehen auch dem Sklaven gewaͤhren kann. Denn die

Freiheit iſt nicht fuͤr ein erſchlafftes und egoiſtiſches Geſchlecht;

ſie iſt in jeder Hinſicht ein theures Gut, und will mit harter

Arbeit und ſchwerem Dienſt errungen und erhalten ſeyn. —

Als die Schoͤffen von Magdeburg zur Zeit, da die ſtaͤdtiſche

Buͤrgerfreiheit noch in Bluͤthe ſtand, gefragt wurden:

Ab dy ſcheppin icht vorteyls alzo an geſchoſſe (Abga-

ben) habin mogin durch erbit wille eris amechtis (von

wegen der Muͤhe ihres Amtes)?

Da antworteten ſie:

Lybin frunde. Ir habit uns in ewern brifen laſſin

vorſtehin, das Ir wenig nutzes von ewrim amecht des

ſcheppin ſtulis. Darczu kuͤnnen wir nicht (nichts) czu

ſagin; wenne (denn) wer ſich yn ſtetin (Staͤdten) erli-

chir amecht undirwyndet und annympt, wenne (wenn)

her (er) darczu gekorn und geheyſſen wirt, der muß erbit

unde ſorge habin, umb das, das her das amecht wol

unde getrewlich vorſtehe. Wen (Sonſt) wir weldin euch

wohl gonnen, das Ir vil fromen und nutcz davon

hettit.

Faſſe ich nun das Reſultat der obigen Eroͤrterung kurz

zuſammen, ſo iſt es dieſes: das Schwurgericht, wenn auch dem

reinen Juriſtengericht vorzuziehen, ſteht doch dem Schoͤffen-

thume nach, und da wir in Deutſchland noch zu waͤhlen ha-

ben, ſo iſt fuͤr die Einfuͤhrung des Letzteren zu ſtimmen. Da-

bei zeigt ſich aber allerdings eine Schwierigkeit, welche nicht

unberuͤckſichtigt bleiben darf. In den Provinzen des linken

Rheinufers beſteht ſchon das Schwurgericht, und iſt bei der

dortigen Bevoͤlkerung in einem ſolchen Grade populaͤr, daß

[281/0293]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

an eine freiwillige Aufgebung kaum zu denken ſeyn wird,

waͤhrend es ihr doch ohne ihre Zuſtimmung nicht entzogen

werden kann. Dagegen iſt es aber doch aus vielen Gruͤnden

durchaus wuͤnſchenswerth, daß ſich die deutſche Gerichtsverfaſ-

ſung wo moͤglich nach demſelben einheitlichen Princip geſtalte,

und namentlich fuͤr diejenigen Staaten, zu denen die gedachten

Provinzen gehoͤren, iſt es eine ſehr nahe liegende Aufgabe, die

in ihrem Innern beſtehende Verſchiedenheit des Rechtsweſens

auszugleichen und zu vermitteln. Dieſer Erfolg ließe ſich nun,

ſcheint es, am Beſten dadurch erreichen, wenn man die deut-

ſchen Juriſtengerichte, welche doch einer Reform beduͤrfen, auf-

gaͤbe und ſie mit dem rheiniſchen Schwurgerichte vertauſchte.

Allein es fragt ſich eben, ob dieſer Schritt durchaus nothwen-

dig iſt, um jene Rechtsgleichheit zu erlangen, und ob nicht ge-

rade in dem Schoͤffengericht das Mittel gegeben ſeyn ſollte,

eine Ausgleichung zwiſchen den beiden ſich gegenuͤberſtehenden

Syſtemen herbeizufuͤhren. Gerade der fraͤnkiſche Stamm, zu

welchem die Bevoͤlkerung am Mittel- und Niederrhein gehoͤrt,

hat ja am Erſten und am Conſequenteſten das Schoͤffenthum

ausgebildet; ſollte es nicht, in freiſinniger und zeitgemaͤßer

Weiſe entwickelt, auch jetzt noch dort eine ſolche Anerkennung

finden, daß das Schwurgericht freiwillig dafuͤr hingegeben

wuͤrde? Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die uͤbrigen Vorzuͤge

des Gerichtsweſens, deren jene Provinzen ſich erfreuen, und

namentlich die Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit des Verfahrens

ihnen nicht bloß bewahrt bleiben, ſondern noch in einer freie-

ren, dem deutſchen Geiſte entſprechenden Ausbildung dargeboten

werden muͤßten. Auch wuͤrden ſie dann ein wuͤrdig geſtalte-

tes Gemeindeweſen als die Baſis des Schoͤffenthums gewin-

nen, und dadurch eines Gutes, fuͤr deſſen Erlangung in neue-

[282/0294]

Neuntes Kapitel.

ſter Zeit ſo ſchoͤne Beſtrebungen in ihrer Mitte rege geworden

ſind, theilhaftig werden.

Zum Schluß dieſer Eroͤrterung iſt nun noch in kurzen

Zuͤgen anzudeuten, wie etwa die Verfaſſung der Schoͤffenge-

richte einzurichten ſey, damit ſie ihrem Zweck entſprechen

koͤnnen.

1. Der Begriff der gemiſchten Gerichte ſetzt voraus, daß

ſie aus einer Mehrheit von Perſonen beſtehen. In welchem

Verhaͤltniß dabei die Juriſten und die Volksrichter vertreten

werden, iſt im Geſetz genau zu beſtimmen, im Allgemeinen

aber das Princip feſt zu halten, daß ſtets die Mehrzahl der

Stellen mit den letzteren beſetzt wird. Denn die groͤßere Rechts-

kunde und Uebung der Juriſten wird dieſen doch leicht einen

uͤberwiegenden Einfluß verſchaffen, dem auf die angegebene

Weiſe ein Gegengewicht bereitet werden kann. Der Praͤſident

ſey ſtets ein Juriſt, die geringſte Zahl der Richter aber drei;

nur da, wo ſich Polizei und Rechtspflege in minder wichtigen

Sachen begegnen, wird das Inſtitut der Friedensrichter oder

ein aͤhnliches nicht wohl zu vermeiden ſeyn.

2. Die Gerichtsbezirke ſchließen ſich paſſend der Gemeinde

an, und zwar ſo, daß die Competenz nach dem engeren und

weiteren Umfang des Communalverbandes beſtimmt wird. Der

Staat ernenne die juriſtiſchen, die Gemeinde die nicht juriſti-

ſchen Schoͤffen. Die Patrimonialgerichtsbarkeit als Ausfluß

der gutsherrlichen Gewalt, der exemte Gerichtsſtand und aͤhn-

liche Ueberreſte fruͤherer unſtaatlicher Rechtszuſtaͤnde muͤſſen

gaͤnzlich verſchwinden. — Das Alles ſetzt freilich eine orga-

niſch durchgebildete Gemeindeverfaſſung und uͤberhaupt die frei-

heitliche Entwicklung der deutſchen Staatsverhaͤltniſſe voraus:

aber ohne eine umfaſſende Reform des ganzen Rechtsweſens

[283/0295]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

hoffe man nicht, einen Theil deſſelben tuͤchtig und groß zu ge-

ſtalten. Hier haͤngt Alles zuſammen und bedingt ſich wech-

ſelsweiſe.

3. Das Schoͤffenamt ſey fuͤr die juriſtiſchen Mitglieder le-

benslaͤnglich, und ernaͤhre ſie anſtaͤndig; fuͤr die Volksrichter aber

werde es auf gewiſſe Jahre beſchraͤnkt, etwa auf ſechs, doch ſo,

daß die Wiedererwaͤhlung des Abtretenden, wenn er ſie genehmigt,

frei bleibt. Dem Volksrichter bringe ſein Amt nur Erſatz fuͤr

unmittelbare Auslagen und Koſten, alſo auch Diaͤten fuͤr die

Zeit der Amtsfunction am dritten Ort; aber es gereiche ihm

zur hohen, auch aͤußerlich in der politiſchen Berechtigung dar-

geſtellten Ehre, und mache ihn frei von jedem andern Staats-

und Gemeindedienſt, dem er ſich nicht freiwillig unterzieht.

4. Den Anwaͤlden werde eine wuͤrdige Stellung gege-

ben, wie es ihr hochwichtiger Beruf und das Intereſſe einer

guten Rechtspflege durchaus erfordern; der Thaͤtigkeit der

Winkeladvocaten beuge das Geſetz vor, ohne das Recht der

Vertretung vor Gericht durch dritte Perſonen unnoͤthig zu be-

ſchraͤnken.

II. Das gerichtliche Verfahren.

Es kommt hier vor Allem auf die Erledigung der Frage

an, ob Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit wieder das Princip

des deutſchen Proceſſes werden, oder ob es bei dem geltenden

geheimen, ſchriftlichen Verfahren ſein Bewenden haben ſoll.

Das iſt der eigentliche Mittelpunct eines Kampfes, der jetzt

in Deutſchland mit ſo großem Eifer gefuͤhrt wird, und von

deſſen Ausgang ſo unendlich viel nicht bloß fuͤr das Rechts-

weſen, ſondern fuͤr die ganze politiſche Zukunft der Nation

abhaͤngt. Denn man uͤberlaſſe ſich uͤber die Bedeutung des

[284/0296]

Neuntes Kapitel.

in Frage geſtellten Princips keinen Taͤuſchungen: daſſelbe ſteht

nicht vereinzelt da, und laͤßt ſich nicht aus ſeinem Zuſammen-

hang herausnehmen, um etwa fuͤr einen wohlfeilen Preis an-

dere Anforderungen damit abzukaufen, oder gewiſſen Maͤngeln

des Gerichtsweſens dadurch abzuhelfen. Nein, es haͤngt auf

das Innigſte zuſammen mit der ganzen Geſtaltung des politi-

ſchen Lebens und mit dem Geiſte, welcher daſſelbe kuͤnftig bei

uns beherrſchen ſoll. Die Oeffentlichkeit iſt ein ſo maͤchtiges

Princip, daß es ſich nicht willkuͤhrlich auf eine beſtimmte, enge

Grenze beſchraͤnken laͤßt: iſt es fuͤr die Verhandlungen vor

den Gerichtshoͤfen als gemeines Recht anerkannt worden, ſo

wird ſich daneben, wenigſtens in politiſch bewegten Zeiten, das

Geheimniß der Buͤreaukratie, der Preßzwang nicht lange hal-

ten koͤnnen, oder es kommt in Folge des klar gewordenen

Zwieſpalts in der Verfaſſung zu einſeitigen Beſchraͤnkungen,

welche das Weſen der Einrichtung ſelbſt wieder bedrohen. Da-

her erklaͤrt es ſich auch, daß der Kampf um Oeffentlichkeit

und Muͤndlichkeit im gerichtlichen Verfahren ein ſo hohes po-

litiſches Intereſſe erweckt, und nicht bloß mit den Gruͤnden

der juriſtiſchen Zweckmaͤßigkeit gefuͤhrt werden kann. Wo dieſe

auch vorangeſtellt werden, da ruhen doch meiſtens allgemeinere

Anſichten und Tendenzen im Hintergrunde, moͤgen ſie nun

zum Bewußtſeyn gekommen, die Meinung des Kaͤmpfenden

beſtimmen, oder ihm unbewußt auf ſein Urtheil einwirken. —

Bei dieſem Stande der Sache iſt eine wiederholte Pruͤfung

der Frage nicht uͤberfluͤſſig, ſelbſt nachdem ſchon ſo manches

gewichtige Wort daruͤber geſprochen worden iſt; es bleibt doch

leicht noch der eine oder der andere Punct uͤbrig, der in ein

beſſeres Licht geſtellt werden kann, oder durch die beſondere

Art der Behandlung dem allgemeinen Verſtaͤndniß naͤher ge-

[285/0297]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

bracht wird. Eine vollſtaͤndige, alle Seiten der Frage ins

Auge faſſende Eroͤrterung derſelben wird hier aber nicht beab-

ſichtigt.

Zuvoͤrderſt wird es nicht uͤberfluͤſſig ſeyn, ausdruͤcklich zu

bemerken, daß das Princip, welches der Oeffentlichkeit und

Muͤndlichkeit des gerichtlichen Verfahrens zum Grunde liegt,

keinen abſoluten Gegenſatz zu demjenigen bildet, welches in

dem heimlichen, ſchriftlichen Proceß ausgepraͤgt iſt. Mit der

Schriftlichkeit der Verhandlungen laͤßt ſich freilich keine wahre

Oeffentlichkeit verbinden, da die Bekanntmachung aller Acten-

ſtuͤcke durch die Preſſe, wenn auch an und fuͤr ſich moͤglich,

doch vernuͤnftiger Weiſe nie als Regel verlangt werden kann,

und auch nur eine hoͤchſt unvollkommene Aushuͤlfe ſeyn wuͤrde.

Dagegen laͤßt es ſich allerdings denken, daß eine muͤndliche

Verhandlung ſtatt faͤnde, ohne daß die Oeffentlichkeit derſelben

ſich weiter als auf die dabei durchaus nothwendigen Perſonen

erſtreckte. Aber auch wenn man den Gegenſatz zwiſchen bei-

den Formen des gerichtlichen Verfahrens ſo auffaßt, wie er ſich

thatſaͤchlich darſtellt, und nur die Oeffentlichkeit und Muͤnd-

lichkeit in ihrer vereinigten Durchfuͤhrung als diejenige Einrich-

tung anerkennt, um welche der Kampf gefuͤhrt wird; ſo laͤßt

ſich doch nicht in Abrede nehmen, daß eine gewiſſe Beimiſchung

des heimlich-ſchriftlichen Proceſſes nicht nur moͤglich iſt, ſon-

dern auch nicht ganz entbehrt werden kann. Selbſt im Civil-

proceß wird man Bedenken tragen, die Berathung und Ab-

ſtimmung des Gerichts vor dem Publicum geſchehen zu laſſen,

und wenn im Criminalproceß der Hauptverhandlung auch nur

eine vorlaͤufige Unterſuchung zur Ermittlung der Schuld vor-

hergeht, ſey es um ein Geſtaͤndniß zu erlangen oder um Indi-

cien zu ſammeln, ſo wird die volle Publicitaͤt dabei nicht wohl

[286/0298]

Neuntes Kapitel.

ſtatt haben koͤnnen, wenn auch die ſpaͤtere Wiederholung aller

relevanten Handlungen noͤthig iſt. Ebenſo verhaͤlt es ſich mit

der Muͤndlichkeit: in ſchwierigen und verwickelten Civilſachen

wird man alle Schriftſaͤtze zur Einleitung des Verfahrens und

zur Feſtſtellung des Streitgegenſtandes nicht ganz vermeiden

koͤnnen, und die Vorunterſuchung im Criminalproceß muß

gleichfalls zu Papier gebracht werden, wie denn uͤberhaupt

das Gerichtsprotokoll der ganzen Verhandlung in ihren Grund-

zuͤgen zu folgen hat, und fuͤr gewiſſe Faͤlle ſelbſt die Zuzie-

hung von Schnellſchreibern ſehr dienlich ſeyn kann. Es kommt

dabei immer nur auf das Weſentliche, auf das Princip der

Sache an, und dieſes wird gewahrt ſeyn, wenn nur alle

Hauptverhandlungen, von denen das richterliche Urtheil unmit-

telbar abhaͤngt, oͤffentlich und muͤndlich vor ſich gehen. Dem

verſtaͤndigen Ermeſſen bleibt es dann uͤberlaſſen, den Punct zu

beſtimmen, wo eine Modification ohne Gefahr, den Zweck der

ganzen Einrichtung zu bedrohen, zugelaſſen werden kann, oder

wo die Sache ſelbſt aufgegeben wird, und nur ein kuͤmmerli-

ches Zugeſtaͤndniß inhaltsloſer Formen den Schein geben ſoll,

als ob wirklich etwas Reelles geboten ſey, was doch nur eitel

Blendwerk und Spiegelfechterei iſt. — In dieſer Beziehung

wird man ſich aber auch nicht aͤngſtlich an die Grundſaͤtze

des altdeutſchen Proceſſes halten duͤrfen, der, abgeſehen von

ſeinem Princip, manche Maͤngel hatte und in ſeinen Formen

und Symbolen der Gegenwart faſt ganz entfremdet iſt. Selbſt

die Oeffentlichkeit erheiſcht jetzt zum Theil andere Mittel, als

in fruͤheren Zeiten. Wie wollte man z. B. bei den politi-

ſchen und ſocialen Zuſtaͤnden der Gegenwart ein ungebotenes

Echteding in regelmaͤßiger Wiederkehr zuſammen bringen, und

ſo die ganze Gemeinde, die Weiber, Kinder und uͤbrigen

[287/0299]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

Schutzpflichtigen durch ihre Voigte vertreten, in einer Ver-

ſammlung vereinigen? Wie viele wuͤrden ſchon wegen ehe-

hafter Noth ausbleiben; die Weiber haben in der Regel keinen

Geſchlechtsvormund mehr; die fruͤher Hoͤrige waren, ſind jetzt

perſoͤnlich frei, aber oft nicht geeignet, mit voller politiſcher

Berechtigung auch nur in der Gemeinde aufzutreten. Statt

ſolcher Einrichtungen, die nur noch ausnahmsweiſe als die

Urverſammlung der ſtimmberechtigten Gemeindeglieder vorkom-

men koͤnnen, dient jetzt die Preſſe, welche ja uͤberhaupt das

wichtigſte Mittel der modernen Publicitaͤt iſt, ſo daß ſie, wenn

auch nur die Moͤglichkeit des freien Zutritts zu den Verhand-

lungen fuͤr wenige beſteht, doch allen die Fruͤchte deſſelben

zukommen laͤßt. Daher koͤnnen Zeitungsberichte, oͤffentliche

Bekanntmachungen, namentlich die Edictalcitationen gegenwaͤr-

tig Manches von dem, was man mit dem alten Echteding

bezweckte, erſetzen.

Welches Princip iſt denn nun aber im Proceß vorzuzie-

hen, das der Oeffentlichkeit und Muͤndlichkeit, oder das der

Heimlichkeit und Schriftlichkeit? In einem Werke, welches

von dem deutſchen Volksrecht handelt, wird ſich die Antwort

ſchon von ſelbſt ergeben. Wir haben freilich ſchon an die drei-

hundert Jahre uns mit dem fremdlaͤndiſchen, roͤmiſch-canoni-

ſchen Kunſtwerk der Juriſten herumgetragen, und die Form

unſeres Rechtslebens in dieſe Bande geſchlagen. Aber wenn

noch die Kraft einer lebensvollen und organiſchen Regenera-

tion in der Nation iſt; wenn der goͤttliche Funken altgermani-

ſcher Freiheit, der in England zur hellen Flamme aufgeſchla-

gen iſt, und ſelbſt das erſtarrte Leben der romaniſchen Voͤlker

geiſtig durchwaͤrmt hat, in Deutſchland, ſeiner Heimath, nicht

ganz verkommen iſt, ſondern, unter der Aſche fortglimmend,

[288/0300]

Neuntes Kapitel.

zum neuen Glanze aufgeregt werden kann; — wenn wir

uͤberhaupt noch auf ein freies und nationales Rechts- und

Staatsleben hoffen duͤrfen: ſo wird auch ein friſcher und

tuͤchtiger Geiſt in unſere Gerichtshoͤfe wieder einziehen, und

ſtatt der Actennoth und elender Geheimnißkraͤmerei wieder das

offene Wort und die beſonnene, aber energiſche Entſchloſſen-

heit darin herrſchen. Wir muͤſſen aus der Schriftgelehrſamkeit

heraus zur lebendigen That, ſo wie in allen Beziehungen des

oͤffentlichen Lebens, ſo auch namentlich in dem gerichtlichen

Verfahren. Und auch daruͤber iſt kein Zweifel: wenn der Rich-

ter ſeine Kenntniß der Sache nur aus den Acten heraus leſen

kann, ſo iſt es mit einer volksthuͤmlichen Reform unſerer Ge-

richtsverfaſſung vorbei. Denn es waͤre baarer Unſinn, die

Maͤnner aus dem Volke, welche als Schoͤffen oder Geſchworne

fungiren ſollen, zu einer ſolchen Arbeit anhalten zu wollen, bei

der ſelbſt der ſtudirte Juriſt, dem ſie Lebensberuf iſt, ſo oft

ſeine geiſtige Friſche und Unbefangenheit zuſetzt. Die unmit-

telbare Anſchauung der lebendig vor die Sinne gebrachten Mo-

mente, in wuͤrdiger Sammlung und mit ernſtem Wahrheits-

eifer zur letzten Entſcheidung zuſammen gefaßt, — das iſt es,

was den Richter in ſeinem Urtheil beſtimmen muß, und was

nie durch die Schrift erſetzt werden kann, wenn ſie auch da-

bei als Aushuͤlfe zu gebrauchen iſt. — Faſſen wir die Sache

aber nach ihren einzelnen Beziehungen noch etwas naͤher ins

Auge.

1. Ein weſentlicher Vorzug des oͤffentlich-muͤndlichen

Verfahrens beſteht darin, daß es eine ſo wirkſame Garantie

fuͤr die Unabhaͤngigkeit, Unparteilichkeit und uͤberhaupt fuͤr die

Gewiſſenhaftigkeit der Gerichte gewaͤhrt. Denn in der Oef-

fentlichkeit der Verhandlungen erwaͤchſt der Gerechtigkeit eine

[289/0301]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

Stuͤtze, gegen die, wenn uͤberhaupt ein dffentlicher Geiſt

im Lande iſt, kein ungeſetzlicher Einfluß auf die Dauer et-

was vermag. Einen merkwuͤrdigen Beleg fuͤr dieſe Be-

hauptung bietet die Stellung, welche die Gerichtshoͤfe in

Frankreich einnehmen. Man gefaͤllt ſich von einer gewiſſen

Seite darin, den moraliſchen Verfall der franzoͤſiſchen Nation

recht hervorzuheben, und wenn es dabei auch nicht an augen-

ſcheinlichen Uebertreibungen fehlt, ſo kann die Thatſache doch

nicht in Abrede geſtellt werden, daß wenigſtens in gewiſſen

Claſſen Oſtentation, Genußſucht und uͤberhaupt ein gottloſes,

egoiſtiſches Treiben auf eine traurige Weiſe uͤberhand genom-

men haben. Aber die Rechtspflege iſt von dieſem boͤſen We-

ſen unberuͤhrt geblieben; die Gerichtshoͤfe ſtehen rein und ma-

kellos da, und in dem von Parteiungen zerriſſenen Lande ha-

ben ſie ſich einen unangetaſteten Ruf und das volle Vertrauen

der Volkes erhalten. Moͤgen auch manche Umſtaͤnde zuſam-

men kommen, um dieſes glaͤnzende Reſultat hervorzurufen, und

iſt ſelbſt der tradionell fortgepflanzte Unabhaͤngigkeitsſinn der

alten Parlamente nicht ohne Einfluß darauf, — der Haupt-

grund, worauf dieſe Erſcheinung in ihrer Dauer beruht, iſt

doch ohne Zweifel in der Oeffentlichkeit des gerichtlichen Ver-

fahrens zu ſuchen.

2. Bei dem ſchriftlichen Verfahren iſt ein ſchneller Pro-

ceßgang nicht moͤglich. Das ergiebt ſich ſchon aus formellen

Gruͤnden, und die Erfahrung der deutſchen Gerichte, welche

mit Ruͤckſtaͤnden uͤberhaͤuft zu ſeyn pflegen, und deren Lang-

ſamkeit ſprichwoͤrtlich geworden iſt, bezeugt es. Nun ſind wir

freilich uͤberhaupt kein feuriges und raſches Volk; aber um ſo

mehr iſt es eben noͤthig, daß wir durch die Form nicht noch

mehr zuruͤckgehalten werden. Von welcher Bedeutung aber

Beſeler, Volksrecht. 19

[290/0302]

Neuntes Kapitel.

dieſe gerade in dieſer Hinſicht iſt, das zeigt der Umſtand, daß

auch in Deutſchland da, wo das oͤffentlich-muͤndliche Ver-

fahren conſequent durchgefuͤhrt worden, die Beſchwerden uͤber

Juſtizverzoͤgerung aufhoͤren, — ein Erfolg, der in Verbindung

mit der groͤßeren Wohlfeilheit der Proceſſe, faſt allein ſchon

genuͤgt, der ganzen Einrichtung die Liebe des Volkes zu ge-

winnen.

3. Wie ſchon bemerkt worden, giebt das muͤndliche Ver-

fahren eine Lebendigkeit der Anſchauung, welche in der Art

dem Papier nie zu entnehmen iſt, ſelbſt wenn die Schriftſaͤtze

und Protokolle eine Vollſtaͤndigkeit und Genauigkeit erhielten,

welche in der Wirklichkeit nicht zu erreichen iſt. Dazu kommt,

daß, wo das ſchriftliche Verfahren beſteht, in den meiſten Faͤl-

len nach den Vortraͤgen der Referenten entſchieden werden muß,

und das ganze Collegium nicht einmal die vollſtaͤndige Kennt-

niß der Acten erhaͤlt.

4. Man ſagt wohl, das muͤndliche Verfahren ſchade der

Gruͤndlichkeit und ſchließe die ruhige und umſichtige Erwaͤgung

aus. Aber nicht die Laͤnge der Zeit, welche auf das Nach-

denken verwandt wird, giebt die Gewaͤhr, daß das Rechte ge-

funden werde; es kommt vor Allem auf die Energie und

Sammlung an, mit welcher der Geiſt thaͤtig iſt. Was in die-

ſer Hinſicht feſter Wille und Uebung thun koͤnnen, das zeigt

nicht bloß die Erfahrung, das lehrt auch die Pſychologie; und

im Nothfall kann ja das Gericht ſeinen Spruch ausſetzen.

Auch bei dem muͤndlichen Verfahren werden freilich Fehler

und Verſehen vorkommen; aber gewiß nicht haͤufiger und keine

ſchlimmeren, als ſie jetzt taͤglich unter der Herrſchaft des ge-

meinen deutſchen Proceſſes begangen werden.

5. Die Oeffentlichkeit der Verhandlungen belebt das

[291/0303]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

Rechtsgefuͤhl des Volkes und giebt ihm Vertrauen zur Juſtiz.

Dieſe bleibt nicht mehr die unheimliche Macht, welche wie ein

Fatum uͤber den Haͤuptern der Buͤrger ſchwebt; ſondern ſie

tritt menſchlich unter die Menſchen, und laͤßt ſich in ihrer

Werkſtaͤtte beſchauen. So iſt ſchon in der Oeffentlichkeit eine

Garantie gegeben, welche in Verbindung mit einer weiſe geord-

neten Gerichtsverfaſſung die Anwendung aͤußerer Mittel, um

die Gerechtigkeit der Urtheile zu documentiren, entbehrlicher

macht. Die muͤhſame und zeitraubende Ausarbeitung der Ent-

ſcheidungsgruͤnde wird, zumal wenn kein Inſtanzenzug ſtatt

findet, in der Regel unterbleiben koͤnnen.

6. Allein ein Einwand wird gegen die Muͤndlichkeit und

folgeweiſe gegen die Oeffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens

erhoben, der von Bedeutung iſt, und manchen gewiſſenhaften

Juriſten dagegen geſtimmt hat, — das iſt die Erſchwerung

des Gebrauchs der Rechtsmittel. In der That iſt dieß ein

Umſtand, welcher alle Aufmerkſamkeit verdient, weil dadurch

fuͤr das ſchriftliche Verfahren ein weſentlicher Vorzug be-

gruͤndet ſcheint. Denn in der wiederholten Pruͤfung eines

Rechtsfalls durch ein hoͤheres Gericht liegt allerdings eine

wichtige Garantie fuͤr die Gerechtigkeit der endlichen Entſchei-

dung; dieß in Abrede ſtellen zu wollen, iſt baare Sophiſterei.

Es fragt ſich nur, ob der Vortheil, welcher dadurch gewonnen

wird, von ſolcher Wichtigkeit iſt, daß er alle Vorzuͤge des oͤf-

fentlich-muͤndlichen Verfahrens aufhebt und fuͤr das entgegen-

geſetzte Princip den Ausſchlag giebt, und das laͤßt ſich mit

Fug verneinen.

An und fuͤr ſich iſt der Gebrauch der Rechtsmittel auch

beim oͤffentlichen Verfahren nicht ausgeſchloſſen. Schon im

aͤlteren deutſchen Proceß kam ein Zugrecht an die Oberhoͤfe

19*

[292/0304]

Neuntes Kapitel.

vor, deſſen Zweck freilich meiſtens die Einholung einer Rechts-

belehrung war, ohne daß die Verhandlungen der erſten In-

ſtanz wiederholt zu werden brauchten; auch das franzoͤſiſche

Recht laͤßt ja unbedingt eine Caſſation der geſprochenen Ur-

theile wegen Nullitaͤt zu, und gewaͤhrt in allen Faͤllen, wo

die Gerichte ohne Zuziehung von Geſchwornen geurtheilt ha-

ben, einen regelmaͤßigen Inſtanzenzug. Dieſe Unterſcheidung

aber ſcheint da, wo das Schoͤffenthum conſequent durchgefuͤhrt

worden, nicht begruͤndet, ſo wie ſie ja auch von ſelbſt weg-

fiele, wenn die Geſchwornen ſtets zur Entſcheidung herbeige-

zogen wuͤrden; es wird daher die Frage, in wiefern Rechts-

mittel mit dem oͤffentlichen Verfahren zu vereinigen ſind, bei

einer ganz gleichmaͤßigen Einrichtung der Gerichtsverfaſſung

nach andern, in der Natur der Sache liegenden Momenten zu

beſtimmen ſeyn. Dabei kommt es denn namentlich darauf an,

ob der Spruch einer hoͤheren Inſtanz moͤglich wird ohne die

Wiederholung der ganzen vorhergegangenen Verhandlung, oder

ob die Grundlage, worauf das erſte Urtheil erwachſen iſt, fuͤr

das ſpaͤtere nicht maaßgebend ſeyn kann. Das fuͤhrt aber

darauf, zwiſchen Civil- und Criminalſachen zu unterſcheiden.

In jenen, wo nach der Verhandlungsmaxime das Princip des

Verzichtes von Einfluß iſt, und der einmal feſtgeſtellte That-

beſtand nicht einſeitig veraͤndert werden kann, wird es in der

Regel moͤglich ſeyn, die relevanten Thatſachen und namentlich

auch das Reſultat der Beweisfuͤhrung in den Schriftſaͤtzen der

Parteien, ſo weit dieſe zulaͤſſig ſind, und im Gerichtsprotokoll

zu fixiren. Auf dieſe Grundlage wird ſich in Verbindung

mit den Entſcheidungsgruͤnden der unteren Inſtanz eine neue

muͤndliche Verhandlung vor dem hoͤheren Gerichte einleiten

laſſen, ohne daß die Wiederholung des fruͤheren Verfahrens

[293/0305]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

durchaus nothwendig waͤre. Anders verhaͤlt es ſich dagegen

mit den Criminalſachen; denn hier faͤllt das Princip des Ver-

zichtes weg, es kommt nur auf das materielle Recht an. Auch

haͤngt das Meiſte von der unmittelbaren Anſchauung der Rich-

ter ab, von dem Eindruck, den das Benehmen, die beſondere

Subjectivitaͤt des Angeſchuldigten und der Zeugen, kurz die

Totalitaͤt der geſammten Verhandlung hervorbringen. Sollte

nun dennoch auf die in der erſten Inſtanz erwachſenen Acten

das zweite Urtheil abgegeben werden, ſo wuͤrde fuͤr dieſes ge-

rade die Hauptgarantie fuͤr das ganze oͤffentlich-muͤndliche Ver-

fahren verloren gehen, auch abgeſehen davon, daß man Alles

ſo weitlaͤuftig zu Papier bringen muͤßte, als es nur bei dem

rein ſchriftlichen Verfahren noͤthig iſt. — Es wird alſo anzu-

nehmen ſeyn, daß in Civilſachen ein regelmaͤßiger Inſtanzenzug

neben der Oeffentlichkeit beſtehen kann, ohne daß die Wieder-

holung der fruͤheren Verhandlungen anders als ausnahmsweiſe

noͤthig waͤre; daß dieſe aber in Criminalſachen als die Regel

eintreten muß, wenn das Verfahren nicht an einer weſentlichen

Unvollkommenheit leiden ſoll. Dadurch wuͤrde aber ein ſol-

cher Aufwand von Zeit und Koſten entſtehen, und die Hand-

habung der Rechtspflege wuͤrde im Allgemeinen ſo erſchwert

werden, daß die allgemeine Zulaſſung von Rechtsmitteln in

Criminalſachen ſehr bedenklich erſcheint. Sie muͤßten wohl je-

denfalls auf beſtimmte Faͤlle beſchraͤnkt, und auch nicht ganz

der Willkuͤhr des Angeſchuldigten uͤberlaſſen werden; vielleicht

ließe ſich z. B. ein ſolches Auskunftsmittel treffen, daß eine

beſtimmte Minoritaͤt der Richter das Erkenntniß unter gewiſſen

Umſtaͤnden ſchelten, und an ein anderes Gericht ziehen koͤnnte.

Nun iſt es freilich von großer Bedeutung, daß dieſelbe

Sache wiederholt von unbefangenen Richtern gepruͤft werde,

[294/0306]

Neuntes Kapitel.

und namentlich in Criminalſachen, bei denen es ſich um die

hoͤchſten Guͤter der Menſchen handelt, ſcheint eine Einrichtung,

wodurch eine ſolche wiederholte Pruͤfung unter allen Umſtaͤn-

den moͤglich gemacht wird, noch mehr noͤthig zu ſeyn, als in

Civilſachen. Aber auf der andern Seite laͤßt es ſich doch nicht

leugnen, daß darin nur ein Mittel gegeben iſt, die Gerech-

tigkeit der Urtheile zu ſichern. Fuͤr den heutigen deutſchen

Proceß mußte dieſe Garantie abſolut nothwendig erſcheinen,

weil er ſonſt ſo haltungslos da ſtand, und daher erklaͤrt es

ſich, daß man, was ihm an innerm Werthe abging, durch aͤu-

ßere Mittel zu erſetzen ſuchte, und ein ſo großes Gewicht auf

die drei Inſtanzen und auf die Motivirung der Urtheile legte;

aber es fragt ſich eben, ob nicht durch eine volksthuͤmliche

Geſtaltung der Gerichtsverfaſſung und die Oeffentlichkeit der

Verhandlungen ein Reſultat erreicht werden kann, welches an

ſich ſchon das Vertrauen zur Rechtspflege erhoͤht, und die be-

ſchraͤnkte Anwendung jener aͤußeren Garantien moͤglich macht.

Das iſt eben der Punct, worauf es ankommt: man hat die

Wahl zwiſchen dem heimlich-ſchriftlichen Verfahren mit ſei-

nen Garantien und dem entgegenſtehenden Syſteme; eine

vollſtaͤndige Verſchmelzung beider Inſtitute, die Aneignung al-

ler Vortheile ohne alles Opfer iſt nicht wohl moͤglich. Er-

waͤgt man nun aber die großen Vorzuͤge einer volksthuͤmlichen

Gerichtsverfaſſung mit oͤffentlich-muͤndlichem Verfahren; be-

denkt man, daß gerade das Bewußtſeyn, in erſter und letzter

Inſtanz zu entſcheiden, fuͤr den Richter die groͤßte Aufforde-

rung zur moͤglichſt umſichtigen und beſonnenen Entſcheidung

enthaͤlt; nimmt man ferner in Betracht, daß auch bei der

ausgedehnteſten Anwendung der Rechtsmittel doch immer eine

willkuͤhrlich gezogene Grenze beſtehen muß, und daß auch da-

[295/0307]

Das Volksrecht und das Gerichtsweſen.

durch, wie durch andere Mittel, nur die Wahrſcheinlichkeit fuͤr

die Gerechtigkeit des Urtheils erhoͤht, aber doch keine Gewiß-

heit dafuͤr gegeben wird; beachtet man endlich, daß ſich unter

allen Voͤlkern, welche ſich einer volksthuͤmlichen Geſtaltung ih-

res Gerichtsweſens erfreuen, kein Verlangen nach jener ausge-

dehnten Anwendung der Rechtsmittel zeigt, waͤhrend ſie in

Deutſchland doch kein rechtes Vertrauen und keine wahre Be-

friedigung hervorrufen konnte; ſo laͤßt ſich mit Fug behaup-

ten, daß auch dieſer Grund nicht fuͤr den gemeinen deutſchen

Proceß ſpricht, und die Wage zu ſeinen Gunſten nicht ſin-

ken macht.

Es koͤnnte hier noch manches Andere, und namentlich

auch die Frage eroͤrtert werden, ob fuͤr den Proceß die Un-

terſuchungs- oder die Verhandlungsmaxime zur Geltung zu

bringen iſt; doch will ich auf das Weitere nicht naͤher einge-

hen. Was insbeſondere den eben hervorgehobenen Punct

betrifft, ſo iſt fuͤr Civilſachen die Verhandlungsmaxime die des

gemeinen Rechts, und eine Abweichung davon, welche in Preußen

verſucht worden, hat in ihrem Erfolge eben nur die wohl zu

beachtende Lehre gegeben, wie gefaͤhrlich es iſt, wenn eine par-

ticulaͤre Geſetzgebung in ſelbſtaͤndiger Haltung eine Reform

durchfuͤhren will, welche nicht auf einem wahrhaft nationalen

Princip beruht, ſondern bloß theoretiſch aus ſcheinbaren Gruͤn-

den der Zweckmaͤßigkeit abſtrahirt iſt. Was aber den Crimi-

nalproceß betrifft, ſo ſind daruͤber doch nachgerade auch alle

freiſinnigen und unbefangenen Juriſten einig, daß fuͤr dieſen

eine gruͤndliche Aenderung noͤthig iſt, welche zum accuſatoriſchen

Verfahren mit einem oͤffentlichen Anklaͤger zuruͤckfuͤhren muß,

[296/0308]

Neuntes Kapitel. Das Volksrecht c.

wenn auch eine voraufgehende Unterſuchung damit in Verbin-

dung zu ſetzen iſt. Das Alles haͤngt freilich mit einer Re-

form unſeres ganzen Gerichtsweſens, wie ſie im Obigen eroͤr-

tert worden, genau zuſammen; doch wuͤrde eine genauere Be-

handlung des Gegenſtandes uͤber den Plan dieſer Schrift hin-

ausfuͤhren.

[[297]/0309]

II.

Das Juriſtenrecht.

[[298]/0310]

[[299]/0311]

Zehntes Kapitel.

Methode des Juriſtenrechts.

Das Daſeyn eines ſelbſtaͤndigen deutſchen Juriſtenrechts iſt

ein geſchichtliches Factum, welches als ſolches ſeine volle An-

erkennung verlangt. In der That hat man es auch ſeit ſei-

ner Entſtehung, welche mit der Aufnahme des roͤmiſchen Rechts

zuſammenfaͤllt, zu allen Zeiten als einen Theil des poſitiven

Rechts gelten laſſen und zur Anwendung gebracht, wenn man

auch nicht immer dieſelben Ausdruͤcke dafuͤr gebrauchte, und

uͤber den Grund und Umfang ſeiner Geltung, ſo wie uͤber die

Art ſeiner Erkenntniß in mannichfachen Schwankungen und

Irrthuͤmern begriffen war. Anfangs nahm man mit dem roͤ-

miſchen Recht die von den italieniſchen Juriſten ausgebildete

Lehre von der communis Doctorum opinio auf, welche von

dem unter den gegebenen Verhaͤltniſſen ganz richtigen Grund-

ſatze ausging, daß die gemeinſame Ueberzeugung des Juriſten-

ſtandes oder doch die uͤberwiegend vorherrſchende Meinung ſei-

ner bedeutendſten Vertreter uͤber die Geltung eines im roͤmi-

ſchen Recht nicht klar ausgeſprochenen Rechtsſatzes entſcheide.

Die Schwaͤche dieſer Theorie lag, abgeſehen von dem Werth

der ganzen Rechtsbildung, mit welcher die bezeichnete Anſchau-

ungsweiſe unmittelbar zuſammen hing, hauptſaͤchlich in der

Art, wie man ſie zur Anwendung brachte. Denn ſtatt eine

[300/0312]

Zehntes Kapitel.

wiſſenſchaftliche Unterſuchung uͤber jene unter den Juriſten feſt

gewordene rechtliche Ueberzeugung anzuſtellen, begnuͤgte man

ſich meiſtens damit, einzelne Auctoritaͤten, unter denen Barto-

lus und Baldus mehr noch als die Gloſſatoren hervorragten,

anzufuͤhren, oder, als ſpaͤter eine genauere Bekanntſchaft auch

mit andern Practikern verbreitet ward, und auch die deutſche

Jurisprudenz ſchon eine Literatur bekam, ohne Kritik und oft

durch ein ganz oberflaͤchliches Zaͤhlen der Gewaͤhrsmaͤnner die

communis opinio zu beſtimmen. Dieß Verfahren, wogegen

ſchon Zaſius eiferte, kann man als die erſte Periode in der

Entwicklung des deutſchen Juriſtenrechts bezeichnen. Je mehr

ſich aber das roͤmiſche Recht in der Praxis der Gerichtshoͤfe

und uͤberhaupt im Rechtsleben feſtſetzte, deſto groͤßer ward auch

die Selbſtaͤndigkeit der deutſchen Juriſten; es ward ſchon auf

die Anſichten derer, welche es mit der unmittelbaren Anwen-

dung des Rechts zu thun hatten, und namentlich auf die

Rechtsſpruͤche ein bedeutendes Gewicht gelegt. Am Erſten und

Entſchiedenſten machte ſich in dieſer Beziehung die Auctoritaͤt

des Reichskammergerichts geltend; ſpaͤter, als ſich auch ein-

zelne Landesgerichte, und unter dieſen beſonders die ſaͤchſiſchen,

eine allgemeinere Anerkennung verſchafft hatten, wurden ſie

gleichfalls bei der Feſtſtellung des Juriſtenrechts beruͤckſichtigt.

Noch entſchiedener wirkten darauf aber die Juriſtenfacultaͤten

ein, als ſich aus dem jus respondendi der einzelnen Docto-

ren der Gebrauch der Facultaͤtserachten und daraus wieder

in allmaͤliger Entwicklung eine wahre Jurisdiction der Spruch-

collegien, wenn auch in der urſpruͤnglichen Form der Rathser-

theilung, fuͤr das ganze Reich gebildet hatte. Denn die aca-

demiſchen Lehrer ſtanden doch mehr, als die Beiſitzer der an-

dern Gerichtshoͤfe, in einer unmittelbaren Beziehung zur juri-

[301/0313]

Methode des Juriſtenrechts.

ſtiſchen Theorie, welche ſie nun alſo mit der Rechtsanwendung

in die naͤchſte Verbindung bringen konnten. Aus dieſem Al-

len erklaͤrt es ſich, daß nach und nach die communis DD.

opinio als Grund des Juriſtenrechts nicht mehr ganz ſo wie

fruͤher aufgefaßt ward, und daß man neben den Anſichten an-

geſehener Schriftſteller beſonders auch die in den Rechtsſpruͤ-

chen dargelegte Ueberzeugung beruͤckſichtigte. Das ward denn

auch ſeit der Mitte des 17. Jahrhunderts in der juriſtiſchen

Terminologie bemerklich, indem man das Juriſtenrecht nicht

mehr als communis opinio, ſondern als usus fori, Gerichts-

gebrauch, Praxis zu bezeichnen pflegte, und den Ausdruck „ge-

meine Meinung“ hauptſaͤchlich auf den Fall beſchraͤnkte, wenn

es ſich nicht um die Begruͤndung ſelbſtaͤndiger Inſtitute, ſon-

dern um die Entſcheidung anhaͤngiger Controverſen handelte.

Auch ſtellte man wohl die Theorie der Praxis ausdruͤcklich ge-

genuͤber, aber bis auf die neueren Zeiten nicht, um damit ei-

nen inner Gegenſatz auszudruͤcken, ſondern nur, um die Ver-

ſchiedenheit der Form und des Zwecks bei der Thaͤtigkeit der

Juriſten anzudeuten. Denn die beruͤhmteſten Practiker Deutſch-

lands galten auch fuͤr bedeutende Theoretiker, obgleich ſie wohl

den Anforderungen einer ſogenannten eleganten Jurisprudenz

nicht immer genuͤgten. Dieſe hat aber uͤberhaupt auf das

deutſche Rechtsweſen ſtets nur einen ſehr mittelbaren und be-

ſchraͤnkten Einfluß ausgeuͤbt.

Auf die angegebene Weiſe nun iſt es geſchehen, daß in

Deutſchland ſchon ſeit Langem ein Juriſtenrecht, wenn auch

nicht dem Namen, ſo doch der Sache nach anerkannt worden

iſt. Und wie haͤtte es auch anders ſeyn koͤnnen, da es ja

außer allem Zweifel iſt, daß ein großer Theil des poſitiven

Rechts nur durch den Einfluß des Juriſtenſtandes gebildet,

[302/0314]

Zehntes Kapitel.

und daß ſogar die Aufnahme des roͤmiſchen Rechts dadurch

allein moͤglich geworden iſt. Ja dieſes ſelbſt ſtellt ſich in ſei-

ner allmaͤligen Umwandlung und Moderniſirung fuͤr den heu-

tigen Gebrauch eigentlich als ein Juriſtenrecht dar, wenn auch

mit einem ſehr bedeutenden poſitiven Fundamente; auf der an-

dern Seite aber haben ja gleichfalls die deutſchrechtlichen In-

ſtitute derſelben Quelle zum großen Theile ihre Entſtehung und

gemeinrechtliche Ausbildung zu verdanken! Bei dieſem Stande

der Sachen darf es daher billig Wunder nehmen, daß gerade

in neueſter Zeit dem Juriſtenrecht von manchen Seiten die

Anerkennung verſagt wird, und daß man ſich noch nicht uͤber

deſſen Begriffsbeſtimmung und Methode geeinigt hat. So hat

noch neulich unter Anderen Mittermaier *)

die Exiſtenz eines

ſelbſtaͤndigen Juriſtenrechts ganz geleugnet, weil es auf Willkuͤhr

beruhe, und wie oben gezeigt worden, wollen Puchta und v.

Savigny daſſelbe nur inſoweit gelten laſſen, als ſich wahres

Volksrecht darin offenbare. Ich kann in dieſen Anſichten nur

eine willkuͤhrliche Beſchraͤnkung des poſitiven Rechtsſtoffs fin-

den, welche von theoretiſchen Vorausſetzungen, die mit den ge-

ſchichtlich begruͤndeten Rechtszuſtaͤnden in Deutſchland nicht

uͤbereinſtimmen, ihren Ausgang nimmt; doch kommt allerdings

auch in Betracht, daß die wiſſenſchaftliche Behandlung des

Juriſtenrechts bis jetzt ſehr mangelhaft geweſen iſt, und daß

namentlich die Verſuche, eine beſtimmte Methode fuͤr die Er-

forſchung deſſelben anzugeben, ſo ſelten gemacht ſind und ei-

nen ſo geringen Erfolg gehabt haben. In fruͤherer Zeit fuͤhlte

man uͤberhaupt nicht das Beduͤrfniß, ſich uͤber den Begriff

des Juriſtenrechts und uͤber das bei ſeiner weiteren Entwicklung

*) Grundſaͤtze des deutſchen Privatrechts. 6. Aufl. I. §. 34.

[303/0315]

Methode des Juriſtenrechts.

beobachtete Verfahren Rechnung abzulegen. Man nahm, nach der

Art einer gewandten Routine, die Sache, wie ſie ſich aͤußer-

lich darſtellte, und begnuͤgte ſich meiſtens damit, einen Rechts-

ſatz mit der Allegation einzelner Auctoritaͤten zu belegen, welche

dann in ihrem Anſehen nach den verſchiedenen Perioden wech-

ſelten, und oft auch fuͤr die einzelnen Theile Deutſchlands ver-

ſchieden waren. Noch gegenwaͤrtig iſt fuͤr manche Juriſten

Gluͤck’s Commentar ein wahrer Codex des Juriſtenrechts, und

wer auch ſelbſtaͤndiger zu Werke geht, der kommt doch ſelten

uͤber das Anſammeln einzelner Auctoritaͤten hinaus, ohne die

ganze Maſſe des zur Beurtheilung vorliegenden Materials in

Fluß zu bringen und geiſtig zu durchdringen. Selbſt Mau-

renbrecher *), der zuerſt weitlaͤuftiger uͤber die Methode des

Juriſtenrechts gehandelt hat, kann ſich von dem Gewicht der

Zahl und von der wunderlichen Anſicht, als ob es ſich dabei

von einem Beweisverfahren handle, nicht losmachen, ſo daß

er von Beweis und Gegenbeweis, von Einreden des Irrthums

und der Unvernuͤnftigkeit ſpricht, Beweismittel auffuͤhrt u. ſ. w.

Nur in wenigen Compendien und Monographien iſt ein mehr

wiſſenſchaftlicher Weg eingeſchlagen worden; aber allgemeine

Regeln fuͤr die Methode hat man daraus noch nicht abſtra-

hirt. Es wird daher vor Allem noͤthig ſeyn, ſich zuvoͤrderſt

hieruͤber zu verſtaͤndigen, ehe das Juriſtenrecht ſeinem Inhalte

nach einer naͤheren Betrachtung unterzogen werden kann.

Die eigentliche Quelle des Juriſtenrechts in Deutſchland

iſt die ſeit der Aufnahme des roͤmiſchen Rechts thatſaͤchlich be-

gruͤndete Macht des Juriſtenſtandes, welcher das Recht nach

*) S. beſonders deſſen Lehrbuch des deutſchen Privatrechts. 2. Aufl.

I. §. 28 ff.

[304/0316]

Zehntes Kapitel.

allen Seiten hin beherrſchte, und dadurch auch den nachhal-

tigſten Einfluß auf deſſen Ausbildung und Feſtſtellung er-

langte. Es machte ſich eine Anſicht unter den Juriſten gel-

tend, welche vielleicht einem beſtimmten Beduͤrfniſſe entſprach,

vielleicht aber auch vorzugsweiſe in theoretiſchen Vorausſetzun-

gen oder gar Irrthuͤmern ihren Grund hatte; man begann in

den Gerichten die Rechtsverhaͤltniſſe darnach zu beurtheilen;

auch die einzelnen Rechtsgeſchaͤfte wurden darnach eingerichtet;

ſelbſt die Geſetzgebung accommodirte ſich dieſer Entwicklung,

und ehe man es ſich verſah, hatte ſich eine neue Rechtsregel

gebildet und ſtand als ein Beſtandtheil des gemeinen Rechts

da. Wenn denn auch uͤber deren Geltung vielleicht kein Zwei-

fel mehr herrſchte, ſo ſuchte man doch die letzte Begruͤndung

oft, nachdem jener Entwicklungsproceß bereits vollendet war,

in andern Umſtaͤnden als eben in der Meinung der Juriſten,

welche ſich, uͤber ihre eigene Productionskraft ſcheint es ver-

wundert, fuͤr ihre Schoͤpfung nach einer aͤußeren Stuͤtze um-

ſahen. Inſofern nun durch eine ſolche Rechtsbildung den An-

forderungen der modernen Lebensverhaͤltniſſe genuͤgt wurde,

und die Juriſten nur als ein Organ des Volksrechts thaͤ-

tig geweſen waren, kann man das ſo entſtandene Juriſten-

recht fuͤglich zum Volksrecht zaͤhlen oder doch als deſſen Er-

ſatz anſehen. Allein wie der deutſche Juriſtenſtand uͤber-

haupt nicht auf der breiten Baſis des Volkslebens ruhte, und

in keiner unmittelbaren Beziehung zum Volksbewußtſeyn ſtand,

ſondern meiſtens ein abgeſchloſſenes, gelehrtes Weſen trieb, und

ſein Wiſſen mehr aus abgeſtorbenen Rechtsquellen, als aus

der lebendigen Fuͤlle der Thatſachen und Verhaͤltniſſe ſchoͤpfte;

ſo mußte es auch geſchehen, daß das von ihm gebildete Recht

zum großen Theil nur die Kraft einer bloß aͤußerlichen Gel-

[305/0317]

Methode des Juriſtenrechts.

tung erhielt, und ſich daher als Gewohnheitsrecht im Gegen-

ſatz zum Volksrecht darſtellte.

Wenn nun aber das Juriſtenrecht in der Ueberzeugung

des Juriſtenſtandes begruͤndet iſt, ſo kann die Erkenntniß deſ-

ſelben nur dadurch erlangt werden, daß man es eben als in

dieſer Ueberzeugung exiſtirend nachweiſt. Dabei iſt allerdings

ein doppelter Weg moͤglich, aͤhnlich wie er ſchon bei den Er-

kenntnißquellen des Volksrechts bezeichnet worden iſt. Es laͤßt

ſich naͤmlich denken, daß ein Juriſt eine ſo unmittelbare An-

ſchauung von der gemeinſamen Ueberzeugung ſeines Standes

hat, und ſich, indem er eine darauf beruhende Rechtsregel an-

wendet oder ausſpricht, ſo beſtimmt als deſſen Repraͤſentanten

fuͤhlt, daß er ohne eine vermittelnde Operation, und alſo auch

ohne ſich einer beſonderen wiſſenſchaftlichen Methode zu bedie-

nen, ſicher das Rechte trifft. Eine ſolche unmittelbare An-

ſchauung des Juriſtenrechts wird ſich namentlich dann finden;

wenn die Geltung der Normen, um welche es ſich handelt,

keinem Zweifel mehr ausgeſetzt iſt, und ſie in gleichmaͤßiger

Anwendung ſo ſchnell wiederkehren, daß durch die haͤufige

Uebung auch der Einzelne mit ihrem Daſeyn ganz vertraut

wird, was beſonders bei den Regeln des Proceſſes der Fall

iſt. Allein waͤhrend dieſe Art der Erkenntniß bei dem Volks-

recht als das Urſpruͤngliche und Natuͤrliche ſich darſtellt, und

ſtatt deſſen nur in Folge beſonderer Umſtaͤnde eine wiſſenſchaft-

liche Operation noͤthig wird, ſo verhaͤlt ſich bei dem Juriſten-

recht die Sache gerade umgekehrt. Denn es vertraͤgt ſich nicht

mit der Stellung, welche die deutſche Rechtsverfaſſung dem

Juriſten angewieſen hat, daß er ſich, um die Geltung eines

Rechtsſatzes zu motiviren, bloß auf ſeine unmittelbare Rechts-

anſchauung beruft, wenigſtens nicht in ſolchen Faͤllen, wo dieſe

Beſeler, Volksrecht. 20

[306/0318]

Zehntes Kapitel.

eben nur auf einer juriſtiſchen Ueberzeugung beruhen ſoll. Es

iſt freilich ein ganz verkehrtes Verfahren, ohne genuͤgenden

Grund eine von der Jurisprudenz einmal anerkannte Regel zu

negiren, und wenn dieß vielleicht deswegen geſchieht, weil die

Begruͤndung derſelben nicht im roͤmiſchen Recht oder in einer

andern Quelle des geſchriebenen Rechts nachgewieſen werden

kann, ſo liegt darin ein offenbares Zeugniß von der mangel-

haften Kenntniß der modernen Rechtsbildung; was ſich als

eine beſondere Wiſſenſchaftlichkeit geltend machen will, ſtellt

ſich am Ende nur als eine einſeitige und duͤrftige Gelehrſam-

keit heraus. Allein der Juriſt muß dennoch im Stande ſeyn,

auch ſolchen Anfechtungen, denen das feſt begruͤndete Juriſten-

recht ausgeſetzt ſeyn kann, wiſſenſchaftlich zu begegnen, d. h.

er muß nicht bloß die Exiſtenz der Regel, ſondern auch den

Grund derſelben darthun koͤnnen. Ganz unerlaͤßlich aber wird

dieſe Aufgabe, wenn uͤber die Geltung eines Rechtsſatzes oder

gar eines ganzen Rechtsinſtituts Zweifel beſtehen, und eine

genaue Erwaͤgung des Fuͤr und Wider nothwendig wird, um

zu einer beſtimmten Anſicht zu gelangen. Eine ſolche wiſſen-

ſchaftliche Begruͤndung des Juriſtenrechts ſetzt aber eine ſichere

Methode in der Behandlung des zur Beurtheilung vorliegen-

den Rechtsſtoffs voraus, welche, ſoweit uͤberhaupt eine freie

geiſtige Thaͤtigkeit es zulaͤßt, nach beſtimmten Regeln verfaͤhrt,

und dadurch zu ſo feſten Reſultaten gelangt, als die Wahr-

heit auf dem Wege der Empirie und Geſchichte uͤberhaupt ge-

funden werden kann. Denn das iſt hier vor Allem feſt zu hal-

ten und hervorzuheben, daß es ſich bei der Methode des Ju-

riſtenrechts von einer wiſſenſchaftlichen, alſo freien und geiſti-

gen Thaͤtigkeit handelt. Wer dabei mit einer bloß mechani-

ſchen Fertigkeit glaubt auskommen zu koͤnnen, der thut uͤber-

[307/0319]

Methode des Juriſtenrechts.

haupt beſſer, ſich von vorn herein nach einer andern Beſchaͤf-

tigung umzuſehen, welche dem Handwerke etwas naͤher ſteht,

als dieſe. Selbſt die Anwendung einer civilproceßmaͤßigen Be-

weislehre auf die Feſtſtellung des Juriſtenrechts iſt ganz und gar

zu verwerfen, mehr noch als auf die des Volksrechts. Denn

hier laͤßt ſich doch, inſofern der Juriſtenſtand aus dem Volks-

leben ausgeſchieden iſt, unter Umſtaͤnden die Nothwendigkeit

zugeben, daß man ſeiner mangelhaften Kenntniß der Thatſa-

chen mit einer Beweisfuͤhrung zu Huͤlfe komme; bei dem Ju-

riſtenrecht aber kann es nur die Sache des Juriſten ſeyn, ſich

mit dem Material zu verſehen, aus welchem er die Ueberzeu-

gung ſeines Standes zu erkennen hat. Dieß gilt gleichmaͤßig,

mag die Unterſuchung nun ein theoretiſches oder ein beſtimm-

tes practiſches Intereſſe haben; ſelbſt wenn es ſich um ſpe-

cielle Rechtsnormen handelt, muß der Juriſt ſich ſelbſtaͤndig in

den Beſitz der Mittel ſetzen koͤnnen, welche etwa zur Erledi-

gung ſeiner Zweifel und zur Begruͤndung ſeiner Anſicht erfor-

derlich ſind. Wollte er dieſe Aufgabe einer Partei zuweiſen,

ſo wuͤrde das nichts Anderes heißen, als daß er dieſer mehr

juriſtiſche Bildung, Tact und Kenntniſſe zutraue, als ſich ſel-

ber. Natuͤrlich aber muß es den Parteien geſtattet ſeyn, Al-

les, was in Beziehung auf den Rechtsſatz zu ihren Gunſten

ſpricht, dem Richter vorzutragen, und ihn uͤberhaupt bei ſeiner

wiſſenſchaftlichen Operation zu unterſtuͤtzen.

Die Methode des Juriſtenrechts traͤgt alſo den Charakter

einer freien, wiſſenſchaftlichen Unterſuchung an ſich; ihre naͤ-

here Beſtimmung aber erhaͤlt ſie durch ihren Gegenſtand. In-

dem ſie naͤmlich die Aufgabe hat, das Recht als das Ergebniß

der Ueberzeugung des Juriſtenſtandes darzuſtellen, muß ſie al-

len den Erſcheinungen nachgehen, in denen dieſe Ueberzeugung

20*

[308/0320]

Zehntes Kapitel.

ſich kund gegeben, und den Juriſten daher allenthalben hin

folgen, wo ſie eine einflußreiche Thaͤtigkeit entwickelt haben,

und wo die Spuren davon erkennbar ſind. In dieſer Hin-

ſicht laſſen ſich drei Gebiete unterſcheiden, deren Grenzen frei-

lich vielfach in einander laufen, die aber doch in einer gewiſ-

ſen Abſonderung neben einander beſtehen koͤnnen, — ich meine

das Gebiet der Theorie, der practiſchen Rechtsanwendung und

der Geſetzgebung.

1. Die Thaͤtigkeit der Juriſten zeigt ſich als Lehre in

Rede und Schrift, wodurch die Anſichten am Beſtimmteſten

und Unmittelbarſten ihre Verbreitung finden. Fuͤr die Dar-

ſtellung des Juriſtenrechts iſt aber dabei nicht bloß auf ſolche

Vortraͤge Ruͤckſicht zu nehmen, welche daſſelbe direct zu ihrem

Gegenſtande haben; ſondern von der ganzen Maſſe des uͤber-

lieferten wiſſenſchaftlichen Apparates iſt dasjenige zu benutzen,

was auf irgend eine Weiſe zu der rechtsbildenden Kraft des

Juriſtenſtandes in einem beſtimmten Verhaͤltniſſe ſteht und von

derſelben Zeugniß ablegt. Man pflegt dieſe Seite der juriſti-

ſchen Thaͤtigkeit als die Theorie zu bezeichnen, dieſen Begriff

aber bald enger bald weiter zu faſſen, je nachdem man nur

die rein wiſſenſchaftlichen Arbeiten, ohne eine beſtimmte Bezie-

hung auf die Rechtsanwendung und die Geſetzgebung, darun-

ter befaßt, oder jede Darſtellung dahin rechnet, welche einen

allgemeineren Zweck hat, und nicht der Erledigung einer be-

ſtimmten practiſchen Aufgabe ausſchließlich gewidmet iſt. In

dieſem letzteren Sinne wuͤrde alſo ein Buch, welches eine Reihe

von Praͤjudicaten benutzte, um daraus vermittelſt einer ſelb-

ſtaͤndigen Bearbeitung der vorgekommenen Rechtsfragen wiſ-

ſenſchaftliche Reſultate zu ziehen (wie etwa die Abhandlungen

von Heiſe und Cropp), zur Theorie zu rechnen ſeyn, waͤhrend

[309/0321]

Methode des Juriſtenrechts.

umgekehrt das Wort in ſeiner engeren Bedeutung genommen

faſt nur fuͤr eine hiſtoriſche oder philoſophiſche Behandlung

des Rechts paßte. Allein jene weitere Auffaſſung ſcheint die

richtigere und auch inſofern angemeſſener zu ſeyn, als dadurch

der Anſicht, daß die Rechtswiſſenſchaft ein ſelbſtaͤndiges, vom

Leben unabhaͤngiges Ziel in ſich trage, beſtimmt entgegen ge-

treten wird. Damit ſoll aber natuͤrlich nicht geſagt ſeyn, daß

die hiſtoriſche Forſchung und die Philoſophie fuͤr das Juriſten-

recht keine Bedeutung haben; denn da es einen Theil des po-

ſitiven Rechts bildet, ſo bietet es der wiſſenſchaftlichen Behand-

lung alle Seiten dar, welche nur an dieſem uͤberhaupt zu

finden ſind.

2. Verſchieden nun von der Theorie iſt diejenige Thaͤ-

tigkeit der Juriſten, welche in der Anwendung des Rechts auf

einzelne Rechtsverhaͤltniſſe und Geſchaͤfte beſteht, und alſo zu-

naͤchſt die Erledigung eines beſtimmten practiſchen Falls zu

ihrer Aufgabe hat. Der Umſtand, daß ſich auch in dieſer

Hinſicht der Einfluß der Juriſten zu einer faſt ausſchließlichen

Herrſchaft erhoben hat, iſt gerade die Veranlaſſung geweſen,

daß ſie ihre theoretiſchen Ueberzeugungen in das Rechtsleben

einfuͤhren und zur poſitiven Geltung bringen konnten. Jene

practiſche Thaͤtigkeit zeigt ſich nun vor Allem als die Rechts-

anwendung in den Gerichten, hauptſaͤchlich natuͤrlich in den

richterlichen Urtheilen, aber auch in den Vortraͤgen der Advo-

caten und in den ausgeſtellten Gutachten, welche, wenn ſie

von angeſehenen Juriſten ausgingen, oft von großem Einfluß

auf die Rechtsbildung geworden ſind. Man thut daher jeden-

falls Unrecht, wenn man ſich die juriſtiſche Praxis allein in

der richterlichen Amtsfuͤhrung concentrirt denkt; noch groͤßer

aber iſt der Irrthum, wenn man annimmt, daß das Juriſten-

[310/0322]

Zehntes Kapitel.

recht ſich bloß aus den Praͤjudicaten ableiten laſſe. Dieſe ſind

fuͤr den Zweck, um den es ſich hier handelt, nichts anders,

als Zeugniſſe von der juriſtiſchen Ueberzeugung der Majoritaͤt

eines beſtimmten Gerichts, und haben haͤufiger ihren Grund

in der ſchon fruͤher ausgebildeten Theorie, als daß ſie umge-

kehrt dieſe hervorrufen, obgleich hier natuͤrlich eine lebendige

Wechſelwirkung zwiſchen der Rechtslehre und der Rechtsan-

wendung beſteht, welche ſich gegenſeitig befeſtigen und beſtim-

men. In andern Staaten, namentlich in Frankreich und Eng-

land, haben allerdings die Praͤjudicate der obern Gerichtshoͤfe

einen groͤßeren und mehr unmittelbaren Einfluß auf die Rechts-

bildung gewonnen, als vom Standpunct des gemeinen Rechts

aus fuͤr Deutſchland zugegeben werden kann; ſelbſt die Auc-

toritaͤt der Reichsgerichte iſt auch in dieſer Hinſicht immer nur

eine beſchraͤnkte geblieben, obgleich die Geſetzgebung entſchieden

darauf hin zu wirken ſuchte, in ihnen einen Mittelpunct fuͤr die

einheitliche Entwicklung des gemeinen Rechts zu begruͤnden.

Aber die Religionsſtreitigkeiten, die vielen Exemtionen, die all-

maͤlige Aufloͤſung der Reichsverfaſſung und uͤberhaupt die

thatſaͤchlich ſo wenig wuͤrdige und erfolgreiche Stellung na-

mentlich des Reichskammergerichts, welches den Verfall des

nationalen Weſens nur zu treu in ſich abſpiegelte, — dieſe

Gruͤnde ließen es nicht zu einer bindenden Kraft der reichsge-

richtlichen Praͤjudicate kommen, fuͤr deren regelmaͤßige Veroͤf-

fentlichung auch nicht einmal geſorgt war. Ich wuͤßte in der

That keine einzige Lehre zu nennen, welche dadurch ihre defi-

nitive Feſtſtellung erlangt haͤtte; nur die Reception des roͤmi-

ſchen Rechts iſt, wie fruͤher gezeigt worden, durch das Reichs-

kammergericht weſentlich befoͤrdert worden, aber mehr in Folge

eines allmaͤlig wirkenden Einfluſſes, als durch die Kraft be-

[311/0323]

Methode des Juriſtenrechts.

ſtimmter, unmittelbar geltender Entſcheidungen. Auch in den

einzelnen deutſchen Staaten iſt der Grundſatz, daß die unte-

ren Gerichte, unabhaͤngig von den Anſichten der hoͤheren In-

ſtanz, frei nach ihrer Ueberzeugung zu erkennen haben, ſtets

als die gemeinrechtliche Regel feſtgehalten worden, ſo daß eine

Abweichung davon einer beſonderen particularrechtlichen Be-

gruͤndung bedarf. Das gilt namentlich auch von den gemei-

nen Beſcheiden der Obergerichte, — eine Einrichtung, deren

zeitgemaͤße Fortbildung neulich in Preußen und Baiern hin-

ſichtlich der Plenarbeſchluͤſſe des oberſten Gerichtshofes verſucht

worden iſt. — Dieſe Freiheit der ſubjectiven Ueberzeugung des

Richters hat ſich fuͤr Deutſchland auch in den einzelnen Ge-

richtshoͤfen geltend gemacht, indem man bei ihnen haͤufiger,

als es bei andern Voͤlkern der Fall iſt, ein Abgehen von fruͤ-

her ausgeſprochenen Anſichten, und daher ein Schwanken und

oft einen directen Widerſtreit in den Praͤjudicaten findet, je

nachdem ſich die Ueberzeugung der Majoritaͤt aͤndert. Das

erklaͤrt ſich aber vorzugsweiſe daraus, daß bei der Beſchaffen-

heit unſeres poſitiven Rechts und unſerer ganzen Verfaſſung,

welche der gelehrten Theorie einen ſo weiten Spielraum ge-

ſtatten und der Entwicklung des Rechts aus den Lebensver-

haͤltniſſen heraus ſo wenig guͤnſtig ſind, die Hauptkraft des

Juriſtenſtandes nicht in den eigentlichen Practikern concentrirt

iſt. Dieſe laſſen ſich vielmehr das Material, namentlich das

gemeinrechtliche, welches ſeiner Natur nach einem gewiſſen Wan-

del unterworfen iſt, meiſten Theils von den Theoretikern be-

reiten und zutragen, und kommen dadurch in eine Abhaͤngig-

keit, welche die freie Beherrſchung des Rechtsgebiets durch ihre

Praͤjudicate unmoͤglich macht, und natuͤrlich auch das feſte Be-

harren bei Anſichten, die ſie nicht ſelbſtaͤndig begruͤndet haben,

[312/0324]

Zehntes Kapitel.

außerordentlich erſchwert. — Nach dieſer Darſtellung iſt nun

im Allgemeinen zu beurtheilen, was von der verbindlichen

Kraft fruͤherer Praͤjudicate fuͤr das erkennende Gericht gelehrt

zu werden pflegt, indem man in dieſer Beziehung von einer

Obſervanz der Gerichtshoͤfe als einer beſonderen Rechtsquelle

handelt, welche denn wohl gar als die einzige, wirklich begruͤn-

dete Erſcheinung des Juriſtenrechts aufgefaßt wird. Dieſe letz-

tere Anſicht, welche auf eine irrige Deutung einzelner Beſtim-

mungen des roͤmiſchen Rechts zuruͤckzufuͤhren iſt, koͤnnen wir

fuͤglich unbeachtet bei Seite laſſen; was aber die ſogenannte

Obſervanz der Gerichtshoͤfe betrifft, ſo hat man ſich darunter

nichts anders zu denken, als ein Gewohnheitsrecht, welches ſich

in der engen Sphaͤre einzelner Collegien ausgebildet hat, und

wodurch Fragen des formellen Rechts, z. B. uͤber die Dauer

gewiſſer Friſten, ein fuͤr allemal feſtgeſtellt ſind, ſo daß eine

willkuͤhrliche Abweichung davon unzulaͤſſig erſcheint. Auf ge-

wiſſe Weiſe laͤßt ſich nun auch eine ſolche Obſervanz aller-

dings als eine Art des Juriſtenrechts auffaſſen; nur iſt es

auch hier nicht gerade nothwendig, daß es durch Praͤjudicate

feſtgeſtellt iſt, und die Wirkung deſſelben wird in der Regel

nur die eines particulaͤren oder localen Rechtes ſeyn, indem ſie

ſich nicht uͤber die Competenz des betreffenden Gerichtshofes

hinaus erſtreckt.

Die Thaͤtigkeit des Juriſtenſtandes in der Rechtsanwen-

dung wird nun gewoͤhnlich die Praxis genannt; doch bezeich-

net man mit demſelben Ausdruck auch das Reſultat jener Thaͤ-

tigkeit in Beziehung auf die Rechtsbildung, ſo daß er dann

daſſelbe bedeutet, was ſonſt Gerichtsgebrauch, usus fori

genannt wird. Die Praxis ſteht alſo, der Strenge des Be-

griffs nach, der Theorie gegenuͤber; weil aber, wie ſchon be-

[313/0325]

Methode des Juriſtenrechts.

merkt worden, die Grenzen zwiſchen beiden in der Wirklichkeit

nicht geſchieden ſind, ſo nimmt man es gewoͤhnlich auch mit

dem Sprachgebrauch nicht ſo genau, und bedient ſich des ei-

nen wie des andern Ausdrucks bald im weiteren bald im en-

geren Sinne, faßt auch wohl beides unter einem gemeinſchaft-

lichen Namen zuſammen, zu welchem Zwecke z. B. Eichhorn

der Terminologie des franzoͤſiſchen Rechts das Wort Doc-

trin entlehnt hat.

3. Mit der Anfuͤhrung der Theorie und Praxis pflegt

man ſich nun zu begnuͤgen, wenn die verſchiedenen Seiten der

juriſtiſchen Thaͤtigkeit, auch mit Ruͤckſicht auf die Erkenntniß-

quellen des Juriſtenrechts, angegeben werden. Aber es iſt

noch ein drittes Moment zu betrachten, welches gerade fuͤr die

Entwicklung des deutſchen Juriſtenrechts von der groͤßten Wich-

tigkeit geworden, — das iſt die Theilnahme der Juriſten an

der Geſetzgebung. Dieſe mußten ſie naͤmlich in ihre Haͤnde

bekommen, wenigſtens inſofern ſie ſich auf das eigentliche

Rechtsgebiet bezog, weil ſie uͤberhaupt das Recht faſt aus-

ſchließlich in der Theorie und Praxis beherrſchten; und ſo er-

klaͤrt es ſich, daß ſeit dem Anfange des 16. Jahrhunderts kaum

ein Rechtsgeſetz in Deutſchland erlaſſen worden iſt, mochte es

nun eine ſelbſtaͤndige Schoͤpfung ſeyn oder in der Ueberarbei-

tung aͤlterer Statute beſtehen, deſſen Abfaſſung nicht vorzugs-

weiſe von Juriſten beſorgt worden waͤre. Dadurch kam auch

die Geſetzgebung in ein beſtimmtes Verhaͤltniß zur juriſtiſchen

Theorie, von der ſie nicht bloß einzelne Inſtitute und Rechts-

ſaͤtze entlehnte, ſondern auch im Allgemeinen ihre Richtung und

naͤhere Beſtimmung erhielt. Hatten dann die Namen der Ver-

faſſer und die Tuͤchtigkeit ihrer Leiſtungen dem Geſetz einen

gewiſſen Ruf verſchafft, ſo wurde daſſelbe nicht bloß ein

[314/0326]

Zehntes Kapitel.

Muſter fuͤr ſpaͤtere Arbeiten aͤhnlicher Art, ſondern es wirkte

auch wieder auf die Theorie zuruͤck und galt ſo gut wie eine

ausgezeichnete Schrift oder ein tuͤchtiges Praͤjudicat als eine

neue Auctoritaͤt. Suchten nun aber die Juriſten auch ihre

theoretiſchen Ueberzeugungen, ſoweit es ihnen moͤglich war, in

die von ihnen bearbeiteten Geſetze zu bringen, ſo ſahen ſie ſich

doch oft veranlaßt, den Anforderungen der Sitte und des Le-

bens nachzugeben, und ſolche Beſtimmungen, welche ſie von

ihrem beſonderen Standpuncte aus nie zu vertheidigen gewagt

haͤtten, mit einer geſetzlichen Sanction zu bekleiden. Dadurch

ward denn fuͤr das Juriſtenrecht ſelbſt eine weitere Entwick-

lung vorbereitet, indem man ſich allmaͤlig daran gewoͤhnte,

das in den Geſetzen enthaltene Material wiederum fuͤr eine

freiere juriſtiſche Deduction zu benutzen, und alſo ein neues

Element in den Kreis ſeiner Vorſtellungen aufzunehmen. Auf

dieſe Weiſe iſt es geſchehen, daß ſich die germaniſtiſche Rich-

tung in unſerer Jurisprudenz an den Landrechten und Sta-

tuten, welche von dem einheimiſchen Recht noch ſo Vieles be-

wahrt hatten, zu einer gemeinrechtlichen Theorie entfalten

konnte. Das gilt freilich zunaͤchſt nur von den Particularge-

ſetzen; fuͤr die Reichsgeſetze, welche unmittelbar gemeines Recht

enthielten, mußte ſich die Sache anders verhalten. Indeſſen

kommt doch auch hier zur Erwaͤgung, daß ſie ſelten eine voll-

ſtaͤndige Legislation aufzuweiſen hatten, ſondern oft nur die

Anfaͤnge einer neuen Rechtsbildung, welche dann von den Ju-

riſten weiter fortgefuͤhrt wurde; und dann, daß ſie nicht im-

mer ſogleich zur unmittelbaren Geltung kamen, ſondern erſt

allmaͤlig durch die Juriſten dazu gelangten. In dieſen beiden

Beziehungen ward der Inhalt der Reichsgeſetze alſo gewiſſer-

maaßen zu einem Juriſtenrecht umgebildet, wie ſich recht deut-

[315/0327]

Methode des Juriſtenrechts.

lich ergiebt, wenn man das Verhaͤltniß, in welchem die pein-

liche Halsgerichtsordnung Karl V. und der juͤngſte Reichsab-

ſchied von 1654. zum gemeinen deutſchen Rechte ſtehen, in

ſeiner geſchichtlichen Entwicklung verfolgt. — Selbſt bei den

neueren Geſetzbuͤchern laͤßt ſich, ſo weit es ihre groͤßere Selb-

ſtaͤndigkeit geſtattet, eine aͤhnliche wechſelſeitige Beziehung zwi-

ſchen ihnen und der gemeinrechtlichen Theorie nachweiſen.

Waͤhrend man z. B. im preußiſchen Landrecht bei manchen

Lehren, auch ohne die Vorarbeiten zu kennen, gewiſſe unter

den Juriſten zur Zeit der Abfaſſung gerade vorherrſchende An-

ſichten verfolgen kann, ſo hat es umgekehrt auch wieder auf

die Geſtaltung der ſpaͤteren Theorie weſentlich eingewirkt, und

namentlich manchen Lehren des deutſchen Privatrechts etwas

von ſeiner eigenthuͤmlichen Faͤrbung mitgetheilt. Aehnlich ver-

haͤlt es ſich mit dem oͤſterreichiſchen Geſetzbuch, welches z. B.

auf die gemeinrechtliche Lehre von der Colliſion coordinirter

Rechtsquellen einen beſtimmten Einfluß ausgeuͤbt hat.

Wenn man nun dieſe verſchiedenen Seiten der Wirkſam-

keit des Juriſtenſtandes gehoͤrig erfaßt, und ſie in ihrem innern

Zuſammenhange und in ihrer Beziehung zu der allgemeinen

modernen Rechtsbildung in Deutſchland richtig zu wuͤrdigen

weiß, ſo wird man eben das poſitive Juriſtenrecht mit einer

ſo großen Sicherheit und Beſtimmtheit, wie ſie uͤberhaupt eine

wiſſenſchaftliche Entwicklung gewaͤhren kann, darzuſtellen ver-

moͤgen. Dabei kommt es denn freilich vor Allem darauf an,

die juriſtiſche Ueberzeugung der Gegenwart zur vollkommenen

Klarheit zu erheben, und die darin wurzelnden Inſtitute und

Rechtsſaͤtze wiſſenſchaftlich zu begruͤnden. Allein die allgemeine

Natur des Juriſtenrechts bringt es ſchon mit ſich, daß deſſen

tieferes Verſtaͤndniß nicht aus der Betrachtung einer einzelnen

[316/0328]

Zehntes Kapitel.

Periode, und wenn es auch die uns am Naͤchſten ſtehende waͤre,

gewonnen werden kann; es muß vielmehr die Jurisprudenz

in ihrer Bewegung und allmaͤligen Entwicklung aufgefaßt

werden, ſo daß eine Unterſuchung, welche das heutige Juri-

ſtenrecht zu ihrem Gegenſtande hat, die Inſtitute in ihrer er-

ſten Erſcheinung erfaßt, und ſie dann in ihrer weiteren Umbil-

dung und Veraͤnderung bis zur Gegenwart verfolgt. Daher

iſt hier vor Allem die hiſtoriſche Forſchung unentbehrlich, aber

leider noch eben auf dem Gebiete der Dogmengeſchichte am

Wenigſten angewandt. Selbſt ſolche Juriſten, denen ſonſt die

geſchichtliche Betrachtung des Rechts und die entſprechende Be-

nutzung der Rechtsquellen gelaͤufig iſt, geben ſich oft bei der

Entwicklung des Juriſtenrechts die aͤrgſten Bloͤßen, indem ſie

die Rechtslehrer aus den verſchiedenſten Perioden als Auctori-

taͤten neben einander auffuͤhren, ohne ſich uͤber deren beſondere

Stellung in der Wiſſenſchaft und zu den einzelnen Inſtituten

klar zu ſeyn, und ohne die verſchiedenen Bildungsſtufen und

Uebergaͤnge in unſerer Jurisprudenz gehoͤrig zu beachten. In

dieſer Beziehung tritt eben der Unterſchied zwiſchen einer wah-

ren hiſtoriſchen Forſchung und Anſchauung und einem bloßen

Aufhaͤufen gelehrten Materials recht beſtimmt hervor. — Al-

lein laͤßt ſich nun auch behaupten, daß die Anwendung der

richtigen Methode genuͤgen wird, um ein durchaus feſtes und

klares Juriſtenrecht darzuſtellen und zum allgemeinen Bewußt-

ſeyn zu bringen? Ohne Zweifel iſt in dieſer Hinſicht noch

außerordentlich viel zu leiſten, und manche ſcheinbar unaufloͤs-

liche Controverſe wird ſich mit Leichtigkeit entſcheiden laſſen,

manche kaum erklaͤrliche Norm der Praxis wird ihr volles

Verſtaͤndniß erhalten, wenn man ihren letzten Gruͤnden ſorg-

faͤltig nachſpuͤrt. Aber wenn dem auch alſo iſt, ſo bleibt es

[317/0329]

Methode des Juriſtenrechts.

doch außer Frage, daß in vielen Faͤllen noch Zweifel und

Schwankungen beſtehen werden, welche auch die groͤßte

Meiſterſchaft der wiſſenſchaftlichen Behandlung nicht zu be-

ſeitigen vermag, weil ſie eben ihren Grund in der Be-

ſchaffenheit des Gegenſtandes haben. Es kommt freilich hier,

wie uͤberhaupt bei einer wiſſenſchaftlichen Thaͤtigkeit, auf die

Art und Weiſe, wie man operirt und ſeinen Gegenſtand zu

faſſen weiß, unendlich viel an, und der, welcher ſich einmal

eines beſtimmten leitenden Princips bemaͤchtigt hat, wird daran

auch das Einzelne der Lehre oft mit der groͤßten Sicherheit

entwickeln koͤnnen, waͤhrend ein Anderer, welcher eben nur nach

dem Detail ſpuͤrt, auch dieſes nicht zu beherrſchen weiß. Al-

lein unſere Jurisprudenz iſt nicht von einer ſolchen inneren

Tuͤchtigkeit, daß ſie ſich ſtets nach beſtimmten Principien aus-

gebildet haͤtte, und mancher Satz, der in der Praxis ſeine An-

wendung findet, ſteht haltungslos als etwas Vereinzeltes da;

manche Lehre iſt gar nicht zu einem feſten Abſchluß gekom-

men, ſondern ſchwankt noch zwiſchen den Extremen der ver-

ſchiedenen Meinungen hin und her. Demnach waͤre alſo das

Juriſtenrecht zum Theil noch unbefeſtigt und zu einer ſicheren

Darſtellung und Anwendung nicht geeignet? Wollte man die-

ſes annehmen, ſo wuͤrde man dadurch den Begriff eines poſi-

tiven Rechtes aufheben; und daher laͤßt ſich fuͤr jene Faͤlle

nur ſagen: ſie gehoͤren nicht zum Juriſtenrecht, welches ſich in

Beziehung auf ſie noch gar nicht gebildet hat; ſie ſind viel-

mehr zu jenen betruͤbenden Erſcheinungen unſeres Rechtswe-

ſens zu zaͤhlen, welche es recht fuͤhlbar machen, wie groß noch

deſſen Maͤngel ſind. Das Mißliche dieſer Zuſtaͤnde wird nie-

mand lebhafter fuͤhlen, als wer es verſucht hat, einem ſolchen

verwahrloſten Inſtitut einen poſitiven Inhalt zu verſchaffen,

[318/0330]

Zehntes Kapitel.

oder wer genoͤthigt iſt, als Richter einen dahin gehoͤrenden

Rechtsfall zu entſcheiden. Jener hat ſeine Aufgabe erfuͤllt,

wenn er die thatſaͤchliche Beſchaffenheit der Lehre gewiſſenhaft

darlegt; dieſer muß ſich mit dem uͤbrigen juriſtiſchen Ruͤſtzeug

ſo gut er kann behelfen, — alſo, wenn ihm keine andere Rechts-

quelle zu Gebote ſteht, aus der Natur der Sache, der bona

fides, der Analogie u. dgl. ſeine Entſcheidung begruͤnden, und

ſich damit troͤſten, daß das Mangelhafte darin nicht ihm, ſon-

dern unſeren Rechtszuſtaͤnden zur Laſt faͤllt. Mit einem blo-

ßen Zaͤhlen der Auctoritaͤten iſt natuͤrlich nichts gewonnen;

denn abgeſehen davon, daß auch die reichlichſt ausgeſtattete

Bibliothek nie die Sicherheit gewaͤhrt, daß man ſich im Beſitze

einer vollſtaͤndigen Literatur befindet, ſo weiß jeder, der in der

Dogmengeſchichte nicht ganz unbewandert iſt, wie geringe die

Selbſtaͤndigkeit der meiſten juriſtiſchen Schriftſteller iſt, und

wie ſich die innere Entwicklung des Juriſtenrechts an einzelne

hervorragende Perſoͤnlichkeiten anlehnt, welche als die Repraͤ-

ſentanten einer beſtimmten Zeit und Richtung erſcheinen, und

oft die fruͤher feſt begruͤndeten Lehren von Grund aus erſchuͤt-

tert haben. Nur ſo viel laͤßt ſich zugeben, daß eine allgemein

angenommene Anſicht nicht dadurch den Charakter einer ge-

meinſamen Ueberzeugung des Juriſtenſtandes verliert, wenn

etwa auch der eine oder der Andere ohne nachhaltigen Erfolg

ſich dagegen aufgelehnt hat.

Ich will dieß nun in Beziehung auf einzelne Rechtsſaͤtze,

die ſo in der Praxis herum ſchwimmen, nicht naͤher ausfuͤh-

ren; aber fuͤr allgemeinere Inſtitute, welche dem Juriſtenrecht

ihre Normirung verdanken, wird eine genauere Eroͤrterung, die

ſich am Beſten an beſtimmte Beiſpiele anlehnt, nicht unange-

meſſen ſeyn. Denn an dieſen laͤßt ſich recht anſchaulich ma-

[319/0331]

Methode des Juriſtenrechts.

chen, wie ſich die Rechtsbildung in dieſer Sphaͤre geſtaltet, und

wie ſich die Inſtitute in einer fortwaͤhrenden innern Bewe-

gung befinden, indem ſie bald in conſequenter Entwicklung zu

einer feſten und vollen Ausbildung gelangen, bald aber auch

wieder von der ſchon erreichten Sicherheit abweichen, und durch

Einfluͤſſe verſchiedener Art beſtimmt, in das Schwankende und

Beſtrittene zuruͤckfallen, oder gar aus dem poſitiven Rechte

ganz verſchwinden.

Zu den Inſtituten, welche ſich in allmaͤliger Entwicklung

zu einer unbedingten Gemeinrechtlichkeit ausgebildet haben, ge-

hoͤrt der Erbvertrag und namentlich der Erbeinſetzungsvertrag.

Dieß letztere Geſchaͤft war dem aͤlteren deutſchen Rechte ganz

fremd, indem daſſelbe als Mittel, eine Zuwendung von Todes

wegen zu machen, nur die Vergabung durch Conſtituirung

eines ſofort wirkſamen Rechts kannte, und zwar regelmaͤßig

einer Gewere an Immobilien vermoͤge der Auflaſſung, an

welche ſich ſpaͤter in einigen Localrechten die gerichtliche Aus-

lobung beweglicher Sachen anſetzte. Indeſſen bildete ſich noch

waͤhrend der Herrſchaft des deutſchen Rechts die vertragsmaͤ-

ßige Erbfolge unter Ehegatten aus, die auch in dieſer Anwen-

dung ſo wie uͤberhaupt da, wo es ſich nicht um eine einſei-

tige Freigebigkeit, ſondern um die Anordnung dauernder Ver-

haͤltniſſe handelt, ihre angemeſſene Stelle findet. Seit der Auf-

nahme des roͤmiſchen Rechts aber hielten ſich die Juriſten

ſtrenge an deſſen Beſtimmungen uͤber die Erbvertraͤge, welche

darin abſolut verboten ſind; nur durch die Herbeiziehung un-

paſſender Analogien ſuchte man einzelne Arten des Geſchaͤftes

aufrecht zu erhalten, denen denn ſpaͤter eine gemeinrechtliche

Geltung vermoͤge einer allgemeinen deutſchrechtlichen Gewohn-

heit zugeſprochen ward. Als ein allgemeines Mittel der Zu-

[320/0332]

Zehntes Kapitel.

wendung von Todes wegen wurde der Erbeinſetzungsvertrag

aber bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts nicht anerkannt,

und es war auch gar kein Beduͤrfniß dafuͤr vorhanden, weil

man ſich ſchon fruͤh unter der Vermittlung der Geiſtlichkeit

mit den letztwilligen Verfuͤgungen des roͤmiſchen Rechts ver-

traut gemacht hatte, und mit richtigem Tacte dieſe dem un-

widerruflichen Vertrage vorzog, zumal da fuͤr denſelben keine

beſtimmte gemeinrechtliche Form gewonnen ward. Allein ſeit

der Mitte des 17. Jahrhunderts ſetzte ſich unter den Juriſten,

welche die alte Vergabung mit dem Erbeinſetzungsvertrage ver-

wechſelten, die Anſicht feſt, das letztere Geſchaͤft habe von jeher

in Deutſchland in einer ganz allgemeinen Anwendung gegol-

ten, und muͤſſe auch gegen das Verbot des roͤmiſchen Rechts

aufrecht erhalten werden. Dieſe Anſicht, die bald unangefoch-

ten in der Theorie da ſtand, erhielt noch eine beſondere Stuͤtze

an der Lehre von der unbedingten Klagbarkeit aller Vertraͤge,

und bildete ſich zu einer feſten und gemeinſamen Ueberzeugung

des deutſchen Juriſtenſtandes aus, welcher es auch vermochte,

das Geſchaͤft in eine gewiſſe, wenn auch nur ſpaͤrliche Uebung

zu bringen, und in den Faͤllen, wo es zur richterlichen Ent-

ſcheidung kam, ſeine Anerkennung durchzuſetzen. Dieſem Ent-

wicklungsgange der Lehre ſchloß ſich denn auch allmaͤlig die

particulaͤre Geſetzgebung an, und recipirte das Inſtitut in ſei-

ner weiteſten Geltung. So hat ſich der Erbeinſetzungsvertrag

von geringen Anfaͤngen im Volksrechte an als ein Product

der Jurisprudenz und alſo als ein Beſtandtheil des Juriſten-

rechts entwickelt, dem ſich, ſo ſchwer es Einem auch bei der

ganz unangemeſſenen Stellung deſſelben ankommen mag, die

unbedingte Gemeinrechtlichkeit nicht abſprechen laͤßt, wenn man

nicht uͤberhaupt das poſitive Recht aus Gruͤnden der Zweck-

[321/0333]

Methode des Juriſtenrechts.

maͤßigkeit in Abrede ſtellen, und dadurch einen Zuſtand der

Unſicherheit und der Willkuͤhr herbeifuͤhren will, der ſchlimmer

iſt, als die thatſaͤchlich doch nur beſchraͤnkte Geltung jenes miß-

lungenen Inſtituts. *)

Einen Gegenſatz zu der Entwicklungsgeſchichte der Lehre

von den Erbvertraͤgen liefert die von den Teſtamentsexecutoren,

indem ſich bei derſelben ein merkwuͤrdiger Wechſel in der ju-

*) Gegen dieſe Darſtellung, welche ich in meiner Lehre von den Erb-

vertraͤgen weitlaͤuftiger begruͤndet habe, iſt freilich von Albrecht (Krit.

Jahrbuͤcher fuͤr deutſche Rechtswiſſenſch. VI. 4. S. 323 ff.) ein Bedenken

erhoben worden, welches aber, wie mir ſcheint, zum großen Theile auf

einem Mißverſtaͤndniſſe beruht, und durch die weitere Ausfuͤhrung, welche ich

in dieſer Schrift uͤber die Natur des Juriſtenrechts gegeben habe, bereits

beſeitigt ſeyn moͤchte. Denn nicht die bloß theoretiſchen Anſichten der

Juriſten halte ich fuͤr deſſen Quelle, ſondern die ſich auch practiſch geltend

machende Ueberzeugung derſelben, welche aber immerhin dem wahren Be-

duͤrfniſſe des Volkes nicht entſprechen kann. Damit ſteht denn auch nicht

in Widerſpruch, wenn ich Haſſe’s Deduction des Vermaͤchtnißvertrags ver-

worfen habe; denn in dieſem Falle handelte es ſich, wenigſtens nach mei-

nem Dafuͤrhalten, nicht um ein geſchichtlich ausgepraͤgtes Inſtitut des po-

ſitiven Rechts, ſondern um die Meinung eines einzelnen Juriſten, die ich

auf die verwerfliche Anſicht von der ſelbſtaͤndigen Bedeutung der Jurispru-

denz als einer gelehrten Disciplin im Gegenſatz zum Rechtsleben glaubte

zuruͤckfuͤhren zu koͤnnen. — Uebrigens habe ich ja nie behauptet, daß die

Juriſten den Erbeinſetzungsvertrag ganz erſonnen haben; durch irgend

eine beſondere Veranlaſſung wird jedes Inſtitut des Juriſtenrechts hervor-

gerufen ſeyn, wenn auch nicht immer durch ein practiſches Beduͤrfniß, und

wenn auch vielleicht Irrthum und Unverſtand zuweilen das Meiſte zur

Ausbildung beitrugen. Den Erbeinſetzungsvertrag unter Ehegatten habe

ich ja als ein ſelbſtaͤndiges Product des germaniſchen Rechtslebens aner-

kannt, und nur die unbegruͤndete Generaliſirung dieſes Geſchaͤftes den Ju-

riſten zugewieſen. Wenn Albrecht darin eine organiſche Entwicklung

nachzuweiſen ſucht, ſo iſt das wohl ein vergebliches Bemuͤhen; was er

aber von dem ſogenannten particulaͤren Erbvertrage ſagt, moͤchte doch, ab-

geſehen von der Controverſe uͤber deſſen urſpruͤngliche Bedeutung, ſchon

deswegen nicht fuͤr zutreffend gelten koͤnnen, weil dieſes Geſchaͤft auf die

Entwicklung der Lehre von den Erbvertraͤgen in der gemeinrechtlichen Doc-

trin keinen irgendwie nachhaltigen Einfluß ausgeuͤbt hat.

Beſeler, Volksrecht. 21

[322/0334]

Zehntes Kapitel.

riſtiſchen Auffaſſung des Inſtituts darſtellt, deſſen ſichere und

angemeſſene Normirung der modernen Jurisprudenz noch nicht

gelungen iſt. Das erklaͤrt ſich freilich zum Theil aus dem

Umſtande, daß hier eine von den Lehren vorliegt, welche man

faſt heimathslos nennen kann, da die Romaniſten und Ger-

maniſten ſie ſich gegenſeitig zuſchieben; jene ſehen wohl ein,

daß das roͤmiſche Recht fuͤr die juriſtiſche Darſtellung des In-

ſtituts nicht ausreicht, und dieſe halten ſich davon fern, weil es

unmittelbar mit den letztwilligen Geſchaͤften zuſammen haͤngt,

und daher keinen Theil des einheimiſchen Rechts zu bilden

ſcheint. Aber eben darin beſteht das Mangelhafte der heuti-

gen Theorie, daß ſie es nicht vermocht hat, die eigenthuͤmliche

Bedeutung der ganzen Einrichtung, welche die aͤlteren Juriſten

durch roͤmiſche Analogien aufrecht zu erhalten ſuchten, gehoͤrig

zu wuͤrdigen und ſelbſtaͤndig zu begruͤnden. Es verhaͤlt ſich

damit naͤmlich auf folgende Weiſe. — Als man im Mittelalter

die letztwilligen Verfuͤgungen des roͤmiſchen Rechts zu benutzen

begann, war man weit davon entfernt, das kunſtvolle Ge-

baͤude der roͤmiſchen Teſtamentslehre in ſeinem ganzen Um-

fange zu recipiren. Es ward nur darauf ein Gewicht gelegt,

daß man ein Geſchaͤft bekam, wodurch eben einſeitig und wi-

derruflich uͤber den Tod hinaus verfuͤgt werden konnte; die

ſtrenge Form der Teſtamente und die Nothwendigkeit einer

Erbeseinſetzung ließ man dabei unberuͤckſichtigt. Dieſer letztere

Umſtand aber machte es, daß die ſogenannten deutſchen Teſta-

mente nur ein Aggregat einzelner Vermaͤchtniſſe zu ſeyn pfleg-

ten; es fehlte daher die formelle Vertretung des Erblaſſers

durch den Teſtamentserben, waͤhrend es doch aus manchen

Gruͤnden bedenklich erſcheinen mußte, deſſen Functionen dem

nach germaniſcher Rechtsanſchauung beeintraͤchtigten geſetzlichen

[323/0335]

Methode des Juriſtenrechts.

Erben anzuvertrauen. In dieſer Verlegenheit half man ſich

dadurch, daß gleich bei der Errichtung des Teſtaments eine

oder mehre Mittelsperſonen ernannt wurden, denen man die

Vollſtreckung deſſelben auftrug, alſo namentlich die Berichti-

gung der Vermaͤchtniſſe, und falls es dauernde Stiftungen

waren, deren Anordnung und oft auch deren Verwaltung;

außerdem aber hatten dieſe Mittelsperſonen die Regulirung des

Nachlaſſes zu beſorgen, Schulden zu berichtigen, Forderungen

einzutreiben, und an einigen Orten, z. B. in Luͤbeck, wurden

ſie auch regelmaͤßig die Vormuͤnder der vom Teſtator hinter-

laſſenen Ehefrau und Kinder.

Daß man aber auf den Ausweg verfiel, ſich ſolcher Mit-

telsperſonen zu bedienen, erklaͤrt ſich leicht, wenn man ſieht,

daß ſchon bei den deutſchrechtlichen Vergabungen von Todes

wegen Salmannen zu demſelben Zwecke verwandt wurden; dieſe

brachte man mit dem Teſtament in Verbindung, indem allmaͤ-

lig ihre Beſtellung durch die Auflaſſung in eine teſtamentari-

ſche Ernennung uͤberging. Außerdem aber hat, wie Pauli

neulich dargethan, wahrſcheinlich auch die zuweilen vorkom-

mende Sitte, Vormuͤnder eines Todten zu beſtellen, auf die

Ausbildung des Inſtituts der Teſtamentsvollſtrecker Einfluß

gehabt. Dieſe nun, welche allenthalben, wo man die letztwil-

ligen Verfuͤgungen benutzte, unter ſehr verſchiedenen Benennun-

gen ſich finden, und faſt in keinem Teſtamente jener Zeit fehl-

ten, hatten, wie ſchon bemerkt, im Weſentlichen die Aufgabe,

den Erblaſſer nach ſeinem Tode formell zu repraͤſentiren, inſo-

weit es die Vollziehung des Teſtaments noͤthig machte oder

die Sitte und der ausdruͤcklich ausgeſprochene Wille des Te-

ſtators es erheiſchten. Das galt als feſtes Recht, ſo lange

ſich die letztwilligen Verfuͤgungen als ein vereinzeltes Inſtitut

21*

[324/0336]

Zehntes Kapitel.

des fremden Rechts im germaniſchen Rechtsleben bewegten,

und ſo iſt es auch da, wo dem einheimiſchen Recht ſeine volle

Geltung bewahrt wurde, wie in England, bis auf einige wei-

tere Modificationen geblieben. Aber in Deutſchland mußten die

Teſtamentsexecutoren eine neue Probe beſtehen, als das roͤmi-

ſche Recht in ſeinem ganzen Umfange recipirt ward, und man

nun zur Einſicht gelangte, daß ein Teſtament eben einen in-

ſtituirten Erben vorausſetze, und daß mit deſſen rechtlicher

Stellung ſich die jenen Mittelsperſonen eingeraͤumte Befugniß

kaum vertrage. In der That drang auch die Ueberzeugung

von der Nothwendigkeit einer Erbeseinſetzung allgemein durch,

indem nur wenige Statute die aͤltere Anſicht beibehielten, waͤh-

rend ſich jedoch die gemeinrechtliche Praxis durch die Andeu-

tungen, welche das roͤmiſche Recht von den codicillis ab in-

testato enthaͤlt, einen ziemlich freien Spielraum zu verſchaffen

mußte. Wie aber kamen nun die Teſtamentsvollſtrecker zu

ſtehen? Hier half man ſich nach Art der damaligen Juris-

prudenz durch eine roͤmiſchrechtliche Analogie, und nahm nach

dem Vorgange aͤlterer Schriftſteller, namentlich des Duranti,

ein officium der Executoren an, welches dem der Tutoren

verglichen und darnach entwickelt wurde. Auf dieſe Weiſe

brachte man in die juriſtiſche Deduction, welche die Stellung

der Executoren im Weſentlichen nach der deutſchen Rechtsan-

ſicht aufrecht hielt, eine gewiſſe Haltung und Conſequenz, ſo

daß noch im 17. Jahrhunderte ſelbſt ſolche Juriſten, die ſo

entſchieden romaniſirten, wie z. B. A. Faber, jene Auffaſſung

des Inſtituts vertheidigten; auch ging dieſelbe, wenn gleich

unter verſchiedenen Modificationen, in die gleichzeitigen Geſetz-

gebungen uͤber. Allein nach und nach kam man in der ge-

meinrechtlichen Theorie wieder von jenem Princip der Lehre

[325/0337]

Methode des Juriſtenrechts.

ab, indem man das Bedenkliche, welches allerdings in der er-

waͤhnten Analogie lag, hervor hob, und ſich nach einer ande-

ren Begruͤndung umſah. Dabei war es nun aber eben fuͤr die

weitere Entwicklung des Inſtituts von großer Wichtigkeit, daß

die Germaniſten ſich deſſelben, weil es dem roͤmiſchen Teſta-

mente anhaͤngt, nicht annahmen, und es einer mehr romaniſti-

ſchen Auffaſſung Preis gaben. Es ſetzte ſich nun die ſchon

in der fruͤheren Theorie leicht angedeutete Anſicht immer mehr

feſt, der Teſtamentsvollſtrecker ſey als Mandatar des Teſta-

tors zu behandeln und ſein Verhaͤltniß darnach zu beſtimmen.

Dieſe Auffaſſung aber, welche auch in die neueren Geſetzbuͤ-

cher uͤbergegangen iſt, hat nun die Lehre in eine ganz ſchiefe

Lage gebracht; denn wenn man auch von dem begruͤndeten

Bedenken abſehen will, ob ſie ſich mit der Natur des gemein-

rechtlichen Mandats vereinigen laͤßt, ſo werden dadurch in der

Praxis die allergroͤßten Schwierigkeiten hervorgerufen. Es

fehlt nun ein ſelbſtaͤndiges Princip der Beurtheilung uͤber die

Competenz des Executors, da die im Teſtament gegebene Voll-

macht, auch wenn ſie noch ſo ſorgfaͤltig erwogen iſt (und wie

oft iſt ſie nur ganz kurz und unbeſtimmt in der Form einer

Ernennung gefaßt!) leicht unzureichend ſeyn kann, und namentlich

das Verhaͤltniß zwiſchen dem Executor und dem Erben nach

allen Seiten hin unſicher und ſchwankend laͤßt. Daher erklaͤrt

es ſich, daß, ſo entſchieden die gemeinrechtliche Theorie jetzt

auch das Mandatsverhaͤltniß feſt haͤlt, in der Praxis doch die

alte Anſicht von einer eigenthuͤmlichen und ſelbſtaͤndigen Stel-

lung der Teſtamentsexecutoren und eine Hinneigung zur Ver-

gleichung mit den Vormuͤndern ſtets wieder auftaucht, womit

denn auch in Verbindung ſteht, daß man eine gewiſſe Ein-

wirkung des Gerichts und zwar des Erbſchaftsgerichts, deſſen

[326/0338]

Zehntes Kapitel.

Geltung freilich auch angefochten wird, anzuerkennen geneigt

iſt. Wenn nun, wie wohl anzunehmen, die Beſtellung ſolcher

Mittelsperſonen neben dem Teſtamentserben auch noch dem

gegenwaͤrtigen Beduͤrfniſſe entſpricht, und nicht bloß bei der

Anordnung und Leitung dauernder Stiftungen, welche ihre

beſondere Beruͤckſichtigung verdienen, angemeſſen iſt: ſo muß

der ganzen Lehre auch wieder ein mehr fruchtbares und ihrem

Weſen entſprechendes Princip, als das Mandatsverhaͤltniß ge-

waͤhren kann, gewonnen werden; aber dem heutigen Juriſten-

recht iſt es mit Sicherheit nicht zu entnehmen. Waͤre jedoch

kein wahres Beduͤrfniß fuͤr das Inſtitut mehr vorhanden, ſo

wuͤrde es gewiß eben ſeiner ungefuͤgigen Geſtalt wegen ſchon

aus dem Rechtsleben verſchwunden ſeyn oder doch bald verſchwin-

den; denn ſolche Einrichtungen, mit denen ſich practiſch nichts

Rechtes anfangen laͤßt, wird man, einer verſchrobenen Theorie

zu Liebe, nicht lange aufrecht erhalten koͤnnen. Ein entſchiede-

ner Widerſpruch gegen ihre innere Begruͤndung pflegt dann

auch eine baldige Umaͤnderung in der juriſtiſchen Ueberzeu-

gung zur Folge zu haben. So ſind die ſogenannten pacta

dotalia mixta oder in vim ultimac voluntatis concepta,

mit denen man ſich fruͤher als einem Beſtandtheile des Juri-

ſtenrechts ſo viel zu ſchaffen machte, ſeitdem von J. H. Boͤh-

mer ihre Geltung beſtritten worden, auch von der gemeinrecht-

lichen Theorie ſo gut wie ganz aufgegeben, und vielleicht ſteht

dem Erbvertrage in ſeiner Formloſigkeit und unbeſchraͤnkten

Geltung ein aͤhnliches Schickſal in nicht ferner Zeit bevor.

Mit ſolchen Uebergaͤngen iſt denn aber nothwendig eine

Periode des Schwankens und der Controverſe verbunden, wenn

die Geſetzgebung nicht mit einer beſtimmten Norm dazwiſchen

tritt; denn jede Rechtsentwicklung, welche nicht unmittelbar

von ihr ausgeht, hat eine gewiſſe Dauer noͤthig, bevor ſie ſich

[327/0339]

Methode des Juriſtenrechts.

in feſter Haltung zu einer wahren Ueberzeugung auspraͤgt.

Ein ſolcher Zuſtand der Unſicherheit beſteht gegenwaͤrtig z. B.

bei der ſo lebhaft eroͤrterten Frage uͤber die Erbfaͤhigkeit legiti-

mirter Kinder hinſichtlich der Lehenguͤter, woruͤber Dieck ſo be-

lehrende Aufſchluͤſſe aus der Dogmengeſchichte gegeben hat.

Hier zeigt ſich denn auch recht deutlich, wie das Juriſtenrecht

mit andern poſitiven Rechtsquellen in Conflict gerathen kann,

ohne daß ſich von vorne herein ſagen ließe, welchem Theile

der Sieg gebuͤhrt. Denn geſetzt auch, daß die auf jene Frage

bezuͤgliche Stelle des longobardiſchen Lehenrechts fuͤr recipirt

zu achten iſt, ſo waͤre es doch recht gut moͤglich, daß das

Juriſtenrecht ſie außer Uebung gebracht haͤtte; dann aber

wuͤrde eine neue Rechtsbildung, die indeſſen auch in der ver-

aͤnderten Ueberzeugung des Juriſtenſtandes ihren Grund haben

koͤnnte, noͤthig ſeyn, um die fruͤhere geſetzliche Regel wieder

herzuſtellen. Aber auch ein unterdruͤcktes, aber wieder in das

Bewußtſeyn getretenes Volksrecht kann eine ſolche Umaͤnderung

hervorbringen. Damit iſt denn freilich der Fall nicht zu ver-

wechſeln, wenn das Volksrecht in ſteter Wirkſamkeit geblieben,

und nur von den Juriſten mißverſtanden und verkannt iſt, ſo

daß trotz ihrer Herrſchaft uͤber das Gerichtsweſen die eigen-

thuͤmliche Natur der Inſtitute ſich lebendig erhalten hat, und

um zu ihrer vollen Anerkennung zu gelangen nichts anders

bedarf als eine Berichtigung der juriſtiſchen Theorie. In einem

ſolchen Fall, der ſich namentlich im Handelsrechte haͤufiger

finden wird, kann es dann nicht leicht zweifelhaft ſeyn, wem

der Vorzug gebuͤhrt, ob dem Volks- oder dem Juriſtenrecht;

denn das Letztere iſt ja eigentlich noch gar nicht zur poſitiven

Geſtaltung gekommen, ſo lange es die ihm widerſtrebende Re-

gel nicht vernichtet hat.

[[328]/0340]

Eilftes Kapitel.

Das Juriſtenrecht nach dem Umfange ſeiner

Geltung.

Wenn wir den innern Entwicklungsproceß, welchen die

deutſche Jurisprudenz ſeit der Reception des roͤmiſchen Rechts

durchgemacht hat, geſchichtlich verfolgen, und uns das fuͤr die

Rechtsbildung durch ſie gewonnene Reſultat im Allgemeinen

vergegenwaͤrtigen, ſo ſtellt ſich ſo viel mit Beſtimmheit her-

aus, daß ſie vorzugsweiſe auf dem Gebiete des gemeinen Rechts

ihre Wirkſamkeit entfaltet hat. Darauf waren einmal die

Univerſitaͤtslehrer in ihren Vortraͤgen und Schriften vor Allen

hingewieſen. Zwar blieben ſie durch ihre practiſchen Beſchaͤf-

tigungen den Particularrechten nicht fremd, und namentlich

pflegten ſie dem Rechte des Landes, in welchem ihre Univerſi-

taͤt ſich befand, aus nahe liegenden Gruͤnden eine beſondere

Aufmerkſamkeit zu widmen, was oft mehr, als man bisher be-

achtet hat, auf ihre Darſtellung des gemeinen Rechts einwirkte,

jedenfalls aber eine gelehrte Beſchaͤftigung mit jenem hervorrief,

die ſich anfangs nur in Schriften, ſpaͤter aber auch in eigenen

Vorleſungen kund gab. Allein ſie wurzelten doch mit ihrer

allgemeinen Rechtsanſchaung und mit ihren Intereſſen im ge-

meinen Rechte, dem ſie ihre Hauptkraft zuwandten, und wel-

ches ſie, auch abgeſehen von andern Gruͤnden, die namentlich

in der luͤckenhaften Beſchaffenheit der Particularrechte beruhten,

ſchon deswegen vorzugsweiſe behandelten, weil ſie in ihrer

freien Stellung nicht bloß einem einzelnen Lande, ſondern dem

[329/0341]

Umfang der Geltung des Juriſtenrechts.

ganzen Reich und der Wiſſenſchaft angehoͤrten. Aehnlich ver-

hielt es ſich mit den Mitgliedern der Reichsgerichte, welche oft

durch die geringe Ruͤckſicht, die ſie bei ihren Urtheilsſpruͤchen

auf das particulaͤre Recht nahmen, Veranlaſſung zu gerechten

Beſchwerden gaben. Dagegen befanden ſich allerdings diejeni-

gen Juriſten in einer anderen Lage, deren Beruf in der prac-

tiſchen Anwendung eines beſtimmten Particularrechts beſtand,

und welche, wenn ſie auch dem gemeinen Recht eine gelehrte

Beſchaͤftigung widmeten, doch jenes zunaͤchſt ins Auge zu faſſen

hatten. Allein bis zu der Zeit, wo umfaſſende Geſetzbuͤcher in

Deutſchland aufkamen, ſtellte ſich das ſpecielle Recht ja nur als

eine Modification des gemeinen dar, oft freilich in einzelnen Leh-

ren mit einer gewiſſen Selbſtaͤndigkeit und Ausfuͤhrlichkeit, aber

doch nie in dem Grade, daß man der Entwicklung und Ergaͤnz-

ung aus gemeinrechtlichen Principien ganz haͤtte entbehren koͤnnen.

Dabei waren denn allerdings die Einwirkungen der beſonderen

Landes- und Localverhaͤltniſſe und auch, wo dieſe rein hervor-

treten konnte, der Stammeseigenthuͤmlichkeit nicht ausgeſchloſ-

ſen, ſo daß manches Particularrecht eben ſo gut durch ſeine

juriſtiſche Behandlung, wie durch die Geſetzgebung eine ſehr

beſtimmte Faͤrbung erhielt. Aber weil ſich bis zur Zeit der

Codificationen doch kein deutſches Land ganz von dem gemei-

nen Recht in ſeiner ſubſidiaͤren Geltung abſchloß, und jede

Bewegung in der deutſchen Jurisprudenz, welche nachhaltig

auf deren Geſtaltung einwirkte, auch die einzelnen Juriſten fruͤ-

her oder ſpaͤter erfaßte; ſo blieb doch das gemeine Recht fuͤr

ſie die eigentliche Baſis und der Mittelpunct ihrer Bildung

und Wirkſamkeit. Das zeigt ſich ganz deutlich, ſo lange noch

eine einſeitige romaniſtiſche Richtung in unſerer Jurisprudenz

vorherrſchte, und mit wenigen Ausnahmen die alten Landes-

[330/0342]

Eilftes Kapitel.

Provincial- und Localrechte kaum einer wiſſenſchaftlichen Be-

achtung gewuͤrdigt wurden; aber auch ſpaͤter, als das einhei-

miſche Recht zum Gegenſtand eifriger Studien gemacht ward,

draͤngte doch Alles wieder auf eine gemeinrechtliche Auffaſſung

und Darſtellung der Inſtitute hin, ſo ſchwach auch die erſten

Verſuche, welche darauf gerichtet waren, ausfallen mochten.

Aus dieſem Allen erklaͤrt es ſich, woher es kommt, daß

ein eigentliches Juriſtenrecht mit einer ſpeciellen Geltung und

unabhaͤngig vom gemeinen Rechte ſich immer nur in einer be-

ſchraͤnkten Weiſe entwickelt hat. Die Moͤglichkeit einer ſolchen

Rechtsbildung iſt freilich durchaus nicht in Abrede zu ſtellen.

Denn machte das deutſche Territorium einmal ein Staats-

ganzes aus, welches in ſeiner Geſetzgebung und uͤberhaupt in

ſeinen innern Verhaͤltniſſen eine durchaus freie Bewegung

hatte (die Einwirkung der Reichsgewalt wollte ja in den letz-

ten Jahrhunderten nichts mehr ſagen); ſo iſt nicht einzuſehen,

warum nicht auch der Juriſtenſtand eines einzelnen Landes

ſeine rechtsbildende Kraft zu einer particulaͤren Schoͤpfung

haͤtte concentriren koͤnnen. Ja man kann ſagen, ſo gut uͤber-

haupt die Gewohnheiten mit einer derogatoriſchen Wirkung

neben dem gemeinen Recht ſich geltend zu machen vermoͤgen,

ſo gut kann es auch geſchehen, wenn ſie ihren Grund in der

Herrſchaft des Juriſtenſtandes haben, vorausgeſetzt natuͤrlich,

daß dieſe wirklich im Stande iſt, ſich alſo zu bethaͤtigen. Auch

fehlt es in der That nicht an Beiſpielen, daß ſich ein ſolches

particulaͤres Juriſtenrecht gebildet hat. Zuweilen zeigt es ſich

als eine eigenthuͤmliche Bearbeitung allgemein geltender Leh-

ren, und hat wohl, wenn ſeine Vertreter eines beſonderen An-

ſehens ſich erfreuten, auf die Geſtaltung der gemeinrechtlichen

Theorie ſelber einen entſchiedenen Einfluß ausgeuͤbt. Eine

[331/0343]

Umfang der Geltung des Juriſtenrechts.

ſolche hervorragende Stellung hat bis zur Mitte des 17. Jahr-

hunderts der ſaͤchſiſche Juriſtenſtand in Deutſchland eingenom-

men, indem derſelbe nicht bloß an der Entwicklung des ge-

meinen Rechts den thaͤtigſten Antheil nahm, ſondern in dem ſo-

genannten jus commune saxonicum ein ſelbſtaͤndiges Particu-

larrecht ausbildete, welches zum großen Theile reines Juriſten-

recht war, und fuͤr die wiſſenſchaftliche Behandlung des ge-

meinen Rechts ebenſo einen wichtigen Anhalt darbot, als es

auf die Praxis deſſelben nachhaltig einwirkte. Zum particu-

laͤren Juriſtenrecht kann man ferner den Fall rechnen, wenn

ein fruͤher nicht bekanntes Inſtitut durch den Einfluß der Ju-

riſten irgendwohin verpflanzt worden iſt, wie es z. B. an

einigen Orten mit der Einkindſchaft geſchehen, oder wenn da-

durch eine beſtehende Einrichtung auf eine eigenthuͤmliche Weiſe

veraͤndert worden, was namentlich bei der deutſchrechtlichen

Auflaſſung, welche ſich z. B. oft in eine bloße gerichtliche

Confirmation der voraufgehenden Contracte umſetzen laſſen

mußte, bemerkt werden kann. Selbſt ganz eigenthuͤmliche In-

ſtitute und Rechtsſaͤtze finden ſich in dem particulaͤren Juriſten-

rechte; ein Beiſpiel davon bieten die Adjudicate des mecklen-

burgiſchen Rechts. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts

bildete ſich in demſelben naͤmlich die Regel aus, daß ein Glaͤu-

biger fuͤr den Fall, daß die Fahrniß nicht ausreiche, Execution

in den Grundbeſitz des Schuldners verlangen koͤnne, und zwar

zunaͤchſt auf dem Wege der Immiſſion, die aber unter ge-

wiſſen Vorausſetzungen zur Adjudication fuͤhrte, indem dem

Adjudicatar, ohne daß eine Subhaſtation vorher gegangen waͤre,

das ganze Grundſtuͤck oder nach dem Betrage ſeiner Forderung

ein Theil deſſelben zugeſprochen ward, wodurch denn alle aͤl-

teren Hypotheken erloſchen. Dieß merkwuͤrdige Inſtitut, welches

[332/0344]

Eilftes Kapitel.

dem mecklenburgiſchen Creditweſen tiefe Wunden geſchlagen hat,

laͤßt ſich allein als ein Juriſtenrecht deduciren; an ſeiner, auch

von der Geſetzgebung anerkannten Geltung iſt aber nicht zu

zweifeln, und es iſt auch erſt in neuerer Zeit durch eine aus-

druͤckliche legislative Verfuͤgung aufgehoben worden.

Es genuͤgt nun aber, in dem Angefuͤhrten die Moͤglich-

keit und Exiſtenz eines particulaͤren Juriſtenrechts dargethan

zu haben; der weitern Erwaͤgung deſſelben in ſeinen einzelnen

Erſcheinungen koͤnnen wir uns uͤberheben, ſo daß die Dar-

ſtellung ſich ſofort zum gemeinen Rechte wenden kann. Hier

iſt nun vor Allem auf die Thatſache ein beſonderer Nachdruck

zu legen, daß die Aufnahme des roͤmiſchen Rechts in Deutſch-

land faſt ausſchließlich dem Juriſtenſtande zuzuſchreiben iſt,

ſo daß in deſſen Wirkſamkeit der eigentliche Grund des gan-

zen Ereigniſſes geſucht werden muß. Die Feſtſtellung dieſer

Thatſache hat aber nicht bloß einen hiſtoriſchen Werth, ſondern

iſt auch von unmittelbar practiſcher Bedeutung, indem dadurch

die Veraͤnderungen, welche das roͤmiſche Recht bei uns durch

die Juriſten erfahren hat, in ihrer poſitiven Geltung eben ſo

gut, wie dieſes ſelbſt gerechtfertigt und begruͤndet erſcheinen.

Es kommt alſo nur darauf an, mit Beſtimmtheit nachzuwei-

ſen, unter welchen Modificationen jene Reception geſchehen iſt,

wobei aber, wie ſchon fruͤher gezeigt worden, das Verhaͤltniß

einer voͤlligen Stabilitaͤt nicht angenommen werden darf, weil

ſich im Juriſtenſtande ſelbſt die Anſichten vielfach geaͤndert

haben, und dieſelbe Macht, welche die Erhebung des roͤmiſchen

Rechts zur poſitiven Rechtsquelle durchzufuͤhren, und dabei

ſofort weſentliche Veraͤnderungen mit demſelben vorzunehmen

vermochte, auch im Stande war, ſpaͤter noch uͤber die Art und

den Umfang der Geltung abweichende Grundſaͤtze feſtzuſtellen. —

[333/0345]

Umfang der Geltung des Juriſtenrechts.

Aber nicht bloß in der vom roͤmiſchen Recht beherrſchten

Sphaͤre findet ſich das Juriſtenrecht; auch auf anderen Fel-

dern, welche fruͤh dem Einfluß der fremden Rechtsquellen ent-

zogen, und bald im offenbaren Gegenſatz zu denſelben, bald

wenigſtens in einer gewiſſen Selbſtaͤndigkeit angebaut wurden,

hat es eine große Bedeutung erhalten. Iſt hier nicht das

Volksrecht unmittelbar von Einfluß geweſen, oder hat ſich nicht

irgend eine andere Macht geltend gemacht, welche der Vertre-

tung durch die Juriſten nicht bedurfte, oder ſie doch in einem

dienſtbaren Verhaͤltniß erhielt, ſo haben ſie an der Rechtsbil-

dung den allerentſchiedenſten Antheil genommen und ſie vor-

zugsweiſe zu Stande gebracht. Daher iſt ſelbſt ein Theil der

deutſchrechtlichen Lehren nur als Juriſtenrecht ausgebildet wor-

den und zu einer poſitiven Geltung gelangt. Indem ich mich

nun anſchicke, deſſen Inhalt nach den einzelnen Rechtstheilen

genauer anzugeben, bedarf es wohl kaum der Bemerkung, daß

es dabei nicht auf die Beibringung eines vollſtaͤndigen Details

abgeſehen ſeyn kann, ſondern nur eine uͤberſichtliche Darſtellung

der wichtigſten in Betracht kommenden Momente beabſichtigt

wird.

1. Das Privatrecht.

In dem Perſonen-, Familien- und Staͤnderecht,

um dieß zuerſt hervorzuheben, ſind freilich die Beſchraͤnkungen

und Abaͤnderungen, welche das roͤmiſche Recht erfahren hat,

vorzugsweiſe dem Volksrechte zuzuſchreiben, und die Juriſten

haben es nicht einmal vermocht, die dem deutſchen Rechtsleben

angehoͤrigen Elemente ihrem ganzen Umfange nach zum rech-

ten Verſtaͤndniß und zur gehoͤrigen Sicherheit der Geltung zu

bringen; doch fehlt es auch auf dieſem Gebiete nicht an In-

[334/0346]

Eilftes Kapitel.

ſtituten, welche ihnen ihre Begruͤndung verdanken. Dahin

kann z. B. die Einkindſchaft gerechnet werden, die als

ein gemeinrechtliches Geſchaͤft und in der beſtimmten, formel-

len Ausbildung, welche ſie nach und nach erlangt hat, als ein

Juriſtenrecht ſich herausſtellt; desgleichen findet das Verhaͤlt-

niß der unehelichen Kinder zu ihrem Vater in demſelben ſeine

gegenwaͤrtige Normirung. Denn nur dem Einfluß der Ju-

riſten iſt es zuzuſchreiben, daß der Begriff, den das roͤmiſche

Recht mit den liberi naturales verbindet, die jetzt geltende

Ausdehnung erhalten hat, wodurch namentlich die Lehre von

der Legitimation neu und eigenthuͤmlich geſtaltet worden iſt;

auch das Inteſtaterbrecht der unehelichen Kinder, welches Mayer

in Tuͤbingen zum Gegenſtande einer werthvollen dogmenge-

ſchichtlichen Unterſuchung gemacht hat, ſo wie die allgemeine

Verbindlichkeit des Vaters zu ihrer Alimentation, woran jetzt

wohl niemand mehr zweifelt, ſtehen damit in naher Verbin-

dung. Freilich hat auf dieſe ganze Lehre ſchon das canoniſche

Recht eingewirkt; aber es hat doch zunaͤchſt nur die Veran-

laſſung zu ihrer heutigen Geſtaltung gegeben, waͤhrend die

eigentliche Begruͤndung und poſitive Ausbildung derſelben von

den Juriſten ausgegangen iſt. — Im Sachenrecht zeigt

ſich das Juriſtenrecht von einer geringen Bedeutung, wenn

man auch ſolche Mißbildungen, wie die Umſetzung der Auf-

laſſung in die gerichtliche Confirmation, dahin rechnen muß;

deſto einflußreicher iſt es aber im Obligationenrecht ge-

worden. Schon der Umſtand, daß das Syſtem der roͤmiſchen

Poͤnalklagen bei uns nicht recipirt worden, iſt von erheblicher

Wichtigkeit, wenn auch manches Andere, was außer dem Be-

reiche der Juriſten lag, mit darauf eingewirkt hat; aber ihnen

allein iſt der Fundamentalſatz der heutigen Vertragslehre zu-

[335/0347]

Umfang der Geltung des Juriſtenrechts.

zuſchreiben, daß nach gemeinem Rechte jeder Vertrag, der ſei-

nem Inhalte nach guͤltig, auch ohne eine beſondere Form der

Eingehung rechtsbeſtaͤndig und klagbar iſt, — ein Grundſatz,

welcher das roͤmiſche Recht weſentlich modificirt hat, aber auch,

was ſo oft nicht gehoͤrig beachtet wird, dem im deutſchen Recht

ſehr durchgebildeten und wirkſamen Formalismus der Rechts-

geſchaͤfte verderblich geworden iſt. Weniger bedenklich erſcheint

die, in neueſter Zeit zwar von verſchiedenen Seiten, aber wie

mir ſcheint mit ſchwachen Gruͤnden angefochtene Regel, daß

Vertraͤge, welche zu Gunſten eines Dritten abgeſchloſſen ſind,

den Beſchraͤnkungen des roͤmiſchen Rechts nicht unterliegen,

ſondern dem Dritten das Recht des Beitritts und der Klage

gewaͤhren. Aber nicht bloß die allgemeinen Lehren des Obli-

gationenrechts haben durch das Juriſtenrecht weſentliche Mo-

dificationen erlitten; daſſelbe iſt auch bei manchen einzelnen

Inſtituten der Fall geweſen. Ich erinnere beiſpielsweiſe nur

an die weite Geltung, welche man jetzt unbedenklich den Be-

ſtimmungen des roͤmiſchen Rechts uͤber die laesio enormis

einraͤumt, und welche doch, da es ſich hier von einem jus

singulare handelt, durch die Anwendung einer analogen Aus-

dehnung nicht gerechtfertigt werden kann; ferner an die Lehre

von den Zinſen, welche erſt ſeit der Mitte des 17. Jahrhun-

derts in Deutſchland allgemein practiſch geworden, und in

ihrer heutigen gemeinrechtlichen Beſchaffenheit als ein freilich

vom Volksrecht vielfach beſtimmtes Juriſtenrecht anzuſehen iſt,

da ſowohl die, hier ſehr verſpaͤtete Reception des roͤmiſchen

Rechts gegen die canoniſchen Zinsverbote an, als auch die

wichtigen Modificationen deſſelben nur ſo ihre Erklaͤrung

finden. — Nicht weniger bedeutend endlich, wie im Obliga-

tionenrecht, ſtellt ſich das Juriſtenrecht in den zum Erbrecht

[336/0348]

Eilftes Kapitel.

gehoͤrenden Lehren dar. Hier finden wir das ganz moderne

Inſtitut der vertragsmaͤßigen Erbfolge; ferner das Familien-

fideicommiß mit ſeinen beſonderen Succeſſionsordnungen, in

welchem die Juriſten des 17. Jahrhunderts dem niedern Adel

ein Mittel bereiteten, um das Beduͤrfniß der Familie nach

einem ſicheren Stammgut zu befriedigen. Auch die wechſel-

ſeitigen Teſtamente in ihrer heutigen Geſtaltung ſind ein Pro-

duct der Jurisprudenz, und auf gewiſſe Weiſe laſſen ſich auch

die Teſtamentsexecutoren dahin zaͤhlen, wenigſtens inſofern ſie

unter dem Einfluß der Theorie von ihrer urſpruͤnglichen

Grundlage und Bedeutung abgewichen ſind.

2. Das Criminalrecht.

In dieſem Rechtstheile herrſcht das Juriſtenrecht entſchie-

den vor. Will man auch darauf kein Gewicht legen, daß

Carl V. peinliche Halsgerichtsordnung in manchen Stuͤcken

auf der zur Zeit ihrer Abfaſſung herrſchenden communis DD.

opinio beruht, und daß ſie eigentlich erſt durch die ſpaͤteren

Juriſten die Auctoritaͤt eines unmittelbar geltenden Reichsge-

ſetzes erlangt hat, ſo hat ſie doch auch in anderen Beziehun-

gen der Entwicklung eines ſelbſtaͤndigen Juriſtenrechts den

weiteſten Spielraum gelaſſen. Das erklaͤrt ſich theils aus

ihrer geringen Vollſtaͤndigkeit, theils aber aus dem Beduͤrfniß,

die veralteten, der modernen Rechtsanſchauung und Bildung

widerſtrebenden Satzungen auf eine angemeſſene Weiſe umzu-

bilden und zu ergaͤnzen, — eine Aufgabe, welche bei der ſpaͤ-

teren Unthaͤtigkeit der Reichsgeſetzgebung, vorzugsweiſe in die

Haͤnde der Juriſten kam. Denn wenn man von einigen all-

gemeinen Principien und von der Begriffsbeſtimmung einzelner

Verbrechen abſieht, — wie viel bleibt wohl noch von dem

[337/0349]

Umfang der Geltung des Juriſtenrechts.

Inhalt der Carolina fuͤr das heutige gemeine Criminalrecht

uͤbrig? Die Juriſten haben ſich dabei nun theils durch eine

umfaſſendere Benutzung des roͤmiſchen Rechts geholfen, welches

ihnen beſonders fuͤr die Feſtſtellung der einzelnen Verbrechen

einen Anhalt gab; theils haben ſie durch eine philoſophiſche

Betrachtung der menſchlichen Dinge allgemeine Principien zu

gewinnen geſucht, und endlich bei der Abwaͤgung der Strafen

nach ihrer Beſchaffenheit und ihrem Maaße die Anſichten und

ſocialen Verhaͤltniſſe des modernen Lebens zu Rathe gezogen.

3. Der Proceß.

Der deutſche Civil- und Criminalproceß iſt faſt reines

Juriſtenrecht; auch die einzelnen Beſtimmungen der Reichs-

geſetze haben demſelben mehr einen Anhalt fuͤr die weitere Ent-

wicklung, als einen feſten legislativen Kern geboten. Man

ſtelle einmal genau zuſammen, was ſie in Verbindung mit

dem roͤmiſchen und canoniſchen Recht an poſitiven, unmittel-

bar geltenden Rechtsſatzungen an den heutigen Proceß abge-

geben haben, und man wird ſich bald uͤberzeugen, daß in

dieſem Material nicht einmal das Gerippe, geſchweige denn

der ganze Bau deſſelben enthalten iſt. Das bezieht ſich aber

nicht bloß auf die ganze Anlage und Ausfuͤhrung des Werkes,

ſondern geht auch bei wichtigen Lehren bis in das geringſte De-

tail herunter; man nehme nur den Concursproceß und die

Unterſcheidung der General- und Specialinquiſition im Crimi-

nalverfahren. Daß aber dieſe faſt abſolute Geltung des Ju-

riſtenrechts gerade in dieſem Rechtstheile ſo oft hat verkannt

werden koͤnnen, erklaͤrt ſich wohl zur Genuͤge aus dem Um-

ſtande, daß er mehr in der ſtille wirkenden Kraft der Praxis,

als in der leichter erkennbaren Thaͤtigkeit der Theorie ſeine

Beſeler, Volksrecht. 22

[338/0350]

Eilftes Kapitel.

Ausbildung erlangt hat, und daß die wiſſenſchaftliche Behand-

lung, welche ihm zu Theil geworden, im Ganzen eine ſo

wenig befriedigende geweſen iſt. Hat doch erſt Briegleb in

ſeinem vortrefflichen Werke uͤber den Executivproceß zeigen

muͤſſen, was die Dogmengeſchichte auch auf dieſem Gebiete

zu leiſten vermag.

4. Das Staatsrecht.

Auch auf die Geſtaltung des Staatsrechts haben die Ju-

riſten einmal einen großen Einfluß ausgeuͤbt, naͤmlich ſo lange,

als ſie auch auf dieſem Gebiete die wichtigſten Geſchaͤfte lei-

teten, und alſo Theorie und Praxis vereinigen konnten. Das

aͤnderte ſich ſeit dem 17. Jahrhundert, als nach dem Vorgange

Frankreichs auch die deutſchen Hoͤfe die obere Leitung der in-

nern Verwaltung immer mehr den Haͤnden des ihrem Inte-

reſſe gewonnenen niedern Adels anvertrauten, und ſich gleich-

zeitig fuͤr die Beſorgung der auswaͤrtigen Angelegenheiten ein

eigener Stand in den Diplomaten ausbildete, was auch durch

den Uebergang der Geſchaͤftsſprache aus dem Lateiniſchen in

das Franzoͤſiſche angedeutet wurde. Nun wichen die gelehrten

Kanzler den adeligen Miniſtern, und fuͤr die diplomatiſchen

Verhandlungen wurden die Geſandtſchaften vornehmer, zur Re-

praͤſentation geeigneter Perſonen allgemein eingefuͤhrt. Die

letztere Veraͤnderung iſt freilich laͤngere Zeit von einer groͤßeren

Bedeutung fuͤr die voͤlkerrechtlichen, als fuͤr die ſtaatsrechtlichen

Verhaͤltniſſe Deutſchlands geweſen; denn zur Zeit, als die

Fremden zuerſt mit in dem Rathe der Nation ſaßen, auf dem

weſtphaͤliſchen Friedenscongreß, war ſie noch nicht durchge-

fuͤhrt, und auf dem Reichstage ſpielten die Juriſten bis kurz

vor dem Ende deſſelben eine große Rolle, ſo wie auch der

[339/0351]

Umfang der Geltung des Juriſtenrechts.

nicht bloß als Gerichtshof ſo einflußreiche Reichshofrath mit

ihnen beſetzt war. Erſt in neuerer Zeit, und namentlich nach

Beſeitigung der Napoleoniſchen Gewaltherrſchaft, iſt in den

allgemeinen deutſchen Angelegenheiten ſtatt der alten publici-

ſtiſchen Deduction die Erwaͤgung nach Ruͤckſichten der hohen

Politik uͤblich geworden, d. h. die diplomatiſche Behandlung

voͤlkerrechtlicher Fragen ward auch auf die ſtaatsrechtlichen uͤber-

tragen, wodurch dieſen aber der Charakter rechtlicher Sicherheit

zum guten Theile entzogen werden mußte. — Erſcheint es

aber aus dieſen Gruͤnden ſchon erklaͤrlich, warum fuͤr das

Staatsrecht weniger, als fuͤr andere Rechtstheile von einem

Juriſtenrecht die Rede ſeyn kann, ſo kommt noch beſon-

ders in Betracht, daß es ſich hier um Verhaͤltniſſe handelt,

welche mit der allgemeinen politiſchen Geſchichte in unmittel-

barer Beruͤhrung ſtehen, und in ſich eine Macht tragen, welche

eher geeignet iſt, die juriſtiſche Ueberzeugung zu beſtimmen,

als umgekehrt von ihr beſtimmt zu werden. Wenn ſich daher

auch in fruͤherer Zeit einige ſtaatsrechtliche Lehren unter dem

unmittelbaren Einfluß der Juriſten entwickelt haben, und etwa

als ein Juriſtenrecht angeſehen werden koͤnnen, ſo erkennt man

doch bald, ſo wie man tiefer auf den Grund ihrer Entſtehung

eingeht, daß darin ein ſelbſtaͤndiger Bildungsproceß und na-

mentlich die Umſetzung der Territorialherrſchaft in die Staats-

gewalt realiſirt worden iſt. Dabei iſt es denn allerdings nicht

ohne arge Mißbildungen abgegangen, woran theils der traurige

Zuſtand des oͤffentlichen Weſens in Deutſchland uͤberhaupt,

theils aber auch die geringe Befaͤhigung der Juriſten fuͤr ihre

Aufgabe die Schuld tragen. Zum Beweiſe des Geſagten hebe

ich hier zwei Lehren hervor, die von den Regalien und von

der Thronfolge. Die erſtere iſt freilich bei der verworrenen

22*

[340/0352]

Eilftes Kapitel.

und unorganiſchen Vermiſchung weſentlicher Hoheitsrechte und

nutzbarer Rechte der verſchiedenſten Art, aus welcher ſie ent-

ſtanden iſt, nie zu einer wiſſenſchaftlichen Durchbildung ge-

langt, und hat auch nicht den Charakter einer unbedingten

Gemeinrechtlichkeit gewonnen, auf den es dabei urſpruͤnglich

abgeſehen war; aber daß ſie dennoch von großer Bedeutung

fuͤr das deutſche Staatsrecht, und wenigſtens in den Staaten,

deren Verfaſſung nicht von Grund aus neu geordnet worden,

noch jetzt von practiſcher Wichtigkeit iſt, ſteht außer Frage.

Denn die meiſten Puncte, welche dabei in Betracht kommen,

wurden in fruͤherer Zeit der Vereinbarung zwiſchen Fuͤrſt und

Staͤnden, und wenn eine ſolche nicht zu Stande kam und die

Gewalt nicht den Streit entſchied, der richterlichen Entſcheidung

uͤberlaſſen, wobei denn den Juriſten die Gelegenheit gegeben

war, ihre Theorien weiter auszuſpinnen und zur Anwendung

zu bringen, ſo daß ſie allmaͤlig in das geltende Recht uͤber-

gingen. — Was ferner die Lehre von der Thronfolge betrifft,

ſo hat ſie ſich freilich zunaͤchſt aus dem Standesrecht des ho-

hen Adels entwickelt, und zwar fuͤr die ſouverainen Haͤuſer in

der Weiſe, daß das Princip der Erbmonarchie darin zur Ver-

wirklichung gekommen. Es iſt dieß aber unter der Vermittlung

der von den Juriſten ausgebildeten Theorie von der ſogenann-

ten successio ex pacto et providentia majorum

geſchehen,

welche, obgleich ſie in ihrer vollen doctrinellen Conſequenz prac-

tiſch nicht durchgefuͤhrt werden kann, der ganzen Lehre doch

eine beſtimmte Richtung und eigenthuͤmliche Haltung gegeben

hat. Auch iſt die Frage uͤber die Feſtſtellung der eventuellen

cognatiſchen Erbfolge und namentlich uͤber das Verhaͤltniß zwi-

ſchen der Erbtochter und der Regredienterbin lange Zeit haupt-

ſaͤchlich nach den Theorien der Juriſten entſchieden worden.

[341/0353]

Umfang der Geltung des Juriſtenrechts.

5. Das Kirchenrecht.

Sind die Juriſten im Staatsrecht durch die Diplomaten

uͤberfluͤgelt worden, ſo haben ſie ihren Einfluß auf das Kir-

chenrecht mit den Theologen theilen muͤſſen. In der prote-

ſtantiſchen Kirche ſind ſie namentlich erſt dann zu einer be-

deutenden Wirkſamkeit gelangt, als die ſchoͤpferiſche Thaͤtigkeit

der großen Reformatoren beendigt war, und es hauptſaͤchlich

nur noch darauf ankam, das Werk in ſeinen Einzelnheiten

auszufuͤhren und die rechtliche Begruͤndung dafuͤr zu liefern.

Außerdem wurden ſie aber auch noch von andern Einfluͤſſen

beſtimmt, wie ſie denn z. B. die oberbiſchoͤfliche Gewalt der

proteſtantiſchen Landesherrn, welche ſich unter den gegebenen

Verhaͤltniſſen ſelbſtaͤndig entwickelte, nur anzuerkennen hatten,

und in wechſelnden Theorien eine beſtimmte juriſtiſche Grund-

lage dafuͤr zu gewinnen ſuchten. Wenn es daher auch zu

keinem ſelbſtaͤndigen Juriſtenrecht in den kirchenrechtlichen In-

ſtituten kommen konnte, ſo iſt doch von den Juriſten nach

verſchiedenen Seiten nachhaltig auf dieſelben eingewirkt wor-

den, namentlich bei der Feſtſtellung der Frage, inwieweit die

Regeln des katholiſchen Kirchenrechts, abgeſehen von dem

Dogma und von dem eigentlichen Kirchenregiment, auch fuͤr

die Proteſtanten noch eine poſitive Geltung haben. Daher

ſtellt ſich das Kirchenrecht der letzteren in der aͤlteren Bearbei-

tung, und beſonders in I. H. Boͤhmer’s beruͤhmtem Werke,

als eine Art des usus modernus dar, und zwar mit einer

Reichhaltigkeit des Inhalts, und vor Allem mit einer Ausbeute

fuͤr die Praxis, wie ſie in den neueren Lehrbuͤchern kaum wie-

der zu finden iſt, ſo ſehr dieſe der aͤltern Literatur auch an

wiſſenſchaftlicher Haltung und gruͤndlicher Forſchung uͤberlegen

ſeyn moͤgen.

[[342]/0354]

Zwölftes Kapitel.

Werth des Juriſtenrechts.

Eine Unterſuchung uͤber den Werth des Juriſtenrechts laͤßt

ſich in zwiefacher Weiſe anſtellen. Man kann es einmal ganz

allgemein zur Entſcheidung bringen, ob und inwiefern es an-

gemeſſen iſt, daß der Juriſtenſtand eine ſolche Stellung im

Volke einnehme, welche ihm die Macht gewaͤhrt, ſeine Ueber-

zeugung zu einer ſelbſtaͤndigen Rechtsquelle zu erheben. Al-

lein die Aufgabe laͤßt ſich auch enger faſſen, ſo daß mit Be-

ziehung auf ein beſtimmtes, poſitives Recht derjenige Theil deſ-

ſelben, welcher ſich als Juriſtenrecht darſtellt, einer kritiſchen

Betrachtung unterworfen wird. Wir haben es nun zunaͤchſt

mit dem deutſchen Rechtsweſen zu thun, und inſofern bildet

die Loͤſung der zweiten Frage vorzugsweiſe den Gegenſtand der

folgenden Eroͤrterung; aber wie uͤberhaupt in dieſer Schrift

nicht bloß das gegenwaͤrtig Beſtehende ins Auge gefaßt, ſon-

dern der Blick auch auf die innere Begruͤndung und weitere

Fortbildung und Reform deſſelben gerichtet worden iſt, ſo ſoll

auch jetzt die Behandlung der Sache nicht durch willkuͤhrlich

gezogene Grenzen eingeengt werden. Wird doch ſelbſt eine

Pruͤfung, die mehr, wie es hier geſchehen, ins Einzelne ein-

ginge, zu keinem ſicheren Reſultate fuͤhren, wenn nicht die all-

gemeinen Geſichtspuncte, auf welche es bei einer ſolchen Un-

terſuchung ankommt, vorher feſtgeſtellt worden ſind. Manches

iſt daruͤber freilich ſchon in den fruͤheren Eroͤrterungen vorge-

bracht worden, auf die hier im Allgemeinen Bezug zu neh-

[343/0355]

Werth des Juriſtenrechts.

men iſt; aber fuͤr Anderes findet ſich jetzt erſt die rechte Stelle,

und nur aus der gemeinſamen Betrachtung aller Momente

in ihrem innern Zuſammenhange wird eine wiſſenſchaftlich be-

gruͤndete Anſicht zu gewinnen ſeyn.

So viel iſt nun einmal als ausgemacht anzunehmen,

daß man ſich die Stellung des Juriſtenſtandes nicht als eine

ſolche denken darf, welche nach allgemein guͤltigen Regeln be-

ſtimmt, unter allen Verhaͤltniſſen gleichartig ſich geſtalten muͤſſe.

Wir haben ja geſehen, wie es ſelbſt in den Zeiten einer geſtei-

gerten Cultur durchaus nicht abſolut nothwendig iſt, daß ſich

die Beſchaͤftigung mit dem Rechte als die beſondere Aufgabe

beſtimmter Perſonen darſtellt, welche durch Berufswahl und

Arbeit in einer gewiſſen Abgeſchloſſenheit zuſammen gehalten,

eben als ein eigener Juriſtenſtand bezeichnet zu werden pfle-

gen. Iſt dieß aber auch unter gewiſſen Vorausſetzungen der

gewoͤhnliche Fall, ſo wird doch bei der Verſchiedenheit der po-

litiſchen und ſocialen Zuſtaͤnde, unter deren Einfluß die Rechts-

bildung vor ſich geht, auch bei der Entwicklung des Juriſten-

ſtandes keine volle Uebereinſtimmung ſtatt finden. Derſelbe

wird vielmehr in ſehr verſchiedener Weiſe dem Volke gegen-

uͤber zu ſtehen kommen, und ſich von dieſem bald kaſtenartig

ausſcheiden, bald aber in faſt unmerklichen Uebergaͤngen an die

aus vielfachen Elementen beſtehende Menge erfahrener Ge-

ſchaͤftsmaͤnner ſich anſchließen. Wie ſich das im einzelnen

Fall macht, das haͤngt von der individuellen Natur des Vol-

kes ab, von ſeiner Staatsverfaſſung, ſeinem oͤffentlichen Leben,

vor Allem aber von der Beſchaffenheit des Rechts ſelber, um

deſſen Kunde und Anwendung es ſich handelt. Denn wenn

daſſelbe im Allgemeinen auf einer volksthuͤmlichen Baſis ruht,

und nur in ſeiner allmaͤligen Entwicklung ein Element in ſich

[344/0356]

Zwoͤlftes Kapitel.

aufgenommen hat, deſſen ſichere Handhabung nur den Juri-

ſten von Fach zuzumuthen iſt; ſo werden dieſe freilich zu ei-

nem nothwendigen Beſtandtheil des oͤffentlichen Lebens. Aber

deswegen bleibt das Recht in ſeinen allgemeinen Zuͤgen doch

noch ein Gemeingut der Nation, und kann auch ohne ein be-

ſonderes Studium von den Einzelnen, wenn auch nur in ei-

ner gewiſſen Beſchraͤnkung und mit Beihuͤlfe der Juriſten,

erkannt und angewandt werden. Iſt aber ein Volk durch die

Ungunſt des Geſchicks oder durch eigenes Verſchulden in ſei-

ner Rechtsbildung gehemmt worden, ſo daß fremde Satzungen

ſeine Verhaͤltniſſe beherrſchen; oder hat es die Lebensbahn zu-

ruͤckgelegt, welche allen Individualitaͤten, den Nationen wie den

einzelnen Menſchen, zugemeſſen iſt, und eilt nun kraftlos und

abgelebt ſeiner Aufloͤſung entgegen, indem es ohne ſelbſtaͤndige

Schoͤpfung und Bewegung, nur durch die Errungenſchaft beſ-

ſerer Zeiten kuͤmmerlich ſein Daſeyn friſtet: da kann es nur

natuͤrlich erſcheinen, daß auch das poſitive Recht ſeinem Be-

wußtſeyn ganz entfremdet wird, und ausſchließlich in die Haͤnde

derjenigen geraͤth, welche ſich, mit wie geringem Erfolge auch

immer, ſeinem Studium vorzugsweiſe widmen, und in der

Anwendung wenigſtens eine gewiſſe Fertigkeit und Geſchicklich-

keit entwickeln.

Denkt man ſich nun dieſe Gegenſaͤtze in der Stellung

des Juriſtenſtandes und die Uebergaͤnge, welche dazwiſchen lie-

gen, ſo bedarf die Behauptung keines beſonderen Beweiſes

mehr, daß auch das Juriſtenrecht ſeiner Natur und Beſchaf-

fenheit nach nothwendig ein ſehr verſchiedenes ſeyn muß. Bei

einem Volke, in einer gewiſſen Periode, iſt es vielleicht nichts

Anderes, als eine Fortfuͤhrung des Volksrechts, dem etwa der

Juriſtenſtand ſeine feinere Ausbildung und feſtere Begruͤndung

[345/0357]

Werth des Juriſtenrechts.

gegeben hat, indem der in der Nation ruhende rechtsbildende

Trieb, ehe er ſich noch anderweitig zum geltenden Rechte ge-

ſtaltet hat, in das Bewußtſeyn der Juriſten uͤbergeht, und

durch deren Auctoritaͤt den Charakter einer poſitiven Norm

erhaͤlt. Dabei kann natuͤrlich manche einzelne Mißbildung

entſtehen, vor der ja kein Menſchenwerk ſicher iſt, und je mehr

ſich die Rechtsentwicklung vom Volke zuruͤckzieht und aus-

ſchließlich Sache der Juriſten wird, deſto groͤßer iſt die Ge-

fahr, daß ſo etwas geſchehe; aber an und fuͤr ſich iſt kein

Grund vorhanden, einem ſolchen Juriſtenrechte den Werth ei-

ner naturgemaͤßen Entſtehung abzuſprechen, ſo wenig wie dem

Geſetzesrecht, welches ja auch nicht nothwendig ſeine formelle

Geltung von der Geſammtheit des Volkes erhaͤlt, und moͤgli-

cher Weiſe deſſen Wuͤnſchen und Beduͤrfniſſen ſehr wenig an-

gemeſſen ſeyn kann. — Ganz anders aber ſtellt ſich die

Sache, wenn den Juriſten der innere Zuſammenhang mit dem

Rechtsleben des Volkes, dem ſie angehoͤren, abgeſchnitten iſt,

und ſie nun, zur ausſchließlichen Handhabung eines unleben-

digen Materials berufen, mit dieſem ſich in ſtiller Abgeſchie-

denheit beſchaͤftigen, um damit, ſo gut es gehen will, das

practiſche Beduͤrfniß zu befriedigen. Auch unter ſolchen Ver-

haͤltniſſen kann ſich noch ein Juriſtenrecht ausbilden, was na-

mentlich dann geſchehen wird, wenn die Geſetzgebung eine ge-

ringe Thaͤtigkeit und Energie entfaltet, und der vorhandene

Rechtsſtoff uͤberhaupt oder inſoweit er in das Bewußtſeyn des

Juriſtenſtandes uͤbergegangen iſt, fuͤr die rechtliche Beurthei-

lung der Verhaͤltniſſe nicht ausreicht. Allein man wird ſich

nicht wundern, wenn ein Juriſtenrecht dieſer Art ſowohl nach

ſeinem allgemeinen Charakter als auch in den meiſten Ein-

zelnheiten als ein wenig gelungenes Werk erſcheint, dem man

[346/0358]

Zwoͤlftes Kapitel.

die Maͤngel ſeiner Entſtehung ſofort anſieht, und welches in

ſeiner poſitiven Geltung nur die Bedeutung eines Gewohn-

heitsrechts fuͤr ſich in Anſpruch nehmen darf. Von einer Ver-

tretung und Fortbildung des Volksrechts wird hier nur aus-

nahmsweiſe die Rede ſeyn koͤnnen, ja es wird ſich bei einer

aufmerkſamen Betrachtung zeigen, daß nichts einer nationalen

und lebendigen Rechtsentwicklung feindlicher entgegen tritt, als

ein ſolches Juriſtenrecht, dem nur die ganz aͤußerliche Normi-

rung der Verhaͤltniſſe durch eine oberflaͤchliche und leichtſinnige

Geſetzgebung verglichen werden kann. Wo nun uͤberhaupt

jede ſchoͤpferiſche Kraft im Volke abgeſtorben, und auch keine

Hoffnung mehr vorhanden iſt, auf irgend eine Weiſe eine Re-

generation des oͤffentlichen Lebens zu beſchaffen, da mag es

im Allgemeinen gleichguͤltig ſeyn, unter welchen Formen die

altersſchwachen Zuſtaͤnde ſich hinſchleppen, und das duͤrftige

Maaß ihrer Beurtheilung finden. Allein anders verhaͤlt es

ſich da, wo es nur darauf ankommt, den Krankheitsſtoff, der

ſich uͤber einen innerlich noch kraͤftigen Volksorganismus ver-

breitet hat, auszutreiben, um wieder eine dauernde Geſundheit

herbeizufuͤhren; da iſt die Erkenntniß des Uebels ſchon der erſte

Schritt zur Beſſerung, und die Bekaͤmpfung des krankhaften

Zuſtandes, auch wenn man ſich ſchon daran gewoͤhnt hat, iſt

eine Pflicht, der weder der Arzt noch der Kranke aus Scheu

vor einer ſchmerzhaften Operation und einer bitteren Medizin

ſich entziehen darf.

Es wird aus verſchiedenen Gruͤnden angemeſſen ſeyn,

das Geſagte durch eine kurze Betrachtung der roͤmiſchen Rechts-

geſchichte, inſofern ſie den hier behandelten Gegenſtand betrifft,

anſchaulicher zu machen. Denn nicht bloß bietet ſie im All-

gemeinen ein ſehr lehrreiches Beiſpiel von einer eigenthuͤmli-

[347/0359]

Werth des Juriſtenrechts.

chen Rechtsentwicklung dar, ſondern ſie hat auch durch die

noch beſtehende Geltung roͤmiſcher Rechtsquellen und durch den

Einfluß, welchen deren Studium auf die deutſche Jurisprudenz

ausgeuͤbt hat, fuͤr uns das allernaͤchſte Intereſſe. In letzterer

Beziehung namentlich darf wohl mit einiger Sicherheit ange-

nommen werden, daß die Anſichten uͤber die Bedeutung des

Juriſtenrechts, welche oben im zweiten Kapitel theilweiſe be-

kaͤmpft worden ſind, hauptſaͤchlich der Abſtraction von roͤmi-

ſchen Rechtszuſtaͤnden ihre Entſtehung zu verdanken haben.

Jedenfalls wird aber eine, wenn auch nur kurze Darſtellung

derſelben den Vortheil gewaͤhren, daß ſich im Gegenſatze da-

von das Eigenthuͤmliche unſeres deutſchen Rechtsweſens mit

groͤßerer Beſtimmtheit hervorheben laͤßt.

Es hat bekanntlich lange gewaͤhrt, ehe ſich in Rom ein

eigener Juriſtenſtand bildete, und einen unmittelbaren Einfluß

auf die Rechtsentwicklung gewann. Erſt mit dem Untergange

des alten Roͤmerthums iſt dieß geſchehen, als die Verhaͤltniſſe

immer entſchiedener zur Herrſchaft eines Einzigen, dem ſich die

geſammte freie Bevoͤlkerung unterwarf, hindraͤngten, und das

fruͤhere Stadtrecht zum gemeinen Reichsrecht umgeſtaltet wurde.

Indeſſen entwickelte ſich auch in der aͤlteren Zeit das Volks-

recht in keiner ſo maaßloſen Freiheit, wie es lange unter den

Deutſchen der Fall geweſen iſt. Die antike Welt, deren er-

ſtes Beduͤrfniß und Lebensprincip die naturgemaͤße Ausbildung

des Einzelnen wie des Staates war, ſtrebte doch immer nach

beſtimmten Formen, in denen ſie das Maaß und die Grenze

der Freiheit fand. Daher erklaͤrt ſich in Rom das fruͤhe und

energiſche Eingreifen der Geſetzgebung in alle Verhaͤltniſſe,

welche nicht dem reinen Privatrecht angehoͤrten, und auch die-

ſes war durch den ſtrengſten Formalismus gebunden. Als

[348/0360]

Zwoͤlftes Kapitel.

aber in letzterer Beziehung eine freiere Bewegung des Rechts-

lebens nothwendig wurde, da benutzte man die ſouveraine

Machtvollkommenheit, welche die Magiſtrate innerhalb ihrer

Amtsſphaͤre ausuͤbten, um das gefuͤhlte Beduͤrfniß zu befriedi-

gen, und gewann namentlich ein Organ fuͤr die weitere Aus-

bildung des Rechts in der Praͤtur, welche weder Geſetzes- noch

Volksrecht ſchuf, aber die den Verhaͤltniſſen entſprechende Norm

mit einer legalen Auctoritaͤt bekleidete. Daß dabei nicht die

Willkuͤhr des einzelnen Praͤtors, wenn auch durch die Inter-

ceſſion ſeiner Collegen und die nach der Amtsfuͤhrung zu be-

fuͤrchtende Anklage in Schranken gehalten, walten konnte, ver-

ſteht ſich von ſelbſt; er mußte bei der Aufſtellung ſeines Edicts

das Paſſende treffen, wenn es auf dauernde Geltung Anſpruch

machen ſollte, und der Rath und die Huͤlfe von rechts- und

geſchaͤftskundigen Maͤnnern war ihm daher unentbehrlich. Als

nun mit dem Abſterben des republicaniſchen Lebens auch die

Praͤtur immermehr von ihrer fruͤheren Bedeutung verlor, und

es auch zu keiner umfaſſenden Geſetzgebung kam, die Caͤſar

unter ſeine reformatoriſchen Plaͤne mit aufgenommen hatte, ſo

war fuͤr ſolche Maͤnner, welche die Beſchaͤftigung mit dem

Rechte zu ihrer Lebensaufgabe machten, die Gelegenheit zur

großartigſten Wirkſamkeit gegeben. Jetzt ſind es die Juriſten,

welche durch griechiſche Bildung zur wiſſenſchaftlichen Behand-

lung ihres Gegenſtandes befaͤhigt, gehoben durch die Auctori-

taͤt der Caͤſaren, das Rechtsweſen hauptſaͤchlich beherrſchen;

ſie nehmen den geſammten poſitiven Rechtsſtoff in ſich auf,

und reproduciren ihn in freier Beherrſchung des Einzelnen als

ein Ganzes, dem nicht eine bloß aͤußerliche logiſche Verknuͤ-

pfung, ſondern der darin herrſchende Geiſt, die ratio juris

den Charakter der Einheit aufdruͤckt. So gewinnen ſie ei-

[349/0361]

Werth des Juriſtenrechts.

nen feſten Standpunct, der ihnen die Sicherheit giebt, auch

uͤber die bloße Rechtskunde hinaus zu gehen, und in ſelbſtaͤndi-

ger Entwicklung aus der Natur der Rechtsverhaͤltniſſe neue

Normen, ein Juriſtenrecht zu ſchaffen. Aber es iſt, als ob aus

der Beſchaͤftigung mit den Rechtsquellen einer beſſeren Zeit

auch deren Geiſt auf die Juriſten uͤbergeht; ſie ſind die be-

waͤhrteſten Charaktere jener Periode des allgemeinen Verfalls,

und mit einer Geſchaͤftskunde, wie nur ihr Aufenthalt in der

Hauptſtadt der Welt, mitten im Verkehr des Lebens unter

großartigen Verhaͤltniſſen ſie geben kann, verbinden ſie eine

Meiſterſchaft in der juriſtiſchen Methode, welche noch jetzt Be-

wunderung erregt. So bildet ſich unter ihren Haͤnden das

roͤmiſche Privatrecht zu einer ſeltenen Vollendung aus; wie

fruͤher der Praͤtor, und in einem noch weiteren Umfange, wie

er, ſind ſie ein Organ des Volksrechts, ſo weit es unter den

gegebenen Zuſtaͤnden uͤberhaupt noch moͤglich iſt, und nicht mit

den poſitiven Satzungen eines despotiſchen Regiments in Col-

liſion kommt. Aber bei dem allgemeinen Ruin kann ſich auch

der Juriſtenſtand, dem eine breite, volksthuͤmliche Baſis fehlt,

auf die Dauer nicht auf ſeiner Hoͤhe erhalten. Die Schwur-

gerichte gehen ein; die Rechtspflege kommt ausſchließlich an

die Beamten; kaiſerliche Conſtitutionen werden die einzige

Rechtsquelle; die juriſtiſche Kunſt, ſelbſt die Herrſchaft uͤber

den poſitiven Rechtsſtoff geht verloren, und nur unter Ju-

ſtinian gelingt es noch einmal, ſo weit das byzantiniſche We-

ſen es geſtattet, — wenn auch nicht die Kraft der fruͤheren

Jurisprudenz wieder zu erwecken, ſo doch formell die wichtig-

ſten Reſultate derſelben mit dem uͤbrigen poſitiven Rechte zu-

ſammen zu ſtellen, nach dem damaligen Beduͤrfniſſe zu verar-

beiten und in eine gewiſſe Einheit und Harmonie zu bringen.

[350/0362]

Zwoͤlftes Kapitel.

Alſo in einer beſtimmten Zeit, unter beſonderen Verhaͤlt-

niſſen hat in Rom der Juriſtenſtand Großes geleiſtet, und iſt

fuͤr das Privatrecht (denn nur fuͤr dieſes war noch einiger-

maaßen eine freie Rechtsbildung moͤglich) ein Organ des Volks-

rechts geworden. Aber wie viele Umſtaͤnde mußten zuſammen

kommen, um ein ſolches Reſultat herbeizufuͤhren! und wie

beſchraͤnkt war doch auch in mancher Hinſicht dieſe im Allge-

meinen freilich ſo großartige Wirkſamkeit der Juriſten, ſelbſt

auf dem Gebiete des Privatrechts! Haben ſie es doch, um

vom Einzelnen zu ſchweigen, nicht einmal vermocht, jenen

Dualismus, der nur durch aͤußere Umſtaͤnde hervorgerufen,

ſtoͤrend durch das ſpaͤtere roͤmiſche Rechtsſyſtem hindurch geht,

ich meine die Scheidung in jus civile und honorarium, zu

beſeitigen, — eine Aufgabe, welche allein von der geſetzgeben-

den Gewalt vollſtaͤndig haͤtte geloͤſt werden koͤnnen, zu der

aber freilich die ſpaͤtere Kaiſerzeit nicht mehr befaͤhigt war. —

Jedenfalls aber, das muß jedem Unbefangenen einleuchten, kann

jene eigenthuͤmliche Stellung der claſſiſchen roͤmiſchen Juriſten

nicht benutzt werden, um darauf eine allgemeine Anſicht von

der Bedeutung des Standes fuͤr die Rechtsbildung zu begruͤn-

den, und ſie auch fuͤr die deutſchen Verhaͤltniſſe geltend zu

machen. Dieſe wollen aus ſich ſelbſt verſtanden und gewuͤr-

digt werden. Laſſen wir aber einmal die Gegenſaͤtze der anti-

ken und modernen Welt, von Rom und Deutſchland bei

Seite, und heben nur ein anderes Moment deſto beſtimmter

hervor. Die roͤmiſchen Juriſten hatten ein nationales Recht

zu behandeln und auszubilden, zwar fuͤr die freie Bevoͤlkerung

des ganzen Reichs, welche jeder beſtimmten Volksthuͤmlichkeit

entbehrte, und ſich gewiſſermaaßen nur im jus gentium ver-

treten ſah; aber ſie ſelbſt hatten doch ein ſicheres Bewußtſeyn

[351/0363]

Werth des Juriſtenrechts.

von dem eigentlichen Kern des alten Rechtsweſens, an den

ſich die neueren Bildungen anſetzten, welche wiederum auf

dem Boden der unmittelbar beſtehenden, lebendigen Verhaͤlt-

niſſe erwachſen waren. Unſere deutſchen Juriſten dagegen ſind

außer Zuſammenhang mit dem urſpruͤnglichen deutſchen Rechts-

leben gekommen; ſie verdanken ihre Bildung vorzugsweiſe ei-

nem fremden Rechtsbuch, deſſen Inhalt, ein Product verſchie-

dener Zeiten und Zuſtaͤnde, als poſitive Norm gelten ſoll, ob-

gleich er nur in wenigen Inſtituten eine unmittelbare Anwen-

dung auf die gegenwaͤrtigen Rechtsverhaͤltniſſe geſtattet. Dazu

kommt die Beſchaffenheit des deutſchen Gerichtsweſens, die

freilich guten Theils auch wieder als eine Folge von der Gel-

tung des fremden Rechts anzuſehen iſt, aber doch, wie ſie ein-

mal beſteht, die Juriſten noch mehr von der Anſchauung und

Durchdringung der Lebensverhaͤltniſſe entfernt halten mußte.

Daraus ſind denn zwei Uebelſtaͤnde erwachſen, welche wie eine

ſchwere Laſt auf die deutſche Jurisprudenz druͤcken, und auch

dem Juriſtenrecht ſeinen eigenthuͤmlichen Charakter aufgepraͤgt

haben: todte Gelehrſamkeit und dem Leben entfremdete Theorie.

Es koͤnnte ſcheinen, als ob dieſe Behauptung mit einer

anderen in Widerſpruch ſteht, welche fruͤher von mir aufge-

ſtellt worden iſt. Ich habe naͤmlich geſagt, daß man die Moͤg-

lichkeit, das roͤmiſche Recht in ſeiner unmittelbaren Geltung

auf die modernen Verhaͤltniſſe anzuwenden, nur der vermit-

telnden Thaͤtigkeit der Juriſten zuzuſchreiben hat, indem ſie

daſſelbe unter ihren Haͤnden weſentlich modificirten, und es

gewiſſermaaßen nur als den Kern und Mittelpunct des Juri-

ſtenrechts beſtehen ließen. Darnach ſcheint die Wirkſamkeit

des Juriſtenſtandes, auch inſofern ſie eine neue Rechtsbildung

hervorrief, doch gerade eine recht practiſche Tendenz gehabt zu

[352/0364]

Zwoͤlftes Kapitel.

haben. Das iſt nun auch in einem gewiſſen Sinne ganz

richtig. Allein es erſcheint doch an und fuͤr ſich unnatuͤrlich

und verſchroben, daß das poſitive Recht erſt einen ſolchen Laͤu-

terungsproceß durchmachen mußte, um uͤberhaupt nur practi-

cable zu werden, und die Nothwendigkeit, worin ſich die Ju-

riſten fortwaͤhrend befanden, bei jeder wiſſenſchaftlichen oder

practiſchen Operation ſich die Beſtimmungen des roͤmiſchen

Rechts zu vergegenwaͤrtigen und uͤber deren Anwendbarkeit

oder Unanwendbarkeit ſich Rechnung abzulegen, mußte ihrer

Methode verderblich werden und uͤberhaupt ihrer freien Bewe-

gung ein großes Hemmniß bereiten. Denn gerade diejenigen

Momente, auf denen die Hauptkraft der roͤmiſchen und uͤber-

haupt jeder tuͤchtigen Jurisprudenz beruht, hatten fuͤr die deut-

ſche nur eine untergeordnete und beſchraͤnkte Wichtigkeit; die

unbefangene Anerkennung des Volksrechts, die Entwicklung

aus den im Weſen der Verhaͤltniſſe ruhenden Principien, die

Beruͤckſichtigung der Zweckmaͤßigkeit und Billigkeit, — dieß

maͤchtige juriſtiſche Ruͤſtzeug, durch deſſen kunſtvolle Handha-

bung die ſtarre Maſſe des geſchriebenen Rechts erſt in Fluß

gebracht und die leer gebliebene Luͤcke ausgefuͤllt wird, ſtand den

Deutſchen nicht zur freien Benutzung zu Gebot, da ſie, ſtatt

ſich die einzelne Rechtsnorm in geiſtiger Freiheit zu abſtrahi-

ren, dieſelbe aus dem Corpus Juris und ſeinen Commentato-

ren muͤhſam herausklaubten. Daher erklaͤrt ſich die gelehrte

Faͤrbung, welche unſere Jurisprudenz ſelbſt unter den Haͤnden

der beſſeren Practiker angenommen hat; dieſe ganz unleben-

dige und duͤrre Caſuiſtik, welche, anſtatt in das Weſen der

Rechtsverhaͤltniſſe und in die ſie beſtimmenden Momente ein-

zudringen, nur beſtrebt iſt, fuͤr den vorliegenden Rechtsfall

durch Citate und Allegationen eine aͤußerliche Normirung zu

[353/0365]

Werth des Juriſtenrechts.

gewinnen, und die, wenn ſie gruͤndlich wird, ſich in der Exe-

geſe alter Rechtsquellen ergeht. Unter dieſen Umſtaͤnden muß-

ten denn freilich gerade diejenigen Maͤnner den groͤßten Ein-

fluß auf die deutſche Rechtsbildung erlangen, welche ſich als

Gelehrte von Profeſſion mit dem Recht als einem Gegenſtande

beſonderer Studien beſchaͤftigten, und es oft als ein ſelbſtaͤndi-

ges Weſen, ohne Ruͤckſicht auf ſeine unmittelbare Beziehung

zu den Lebensverhaͤltniſſen betrachteten, als ob die Gelehrſam-

keit uͤberhaupt und namentlich fuͤr eine practiſche Disciplin

etwas Anderes als ein Mittel zum Zweck ſeyn koͤnnte. Iſt

auch bei manchen Univerſitaͤtslehrern, denn von dieſen iſt hier

beſonders die Rede, eine ſo ganz verfehlte Richtung dadurch

temperirt worden, daß ſie auf die eine oder die andere Weiſe

dem Leben und ſeinen Anſorderungen naͤher gebracht wurden;

und hat den Einen ſeine hoͤhere wiſſenſchaftliche Begabung,

welche jeder Einſeitigkeit widerſtrebt, den Andern vielleicht ſeine

unverwuͤſtliche geiſtige Geſundheit vor ſolchen Verirrungen be-

wahrt, — im Allgemeinen blieb doch die Lage der Dinge,

wie ſie bezeichnet worden; das Uebel konnte wohl im Einzel-

nen gemildert werden, aber gehoben ward es dadurch nicht.

Und wenn es nur noch eine rechte volle Gelehrſamkeit gewe-

ſen waͤre, was aus jenen Beſtrebungen hervorging! Aber wie

viel iſt ohne Critik den fremden, und namentlich den italieni-

ſchen Juriſten nachgeſchrieben worden; wie viele ganz inhalts-

loſe und gleichguͤltige Unterſuchungen und Controverſen wur-

den immer von Neuem mit pedantiſcher Gruͤndlichkeit erwo-

gen und durcharbeitet; welch eine Menge von nichtsnutzigem

Plunder, wie viele oberflaͤchliche Salbadereien, Abgeſchmackt-

heiten und Irrthuͤmer liegen uͤberhaupt in dem Wuſt der deut-

ſchen juriſtiſchen Literatur aufgeſpeichert vor uns! Bei andern

Beſeler, Volksrecht. 23

[354/0366]

Zwoͤlftes Kapitel.

Voͤlkern wird der Verfaſſer eines guten Buches geehrt; in

Deutſchland kann es beinahe ſchon als ein Verdienſt gelten,

kein ſchlechtes geſchrieben zu haben!

Iſt aber die Reception des roͤmiſchen Rechts von entſchie-

denem Einfluß auf dieſe Entartung unſerer Jurisprudenz ge-

weſen, ſo wuͤrde man doch zu weit gehen, wenn man ſie ihr

allein zuſchreiben wollte. Es liegt darin, wie ſchon fruͤher ge-

zeigt worden, nur Eins der Momente, deren Zuſammenwirken

den heutigen Rechtszuſtand in Deutſchland herbeigefuͤhrt hat.

Das ergiebt ſich recht deutlich, wenn man die Wirkſamkeit der

Germaniſten betrachtet, welche doch gerade einen bewußten Ge-

genſatz zu den Romaniſten bildeten, der ſich wenigſtens bei

Manchen von ihnen beſtimmt genug ausgeſprochen hat. Auch

ſie haben es ſelten vermocht, ſich von dieſem gelehrten Trei-

ben los zu machen, und wenn ſie uͤber den Standpunct des

usus modernus hinauskamen, ſo beſchaͤftigten ſie ſich vor-

zugsweiſe gern mit den Rechtsalterthuͤmern, und hingen in

ihren dogmatiſchen Arbeiten nur zu leicht leeren Theorien nach,

ohne da, wo ſie ihre Kraft haͤtten ſuchen ſollen, im Rechtsle-

ben des Volkes feſte Wurzel zu ſchlagen. Freilich gehoͤrte

ſchon ein gewiſſer Muth und ein ſcharfes Auge dazu, um in

deſſen Tiefen einzudringen, denn es war ja nach allen Seiten

hin verdeckt und geſtoͤrt; aber daß es eben ſo geworden, daran

haben die Juriſten keinen geringen Theil verſchuldet. Iſt es

ihnen daher auch gelungen, ſo viel an ihnen lag, die Herr-

ſchaft des gemeinen Rechts und ſomit ein wichtiges Band der

politiſchen Einheit Deutſchlands zu begruͤnden und aufrecht zu

erhalten; es in harmoniſcher Durchbildung zur wahren Wiſ-

ſenſchaftlichkeit zu erheben, und die Anforderungen der hoͤheren

Praxis, die nicht bloß eine gewandte Routine iſt, zu befriedigen

[355/0367]

Werth des Juriſtenrechts.

oder gar als ein das Volksrecht vertretendes Organ ſich zu

bewaͤhren, — dieſe Aufgabe haben ſie unerfuͤllt gelaſſen. —

In dem Urtheil uͤber die Wirkſamkeit der Juriſten uͤberhaupt

iſt aber auch das uͤber das von ihnen gebildete Juriſtenrecht

ſchon enthalten; denn da es das Product ihrer Thaͤtigkeit, der

feſt gewordene Inhalt ihrer Ueberzeugungen iſt, ſo kann es

nur von deren Beſchaffenheit die Beſtimmung ſeines Werthes

bekommen. Daß dieß Verhaͤltniß aber wirklich beſteht, laͤßt

ſich auch im Einzelnen darthun, ohne daß es dazu einer um-

faſſenden Kritik aller im Juriſtenrecht enthaltenen Inſtitute be-

duͤrfte; einige Beiſpiele werden ſchon zur Beſt??tigung des

Geſagten ausreichen.

Zuerſt beziehe ich mich auf das Gerichtsweſen und ins-

beſondere auf das gerichtliche Verfahren. Es iſt bereits oben

im 9. Kapitel weitlaͤuftiger gezeigt worden, daß das Princip

des heimlich-ſchriftlichen Proceſſes dem Geiſte des deutſchen

Volkes und einer wuͤrdigen und energiſchen Handhabung der

Rechtspflege auf keine Weiſe entſpricht; aber gerade dieſes

Princip iſt mit der ganzen Tendenz unſerer Jurisprudenz auf

das Engſte verbunden, und von ihr auch erſt recht ausgebil-

det und in die Praxis eingefuͤhrt worden. Dadurch hat denn

der gemeine deutſche Civilproceß ſeine jetzige, ſo wenig befrie-

digende Geſtalt erhalten, und auch der Criminalproceß iſt im

Weſentlichen dadurch beſtimmt worden. Indeſſen beſteht zwi-

ſchen beiden Rechtstheilen doch noch ein weſentlicher Unter-

ſchied. Denn der Erſtere iſt, wie mangelhaft auch ſein Fun-

dament ſeyn mag, doch mit großem Scharfſinn und innerer

Conſequenz ausgebaut worden; es iſt ein Syſtem darin, deſſen

formelle Tuͤchtigkeit man anerkennen muß, und welches die

ihm geſtellte Aufgabe in ſeiner Weiſe erfuͤllt. Im Criminal-

23*

[356/0368]

Zwoͤlftes Kapitel.

proceß dagegen mit ſeiner Unterſuchungsmaxime, die nur zu

Willkuͤhrlichkeiten fuͤhrt, fehlt ſeit der Abſchaffung der Folter

der Schlußſtein des ganzen Gebaͤudes; die uͤber Alles wichtige

Beweislehre iſt durch und durch erſchuͤttert, und in der Praxis

ſo gut wie in der Theorie zeigt ſich ein unſtaͤtes Schwanken,

welches die innere Haltungsloſigkeit des ganzen Syſtems deut-

lich genug bekundet, und eben ein Zeugniß davon ablegt, wie

wenig es dem muͤhevollen Scharfſinn einer in ſich abgeſchloſ-

ſenen Schule gelingen kann, den Anforderungen des Lebens

und der Freiheit Genuͤge zu leiſten. — Auch das materielle

Strafrecht, ſo tuͤchtig es auch in mancher Hinſicht durchgear-

beitet worden, kann doch ſchon ſeiner gelehrten Faͤrbung wegen

und bei der Unſicherheit mancher allgemeiner Regeln und na-

mentlich des Strafmaaßes, keinen Anſpruch darauf machen,

das Beduͤrfniß des Volkes und des Staates zu befriedigen;

wie viele und wichtige Momente darin aber von den Juriſten

ſchief gefaßt oder uͤberſehen worden ſind, iſt in neuerer Zeit,

da eine mehr volksthuͤmliche Geſetzgebung in dieſem Rechts-

theile angeſtrebt wird, beſtimmt genug an den Tag gekom-

men. — Was ferner die Stellung des Juriſtenrechts im

Staats- und Kirchenrechte betrifft, ſo verweiſe ich auf die im

vorigen Kapitel gegebene Ausfuͤhrung, und faſſe nur noch das

Privatrecht naͤher ins Auge. Auch auf dieſem Gebiete haben

die Juriſten, obgleich ihnen hier gerade die freieſte Bewegung

vergoͤnnt war, den ihrer Wirkſamkeit uͤberhaupt anhaͤngenden

Charakter nicht verleugnet. Der Kampf, den ſie fuͤr das roͤ-

miſche Recht gegen das einheimiſche fuͤhrten, war ja, in vielen

Beziehungen wenigſtens, ein beharrlich fortgeſetztes Streben,

den todten Buchſtaben uͤber das lebendige Wort zu ſetzen, und

wenn auch am Ende das roͤmiſche Recht einer oft willkuͤhr-

[357/0369]

Werth des Juriſtenrechts.

lichen Behandlung unterworfen ward, um nur den ihm wider-

ſtrebenden Verhaͤltniſſen angepaßt zu werden, ſo litten doch

auch dieſe unter der neu geformten Regel, weil ſie ihnen ſo

haͤufig von außen her zugetragen ward, und nicht in einer

tieferen Begruͤndung aus ihnen ſelbſt gezogen werden konnte.

Da aber die Juriſten einmal aus dem inneren Zuſammenhange

mit dem nationalen Rechtsleben gekommen waren, und ſie

dieſen auch durch gelehrte germaniſtiſche Studien nicht wieder

herzuſtellen vermochten, ſo geſchah es, daß ſie manche Lehren

zur Geltung brachten, in der Meinung vielleicht, dem einhei-

miſchen Recht ein wichtiges Zugeſtaͤndniß zu machen, und da-

bei gerade deſſen Geiſt am Wenigſten erfaßten. So haben

ſie den reichen Formalismus, welcher das deutſche Rechtsleben

beherrſchte, in das Princip der Klagbarkeit aller Vertraͤge auf-

gehen laſſen, wodurch kein geringerer Schaden, als durch die

Zerruͤttung der gerichtlichen Auflaſſung angerichtet worden; ſo

haben ſie ferner die Erbvertraͤge zu einem allgemein guͤltigen

Inſtitut ausgeſponnen, und gerade da, wo ſie am Platze ge-

weſen waͤren, bei den wechſelſeitigen Zuwendungen der Ehe-

gatten das Princip der letztwilligen Verfuͤgung im reciproken

Teſtamente durchgefuͤhrt, obgleich dieſes durchaus unfaͤhig iſt,

die ihm zugewieſene Aufgabe zu erfuͤllen.

Iſt nun nach dem Angefuͤhrten der Werth des deutſchen

Juriſtenrechts im Allgemeinen nicht hoch zu ſtellen, ſo iſt da-

mit doch noch nicht geſagt, daß es ohne alles Verdienſt iſt,

und daß nicht im Einzelnen manche zweckmaͤßige, dem Be-

duͤrfniß entſprechende Rechtsbildung dadurch hervorgerufen wor-

den. Ich habe ſchon wiederholt darauf hingewieſen, daß ge-

rade um die Begruͤndung und Befeſtigung des gemeinen

Rechts im Gegenſatz zu dem bloß particulaͤren die Juriſten

[358/0370]

Zwoͤlftes Kapitel.

ſich vorzugsweiſe verdient gemacht haben; im Civilproceß kann

noch beſonders die Beibehaltung der Verhandlungsmaxime

(wenn auch in dieſer Beziehung eine gewiſſe ſtarre Einſeitig-

keit nicht zu verkennen iſt), ferner die beſtimmte Scheidung von

Einlaſſung und Einrede, ſo wie die Ausbildung des Beweis-

interlocuts, im Criminalproceß wenigſtens die Sorgfalt bei der

Feſtſtellung des objectiven Thatbeſtandes an ihnen geruͤhmt

werden. Auch im Privatrecht haben ſie manche Lehre zeit-

gemaͤß entwickelt, z. B. die von den Zinſen, und zuweilen

ſelbſt dann ein guͤnſtiges Reſultat hervorgerufen, wenn ihre

Ueberzeugung zunaͤchſt auch auf Mißverſtaͤndniſſen und Irr-

thuͤmern beruhte. Ein Beiſpiel wird dieß deutlicher machen.

Mit der Aufnahme des roͤmiſchen Rechts kamen auch deſſen

Grundſaͤtze uͤber die Privilegien des Fiscus großen Theils zur

practiſchen Geltung, — eine Thatſache, die ſich nicht wegleug-

nen laͤßt, obgleich die betreffenden Beſtimmungen offenbar dem

oͤffentlichen Recht, ja man kann faſt ſagen dem Staatsrecht

angehoͤren, welches letztere ſonſt doch nicht recipirt worden iſt.

Die aͤltere Theorie von der abſoluten Geltung des roͤmiſchen

Rechts und ſpaͤter die Macht der Regierungen und die ihrem

Intereſſe dienſtbare Befliſſenheit der Juriſten ſind wohl die

Veranlaſſung geweſen, daß man eben bei der roͤmiſchen Fis-

cuslehre eine Ausnahme gemacht hat, obgleich ſie in ihrer ganz

eigenthuͤmlichen Entwicklung der Verfaſſung und den Rechts-

anſichten der Deutſchen wenig entſprach. Daher mag es denn

nun aber gekommen ſeyn, daß die Juriſten es ſich doch an-

gelegen ſeyn ließen, jene exorbitanten Privilegien auf die eine

oder die andere Art zu maͤßigen, und dazu gelangten ſie auf

folgende Weiſe. Eine Stelle des roͤmiſchen Rechts (L. 10.

D. de jure fisci) lautet alſo:

[359/0371]

Werth des Juriſtenrechts.

Non puto delinquere eum, qui in dubiis quaestio-

nibus contra fiscum facile responderit.

Die Erklaͤrung dieſer Stelle macht keine Schwierigkeit,

wenn man nur dem einfachen Wortſinne folgt, und zugleich

die allgemeine Lage der oͤffentlichen Verhaͤltniſſe zur Kaiſerzeit

gehoͤrig beruͤckſichtigt. Die Ueberſetzung wird lauten: „Ich

glaube nicht, daß derjenige ein Delict begeht, welcher in zwei-

felhaften Fragen leicht gegen den Fiscus reſpondirt.“ Daß

namentlich das Wort delinquere ſo, wie geſchehen, uͤberſetzt

werden muß, wird dadurch, daß zum respondere noch fa-

cile hinzugefuͤgt worden iſt, ganz unzweifelhaft. Aber wie

haben unſere Juriſten dieſe Stelle aufgefaßt? Sie uͤberſetzten

delinquere mit fehlen, und indem ſie das respondere auf

gerichtliche Entſcheidungen bezogen, bildeten ſie daraus die pro-

ceſſualiſche Praͤſumtion: in dubio contra fiscum! wodurch

deſſen Privilegien denn allerdings auf gewiſſe Weiſe ein Ge-

gengewicht erhielten.

Es iſt nun aber noch ein Punct zu beruͤckſichtigen, wel-

cher nicht ohne Einfluß auf das Urtheil ſeyn kann, welches uͤber

den Werth des Juriſtenrechts abgegeben wird. Ich habe ſchon

fruͤher bemerkt, daß die Ueberzeugung der Juriſten nicht im-

mer ganz ſtabil ſeyn, ſondern ſich in einer gewiſſen innern

Bewegung befinden wird, welche denn leicht auch einen Wan-

del im Juriſtenrecht hervorrufen muß. Dazu kommt, daß

ſich jene Ueberzeugung nicht immer zu einer ſolchen Gleichmaͤ-

ßigkeit und Feſtigkeit condenſirt hat, daß ſie genuͤgt, um ſichere

poſitive Rechtsregeln zu begruͤnden, was denn natuͤrlich, wenn

man die Normirung gewiſſer Verhaͤltniſſe von dieſer Seite

her erwarten muß, einen Mangel in dem Rechtsmaterial ver-

[360/0372]

Zwoͤlftes Kapitel.

anlaßt, der oft anderweitig ſchwer zu erſetzen iſt. Auf dieſe

Weiſe wird leicht eine gewiſſe Rechtsunſicherheit entſtehen, und

es fragt ſich nun, ob daraus nicht uͤberhaupt ein Grund ge-

gen das Juriſtenrecht und namentlich gegen das deutſche, wo

jene Uebelſtaͤnde allerdings beſonders ſtark hervortreten, herzu-

zunehmen iſt? — Wird nun dieſe Frage ganz allgemein ge-

ſtellt, ſo bezieht ſie ſich nicht allein auf das Juriſtenrecht, ſon-

dern uͤberhaupt auf jede Rechtsbildung, welche ſich, im Ge-

genſatz zu dem beſtimmten Geſetz, in einer gewiſſen Freiheit

und aͤußern Ungebundenheit entfaltet, alſo auch auf das Volks-

recht. Allein ein ſolcher Mangel an der aͤußern Fixirung der

Rechtsregel iſt an und fuͤr ſich kein Uebel, indem darin zu-

gleich die Moͤglichkeit ihrer groͤßeren Elaſticitaͤt gegeben iſt,

und die rechte Methode und die Verfaſſung, namentlich auch

der Gerichte, die Mittel gewaͤhren koͤnnen, dem ſcheinbar form-

loſen Stoff die nothwendige Norm abzugewinnen. Es war

daher eine einſeitige Richtung, als ſeit der Mitte des vorigen

Jahrhunderts die reformatoriſche Thaͤtigkeit der deutſchen Ge-

ſetzgebung, deren innere Begruͤndung im Allgemeinen nicht zu

leugnen iſt, vor Allem auf die Erlangung einer aͤußeren Rechts-

ſicherheit hinſtrebte, welche man namentlich durch die Herr-

ſchaft der Juriſten gefaͤhrdet glaubte. Daher die ganz detail-

lirte Ausfuͤhrung des preußiſchen Landrechts, und jener nicht

verhehlte Zorn gegen die Rechtsbildung durch die Juriſten,

welche zu reinen Executivbeamten der im Geſetz vollſtaͤndig

ausgeſprochenen Willensmeinung gemacht werden ſollten. Aber

wie dieſe Richtung dem preußiſchen Rechtsweſen keinen Se-

gen gebracht hat, ſo haben auch ſchon die folgenden Geſetzge-

bungen ſich damit begnuͤgt, im Allgemeinen nur die leitenden

Rechtsprincipien aufzuſtellen, und die weitere Entwicklung des

[361/0373]

Werth des Juriſtenrechts.

Einzelnen auf dem Wege der conſequenten Deduction wieder

den Juriſten anvertraut. Dieß iſt nun auch eine Aufgabe,

die ihnen zukommt, und die ihnen um ſo eher uͤberlaſſen wer-

den kann, wenn ſie in den Gerichten mit Schoͤffen aus dem

Volke zuſammen ſitzen. — Es bleibt daher nur noch zu er-

waͤgen, ob die ſelbſtaͤndige Begruͤndung von Rechtsinſtituten,

alſo nicht bloß die Entwicklung aus dem Princip, ſondern

auch die Aufſtellung eines ſolchen dem Juriſtenſtande zugewie-

ſen werden kann, und er alſo gleichſam der geſetzgebenden Ge-

walt gleichzuſtellen iſt? Eine ſolche Befugniß wird man ihm

aber nicht wohl einraͤumen duͤrfen, wenn es ſich um eine um-

faſſende Codification handelt; er wird ſich dann innerhalb der

vom Geſetz gezogenen Linien des Rechtsſyſtems zu halten ha-

ben, und auch keine Veranlaſſung fuͤhlen, daruͤber hinauszu-

gehen, wenn ſie in ihrer urſpruͤnglichen Anlage und in ihrer

allmaͤligen legislativen Erweiterung nur genuͤgen. Iſt dieß

aber nicht der Fall, zeigt ſich wirklich eine Luͤcke im Geſetzbuch,

welche von dem Geſetzgeber ſelbſt nicht zeitig ausgefuͤllt wird:

ſo wird ſein Verbot auch nicht davon abhalten, anderweitig

fuͤr die Verhaͤltniſſe eine Normirung zu gewinnen, mag nun

das Volks- oder das Juriſtenrecht, je nach den beſonderen

Umſtaͤnden, dieſelbe liefern. Anders aber, wie bei einer um-

faſſenden Codification, ſtellt ſich die Sache gegenwaͤrtig fuͤr

das Recht der meiſten deutſchen Staaten, welches, fuͤr ſeine

gemeinrechtlichen Beſtandtheile wenigſtens, das Juriſtenrecht

durchaus nicht entbehren kann. Iſt der Vorwurf der Unſicher-

heit, welcher demſelben gemacht wird, auch in mancher Bezie-

hung nicht unbegruͤndet, ſo iſt das ein Mangel, der die Gel-

tung des feſtgewordenen Rechtes doch nicht bedroht, und fuͤr

das Privatrecht wenigſtens von keinem ſolchen Belang iſt,

[362/0374]

Zwoͤlftes Kapitel.

um ſchon deswegen das Juriſtenrecht ganz und gar zu ver-

werfen. So lange wir keine allgemeine deutſche Codification haben,

liegt in dem Volks- und Juriſtenrecht die einzige Gewaͤhr fuͤr die

einheitliche Fortbildung unſeres Rechtsweſens, welche durch die

große Thaͤtigkeit, die jetzt in der particulaͤren Geſetzgebung

herrſcht, ernſtlich bedroht wird. Hoffen wir denn, daß der

Mangel an aͤußeren Mitteln, um dem Juriſtenrecht ſeine ſichere

gemeinrechtliche Haltung zu verſchaffen, und namentlich an

ſolchen Einrichtungen, wie die eines oberſten deutſchen Ge-

richtshofes, woran das engliſche Rechtsweſen ſo reich iſt, —

nicht zu nachtheilig einwirken, und daß ſich dafuͤr in der hoͤ-

heren nationalen Entwicklung des Volkes und in der edleren

Wiſſenſchaftlichkeit der Juriſten vorlaͤufig wenigſtens ein Erſatz

finden wird.

Und in der That hat es den Anſchein, als ob in dieſer

Hinſicht das Beſte zu hoffen iſt. Es kann nicht verkannt

werden, daß die deutſche Jurisprudenz in neuerer Zeit bedeu-

tende Fortſchritte gemacht hat, und daß ſie, wenn ſie auch nicht

beliebig vom poſitiven Rechte abgehen darf, doch gegenwaͤrtig

ſchon uͤber ganz andere Mittel zu gebieten hat, wie fruͤher,

um ſegensreich auf die Rechtsbildung einwirken zu koͤnnen.

Man hat angefangen, das wuͤſte durch einander geworfene

Material zu ſichten und zu ſondern; das roͤmiſche Recht iſt

in ſeinem eigenſten Weſen ergruͤndet worden, und zugleich iſt

der freilich ſtets befolgte, aber oft verkannte Grundſatz dem

wiſſenſchaftlichen Bewußtſeyn naͤher getreten, daß nicht der

Buchſtabe der Juſtinianiſchen Compilation, ſondern der darin

ausgeſprochene Geiſt der Inſtitute in ſeiner modernen Durch-

bildung fuͤr recipirt zu halten iſt. Auch das nationale Ele-

ment unſeres Rechtes hat erſt ſpaͤt eine wuͤrdige und umfaſ-

[363/0375]

Werth des Juriſtenrechts.

ſende Bearbeitung gefunden, welche ſich, den Spuren der Ge-

ſchichte eifrig nachgehend, mit immer groͤßerer Energie dem

gegenwaͤrtig noch im Volke lebenden Rechte zuwenden wird.

So iſt die Ausſicht eroͤffnet, daß wir es in nicht zu ferner Zeit

zu einer wahrhaften Durchdringung unſeres geſammten Rechts-

ſtoffs bringen, und dieſen auch in ſeiner innern Einheit wiſ-

ſenſchaftlich erfaſſen werden, — eine Aufgabe, deren Loͤſung

die unerlaͤßliche Bedingung jedes tuͤchtigen und umfaſſenden

Fortbaues iſt. Die hiſtoriſche Methode der Juriſten hat in

dieſer Beziehung ſchon Großes geleiſtet, und macht taͤglich

neue Eroberungen auf dem ihr angewieſenen Gebiete; aber

auch die Rechtsphiloſophie, welche von der duͤrren Abſtraction

des Naturrechts zur freien Betrachtung des Rechts in ſeiner

allgemeinen Bedeutung fuͤr die Menſchheit gelangt iſt, und es

in die unmittelbare Beziehung zur Staatslehre und Ethik ge-

bracht hat, — auch ſie darf ihren Antheil an der allgemeinen

Foͤrderung der deutſchen Jurisprudenz in Anſpruch nehmen.

So iſt das wiſſenſchaftliche Vermoͤgen vorhanden, welches zu

großen Reſultaten fuͤhren kann; es kommt nun Alles darauf

an, in welches Verhaͤltniß es zum Volksleben tritt, und ob

die Juriſten es uͤber ſich gewinnen werden, ihre iſolirte Stel-

lung aufzugeben, und ſich wieder im offenen, ehrlichen Buͤnd-

niß mit der Nation zu vereinen, damit Volksrecht und Juri-

ſtenrecht ſich ausgleiche, und die Schuld fruͤherer Zeiten in

dem gemeinſamen Ziele des hoͤheren Strebens geſuͤhnt werde.

Um dieß zu erreichen, genuͤgt aber nicht die Erhebung der Ju-

risprudenz zur freieſten wiſſenſchaftlichen Bewegung; auch in

der Rechtsanwendung, in der Praxis des taͤglichen Lebens muß

ſich derſelbe Sinn bewaͤhren, welcher auch jetzt noch im Volke

den urſpruͤnglichen Traͤger alles Rechtes nicht verkennt, und

Beſeler, Volksrecht. 24

[364/0376]

Zwoͤlftes Kapitel. Werth des Juriſtenrechts.

wie der Juriſt ſchon in den Staͤndeverſammlungen neben den

anderen Geſchaͤftsmaͤnnern ſitzend, die Geſetze einer gemein-

ſchaftlichen Berathung und Beſchlußnahme unterzieht, ſo muß

er auch bereit ſeyn, die Stimme des ſchlichten Rechtsgefuͤhls

und der Erfahrung in den Gerichten gelten zu laſſen, und

nicht bloß ſein angeſchultes Wiſſen, ſondern auch die in den

Lebensverhaͤltniſſen ruhende Norm zur Anwendung zu bringen.

Freilich iſt es kein geringes Verlangen, welches an einen gan-

zen Stand geſtellt wird, auf die ausſchließliche Macht einer

hergebrachten Herrſchaft zu verzichten, und ſich mit dem Ein-

fluß zu begnuͤgen, welchen die groͤßere Kunde und Tuͤchtigkeit

nach dem Maaße ihres inneren Werthes ertheilen; auch mag

fuͤr engherzige und ſelbſtſuͤchtige Seelen ein ſolches Opfer un-

erſchwinglich erſcheinen. Aber die Pflicht des guten Buͤrgers,

die wahre Wuͤrde der Wiſſenſchaft und des eigenen Standes

erheiſchen es, und wenn nicht alle Zeichen truͤgen, ſo gebietet es

auch die Klugheit. Denn einer tiefen, nationalen Bewegung,

welche auf eine mehr naturgemaͤße und volksthuͤmliche Geſtal-

tung unſeres Rechtsweſens hindraͤngt, werden ſich die Vertre-

ter einer dem Leben entfremdeten, wiſſenſchaftlich uͤberwundenen

Lehre ohne Ausſicht auf dauernden Erfolg widerſetzen.

[0377]

Druckfehler,

um deren Verbeſſerung gebeten wird.

S. 30. Z. 13. v. o. ſtatt: erger lies: ergere.

— 32. — 17. v. o. ſtatt: Namen lies: Normen.

— 43. — 7. v. o. ſtatt: weſentlichen lies: einheitlichen.

— 53. — 8. v. u. ſtatt: den lies: der.

— 61. — 4. v. o. ſtatt: nur lies: nun.

— 69. — 10. v. o. iſt kein Abſatz zu machen.

— 148. — 1. v. o. ſtatt: ließe lies: laͤßt.

— 157. — 3. v. u. ſtatt: ihn lies: ihr.

— 161. — 3. v. o. ſtatt: feſtzuhalten lies: feſtzuſtellen.

— 187. — 6. v. u. iſt nach: und kann hinzuzufuͤgen: falls ſie

nicht auf eine beſtimmte Perſon ausge-

ſtellt iſt.

— 192. — 7. v. o. ſtatt: gemeinſchaftliches lies: gemeinrecht-

liches.

— 205. — 3. v. u. ſtatt: daſſelbe lies: derſelbe.

— 240. — 8. v. u. zu Anfang fuͤge hinzu: 2.

— 255. — 19. v. o. ſtatt: bildet lies: blickt.

[0378]

Guß und Druck von Friedrich Nies in Leipzig.

[0379]

[0380]

[0381]