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[[I]/0007]

Kommentar

über das

Strafgeſetzbuch für die Preußiſchen Staaten

und das

Einführungsgeſetz

vom 14. April 1851.

Nach amtlichen Quellen

von

Dr. Georg Beſeler,

Geh. Juſtizrathe und Profeſſor der Rechte an der Univerſität zu Greifswald.

Leipzig,

Weidmann'ſche Buchhandlung.

1851.

[[II]/0008]

[[III]/0009]

Vorrede.

Ich habe es mir bei der Ausarbeitung dieſes Kommentars,

den ich gegenwärtig dem Publikum vollendet übergebe, haupt-

ſächlich zur Aufgabe geſtellt, das Verhältniß des Strafgeſetz-

buchs zu den Rechtsſyſtemen, auf deren Grund es erwachſen

iſt, darzulegen und den Inhalt deſſelben nach den während der

Reviſion entſtandenen Materialien zu erläutern. Die vollſtän-

dige Benutzung dieſer letzteren Hülfsquelle war eine nothwen-

dige Bedingung der ganzen Arbeit; ich würde dieſelbe ſchwerlich

unternommen haben, wenn nicht die Akten des Königlichen

Juſtizminiſteriums in liberalſter Weiſe mir zur Verfügung ge-

ſtellt worden wären.

Bei dem reichen Stoffe, welcher mir zu Gebote ſtand,

war es oft ſchwer, das rechte Maaß in der Auswahl deſſen,

worauf Bezug zu nehmen war, zu treffen. Im Allgemeinen

hat mich dabei die Anſicht geleitet, daß zwar nichts Weſent-

liches übergangen werden dürfe, daß es aber gerade jetzt, wo

das Geſetzbuch eben erſt in Wirkſamkeit getreten iſt, mehr

darauf ankomme, die wichtigſten Momente in überſichtlicher

Darſtellung zuſammen zu faſſen, als es auf eine vollſtändige

Erſchöpfung des Gegenſtandes anzulegen. Daher habe ich na-

mentlich bei der Benutzung der amtlichen Quellen Alles, was

nur noch eine geſchichtliche Bedeutung zu haben und zum Ver-

[IV/0010]

ſtändniß des Geſetzbuchs nichts beizutragen ſchien, bei Seite

liegen laſſen; im Einzelnen bin ich aber, ohne den dogmen-

geſchichtlichen Zuſammenhang aus den Augen zu ſetzen, immer

darauf bedacht geweſen, diejenigen Aktenſtücke beſonders hervor-

zuheben, in denen die betreffende Lehre ihre eigentliche Begrün-

dung und Feſtſtellung gefunden hat. Wo es irgend thunlich

war, habe ich dann die entſcheidenden Stellen wörtlich aufge-

nommen, und dadurch dem Leſer Gelegenheit zur eigenen

Anſchauung und Prüfung gegeben.

Wenn nun auch mit dem Kommentar zunächſt ein prak-

tiſcher Zweck verfolgt worden iſt, ſo bin ich doch nicht darauf

ausgegangen, die im Geſetzbuch aufgeſtellten Rechtsgrundſätze

auf dem Wege der Kaſuiſtik weiter zu entwickeln, und mich

voreilig an einer Aufgabe zu verſuchen, deren befriedigende

Löſung erſt von einer aus der Praxis ſich herausbildenden

wiſſenſchaftlichen Jurisprudenz erwartet werden kann. Um die

Einheit und Konſequenz einer ſolchen Rechtsentwicklung zu

ſichern, wird es freilich unerläßlich ſein, daß die Vorſchrift der

Verfaſſungs-Urkunde erfüllt und Ein oberſter Gerichtshof für

die Monarchie beſtellt werde.

Es iſt mir bei meiner Arbeit von verſchiedenen Seiten

ſehr weſentliche Unterſtützung zu Theil geworden, und ich freue

mich, dafür öffentlich meinen Dank ausſprechen zu können. Die

beſte Förderung fand ich aber in der Erinnerung an die Ver-

handlungen der Kommiſſion der zweiten Kammer über das

Strafgeſetzbuch, an denen ich Theil zu nehmen die Ehre hatte,

und welche ſo weſentlich zu dem Abſchluß dieſes bedeutenden

Werkes der Geſetzgebung beigetragen haben.

Das beigegebene Sachregiſter, von erprobter Hand ent-

worfen, wird die Benutzung des Kommentars ſehr erleichtern.

Greifswald den 9. November 1851.

G. Beſeler.

[[1]/0011]

Einleitung.

Beſeler Commentar. 1

[[2]/0012]

[[3]/0013]

Erſtes Kapitel.

Geſchichte der Entſtehung des Strafgeſetzbuchs.

§. I.

Die erſte Reviſion, bis zur Betheiligung des Staatsrathes;

1826-1836. — Die Entwürfe von 1827, 1830, 1833 und 1836.

Wie wenig die Behandlung, welche das Strafrecht im Allgemeinen

Landrecht Th. II. Tit. 20. gefunden, ſelbſt in den entſcheidenden Kreiſen

befriedigt hat, ergiebt ſich aus dem Umſtande, daß man ſich bald nach

der Veröffentlichung des Landrechts veranlaßt ſah, über einzelne wichtige

Verbrechen neue Geſetze zu erlaſſen. So erſchien, abgeſehen von dem

Edict vom 20. Oct. 1798 über unerlaubte Verbindungen, am 30. Dec.

1798 die Circular-Verordnung über die Injurien und am 26. Febr. 1799

die Verordnung über den Diebſtahl. Die beſtimmte Abſicht eine Revi-

ſion des Tit. 20. vorzunehmen, ſprach ſich aber bei der Veröffentlichung

der neuen Kriminal-Ordnung aus, indem feſtgeſetzt ward, daß dieſe den

erſten Theil des allgemeinen Kriminalrechts für die Preußiſchen Staa-

ten ausmachen, der zweite Theil aber die Strafgeſetze enthalten ſolle.

a)

a) Patent wegen Publication der neuen Criminal-Ordnung vom

11. Dec. 1805. „— — Wir haben daher nöthig befunden, alle in den Geſetzes-

Sammlungen zerſtreuet befindliche Verordnungen welche das Verfahren im Criminal-

proceſſe betreffen, revidiren, eine neue Criminal-Ordnung entwerfen und dabei auf

die veränderte Verfaſſung die gehörige Rückſicht nehmen zu laſſen. Dieß iſt geſchehen;

und da die allgemeinen Strafgeſetze jetzt auch revidirt werden, und künftig nicht mehr

einen Theil Unſres allgemeinen Landrechts ausmachen, ſondern als ein beſonderes Ge-

ſetzbuch abgedruckt und publicirt werden ſollen; ſo haben Wir reſolvirt, die Criminal-

Ordnung und die Strafgeſetze als ein Ganzes anzuſehen, und unter dem Titel: All-

gemeines Criminalrecht für die Preußiſchen Staaten, abdrucken zu laſſen;

wovon die Criminal-Ordnung den erſten, die Strafgeſetze aber den zweiten Theil aus-

machen ſollen.“

1 *

[4/0014]

Einleitung. Erſtes Kap. Entſtehung des Strafgeſetzbuchs.

Die politiſchen Ereigniſſe verhinderten jedoch die Ausführung dieſes Pla-

nes erſt die ſpäter beſchloſſene allgemeine Reviſion der Geſetze führte

auch zu einer neuen Bearbeitung des Strafrechts.

Nachdem der König durch Kabinets-Ordre vom 28. Jan. 1826

den vom Juſtizminiſter Grafen v. Danckelman vorgelegten allgemei-

nen Plan für das Reviſionswerk gebilligt hatte, ward in der, an den-

ſelben Miniſter gerichteten Kabinets-Ordre vom 24. Juli 1826 genauer

feſtgeſtellt, in welcher Richtung die Arbeit zu leiten ſei, und namentlich

hervorgehoben, daß es nicht die Abſicht ſei, eine neue Geſetzgebung an

die Stelle der beſtehenden treten zu laſſen, ebenſowenig aber, in das

Landrecht und die Gerichtsordnung nur die ſpäteren Ergänzungen und

Abänderungen einzuſchalten; daß es vielmehr darauf ankomme, beide

Geſetzbücher einer gründlichen Prüfung zu unterwerfen, und nach dem

Reſultate derſelben ſie zu berichtigen, zu ergänzen, zu erläutern und zu

vervollkommnen. b) — Gegen dieſe Anweiſung machte der Juſtizminiſter,

inſoweit ſie ſich auf die Strafgeſetze bezog, Einwendungen und erklärte,

daß eine Reviſion des Allgemeinen Landrechts unzureichend und die

Abfaſſung eines neuen Strafgeſetzbuchs nothwendig ſei, — eine Anſicht,

der der König nachgab, obgleich er nicht unterließ, auf die Schwierig-

keit des Unternehmens aufmerkſam zu machen. c)

In dieſem freieren Sinne wurde nun die Sache in Angriff genom-

men, wenn auch in der officiellen Sprache nur von einer Reviſion der

Strafgeſetze die Rede war. Die Gerichtshöfe wurden durch ein Reſcript

des Juſtizminiſters vom 26. Dec. 1825 zur Abgabe von Gutachten

veranlaßt; die Reviſion der Strafgeſetze aber wurde zum erſten Penſum

des ganzen Reviſionswerks gemacht und zunächſt dem Kammergerichts-

rath Bode übertragen. Bode arbeitete einen „Entwurf des Criminal-

Geſetz-Buches für die Preußiſchen Staaten“ aus, und verſah denſelben

mit Motiven, welche in drei Bänden (Berlin 1827-29. 4.), als Ma-

nuſcript gedruckt ſind; der vierte Band (Berlin 1828) über die Ver-

brechen gegen das Vermögen iſt vom Oberlandesgerichtsrath Schiller.

Dieſe letztere Arbeit, welche ſich der Ordnung des Landrechts anſchließt,

iſt unbedeutend, ohne Schärfe und tiefere Einſicht; ſie läßt die freie Be-

herrſchung des Materials vermiſſen und bietet faſt nur ein kritiſches

Raiſonnement über die Satzungen des Allgemeinen Landrechts. Sehr

achtungswerth ſind dagegen die Leiſtungen Bode's, welcher den erſten

tüchtigen Grund zu der Reform des Preußiſchen Strafrechts gelegt hat;

er übt eine ſcharfe und doch beſonnene Kritik, iſt mit der wiſſenſchaft-

b) Die Kab.-Ordre vom 24. Juli 1826 iſt abgedruckt bei v. Kamptz, acten-

mäßige Darſtellung der Preußiſchen Geſetz-Reviſion (Berlin, 1842). S. 295-298.

c) S. die K.-O. v. 14. Nov. 1826 bei v. Kamptz a. a. O. S. 298-300.

[5/0015]

§. I. Die erſte Reviſion, 1826-36.

lichen Bearbeitung des gemeinen deutſchen Kriminalrechts wohl bekannt,

benutzt die Gutachten der Gerichtshöfe mit Umſicht und Geſchick, und

findet in den für andere deutſchen Staaten beſtimmten Geſetzgebungen

einen Anhalt für ſeine Vorſchläge. Beſonders das Bayeriſche Straf-

geſetzbuch und die Entwürfe für Sachſen und Hannover hat er benutzt;

dagegen trifft ihn der Tadel, daß er das Franzöſiſche oder, wie wir es

lieber nennen wollen, das Rheiniſche Recht zu wenig berückſichtigt, ja

mit einer gewiſſen Ungunſt behandelt hat. — Dieſer Bode'ſche Ent-

wurf nun wurde unter der Leitung des Juſtizminiſters Grafen v. Dan-

ckelman in der Geſetz-Reviſions-Kommiſſion d) überarbeitet, und iſt in

dieſer neuen Geſtalt als Manuſcript gedruckt, unter dem Titel:

Entwurf des Straf-Geſetz-Buches für die Preußiſchen Staaten.

Erſter Theil. Criminal-Straf-Geſetze. Berlin 1830. 4.

Schon der Titel des in 529 §§. abgefaßten Entwurfs weiſt auf einen

zweiten Theil hin, der die Polizei-Strafgeſetze enthalten ſollte; auch für

dieſen hat Bode ſpäter auf Grund des Tit. 20. einen Entwurf mit

Motiven ausgearbeitet, als Manuſcript gedruckt Berlin 1833. 4.

Das Reviſionswerk war alſo im guten Gange; das zeigt ſich

deutlich genug, wenn man den Entwurf von 1830 mit dem Titel 20.

Th. II. des Allgemeinen Landrechts vergleicht. Man ſieht es dieſem

Titel an, (er zählt 1577 §§.) wie wenig zur Zeit ſeiner Abfaſſung die

deutſche Geſetzgebung für höhere Aufgaben auf dem Gebiete des Straf-

rechts geübt war; man findet bald, daß die reformatoriſchen Beſtrebun-

gen der neueren Kriminaliſten, namentlich Feuerbach's noch keinen

Einfluß darauf hatten gewinnen können. Die Sprache iſt breit und

ſchleppend; den Begriffsbeſtimmungen fehlt es häufig an Klarheit und

Schärfe, ſie führen nicht zu feſten Rechtsprincipien, ſondern umſpannen

eine Menge einzelner Vorſchriften, in denen die möglichſte Vollſtändig-

keit der Kaſuiſtik angeſtrebt wird. Polizeiliche Rückſichten machen ſich,

ſelbſt in der Anordnung vorbeugender Maaßregeln, in Belehrungen und

Warnungen überall geltend; allgemeine Strafzumeſſungsgründe ſetzen

dem richterlichen Ermeſſen zu enge Schranken; die Todesſtrafe, ſelbſt

mit grauſamen Schärfungen, kommt noch häufig vor; in dem Syſtem

der Freiheitsſtrafen fehlt die Konſequenz, wenn hier überhaupt von ei-

nem Syſteme die Rede ſein kann, — ſelbſt die Terminologie iſt nicht

immer gleich; die Perſönlichkeit, der Stand der Verbrecher ſind von ent-

ſchiedenem Einfluß auf die Anwendung der Strafen. — Der Entwurf

von 1830 hat ſich von dieſen Mängeln durchweg freigehalten; er iſt

d) Die Mitglieder dieſer Kommiſſion waren: der Director im Juſtizminiſterium

v. Kamptz, der Geh. Ober-Juſtizrath Sack, der Geh. Ober-Reviſionsrath Fiſche-

nich und der Kammergerichtsrath Bode.

[6/0016]

Einleitung. Erſtes Kap. Entſtehung des Strafgeſetzbuchs.

klar und beſtimmt in ſeinen Vorſchriften, auf das Weſentliche gerichtet.

Die körperliche Züchtigung iſt aus der Reihe der Strafen verſchwunden,

unter den Freiheitsſtrafen im Allgemeinen ein angemeſſenes Verhältniß

hergeſtellt; Zwangsarbeit und Zuchthausſtrafe haben den Verluſt beſtimm-

ter Ehrenrechte, die Amtsentſetzung hat die Unfähigkeit zu öffentlichen

Aemtern von Rechtswegen zur Folge, außerdem giebt es keine Ehren-

ſtrafen. Für Perſonen von gebildetem Stande blieben jedoch, wenn auch

nur für die ſeltneren Fälle, Feſtungsſtrafe und Feſtungsarreſt vorbehal-

ten, auch ward die Strafe der Vermögenskonfiskation in das Geſetzbuch

aufgenommen.

Während aber Alles die raſche und glückliche Vollendung des Re-

viſionswerks hoffen ließ, trat noch im Jahre 1830 mit dem Tode des

Grafen v. Danckelman, zum Theil auch wohl in Folge der politiſchen

Ereigniſſe eine neue Wendung für daſſelbe ein; die Leitung der Sache

kam in die Hände des Herrn v. Kamptz. Man kann dieſem Manne

die Verdienſte, welche er ſich namentlich um die Sammlung und Bear-

beitung der Provinzialrechte erworben hat, ungeſchmälert laſſen, und doch

der Anſicht ſein, daß er für die Durchführung einer Reform im Straf-

recht ſehr wenig geeignet war. Nach ſeiner Anſicht bedurfte der Tit. 20.

Th. II. des Allg. Landrechts eigentlich nur einer Ausbeſſerung im Ein-

zelnen, und er hat das Seinige gethan, den Entwurf von 1830 in die-

ſem Sinne zurückzurevidiren. Dazu kam ſeine oberflächliche und

zerfahrene Productivität, die es ihm ſchwer machte, eine reife Arbeit

zu liefern, und dann ſeine bekannte politiſche Richtung, welche in Fra-

gen, die mit den ſogenannten demagogiſchen Umtrieben zuſammen hingen,

faſt die Geſtalt von fixen Ideen annahm. Unter dieſen Einflüſſen nun

wurde eine Umarbeitung des Entwurfs von 1830 vorgenommen und

von dem Miniſter ſelbſt mit Motiven verſehen, als Manuſcript gedruckt

unter dem Titel:

Revidirter Entwurf des Strafgeſetzbuchs für die Königl. Preu-

ßiſchen Staaten. Erſter Theil. Criminal-Strafgeſetze. Berlin

1833. 4.

Hier treten ſchon wieder die allgemeinen Zumeſſungsgründe auf, ferner

die polizeilichen Strafvorſchriften, welche geeigneten Orts eingeſtreut ſind;

Feſtungsſtrafe und Feſtungsarreſt kommen allgemein für Perſonen zur

Anwendung, welche zu den höheren oder gebildeteren Ständen gehören,

Hochverrath iſt ein Unternehmen, welches darauf abzielt, eigenmächtig

die Verfaſſung des Staats zu ändern u. ſ. w. Dieſe Aenderungen ge-

nügten dem Herrn v. Kamptz jedoch nicht; noch ehe der revidirte Ent-

wurf Gegenſtand weiterer Berathungen wurde, arbeitete er ihn von

Neuem um, und ließ dieſe Arbeit in 797 §§. unter folgendem Titel drucken:

[7/0017]

§. II. Die zweite Reviſion; 1838-43.

Revidirter Entwurf des Strafgeſetzbuchs für die Königlich Preu-

ßiſchen Staaten. Berlin 1836. 8.

Dieſe Octavausgabe, von der Quartausgabe des Jahres 1833 wohl

zu unterſcheiden, ward ohne Motive veröffentlicht; die Abänderungen

ſind überhaupt in der Vorrede als nicht ſehr erheblich bezeichnet; ſie

ſtellen ſich aber bei einer genaueren Vergleichung als ſehr bedeutend

heraus. Zu den früher aufgeſtellten geſetzlichen Strafarten iſt die kör-

perliche Züchtigung, die Ortsverweiſung und der Verluſt gewerblicher

Rechte hinzugekommen; auch im Fall der Freiſprechung durch einen

Preußiſchen Gerichtshof ſoll, wenn ſie in Folge Betrugs oder falſchen

Zeugniſſes herbeigeführt worden, die Wiederaufnahme der Unterſuchung

und Beſtrafung nicht ausgeſchloſſen ſein. Die polizeilichen Strafvor-

ſchriften haben ſich in dieſer Ausgabe vermehrt, die Beſtimmungen über

Hochverrath, verbotene Verbindungen u. ſ. w. alles Maaß überſchritten e) .

Es iſt von großem Nachtheil für das Reviſionswerk geweſen, daß es

gerade an dieſen Entwurf von 1836 gebunden ward; viele und ſchöne

Kräfte haben in dem weiteren Gange der Verhandlungen verwandt

werden müſſen, um nur die an dem Entwurf von 1830 vorgenommenen

Abänderungen wieder zu beſeitigen.

§. II.

Die zweite Reviſion; Arbeiten der Staatsraths-Kommiſſion

und des Staatsraths; 1838-42. Der Entwurf von 1843.

Die Reviſion des Strafrechts war mit dem Abſchluß des Ent-

wurfs von 1836 ſoweit vorgeſchritten, daß ſie zur weiteren Verhandlung

an den Staatsrath gebracht werden konnte. Es mußte aber Bedacht

darauf genommen werden, das für die Arbeiten der Geſetzgebung im

Allgemeinen vorgeſchriebene Verfahren abzukürzen und zu beſchleunigen,

wenn nicht eine unverhältnißmäßige Verwendung von Arbeitskraft und

Zeit für dieſes Werk ſtattfinden ſollte. Zu dieſem Behuf ſchlugen die

e) Beiſpielsweiſe führe ich einige Beſtimmungen an. §. 150. Wer in der Ab-

ſicht, hochverrätheriſche oder die Erhaltung des Staats ſonſt gefährdende Grundſätze

oder Geſinnungen, welche hochverrätheriſche Entwürfe oder Geſinnungen hervorrufen

oder befördern können, anzuregen oder zu verbreiten, und wer in öffentlichen oder

amtlichen Schriften oder Reden, ſolche Grundſätze, Geſinnungen und Unternehmungen

zu rechtfertigen, oder die Anhänglichkeit und Treue für den Landesherrn, den Staat

oder die Verfaſſung zu mindern verſucht, ſoll nach der Schwere ſeines Verbrechens mit

zweijähriger Arbeitshaus- bis zu ſechsjähriger Zuchthausſtrafe belegt, und, wenn er

ein öffentlicher Beamter iſt, ſeines Amtes jedenfalls entſetzt werden. — §. 192. Eine

verbotene Geſellſchaft oder Verbindung iſt ſchon dann als vorhanden anzuſehen, wenn

ſie auch nur aus zwei Mitgliedern beſteht.

[8/0018]

Einleitung. Erſtes Kap. Entſtehung des Strafgeſetzbuchs.

beiden Juſtizminiſter v. Kamptz und Mühler in einem gemeinſchaft-

lichen Bericht an den König vor, daß eine beſondere Kommiſſion aus

den beiden Juſtizminiſtern, dem Miniſter des Innern und mehreren

Mitgliedern des Staatsraths gebildet werde, welche den Entwurf von

1836 zu prüfen und feſtzuſtellen habe. Dieſe Immediat-Kommiſſion

ſolle die Funktionen des Staatsminiſteriums, der Staatsraths-Abthei-

lungen und der Faſſungs-Kommiſſion in ſich vereinigen; dem Staats-

miniſterium bleibe es vorbehalten, über einzelne Punkte ausnahmsweiſe

zu berathen; die Arbeit der Kommiſſion aber ſei an das Plenum des

Staatsraths zu bringen, jedoch nur, damit in demſelben über allgemeine,

von der Kommiſſion beſonders zu bezeichnende Grundſätze verhandelt

werde. f) — Dieſer Vorſchlag erhielt unter dem 4. Febr. 1838 die

Genehmigung des Königs, und es wurden zugleich die Mitglieder der

Immediat-Kommiſſion ernannt. g)

Die Kommiſſion begann am 6. März 1838 ihre Berathungen über

den vorgelegten Entwurf und beendete ſie am 10. Dec. 1842. Den

Vorſitz führte der Präſident des Staatsraths, Freih. v. Müffling;

Referent war Anfangs der Geh. Ober-Reviſionsrath Jähnigen, ſeit

der 15. Sitzung aber der Landgerichtsrath Biſchoff. Die über die

Verhandlungen aufgenommenen Protokolle ſind gedruckt unter dem Titel:

Berathungs-Protokolle der zur Reviſion des Strafrechts ernann-

ten Commiſſion des Staatsraths. Berlin 1839-42. 3 Bände

in 4.

Das geſammte, für die legislative Bearbeitung beſtimmte Material iſt

hier einer umſichtigen, gründlichen, ins Einzelne genau eingehenden Prü-

fung unterzogen worden. Die von v. Kamptz in dem Entwurf vor-

genommenen Abänderungen, wurden faſt durchweg im Sinne einer freie-

ren und geſunderen Jurisprudenz beſeitigt; die Leiſtungen der Kommiſ-

ſion namentlich für die Aufſtellung ſchärferer Begriffsbeſtimmungen, für

die größere Genauigkeit des Ausdruckes ſind jeder Anerkennung werth.

Die Arbeiten der Kommiſſion wurden ſtückweiſe, ſowie einzelne Ab-

ſchnitte vollendet waren, in den Staatsrath gebracht, der ſich mit

f) Immediat-Bericht der beiden Juſtizminiſter vom 7. Nov. 1837 im Aus-

zuge in der Reviſion des Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. Band I. (Ber-

lin, 1845.) Beilage I. S. VIII. u. IX.

g) K.-O. v. 4. Febr. 1838 an den Staatsrath a. a. O. Beil. III. S. XI.

— Dieſe Mitglieder waren außer den beiden Juſtizminiſtern und dem Miniſter des

Innern und der Polizei der General v. Müffling, der wirkl. Geh. Rath Sethe,

der wirkl. Geh. Ober-Regierungsrath Köhler, der wirkl. Geh. Legationsrath Eich-

horn, der Geh. Ober-Juſtizrath Düesberg, der Regierungs-Präſident Graf v. Ar-

nim. — Später traten noch hinzu: der Geh. Ober-Finanzrath Eichmann, der

wirkl. Geh. Ober-Juſtizrath Ruppenthal, der Juſtizminiſter v. Savigny, der

Geh. Ober-Finanzrath Bornemann.

[9/0019]

§. III. Die dritte Reviſion; 1843-47.

einer ausführlichen Erörterung, beſonders der allgemeinen Fragen, vom

11. Dec. 1839 bis zum 21. Dec. 1842 in 51 Sitzungen beſchäftigte.

Referent war auch hier Biſchoff. Dieſe Verhandlungen nun, die mit

großer Einſicht und Unabhängigkeit geführt wurden, enthalten für die

Geſchichte der Strafgeſetzgebung in Preußen und für das Verſtändniß

der Hauptgeſichtspunkte, welche dabei in Betracht kamen, ein wichtiges

Material. Ueber die Beſtrafung der im Auslande begangenen Verbre-

chen, über das Syſtem der Freiheitsſtrafen, über Meineid, Verläumdung,

Diebſtahl und manche andere Gegenſtände haben die lehrreichſten Erör-

terungen ſtattgefunden.

Der aus dieſen Berathungen hervorgegangene Entwurf wurde mit

wenigen Abänderungen vom Könige genehmigt, h) und den im Frühjahr

1843 verſammelten Provinzial-Landtagen zur Begutachtung vorgelegt,

auch mit allerhöchſter Genehmigung auf dem Wege des Buchhandels

zur öffentlichen Kenntniß gebracht. i)

§. III.

Die dritte Reviſion, bis zur Vorlage an den vereinigten

ſtändiſchen Ausſchuß; 1843-1847. Die Entwürfe von 1845

und 1847.

Den acht Landtagen ward der Entwurf zugleich mit einer ausführ-

lichen Denkſchrift und mit 64 Fragen, deren Beantwortung beſonders

gewünſcht wurde, von der Staatsregierung vorgelegt; ſie begnügten ſich

aber nicht mit der Beantwortung dieſer Fragen, ſondern verbreiteten ihre

Anträge und Erinnerungen über den Entwurf in ſeinem ganzen Um-

fange; ja die Rheiniſchen Stände, für ihre beſonderen Rechtsinſtitutio-

nen und namentlich für das Schwurgericht beſorgt, legten ihrer Seits

der Regierung einen neuen Entwurf mit Motiven vor. Zugleich gin-

gen von den Oberpräſidenten von Schleſien, Sachſen, Poſen und der

Rheinprovinz Gutachten ein, welche ſich an die Erinnerungen der be-

treffenden Stände anſchloſſen.

Wenn auf dieſe Weiſe ſchon ein wichtiges Material zur weiteren

h) K. -O. v. 9. Jan. 1843 als Beilage zum 3. Bande der Berathungs-Prote-

kolle gedruckt.

i) Entwurf des Strafgeſetzbuchs für die Preußiſchen Staaten nach den

Beſchlüſſen des Königlichen Staatsraths. Anhang: 1) Entwurf des Geſetzes über

die Einführung des Strafgeſetzbuchs. 2) Entwurf des Geſetzes über die Kompetenz

der Gerichte zur Unterſuchung und Beſtrafung der Verbrechen und Vergehen in dem

Bezirke des Appellationshofes zu Cöln. Berlin. In Commiſſion bei Veit u. Comp.

1843. 8.

[10/0020]

Einleitung. Erſtes Kap. Entſtehung des Strafgeſetzbuchs.

Prüfung zuſammen kam, ſo hatte die Veröffentlichung des Entwurfs

auch in weiteren Kreiſen ein lebhaftes Intereſſe dafür erregt, welches ſich

in zahlreichen kritiſchen Arbeiten bethätigte. Außer den zum Theil ſehr

beachtungswerthen Zeitungsartikeln laſſen ſich 64 ſelbſtſtändige Schriften

und Abhandlungen aufführen, welche ſich mit einer Prüfung des Ent-

wurfs beſchäftigen, und von denen die meiſten gedruckt, manche aber

auch nur handſchriftlich in den Acten des Juſtizminiſteriums vorhanden

ſind. Zu den wichtigſten von dieſen Momenten gehören: k)

Abegg, Dr., Profeſſor an der Univerſität zu Breslau, kritiſche Betrachtungen über

den Entwurf des Strafgeſetzbuchs für die Preußiſchen Staaten vom Jahre 1843.

Neuſtadt a. d. Orla, 1844. 8. — XVI. u. 556 S.

Eversmann, Prokurator bei dem Appellations-Gerichtshofe zu Cöln, über das

neue Strafgeſetzbuch. Handſchriftlich.

Herrmann, Dr., Profeſſor an der Univerſität zu Kiel, Preußens neue Strafgeſetz-

gebung. In der Halleſchen Allg. Literatur-Zeitung, 1843. S. 481-511.

Martin, Dr., Großherz. Sachſen-Weimar-Eiſenachſcher Geh. Juſtizrath, Bemer-

kungen zu dem erſten Theile des Entwurfs (§. 1-140). Handſchriftlich.

Mittermaier, Dr., Geh. Rath und Profeſſor zu Heidelberg, Schreiben an den

Juſtizminiſter v. Savigny, enthaltend Bemerkungen über den Entwurf. Hand-

ſchriftlich.

Derſelbe, über den Entwurf, in ſeinem Werke: die Strafgeſetzgebung in ihrer

Fortbildung, Zweiter Beitrag. Heidelberg, 1843. S. 114-140.

Plathner, Ober-Landesger.-Aſſeſſor, Beurtheilung des Entwurfs. Berlin, 1844.

8. — VI. u. 309 S.

(Ruppenthal) Bemerkungen über den Entwurf des Preuß. Strafgeſetzbuches und

deſſen Begutachtung durch den Rheiniſchen Provinzial-Landtag. Von einem

Freunde der Rheiniſchen Rechts-Inſtitutionen. Heidelberg, 1843. 8. — 128 S.

Schnaaſe, Ober-Prokurator in Düſſeldorf, Bericht an den Juſtizminiſter v. Sa-

vigny, den Entwurf betreffend. Handſchriftlich.

Schüler, Dr., Ober-Apellationsgerichts-Rath zu Jena, kritiſche Bemerkungen zum

erſten Theil des Entwurfs. Leipzig, 1844. 8. — 115 S.

Schwarze, Dr., Beiſitzer und Mitglied des Königlich Sächſiſchen Appellations-

gerichts zu Dresden, Kritik des Entwurfs, im Archiv des Criminalrechts. Halle,

Beilageheft zu 1843. 8. — 183 S.

v. Strampff, Ober-Landesgerichts-Vice-Präſident zu Naumburg, kritiſche Briefe

über den Entwurf des Strafgeſetzbuchs. Berlin, 1844. 8. — 473 S.

Temme, Kriminalgerichts-Direktor, Kritik des Entwurfs. Berlin, 1843. 8. —

Th. I. X. u. 219 S. — Th. II. X. u. 413 S.

Zachariä, Dr., Profeſſor an der Univerſität zu Göttingen, Bemerkungen über

den Entwurf, in zwei Abtheilungen. Handſchriftlich.

Das geſammte in den Erinnerungen der Stände und in den öffent-

lichen Schriften und anderen Mittheilungen enthaltene Material ward

k) Ein vollſtändiges Verzeichniß ſämmtlicher über den Entwurf erſchienenen

Schriften und Artikel findet ſich in der Reviſion des Entwurfs von 1843.

(Berlin, 1845.) Band I. Beil. V. S. XIV-XIX.

[11/0021]

§. III. Die dritte Reviſion; 1843-47.

nun durch Königliche Kabinets-Ordre l) dem Juſtizminiſter v. Savigny

zur Prüfung und Beurtheilung überwieſen, mit dem Auftrage eine Zu-

ſammenſtellung der wichtigſten Monita zu veranlaſſen und die für nö-

thig befundenen Abänderungen des Entwurfs, bei der am 4. Febr. 1838

eingeſetzten Staatsraths-Kommiſſion in Antrag zu bringen. Der erſte

Theil dieſer Aufgabe, die Zuſammenſtellung und Prüfung des Materials,

ward in einer Arbeit des Geh. Juſtizraths Biſchoff gelöſt, welche zu

den bedeutendſten Leiſtungen auf dem Gebiet der Geſetzreviſion gehört.

Reviſion des Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. 3 Bde.

Berlin, 1845. 4.

Ueberſichtlich und klar werden die gegen den Geſetzentwurf erhobenen

Bedenken dargelegt; an die Prüfung derſelben knüpft ſich regelmäßig

eine Erörterung der allgemeinen, in Betracht kommenden Rechtsfragen

an und indem die Faſſung des Entwurfs mit dem gewonnenen Reſultat

zuſammengehalten wird, gelangt der Reviſor dahin, entweder den Ent-

wurf aufrecht zu erhalten oder die nöthigen Abänderungen zu beantra-

gen. Aus dieſer Bearbeitung ging eine neue Geſetzes-Vorlage hervor.

Revidirter Entwurf des Strafgeſetzbuchs für die Preußiſchen

Staaten. Vorgelegt von dem Miniſterium der Geſetz-Reviſion.

Berlin, 1845.

Die Immediat-Kommiſſion m) befaßte ſich mit der Prüfung dieſes Ent-

wurfs vom 18. Oct. 1845 bis zum 9. Juli 1846.

Verhandlungen der Kommiſſion des Staatsraths über den revi-

dirten Entwurf des Strafgeſetzbuchs. Berlin, 1846. 4.

Gleich zu Anfang der Sitzungen wurde hier, wie ſchon früher im

Staatsrathe, aber ebenſo vergeblich der Verſuch gemacht, den Fortgang

des Reviſionswerks zu unterbrechen, indem die bekannten Gründe gegen

die Kodifikation vorgebracht, und ſtatt deren die Reform einzelner Theile

des Strafrechts und zwar nach dem Bedürfniß der einzelnen Landes-

theile, die ein verſchiedenes Strafrecht hatten, empfohlen ward. Dage-

gen wurden aber, beſonders von dem Miniſter v. Savigny, die

Gründe für die Abfaſſung eines allgemeinen Strafgeſetzbuchs hervor-

gehoben, und insbeſondere noch darauf hingewieſen, daß die Staats-

regierung durch die den Rheiniſchen Ständen im Landtagsabſchiede von

1843 gegebene Erklärung in dieſer Hinſicht gebunden ſei. Die Kom-

miſſion ging im weiteren Verlaufe ihrer Verhandlungen auf ſolche all-

l) R. O. v. 24. Nov. 1843, abgedruckt a. a. O. als Beil. IV. S. XIII.

m) Die angef. K.-O. hatte als neue Mitglieder in die Kommiſſion berufen:

den wirkl. Geh. Ober-Juſtizrath v. Boß und den Kammergerichts-Präſidenten

v. Kleiſt, zu denen ſpäter der Geh. Ober-Juſtizrath Jähnigen hinzutrat. — Vor-

ſitzender war jetzt der Präſident des Staatsraths, Miniſter v. Rochow, Referent

wiederum der Geh. Juſtizrath Biſchoff.

[12/0022]

Einleitung. Erſtes Kap. Entſtehung des Strafgeſetzbuchs.

gemeine Erörterungen weniger ein, wenn ſie dieſelben auch nicht ganz

unterließ, ſondern beſchäftigte ſich vorzugsweiſe mit Faſſungsfragen, in-

dem ſie jedoch nicht ſelten unter Verwerfung der Abänderungen des re-

vidirten Entwurfs zu dem von 1843 zurückkehrte.

Die Frage jedoch, wie der Entwurf ſich zu dem Rheiniſchen Rechte

und namentlich zu dem Rheiniſchen Gerichtsverfahren ſtellen werde,

mußte immer wieder hervortreten, ſie mußte ſich aber mit ganz beſonde-

rem Nachdruck zur Berückſichtigung darſtellen, als von der Staatsregie-

rung beſchloſſen ward, den Entwurf des Strafgeſetzbuchs nicht wieder

dem Staatsrathe, ſondern dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſe vorzu-

legen. In den erſten Stadien der Reviſion war das Rheiniſche Straf-

recht überhaupt wenig berückſichtigt worden; erſt die Verhandlungen der

Rheiniſchen Provinzialſtände, der von ihnen vorgelegte Entwurf und die

Erinnerungen Rheiniſcher Juriſten hatten bei der Reviſion von 1845

eine mehr eingehende Würdigung gefunden. Sie genügte aber noch

nicht den Anforderungen der Rheiniſchen Rechtsinſtitutionen; namentlich

die Frage, wie die Thätigkeit der Geſchwornen nach dem Geſetzbuch zu

ſtehen kommen werde, konnte noch nicht als erledigt erſcheinen; man

mußte die Faſſung des Geſetzbuchs nach dieſem Geſichtspunkte wieder-

holt prüfen, und auch auf weit eingreifendere Beſtimmungen in dem

Einführungsgeſetz und der Kompetenzordnung Bedacht nehmen, als ſie

in den Entwürfen von 1843 zu finden waren. Durch dieſe Bedenken

ward im Jahre 1847 eine Reihe neuer Verhandlungen in der Imme-

diat-Kommiſſion hervorgerufen, die ſich zum Theil an eine Denkſchrift

des wirklichen Geh. Raths Ruppenthal und an ein darüber abgege-

benes beſonderes Votum des Juſtizminiſters v. Savigny anſchloſſen.

Man entſchied ſich, noch einige Rheiniſche Juriſten zu den Verhandlun-

gen zuzuziehen, und dieſe: der Geh. Juſtizrath Simons, der Appella-

tions-Senats-Präſident Madihn, der Appellationsrath v. Ammon

und der Appellationsrath Grimm nahmen in den Verhandlungen und

durch beſondere Vorſchläge und Denkſchriften das Intereſſe der von ih-

nen vertretenen Rechtsinſtitutionen energiſch wahr. Sie erreichten da-

mals bei weitem nicht Alles, was ſie wünſchten; aber ihre Vorſchläge

ſind ſpäter in gebührender Weiſe benutzt worden. Die Verhandlungen

der Kommiſſion und die darauf bezüglichen Arbeiten der Rheiniſchen

Juriſten finden ſich in dem folgenden Actenſtücke:

Fernere Verhandlungen der Kommiſſion des Staatsraths über

den revidirten Entwurf des Strafgeſetzbuchs. Berlin, 1847. 4.

Aus dieſen Verhandlungen ging hervor:

Entwurf des Strafgeſetzbuchs für die Preußiſchen Staaten nebſt

dem Entwurf des Geſetzes über die Einführung des Strafgeſetz-

[13/0023]

§. IV. Die vierte Reviſion; 1847-51.

buchs und dem Entwurf des Geſetzes über die Kompetenz und

das Verfahren in dem Bezirke des Appellationsgerichtshofes zu

Köln. Zur Vorlegung an die vereinigten ſtändiſchen Ausſchüſſe

beſtimmt. Berlin, 1847. 4.

dazu:

Motive zum Entwurf des Strafgeſetzbuchs für die Preußiſchen

Staaten und den damit verbundenen Geſetzen vom Jahre 1847.

Berlin, 1847. 4.

§. IV.

Die vierte Reviſion; Verhandlungen des vereinigten ſtän-

diſchen Ausſchuſſes. Der Entwurf von 1850. Die Kommiſ-

ſionsarbeiten der Kammern. 1847-51.

Der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß ward auf den 17. Jan. 1848

einberufen; vorher aber trat die vorberathende Abtheilung zuſammen, um

über den vorgelegten Entwurf des Strafgeſetzbuchs ein vorbereitendes

Gutachten zu entwerfen, was in 26. Sitzungen zu Stande gebracht

wurde. Die Abgeordneten Naumann und Freih. v. Mylius fungir-

ten als Referent und Korreferent, eine Stellung, welche ſie auch bei

den Ausſchußverhandlungen ſelbſt einnahmen. Nachdem der Geſetzentwurf

hier in 33 Sitzungen berathen war, ward der Ausſchuß am 6. März

1848 geſchloſſen. n)

Die Verhandlungen, mit Einſicht und Talent geführt, haben gegen-

wärtig zum Theil nur noch ein hiſtoriſches Intereſſe. Fragen, welche

damals die Gemüther auf's Lebhafteſte beſchäftigten, wie die über die

Todesſtrafe und deren Schärfung, über die Zuläſſigkeit der körperlichen

Züchtigung, — ſind jetzt erledigt; die Einführung des öffentlich-münd-

lichen Gerichtsverfahrens und der Schwurgerichte in der ganzen Mo-

narchie haben den damals oft ſchroff hervortretenden Gegenſatz zwiſchen

den Rheiniſchen Rechtsinſtitutionen und dem Gerichtsweſen der übrigen

Provinzen im Weſentlichen beſeitigt. Doch ward jene allgemeine Re-

form des gerichtlichen Verfahrens im Sinne der germaniſchen Rechts-

bildung eben in den Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Aus-

ſchuſſes der Verwirklichung um ein Großes näher geführt; es braucht

n) Das vollſtändige Material der Verhandlungen, ſowohl der vorbereitenden Ab-

theilung als auch des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes, findet ſich in dem vom Kanz-

leirath Bleich herausgegebenen Werke: Verhandlungen des im Jahre 1848

zuſammenberufenen vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. Berlin, 1848.

4 Bände in 8.

[14/0024]

Einleitung. Erſtes Kap. Entſtehung des Strafgeſetzbuchs.

in dieſer Beziehung nur auf die von der Staatsregierung endlich nach-

gegebene Dreitheilung der ſtrafbaren Handlungen, ſo wie auf die An-

nahme der zeitigen Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehren-

rechte, im Gegenſatz zu der eigentlichen Ehrloſigkeit hingewieſen zu

werden, — Beſtimmungen, deren Aufnahme in das Strafgeſetzbuch die

Rheiniſchen Juriſten in der Staatsrathskommiſſion noch vergeblich vor-

geſchlagen hatten.

Auch für die genauere Begriffsbeſtimmung der einzelnen Verbrechen,

ſo wie für die gerechtere Strafzumeſſung wurde in den Verhandlungen

Manches von Bedeutung geleiſtet; der Ausſchuß ſelbſt ſtellte aber den

unmittelbaren Erfolg ſeiner Arbeiten in Frage, indem er es für noth-

wendig erklärte, daß das Strafgeſetzbuch nicht eher erlaſſen werde, bevor

eine neue Kriminalordnung von dem vereinigten Landtage berathen ſei.

Indeſſen zogen überhaupt die politiſchen Bewegungen der folgenden

Zeit die Aufmerkſamkeit von dem Strafgeſetzbuch ab, und erſt im Jahre

1850 beſchäftigte man ſich im Juſtizminiſterium ernſtlich mit der Wie-

deraufnahme des Werkes. Die Verhandlungen des vereinigten ſtändi-

ſchen Ausſchuſſes konnten nun zum Zweck einer nochmaligen Reviſion

des Entwurfs benutzt werden, während die großen Veränderungen in

der Gerichtsverfaſſung gleichfalls eine wiederholte Prüfung nothwendig

machten. Aus dieſen Arbeiten ging der Entwurf des Strafgeſetzbuchs

hervor, welcher zugleich mit dem Entwurf des Einführungsgeſetzes in

der Sitzung vom 3. Jan. 1851 von dem Juſtizminiſter Simons, auf

Grund einer Allerhöchſten Ermächtigung vom 10. Dez. 1850, der zwei-

ten Kammer vorgelegt wurde. o) Dieſe ernannte zur Vorberathung und

Berichterſtattung eine Kommiſſion von 21 Mitgliedern, welche unter

Mitwirkung des Geh. Juſtizrathes Biſchoff als Vertreters des Juſtiz-

miniſteriums beide Entwürfe einer genauen Prüfung unterzog. Die von

der Kommiſſion in Vorſchlag gebrachten Abänderungen p) wurden nach

o) Die das Strafgeſetzbuch betreffenden Kammerverhandlungen und ſämmtliche

darauf bezüglichen Aktenſtücke ſind jetzt abgedruckt in folgendem Werke: Verhand-

lungen der erſten und zweiten Kammer über die Entwürfe des Strafgeſetz-

buchs für die Preußiſchen Staaten und des Geſetzes über die Einführung deſſelben

vom 10. Dez. 1850. Nebſt den Commiſſions-Berichten und ſonſtigen Aktenſtücken.

Berlin, 1851. Verlag der Decker'ſchen Ober-Hofbuchdruckerei. — Es fehlen jedoch die

dem Entwurf des Strafgeſetzbuchs beigegebenen Motive, welche abgedruckt ſind in den

Anlagen zu den Verhandlungen der zweiten Kammer Nr. 23. S. 163 ff.

und beſonders veröffentlicht, Berlin 1851 in der Decker'ſchen Ober- Hofbuchdruckerei.

p) Berichterſtatter waren:

[15/0025]

§. V. Syſtem und Charakter des Strafgeſetzbuchs.

Ausgleichung einiger Differenzpunkte von dem Juſtizminiſter adoptirt

und die ſo amendirten Geſetzentwürfe von der zweiten Kammer im Gan-

zen angenommen; q) daſſelbe geſchah ſpäter auf den Vorſchlag der Ju-

ſtizkommiſſion r) auch in der erſten Kammer. Am 14. April 1851 erfolgte

die Königliche Sanktion, und ſo ward durch das einträchtige Zuſammen-

wirken der drei Faktoren der Geſetzgebung ein bedeutendes Werk glücklich

vollendet, auf deſſen Vorbereitung ſeit 25 Jahren ſo ausgezeichnete

Kräfte verwandt worden waren.

Zweites Kapitel.

Allgemeine Erörterungen.

§. V.

Syſtem und Charakter des Strafgeſetzbuchs.

Zu den Fortſchritten, welche durch das politiſche Leben und die

Wiſſenſchaft während der letzten Jahrzehnte in Deutſchland hervorgeru-

fen ſind, darf unbedenklich die richtigere Einſicht in das Weſen und die

Aufgabe der Geſetzgebung gerechnet werden. Es giebt nur noch wenige

unter den zum Urtheil Berufenen, welche ſich mit der Aufſtellung be-

ſtimmt formulirter Gegenſätze beruhigen, und etwa in der Beantwortung

der Frage: ob Kodifikation oder nicht — die Entſcheidung darüber ab-

zugeben geneigt ſind, welche Thätigkeit die Geſetzgebung im Allgemeinen

zu entwickeln habe. Der Begriff der Kodifikation hat ſeine beſtimmtere

Feſtſtellung gewonnen und iſt in die richtige Beziehung zu den that-

p)

q) Die erſte Berathung fand ſtatt in der Sitzung vom 27. März, die zweite

Abſtimmung in der Sitzung vom 5. April 1851.

r) In der Sitzung vom 12. April 1851.

p)

[16/0026]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

ſächlichen Verhältniſſen des Staates und des Lebens ſo wie zu der

Rechtserzeugung überhaupt gebracht worden. Die Lehre namentlich, daß

es der Geſetzgebung obliege, aus den Abſtraktionen des Naturrechts her-

aus ein Syſtem neuer Rechtsſätze und Rechtsinſtitute zu ſchaffen, kann

als wiſſenſchaftlich überwunden und als veraltet angeſehen werden; aber

auch diejenigen, welche der Gegenwart jede Berechtigung zu einer freien

Reform unſeres krauſen Rechtsweſens abſprechen möchten, ſtellen ſich

immer beſtimmter als die Anhänger einer politiſchen Schule dar, deren

Ziele und Beſtrebungen dem modernen Staatsweſen ſelbſt, wie es ſich

bei uns ſeit den Zeiten des großen Kurfürſten geſtaltet hat, entgegen

treten, und mit der wiſſenſchaftlichen Oppoſition gegen eine oberflächliche

Geſetzmacherei nicht verwechſelt werden dürfen.

Für Preußen war die Erlaſſung eines neuen Strafgeſetzbuchs eine

Nothwendigkeit geworden, weil die verſchiedenen Rechtsſyſteme, welche

in der Monarchie zur Anwendung kommen, für dieſen Gegenſtand einer

Reform dringend bedurften, was nicht allein in Beziehung auf das All-

gemeine Landrecht und das gemeine deutſche Recht der Fall war, ſon-

dern auch in Beziehung auf das Rheiniſche Recht, welches abgelöſt von

der in Frankreich fortſchreitenden Rechtsentwicklung und namentlich von

dem Geſetze vom 28. April 1832 unberührt, in der ſtarren Strenge der

kaiſerlichen Strafſatzungen gebunden lag. Die nothwendige Reform aber

auf die Reviſion der verſchiedenen Rechtsſyſteme in ihrer Beſonderheit

zu beſchränken, ward ſchon damals, als noch die Gerichtsverfaſſung

eine weſentlich verſchiedene war, für unzuläſſig und unpolitiſch gehalten,

weil es gerade bei dem Strafrecht als einem Theile des öffentlichen

Rechts nicht bloß darauf ankommt, die Gebote der Gerechtigkeit in Be-

ziehung auf die einzelnen Staatsbürger zu verwirklichen, ſondern auch

der Staat ſelbſt mit ſeinen Anforderungen befriedigt werden muß, und

die Rechtseinheit ſich von der Staatseinheit hier nicht wohl tren-

nen läßt. Daß aber das lange und ſorgfältig vorbereitete Werk gerade

jetzt hat zur Vollendung kommen können, iſt um ſo wichtiger, da die

Erfüllung der Hoffnungen auf die Herſtellung einer größeren Rechts-

gemeinſchaft für ganz Deutſchland in neueſter Zeit wieder in die Ferne

gerückt worden iſt.

Darf man aber auch die Erlaſſung eines Strafgeſetzbuchs für die

Preußiſche Monarchie als ein unabweisliches Bedürfniß anſehen, deſſen

Befriedigung von der Staatsgewalt zu erwarten war, ſo bleibt doch

noch die Frage zu beantworten, wie denn dieſe Aufgabe durch das jetzt

vollendete Geſetzbuch gelöſt ſei; denn nicht jede Neuerung, auch wenn

ſie an und für ſich gerechtfertigt erſcheint, iſt darum eine Verbeſſerung.

Eine Unterſuchung aber, welche ſich nach dieſer Seite hin richtet, wird

[17/0027]

§. V. Syſtem und Charakter des Strafgeſetzbuchs.

ſchon dann zu einem gewiſſen Abſchluß gelangen, wenn die wichtigſten

Momente bezeichnet werden, welche bei der Ausführung des Werkes

vorzugsweiſe maaßgebend ſein mußten, und wenn ſich dann nachweiſen

läßt, daß die Geſetzgebung auf ſie die gebührende Rückſicht genommen

hat. — Wirft man von dieſem Standpunkte aus einen Blick auf das

Reviſionswerk, ſo ergiebt ſich zunächſt, daß es der Geſetzgebung im All-

gemeinen oblag, das beſtehende Recht, wie es in ſeiner verſchiedenartigen

Entfaltung in Preußen zur Anwendung kam, als den gegebenen Stoff

zu verwenden, aus dem der neue Bau zu errichten war. Es mußten

aber dabei die Fortſchritte der Geſetzgebung und der Wiſſenſchaft, wie

ſie in Deutſchland und bei verwandten Völkern zu erkennen waren, ſtets

in ihrer vollen Bedeutung gewürdigt und zur Veredlung des eigenen

Rechts benutzt werden. Das ganze Werk endlich durfte von dem be-

ſtimmten Staate Preußen und von ſeinen beſonderen Bedürfniſſen und

Anforderungen nicht losgebunden gedacht, ſondern mußte in klarer An-

ſchauung der Verhältniſſe auf dieſen Punkt gerichtet werden. Das

Preußiſche Heerweſen z. B. verlangte die ſorgfältigſte Berückſichtigung.

In der That zeigt nun der Gang, welchen die Reviſion des Straf-

rechts genommen hat, daß die angegebenen Momente dabei in gebühren-

der Weiſe zur Geltung gekommen ſind. Das Allgemeine Landrecht bil-

dete den Ausgangspunkt für die Geſetzgebung, deren Aufgabe zunächſt

an deſſen Inhalt geprüft ward; man zog aber auch die Ergebniſſe,

welche die Wiſſenſchaft des gemeinen deutſchen Strafrechts und die

neueren deutſchen Geſetzgebungen darboten, zur freieſten Benutzung heran,

und gewährte endlich dem Rheiniſchen Recht in ſeiner logiſchen Durch-

bildung und ſeinen formellen Vorzügen, bei der Faſſung der letzten Ent-

würfe den ihm gebührenden Einfluß. So iſt es geſchehen, daß ein

Werk hergeſtellt werden konnte, welches ſich einer ſeltenen Zuſtimmung

erfreut, während die unweiſe Vernachläſſigung des einen oder des an-

deren jener hervorgehobenen Momente den entgegengeſetzten Erfolg her-

beigeführt haben würde. Freilich durften jene verſchiedenen Elemente

nicht unvermittelt neben einander ruhen; die Arbeit mußte, um ein Gan-

zes zu werden, einen beſtimmten Charakter gewinnen, und daß ſie die-

ſen erlangt hat und in konſequenter Durchführung beſtimmter leitender

Ideen wie aus Einem Guſſe erſcheint, ſichert ihr hauptſächlich ihren

Werth und verſöhnt ſelbſt mit manchen Einzelnheiten, die wohl jeder —

mit mehr oder weniger Recht — daran auszuſetzen finden wird.

Was nun zunächſt das Syſtem betrifft, welches ſich in der An-

ordnung und Vertheilung des Stoffes erkennen läßt, ſo iſt daſſelbe als

Beſeler Kommentar. 2

[18/0028]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

einfach und überſichtlich zu loben, ſo daß auch die für die Auslegung

des Geſetzbuchs leicht zu Zweifel Anlaß gebenden Marginalien füglich

weggelaſſen werden konnten. Zuerſt kommen einige einleitende Be-

ſtimmungen, welche um deswegen nicht, wie es noch in dem Entwurf

von 1847 geſchehen war, in dem erſten Theile untergebracht werden

konnten, weil ſie ſich nicht bloß auf die Verbrechen und Vergehen, ſon-

dern auch auf die Uebertretungen beziehen — eine Unterſcheidung, welche

im Uebrigen für das Syſtem konſequent durchgeführt worden iſt. —

Der erſte Theil handelt dann von der Beſtrafung der Verbrechen und

Vergehen im Allgemeinen, und umfaßt im Weſentlichen diejenigen Be-

ſtimmungen, welche man in den Lehrbüchern der deutſchen Kriminaliſten

und auch in einigen deutſchen Strafgeſetzbüchern (dem Sächſiſchen und

Hannöverſchen) in dem ſ. g. allgemeinen Theile findet. Während

nun die im erſten Titel enthaltenen Vorſchriften über die Strafen genau

und bis ins Detail ausgeführt ſind, bieten die übrigen Titel nur we-

nige, in großen Zügen aufgeſtellte Grundſätze dar, deren innerer wiſſen-

ſchaftlicher Zuſammenhang in dem Geſetzbuche ſelbſt nicht äußerlich dar-

geſtellt iſt, — was eben nicht, um einen Tadel auszuſprechen, bemerkt

wird, da es nicht die Aufgabe eines Geſetzbuchs iſt, ein wiſſenſchaft-

liches Syſtem vollſtändig zu entwickeln. Die allgemeinen Lehren über

Zurechnung und Verſchuldung haben hier keinen Platz gefunden, und

namentlich der vierte Titel — Von den Gründen, welche die Strafe

ausſchließen oder mildern — ſchließt ſich ohne Uebergang und Vermitt-

lung an die vorhergehenden Beſtimmungen über den Verſuch (Titel II.)

und über die Theilnahme (Tit. III.) an, während im fünften Titel

vom Zuſammentreffen mehrerer Verbrechen und vom Rückfalle gehandelt

wird. Dabei iſt denn im vierten Titel durch einen in der Kommiſſion

der zweiten Kammer gemachten Zuſatz eine kleine Abweichung von dem

urſprünglich angelegten Syſteme veranlaßt worden, indem man es für

nöthig hielt, einige allgemeine Beſtimmungen über die Fälle aufzuneh-

men, in denen Verbrechen oder Vergehen nur auf Antrag einer Privat-

perſon beſtraft werden (§. 50-54.). Da die beiden erſten §§. zu den

Vorſchriften über die Verjährung gehörten, ſo glaubte man, um nicht

denſelben Gegenſtand an verſchiedenen Stellen behandeln zu müſſen,

auch die drei letzten (§. 52-54.) hier wohl einfügen zu dürfen. Da-

gegen enthält der erſte Theil keine Beſtimmung darüber, in welcher Be-

ziehung er ſeinem Inhalte nach zu den Uebertretungen ſteht, und auch

der dieſen gewidmete dritte Theil giebt darüber keinen allgemeinen und

unmittelbaren Aufſchluß. Die Erörterung dieſer wichtigen Frage bleibt

der näheren Erwägung des erſten Titels des dritten Theiles

vorbehalten.

Der zweite Theil handelt von den einzelnen Verbrechen und

[19/0029]

§. V. Syſtem und Charakter des Strafgeſetzbuchs.

Vergehen und deren Beſtrafung. Zuerſt kommen die Verbrechen und

Vergehen gegen den Staat, inſofern deſſen Exiſtenz, Integrität, Würde,

Sicherheit und Ordnung dadurch gefährdet wird. Hochverrath und

Landesverrath, obgleich dem Begriffe nach beſtimmt auseinandergehalten,

ſind in demſelben Titel (I.) zuſammen geſtellt; ebenſo die Beleidigung

der Majeſtät und der Mitglieder des Königlichen Hauſes (Tit. II.).

Der dritte Titel iſt den feindlichen Handlungen gegen befreundete Staa-

ten gewidmet, und faßt die in den beiden vorhergehenden Titeln auf-

geführten Handlungen zuſammen, inſofern ſie nach außen hin gerichtet,

ſtrafbar ſind, während ſie im Entwurf von 1847 jenen beiden Titeln

einverleibt waren, zugleich mit dem Hochverrath und Landesverrath ge-

gen den deutſchen Bund, worüber in das Strafgeſetzbuch keine beſon-

deren Beſtimmungen aufgenommen worden ſind. — Neu und durch die

veränderte Staatsverfaſſung hervorgerufen iſt der vierte Titel von Ver-

brechen und Vergehen in Beziehung auf die Ausübung der ſtaatsbür-

gerlichen Rechte, wogegen die früher beſonders hervorgehobenen Verbre-

chen, welche ſich auf Hoheitsrechte und Regalien beziehen, gegenwärtig

ihre beſondere Bedeutung verloren haben, und die Strafbeſtimmungen

über unerlaubte Verbindung im ſechsten Titel unter den Vergehen

wider die öffentliche Ordnung ihren Platz finden konnten. Daß der

ſiebente Titel — Münzverbrechen und Münzvergehen, — von der

Urkundenfälſchung abgetrennt und hierher geſtellt worden iſt, muß als

eine weſentliche Verbeſſerung angeſehen werden, ebenſo wie die falſche

Anſchuldigung (Tit. IX.) ſich beſſer als ein ſelbſtändiges Verbrechen

hinter dem Meineid ausnimmt, als zuſammengeworfen mit der Verleum-

dung, wie es noch der Entwurf von 1850 hatte. Der Meineid ſelbſt

(Tit. VIII.), die Vergehen, welche ſich auf die Religion beziehen (Tit. X.)

und die Verbrechen in Beziehung auf den Perſonenſtand (Tit. XI.) bil-

den dann den Uebergang von den gegen den Staat gerichteten Verbre-

chen und Vergehen auf diejenigen, welche die Perſönlichkeit verletzen,

zu denen wenigſtens in der Regel die gegen die Sittlichkeit (Tit. XII.)

auch gehören. An die Verletzungen der Ehre (Tit. XIII.) ſchließt ſich

der Zweikampf an (Tit. XIV.), auf dieſen folgen die Verbrechen und

Vergehen wider das Leben, die Körperverletzungen und die Verbrechen

und Vergehen wider die perſönliche Freiheit (Tit. XVII.). Dann wer-

den in den neun folgenden Titeln (XVIII-XXVI.) die Verbrechen

und Vergehen gegen das Vermögen abgehandelt, wobei nur zu bemer-

ken, daß bei dem Raube und der Erpreſſung (Tit. XIX.) zu der Ver-

letzung des Vermögens auch die Perſönlichkeit hinzutritt, und bei

der Untreue (Tit. XXII.) es ſich nicht bloß von Handlungen zum Nach-

theile von Sachen, ſondern auch von Perſonen handelt. Der Tit. XXVII.

2 *

[20/0030]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

iſt noch beſonders den gemeingefährlichen Verbrechen und Vergehen

(Brandſtiftung, Ueberſchwemmung u. ſ. w.) gewidmet, und Tit. XXVIII.

den Verbrechen und Vergehen im Amte. Die Stellung dieſes letzten

Titels rechtfertigt ſich dadurch, daß er der einzige iſt, deſſen Inhalt,

ohne durch die Beſchaffenheit der ſtrafbaren Handlungen beſtimmt zu

ſein, durch die Perſönlichkeit derjenigen, die ſie begehen, ſeine Bedeutung

bekommt, und alſo mehr anhangsweiſe, als im Zuſammenhange des

Syſtems zu behandeln war.

Werfen wir nun noch einen Blick auf das Syſtem des zweiten

Theils zurück, und laſſen einmal die weniger beſtimmt ausgeprägten

Formen unberückſichtigt, ſo ſtellt ſich hier eine in der Natur der Sache

begründete Dreitheilung dar, auf welche die einzelnen Arten der Verbre-

chen und Vergehen zurückgeführt werden können: es ſind ſolche, welche

entweder gegen den Staat oder gegen die Perſon oder gegen das Ver-

mögen begangen werden. Dieſe Eintheilung hätte nun durch weitere

Unterabtheilungen leicht in ein ſyſtematiſches Netzwerk zerlegt werden

können, welches auch äußerlich die verſchiedenen Kategorien beſtimmter

hätte hervortreten laſſen. Man fand für ein ſolches Verfahren einen

Vorgang in dem Rheiniſchen Strafgeſetzbuch, ſetzte ſich aber dadurch der

Gefahr aus, die Ueberſichtlichkeit des Syſtems zu beeinträchtigen, und

der Auslegung durch die Ueberſchriften ein Material an die Hand zu

geben, welches im Geſetzbuch ſelbſt enthalten, der unbefangenen Würdi-

gung der eigentlichen Strafſatzungen Hinderniſſe bereiten kann, während

es der Wiſſenſchaft ein Leichtes iſt, die weitere Entfaltung des Syſtems

im Geiſte des Strafgeſetzbuchs auszuführen.

Wenn aber, wie gezeigt, bei der Feſtſtellung der Titelfolge eine ge-

wiſſe Freiheit in der Würdigung der hauptſächlich zu beachtenden Mo-

mente bewahrt worden, ſo iſt dieß noch mehr geſchehen bei der Behand-

lung der in den einzelnen Titeln vorkommenden Verbrechen und Verge-

hen. Hier findet ſich kein gleichmäßiges Verfahren, etwa in der Art,

daß nach der Strafbarkeit der Handlungen zuerſt die leichtere und dann

die ſchwerere käme oder umgekehrt, ſondern nach der beſondern Be-

ſchaffenheit des gerade vorliegenden Stoffes iſt bald die eine bald die

andere Methode angewandt worden. Doch laſſen ſich gewiſſe Regeln

erkennen, die hierbei befolgt worden ſind.

1) Wo neben dem vollendeten Verbrechen gewiſſe Verſuchshand-

lungen, Anſtiftung u. ſ. w. beſonders mit Strafe bedroht werden, da iſt

von dem vollendeten Verbrechen ausgegangen, an welches ſich dann die

anderen Formen der ſtrafbaren Handlungen anſchließen. So bei dem

Hochverrath (Tit. I.) und dem Meineid (Tit. VIII.)

2) Wenn das ſtrafbare Verſchulden auch bei der Vollendung der

[21/0031]

§. V. Syſtem und Charakter des Strafgeſetzbuchs.

That ſeine im Geſetz feſtgeſtellte Abſtufung hat, die ſich nicht als bloße

Qualifikationen darſtellt, ſo iſt von den ſchwereren Fällen auf die der

minderen Verſchuldung übergegangen. Man vergleiche den Tit. VII.,

Münzverbrechen und Münzvergehen, Tit. XV., Mord und Todtſchlag,

und überhaupt die Fälle, wo außer der vorſätzlichen Handlung auch die

fahrläſſige ausdrücklich unter Strafe geſtellt iſt.

3) Wenn eine ſtrafbare Handlung durch das Hinzutreten beſonde-

rer erſchwerender Umſtände eine geſetzliche Qualifikation erhält, ohne da-

durch den Charakter zu verlieren, den das einfache Verbrechen oder Ver-

gehen an ſich trägt, ſo wird dieſes zuerſt abgehandelt, und dann erſt

die ſchwerere Form deſſelben. So bei der Körperverletzung (Tit. XVI.),

dem Diebſtahl (Tit. XVIII.), der Hehlerei (Tit. XX.), dem Betruge

(Tit. XXI.) — Die Verletzungen der Ehre (Tit. XIII.) können hier

nicht in Betracht kommen, weil die einfache Beleidigung nur als Ueber-

tretung gerügt wird, und alſo im zweiten Theile ſich nicht findet.

Der dritte Theil handelt von den Uebertretungen. Bei der er-

ſten Reviſion wurde neben dem Kriminalſtrafgeſetzbuch die Erlaſſung

eines beſonderen Polizeiſtrafgeſetzbuchs beabſichtigt, und der Entwurf von

1830 enthält daher von Polizeivorſchriften nichts. Der Juſtizminiſter

v. Kamptz folgte aber auch hier dem Vorgange des Allgemeinen Land-

rechts, und ſtreute, ſtatt den inzwiſchen ausgearbeiteten Entwurf des

Polizeiſtrafgeſetzbuchs zu benutzen, in die einzelnen Titel des Strafgeſetz-

buchs beſondere Polizeivorſchriften ein, ein Verfahren, welches ſchon in

der Staatsraths-Kommiſſion Bedenken erregte, aber in dem Entwurfe

von 1843 doch noch beibehalten iſt. Erſt die Reviſion von 1845

ſchaffte hier Wandel, und ſtellte die Polizeivergehen im dritten Theil

zuſammen, s) was auch im Entwurf von 1847 beibehalten ward und

in das Strafgeſetzbuch übergegangen iſt, nur daß hier ſtatt des Wortes

Polizeivergehen die Bezeichnung: Uebertretungen ſich findet.

Im erſten Titel: Von der Beſtrafung der Uebertretungen im All-

gemeinen — werden nun einige allgemeine Grundſätze über den Begriff

der Uebertretungen, die Strafen derſelben u. ſ. w. aufgeſtellt; die folgen-

den Titel führen dann die einzelnen Handlungen mit den geſetzlichen

Strafen auf. Dabei iſt im Weſentlichen daſſelbe Syſtem befolgt wor-

den, wie im zweiten Theile hinſichtlich der Verbrechen und Vergehen.

Der zweite Titel handelt von den Uebertretungen in Beziehung auf

die Sicherheit des Staates und die öffentliche Ordnung; der dritte

Titel von den Uebertretungen in Beziehung auf die perſönliche Sicher-

s) Die Rechtfertigung dieſer Aenderung des Syſtems findet ſich: Reviſion des

Entwurfs von 1843. Bd. I. (Berlin, 1845.) S. 4 und 5.

[22/0032]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

heit, Ehre und Freiheit, der vierte endlich von den Uebertretungen in

Beziehung auf das Vermögen.

Wenn nun an dieſe Betrachtungen über das Syſtem des Straf-

geſetzbuchs noch einige Bemerkungen über deſſen Form und Gehalt an-

gereiht werden, ſo wird es kaum der ausdrücklichen Erklärung bedürfen,

daß es hierbei auf keine eingehende Kritik des Geſetzbuchs abgeſehen ſein

kann. Der Kommentar wird freilich bei der Erwägung des Einzelnen

es ſpäter auch nicht vermeiden, den legislativen Werth der geſetzlichen

Vorſchriften einer Prüfung zu unterziehen, falls dazu die Veranlaſſung

ſich darbieten ſollte; aber als ſeine nächſte und wichtigſte Aufgabe wird

immer feſtgehalten werden, einen Beitrag zu dem richtigen Verſtändniſſe

des Geſetzbuchs aus dieſem ſelbſt, unter Benutzung der amtlichen Vor-

arbeiten zu liefern. Hier kann es jedenfalls nur darauf ankommen, mit

einigen Zügen die Eigenthümlichkeit dieſes Werkes zu charakteriſiren.

Zu dieſem Behuf iſt zunächſt das Beſtreben hervorzuheben, die einzelnen

Beſtimmungen in möglichſt klarer und einfacher Sprache ſo hinzuſtellen,

daß ſie an ſich verſtändlich, auch dem Laien es möglich machen, ſich

Kenntniß davon zu verſchaffen, welche Handlungen ſtrafbar und mit

welchen Strafen ſie bedroht ſind. Wäre es in dieſer Hinſicht vielleicht

wünſchenswerth geweſen, daß der Geſetzgeber ſich in der Faſſung ſeiner

Vorſchriften mehr noch, als es geſchehen, an das Publikum und nicht

ſo häufig an den Richter gewandt hätte, ſo läßt ſich doch daraus nicht

der Vorwurf ableiten, der ſo manche ältere Geſetzgebungen trifft, daß

überhaupt nur auf das Verſtändniß des Juriſten gerechnet ſei. Dieß kann

hier um ſo weniger zutreffen, da in den letzten Stadien der Reviſion

mit höchſter Sorgfalt dahin geſtrebt worden iſt, dem Geſetzbuch eine

ſolche Faſſung zu geben, daß es ſich dem Verfahren vor den Schwur-

gerichtshöfen anpaſſe, was nicht bloß dadurch geſchieht, daß einzelne

Vorſchriften in Fragen an die Geſchwornen aufgelöſt werden können,

ſondern auch die formelle Haltung im Allgemeinen beſtimmen muß.

Außer dieſem Zuge, in dem überhaupt ein Fortſchritt der neueren

Geſetzgebung und die Einwirkung einer volksthümlichen Gerichtsverfaſ-

ſung erkannt werden kann, iſt noch ein anderer hervorzuheben, welcher

wenigſtens den übrigen deutſchen Strafgeſetzbüchern gegenüber dieſem

Preußiſchen einen bedeutenden Vorzug ſichert. Das iſt die Beſchränkung

auf diejenigen Vorſchriften, welche erforderlich ſind, um das Verſtänd-

niß und die Durchführung des legislatoriſchen Willens zu ſichern, unter

dem Fernhalten aller ſolcher Beſtimmungen, welche ſich entweder als die

nothwendigen Folgeſätze der aufgeſtellten Principien von ſelbſt ergeben,

oder als die allgemeinen Vorausſetzungen von denen auch der Geſetz-

[23/0033]

§. V. Syſtem und Charakter des Strafgeſetzbuchs.

geber auszugehen hat, anzuſehen ſind, und deren Hineinziehen in das

Geſetzbuch ſelbſt daſſelbe mit Gemeinplätzen oder mit einem ungefügigen

wiſſenſchaftlichen Apparat belaſtet. Man iſt vielmehr mit dem beſtimm-

ten Bewußtſein des Gegenſatzes gegen die ältere Geſetzgebung des Land-

rechts darauf ausgegangen, die Aufgabe des Geſetzgebers nicht über ihre

natürlichen Grenzen hinauszurücken, und hat es eines Theils vermie-

den, in ein Gebiet der Vorſtellungen und Anſchauungen hinüberzugrei-

fen, über welche der Geſetzgeber doch keine Macht hat, anderen Theils

aber der Jurisprudenz in ihrer wiſſenſchaftlichen und praktiſchen Fort-

bildung das Vertrauen erwieſen, die ihr zukommende Rechtsentwick-

lung ihr auch zu überlaſſen und ſie nicht durch das ängſtliche Voraus-

beſtimmenwollen alles Einzelnen unnöthiger Weiſe zu hemmen und zu

beſchränken. Daß dieſe ganze Tendenz die richtige, und daß ſie im All-

gemeinen mit Einſicht und Maaß verfolgt worden, unterliegt keinem

Zweifel; ob nicht in einzelnen Fällen dieſe Beſcheidung des Geſetzgebers

vielleicht etwas zu weit gegangen, z. B. §. 40 die Beſtimmungen über

Ausſchließung der Strafe wegen Unzurechnungsfähigkeit zu fragmenta-

riſch gefaßt ſind, wird ſpäter bei den beſonderen Erörterungen noch nä-

her zu erwägen ſein.

Gewiſſe Momente aber giebt es, an denen ſich das hier im All-

gemeinen Angeführte klar und beſtimmt darlegen und zur Anſchauung

bringen läßt, und für deren angemeſſene Berückſichtigung doch das Ge-

ſetzbuch ſelbſt, eben wegen ſeiner bezeichneten Haltung, nicht die rechte

Gelegenheit bietet. Es gehören dahin die Freiheit des richterlichen Er-

meſſens, namentlich in Beziehung auf allgemeine Zumeſſungsgründe; die

allgemeine Bedeutung der im Geſetz zugelaſſenen mildernden Umſtände;

die allgemeinen Grundſätze über die Verſchuldung, namentlich über Vor-

ſatz und Fahrläſſigkeit. Dieſe Lehren ſchon in der Einleitung zum Ge-

genſtande einer näheren Erörterung zu machen, erſcheint um ſo ange-

meſſener als das Verſtändniß des Geſetzbuchs im Allgemeinen dadurch

weſentlich gefördert werden dürfte.

§. VI.

Das richterliche Ermeſſen.

Die freie Stellung, welche das Strafgeſetzbuch denjenigen einräumt,

welche mit der Handhabung der Strafrechtspflege betraut ſind, iſt theils

durch die Beſchaffenheit der Gerichtsverfaſſung bedingt, welche jetzt bei

uns die allgemein geltende geworden, theils iſt ſie die nothwendige Folge

der Geſammtanſchauung, welche bei der Abfaſſung des Geſetzbuchs

[24/0034]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

maaßgebend geweſen iſt. In erſterer Beziehung iſt namentlich auf die

Stellung der Geſchworenen hinzuweiſen, welche ihren Wahrſpruch nur

nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen, ohne die Hinzufügung von Ent-

ſcheidungsgründen abzugeben haben. Auch die Aufgabe der Staats-

anwaltſchaft iſt eine ſolche, daß ihre richtige Löſung nicht durch die

abſoluten Vorſchriften des Geſetzes allein geſichert erſcheinen kann, ſon-

dern der freien Erwägung des verſtändigen und gewiſſenhaften Beamten

Vieles überlaſſen werden muß. Das Geſetzbuch ſelbſt ſchreibt die Ver-

folgung der im Auslande begangenen Verbrechen (§. 4.), ſo wie die

Wiederaufnahme des Strafverfahrens in Beziehung auf die im Auslande

nicht aberkannten Ehrenrechte (§. 24.) nicht unbedingt vor, ſondern ge-

währt nur die Befugniß dazu, und überläßt die Entſcheidung dem

pflichtmäßigen Ermeſſen der zuſtändigen Behörden. Auch wird ſich ſpä-

ter zeigen laſſen, daß in einem praktiſch viel wichtigeren Fall, bei der

Verfolgung der Ehrverletzungen gegen Behörden u. ſ. w. (§. 102 u. 103.)

die Abſicht des Geſetzes nicht dahin geht, eine ſolche unter allen Um-

ſtänden von Amtswegen einleiten zu laſſen, ſondern die Beſchaffenheit

des beſonderen Falls und namentlich die Rückſicht auf das öffentliche

Intereſſe hier entſcheidend ſein muß. Ueberhaupt wird es gut ſein,

wenn man ſich bei uns häufiger, als es oft noch geſchieht, den Grund-

ſatz römiſcher Staatsweisheit in ſeinem tieferen Sinne mehr vergegen-

wärtigt: Minima non curat Praetor.

Was von der Aufgabe der Staatsanwaltſchaft geſagt worden, ließe

ſich auch in beſonderer Beziehung auf die Thätigkeit der Anklagekammer

weiter ausführen. Wenn hier aber von dem richterlichen Ermeſſen ge-

handelt wird, ſo iſt doch zunächſt nur an das Ermeſſen des erken-

nenden Richters gedacht worden, und wie dieſes nach dem Straf-

geſetzbuch zu ſtehen kommt, ſoll nun näher unterſucht werden. Wenn

dabei im Allgemeinen von dem Satze ausgegangen werden kann, daß

das Geſetzbuch im Vergleich mit dem Allgemeinen Landrecht und den

früheren Entwürfen dem Richter eine freiere und würdigere Stellung

einräumt, ſo bedarf dieſe Behauptung doch in Einer Beziehung einer

Beſchränkung. Was nämlich die Wahl des Richters zwiſchen verſchie-

denen Strafarten betrifft, ſo iſt ſeine Befugniß jetzt eine weſentlich be-

ſchränkte. Es ſteht ihm namentlich nicht zu, unter verſchiedenen Frei-

heitsſtrafen eine Auswahl zu treffen oder in andern Fällen, als da, wo

das Geſetz es zuläßt, anſtatt einer Freiheitsſtrafe auf Geldſtrafen zu er-

kennen. Auch in der Aberkennung der Ehrenrechte iſt eine wichtige Be-

ſchränkung eingetreten, und während früher in den Fällen, wo ein Man-

gel ehrliebender Geſinnung ſich kund gegeben hatte, der Richter den

Verluſt der Nationalkokarde auszuſprechen hatte, iſt es ihm jetzt nur

[25/0035]

§. VI. Das richterliche Ermeſſen.

überlaſſen, bei beſtimmten, im Geſetz genau bezeichneten Vergehen die

Ausübung der Ehrenrechte auf Zeit zu unterſagen. Dieſen Beſchrän-

kungen der richterlichen Amtsbefugniß gegenüber, die im Intereſſe der

bürgerlichen Freiheit und der Gleichheit vor dem Geſetze gemacht wor-

den ſind, zeigt ſich aber im Uebrigen das richterliche Ermeſſen erweitert

und von läſtigen Schranken befreit. Ueber die Frage, wann der Rich-

ter ein ſtrafbares Verſchulden anzunehmen berechtigt iſt, und nach wel-

chen Grundſätzen er namentlich zwiſchen Vorſatz und Fahrläſſigkeit zu

unterſcheiden hat, wird unten (§. VIII.) noch eine beſondere Erörterung

folgen; hier ſoll zunächſt der Fall beſonders betrachtet werden, wenn ein

ſtrafbares Verſchulden im Allgemeinen vorliegt und vom Richter die

Höhe des Strafmaaßes zu beſtimmen iſt, — alſo die Zumeſſungs-

gründe zu erwägen ſind. Dieſe ſind aber gegenwärtig um ſo bedeu-

tungsvoller, da das Strafgeſetzbuch gerade in Beziehung auf das Straf-

maaß eine große Freiheit gewährt, und nur in wenigen Fällen abſolute

Strafen ausſpricht, oft aber jedes Minimum wegläßt, oder das Maxi-

mum nur nach den allgemeinen, im Geſetz aufgeſtellten Grenzen (Ge-

fängniß bis zu fünf Jahren, zeitige Zuchthausſtrafe bis zu zwanzig

Jahren) beſtimmt. Bei der Strafzumeſſung macht es denn auch keinen

weſentlichen Unterſchied, ob ein Verbrechen oder Vergehen vorliegt, ein

Wahrſpruch der Geſchworenen oder das richterliche Erkenntniß die Schuld

feſtſtellt, da im erſteren Fall wohl die Art der Strafe — bei mildern-

den Umſtänden, Verſuch, Theilnahme, — nicht aber das Maaß derſel-

ben von dem Wahrſpruch bedingt wird.

Wenn nun das Geſetzbuch ſelbſt ſich jeder unmittelbaren Einwir-

kung auf die richterliche Entſcheidung über die Zumeſſungsgründe ent-

halten und es ſogar vermieden hat, nach dem Vorgange des Heſſiſchen

Strafgeſetzbuchs t) , allgemeine Zumeſſungsgründe nur als Anweiſung

für das richterliche Ermeſſen aufzuſtellen, ſo iſt das eine allerdings ſehr

tief greifende Abweichung von dem früheren Rechte. Aber auch bei der

Reviſion hat man in den verſchiedenen Stadien derſelben gerade über

dieſen Gegenſtand ſehr geſchwankt; eine geſchichtliche Darſtellung wird

daher am beſten geeignet ſein, die wichtigſten hier in Betracht kommen-

den Momente hervorzuheben und namentlich die Gründe ans Licht zu

ſtellen, welche zuletzt dahin geführt haben, daß man nach dem Vorgange

des Rheiniſchen Rechts darauf verzichtete, die Aufgabe des Geſetzgebers

mit der des Richters zu vermiſchen.

Das Allgemeine Landrecht hat, wie ſchon von Bode ſehr gut

t) Strafgeſetzbuch für das Großherzogthum Heſſen, Art. 118 ff.

[26/0036]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

nachgewieſen worden, u) , dieſe Lehre in ſehr mangelhafter Weiſe abge-

handelt. Es hat nämlich die Zumeſſungsgründe im engern Sinne,

welche ſich innerhalb des von dem Geſetze aufgeſtellten Strafmaaßes

bewegen, von den ſ. g. Milderungs- und Schärfungsgründen,

welche ein Ueberſchreiten dieſer Grenzen durch Verminderung oder Er-

höhung der geſetzlichen Strafe zulaſſen, nicht gehörig unterſchieden, wo-

durch eine Verwirrung und Unklarheit in den geſetzlichen Vorſchriften

herbeigeführt worden, welche für die Rechtsanwendung von den nach-

theiligſten Folgen geweſen iſt. Namentlich erſcheint es zweifelhaft, ob

die in den §. 18. 22. 51. 52. 62. des Tit. 20. Th. II. enthaltenen

Beſtimmungen zu den Gründen der erſten oder der zweiten Kategorie

zu rechnen ſind. Der erſte Reviſor beſeitigte nun durch die Theilung

des Stoffes dieſen Mangel einer genauen Begriffsbeſtimmung, und

ſchlug dann unter Zugrundelegung von §. 18. 23-25. des Tit. 20.

Th. II. des Allg. Landrechts eine Reihe allgemeiner Strafzumeſſungs-

gründe vor, welche aber in der Geſetz-Reviſions-Kommiſſion verworfen

wurden, ſo daß der Entwurf von 1830 ohne ſolche Zumeſſungs-

gründe iſt. Der Entwurf von 1833. (§. 95-98.) hat dieſelben aber

wieder aufgenommen, und der von 1836. (§. 101. und 104.) die Zahl

noch um einige vermehrt. In der Staatsraths-Kommiſſion machten ſich

über die Zweckmäßigkeit ſolcher Beſtimmungen verſchiedene Anſichten gel-

tend. v) Von der einen Seite wurde bemerkt, es verſtehe ſich von ſelbſt,

daß das Ermeſſen des Richters innerhalb der geſetzlichen Grenzen durch

die beſondern Umſtände der That geleitet werden müſſe. Welche Um-

ſtände aber hierbei in Betracht kämen, darüber müſſe die Doktrin,

der geſunde Menſchenverſtand und das Leben den Richter be-

lehren. — Darauf wurde erwiedert, eine analytiſche Entwickelung der

Beſtimmungen über Zumeſſung, Milderung und Schärfung der Strafe

laſſe ſich nicht vermeiden, wenn nicht nur dem Richter dieſer Unterſchied

angedeutet, ſondern auch der nothwendige Satz ausgedrückt werden ſolle,

daß die Anwendung der Strafgrade nicht bloß auf richterlicher Willkühr

beruhe. Ueberdieß gehe die Theorie bei den Geſichtspunkten der Zumeſ-

ſung von höchſt verſchiedenen Anſichten aus, die ſich auf die Straf-

rechts-Entwicklung gründen, indem der eine Rechtslehrer bloß die Größe

des Schadens, der andere bloß die Gefährlichkeit der Handlung berück-

ſichtigen wolle. Das Geſetz müſſe alſo dem Richter andeuten, wonach

er zumeſſen ſolle, und die gänzliche Fortlaſſung der Vorſchriften über

u) Motive von dem von dem Reviſor vorgelegten Erſten Entwurf

des Kriminal-Geſetzbuchs für die Preußiſchen Staaten. Band I. (Berlin,

1827.) S. 192 ff.

v) Berathungs-Protokolle. I. Theil. (Berlin, 1839.) S. 126 ff.

[27/0037]

§. VI. Das richterliche Ermeſſen.

Zumeſſung ſei daher nicht zuläſſig. Der Deutlichkeit wegen ſei es denn

gut, es nicht bei der Angabe des Grundſatzes bewenden zu laſſen, ſon-

dern denſelben auch näher zu entwickeln.

Dieſe letztere Anſicht ſiegte in der Kommiſſion, und daraus gingen

für den Entwurf von 1843 folgende Vorſchriften hervor:

§. 106. „Wenn die im Geſetz auf ein Verbrechen angedrohte

Strafe verſchiedene Grade hat, oder dem Richter die Wahl zwiſchen

mehreren Strafarten überlaſſen iſt, ſo hat derſelbe den Strafgrad oder

die Strafart nach den Umſtänden zu beſtimmen, durch welche ſich die

Strafbarkeit des Verbrechers erhöhet oder vermindert.“

§. 107. „Die Strafbarkeit des Verbrechers erhöhet oder vermin-

dert ſich hauptſächlich, je nachdem:

1) durch ſeine That mehr oder weniger Rechte verletzt wurden;

2) die Verletzung einen höhern oder niedern Grad erreicht hatte;

3) die That unter Umſtänden begangen wurde, wodurch die öffent-

liche Sicherheit, Ruhe und Ordnung mehr oder weniger gefähr-

det war;

4) die That an befriedeten Orten, insbeſondere in Kirchen oder lan-

desherrlichen Schlöſſern verübt wurde;

5) zur Begehung des Verbrechens die Religion oder religiöſe und

kirchliche Gebräuche vorgeſchützt oder gemißbraucht worden ſind;

6) mehr oder weniger Pflichten für den Verbrecher vorhanden wa-

ren, die That zu unterlaſſen;

7) der Verbrecher mehr oder weniger fähig war, dieſe Pflichten

oder die Strafwürdigkeit ſeiner Handlung zu erkennen;

8) der äußere Anreiz zum Verbrechen für ihn mehr oder minder

groß war;

9) er aus mehr oder minder bösartigem Antriebe die Handlung

beging;

10) derſelbe mit mehr oder weniger Ueberlegung zur Ausführung der

That ſchritt; oder

11) größere oder geringere Hinderniſſe dabei überwand;

12) der Verbrecher durch ſeinen bisherigen Lebenswandel einen höhern

oder geringern Grad von Verderbtheit und Neigung zu Verbre-

chen zu erkennen gegeben hat, oder ſchon früher wegen Verbre-

chen verurtheilt iſt, oder nicht;

13) er das Verbrechen in der Unterſuchung geläugnet oder daſſelbe

eingeſtanden hat; insbeſondere iſt zu berückſichtigen, wenn das

Geſtändniß vor der Ueberführung freiwillig abgelegt worden iſt.“

§. 108. „Bezeichnet das Geſetz bei einem Verbrechen Umſtände,

welche die Strafbarkeit erhöhen oder vermindern, ſo iſt auf dieſe zunächſt

Rückſicht zu nehmen.“

[28/0038]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

§. 109. „Zur Verurtheilung in den höchſten und niedrigſten Grad

der geſetzlichen Strafe iſt nicht erforderlich, daß alle oder auch nur

mehrere der die Strafbarkeit erhöhenden oder vermindernden Gründe

(§. 107. und 108.) zuſammen treffen.“

Gegen dieſe Beſtimmungen des den Provinzialſtänden vorgelegten

und durch den Buchhandel veröffentlichten Entwurfs wurden aber viele

Bedenken laut; von den verſchiedenſten Seiten wurden ſie als kaſuiſtiſch

und überflüſſig angefochten, und auch die wiederholte Reviſion, welche

von dem Miniſterium für die Geſetz-Reviſion ausging, trug auf die

Streichung derſelben an. „Soweit ſie richtig ſind,“ heißt es in der

amtlichen Schrift w) , „gehören ſie zur Doktrin, die dem Richter nicht

fremd ſein darf, welchem ein Spielraum für die Abmeſſung der Strafe

anvertraut wird. Vermeidet man dergleichen Beſtimmungen im Straf-

geſetzbuche gänzlich, ſo giebt man dem Richter die Macht, vieles That-

ſächliche ſelbſtändig zu eruiren. Dies iſt aber ganz zuläſſig, und auch

ſchon nach dem Code pénal der Fall. Der Entwurf will abſtrakte

Regeln aufſtellen, da es doch Sache des Richters iſt, von jedem ein-

zelnen Falle eine konkrete Anſchauung zu gewinnen. Der Richter hat

gleichſam einen moraliſch-juridiſchen Krankheitsfall zu würdigen, und

befindet ſich dabei in einem ähnlichen Verhältniſſe, wie der Arzt, dem

man auch nicht durch Aufzählung aller möglichen Symptome von

Krankheiten die richtige Methode für die Behandlung des einzelnen

Falles vorſchreiben kann. Glaubt man aber durch jene Spezialvor-

ſchriften eine Schutzwehr gegen Mißgriffe des Richters zu errichten, ſo

ſind doch jene Vorſchriften weder erſchöpfend, noch nützen ſie dem Richter

der das Rechte nicht ſelbſt weiß und will. Der §. 106. insbeſondere,

in ſeiner formellen Bedeutung, welche hier allein in Betracht kommt,

ſagt nichts weiter, als: der Richter kann thun, was ihm in jedem ein-

zelnen Falle vom Geſetze erlaubt iſt. Er iſt alſo eben ſo entbehrlich,

wie der §. 108., der mit ihm ſteht und fällt.“ — —

„Der §. 107. wird vorzugsweiſe als nutzlos und bei Geſchwor-

nengerichten unausführbar angegriffen und zwar mit Recht. Erſchöpfend

können und ſollen die dreizehn Zumeſſungsgründe nicht ſein, dies liegt

in der Natur der Sache. Sie enthalten durchweg gewiſſe faktiſche Mo-

mente. Giebt aber das Geſetz ſolche faktiſche Momente dem Richter

an, ſo müſſen auch die Fragen darüber den Geſchwornen vorgelegt

werden. Und doch werden ſich die meiſten Nummern gar nicht einmal

in Fragen einkleiden laſſen, welche mit Ja oder Nein beantwortet wer-

w) Reviſion des Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. I. Band.

(Berlin 1845). S. 227-29.

[29/0039]

§. VII. Die mildernden Umſtände.

den können, z. B. ob und welcher Anreiz zum Verbrechen Statt fand,

ob und wie große Hinderniſſe bei Ausführung der That überwunden

werden mußten. Wohin man gelangt, wenn man einmal im Geſetz-

buche die Zumeſſungsgründe ſpezifizirt, das beweiſen die zahlreichen Er-

innerungen gegen die einzelnen Nummern des §. 107, welche dem Einen

nicht genügend und erſchöpfend, dem Andern nicht durchweg richtig und

unter einander übereinſtimmend zu ſein ſcheinen. Enthält ſich das Geſetz

ſolcher Beſtimmungen nicht gänzlich, ſo provozirt es allerdings ſelbſt

immer neue Spezialitäten und Verwickelungen. Es wird hier genügen,

von jenen gegen die einzelnen Nummern gerichteten Erinnerungen die

von den Ständen ausgegangenen beiläufig anzuführen. In Nr. 4. be-

antragt der Weſtphäliſche Landtag eine Beſchränkung der „landesherr-

lichen Schlöſſer“ auf das zur Zeit des verübten Verbrechens vom Könige

bewohnte Schloß. Schleſien will hier (in Nr. 4.) noch der Amtslokale

gedacht wiſſen; Brandenburg möchte in Nr. 10. den Strafgrad noch

davon abhängig machen, ob der Verbrecher mit mehr oder weniger Liſt

und Verwegenheit zur That ſchritt.“ —

„Der Entwurf von 1830. hatte keine ſolche Aufzählung von Zu-

meſſungsgründen aufgenommen. Dies läßt ſich nur billigen, obgleich

auch andere neuere Geſetzbücher ſich der Aufſtellung allgemeiner Grund-

ſätze über die Zumeſſung, mit oder ohne Kaſuiſtik, mit oder ohne Un-

terſcheidung des ſubjektiven und des objektiven Moments der Strafbar-

keit, zugewendet haben. x) — — Aus dieſen Gründen ſind in dem

revidirten Entwurf die §§. 106-109. nicht aufgenommen worden. Auch

iſt im ſpeziellen Theile durchweg an dem Grundſatze feſtgehalten, bloße

Zumeſſungsgründe nicht aufzuführen.“

Dieſe Anſicht wurde auch in den weiteren Stadien der Reviſion

feſtgehalten, und der Richter iſt bei dem Schweigen des Geſetzbuchs

auf „die Doktrin, den geſunden Menſchenverſtand und das Leben“ zur

Herſtellung des richtigen Strafmaaßes innerhalb der geſetzlichen Gren-

zen in jedem einzelnen Fall verwieſen.

§. VII.

Die mildernden Umſtände.

Noch in dem Entwurfe von 1843. findet ſich eine Reihe von Vor-

ſchriften über die Fälle, wo eine Milderung der Strafe unter das im

Geſetz beſtimmte Maaß oder eine Schärfung über daſſelbe hinaus ein-

x) Sächſ. Kriminalgeſetzb., Art. 42 ff. — Württemb. Art. 107 ff. —

Braunſchweig. §. 63 ff. — Hannov. Art. 91 ff. —

Heſſ. Art. 118 ff. — Bad. Entw. §. 142 ff.

[30/0040]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

treten darf. Zu den Milderungsgründen wird außer dem jugendlichen

Alter (§. 112. und 113.) gerechnet: die Reue (§. 114.), Befehl oder

Auftrag zur Verübung der That durch eine Reſpectsperſon (§. 115.),

Gewalt und Drohung, inſofern ſie die Zurechnung an ſich nicht auf-

heben (§. 116.), und die Berückſichtigung des milderen ausländiſchen

Geſetzes (§. 117.). Als Strafſchärfungsgründe werden das Zuſammen-

treffen mehrerer Verbrechen (§. 118-22.) und der Rückfall (§. 123-26.)

aufgeführt. — Der Entwurf von 1847. und das Geſetzbuch ſelbſt ſind

von der Zuſammenſtellung ſolcher allgemeiner Milderungs- und Schär-

fungsgründe abgegangen. Was zunächſt die letzteren betrifft, ſo kann

auch in der That das Zuſammentreffen mehrerer Verbrechen gar nicht

unter dem Geſichtspunkt der Strafſchärfung aufgefaßt werden, ja bei

der ſ. g. idealen Konkurrenz ſowohl wie bei der ſ. g. realen Konkurrenz

tritt unter Umſtänden eher eine Strafmilderung ein; der Rückfall aber

iſt füglich in ſeiner ſelbſtändigen Bedeutung aufzufaſſen und zu be-

handeln, wenn auch da, wo er berückſichtigt wird, allerdings eine Er-

höhung der ordentlichen Strafe ſtattfindet. Unter den angeführten

Milderungsgründen übt nun das jugendliche Alter nach den Be-

ſtimmungen des Geſetzbuchs gegenwärtig einen verſchiedenen Einfluß auf

die Beſtrafung aus, indem es, je nachdem Unterſcheidungsvermögen

angenommen wird oder nicht, die Strafe mildert oder ausſchließt. Auf

die milderen Beſtimmungen auswärtiger Geſetze iſt aber überhaupt keine

Rückſicht mehr genommen worden, und Reue, Befehl und Gewalt oder

Drohung, welche die Zurechnung nicht ausſchließen, können wohl bei

der Strafzumeſſung berückſichtigt werden, aber eine eigentliche Strafmil-

derung zu rechtfertigen ſind ſie nicht geeignet. Es läßt ſich hier allge-

mein anwenden, was in Beziehung auf den Befehl zur Verübung der

That in einer amtlichen Schrift y) treffend bemerkt wird: Soweit ſich

ſolche Vorſchriften nicht von ſelbſt verſtehen, können ſie zu großen Miß-

griffen Veranlaſſung geben. Was damit geſagt werden ſoll, läßt ſich

nicht recht definiren, und was geſagt iſt, hilft nicht weit.

Das Strafgeſetzbuch enthält alſo außer den im vierten und fünften

Titel des erſten Theils gegebenen Vorſchriften keine allgemeinen Beſtim-

mungen über diejenigen thatſächlichen Umſtände, welche eine Erhöhung

oder Verminderung der geſetzlichen Strafe zur Folge haben können.

Was in dieſer Hinſicht vorgeſehen werden mußte, um nicht durch zu

ſtarre Satzungen und überhaupt durch die Vernachläſſigung der Indi-

vidualität der beſonderen Fälle gegen die höheren Anforderungen der

ſtrafenden Gerechtigkeit zu verſtoßen, das iſt in den beſonderen Beſtim-

y) Reviſion u. ſ. w. a. a. O. S. 205.

[31/0041]

§. VII. Die mildernden Umſtände.

mungen des zweiten Theils über die einzelnen Verbrechen und Vergehen

ausgeſprochen worden.

Was nun die beſonders ſchweren Formen einer ſtrafbaren Hand-

lung betrifft, ſo iſt in dieſer Beziehung dem richterlichen Ermeſſen die

engſte Schranke geſetzt, und da, wo die ordentliche Strafe nicht aus-

reichend erſcheint, durch die im Geſetz feſtgeſtellte Qualifikation der

Handlung und eine ihr entſprechende Straferhöhung den Anforderungen

einer größeren Strenge entſprochen worden. Nur inſoweit iſt auch hier

dem Ermeſſen des Richters freierer Raum gewährt worden, als ihm

die Befugniß eingeräumt iſt, bei gewiſſen Vergehen die über das ge-

wöhnliche Maaß geſteigerte Strafbarkeit durch Unterſagung der bürger-

lichen Ehrenrechte auf Zeit, durch Stellung unter Polizei-Aufſicht, durch

Einſperrung im Arbeitshauſe und durch Entziehung der Fähigkeit zu

öffentlichen Aemtern oder des Gewerbebetriebs zu ahnden. Denn wo

eine ſolche acceſſoriſche oder Nebenſtrafe der ordentlichen nicht hinzuge-

fügt werden muß, da iſt anzunehmen, daß nur in den Fällen der

außergewöhnlichen Verſchuldung ihre Zuerkennung ſich rechtfertigen läßt.

— Einer beſonderen Erwähnung bedarf endlich noch die Verbindung

des Verluſtes der bürgerlichen Ehre mit der Todesſtrafe, welche außer

den im Geſetz ausdrücklich beſtimmten Fällen eintreten ſoll, wenn das

todeswürdige Verbrechen unter beſonders erſchwerenden Umſtänden be-

gangen worden iſt, was aber durch den Wahrſpruch der Geſchwornen

erſt feſtgeſtellt werden muß.

Viel allgemeiner und eingreifender hat das Geſetzbuch bei einzelnen

Verbrechen und Vergehen die mildernden Umſtände berückſichtigt.

Sie bilden für diejenigen Fälle, wo ſie zugelaſſen ſind, einen weſent-

lichen Beſtandtheil der die Feſtſtellung der Strafe betreffenden Satzungen,

und ſind gewiſſermaaßen an die Stelle der früheren allgemeinen Milde-

rungsgründe getreten. Doch liegt ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen

beiden darin, — einmal, daß jene Milderungsgründe ſtets auf ein-

zelne, im Geſetz angegebene Thatſachen bezogen wurden, während es bei

der Feſtſtellung mildernder Umſtände auf die Erwägung ſämmtlicher den

objektiven Thatbeſtand und die Perſönlichkeit des Angeſchuldigten be-

rührenden thatſächlichen Momente ankommt; während dagegen die Mil-

derungsgründe allgemein für alle ſtrafbaren Handlungen galten, die

mildernden Umſtände aber nur bei beſtimmten Verbrechen und Vergehen

zu berückſichtigen ſind; — und dann, daß die allgemeinen Milderungs-

gründe den Richter in der Regel nur zur Strafmilderung berechtigten,

ihn aber nicht dazu verpflichteten, während die mildernden Umſtände,

wenn ſie einmal feſtgeſtellt ſind, regelmäßig eine Strafverwandlung zu

Gunſten des Verbrechers herbeiführen müſſen. Dieß hängt jedoch zum

[32/0042]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

Theil mit dem Einfluß der Geſchworenen auf dieſe Feſtſtellung zuſam-

men, theils konnte eine nothwendige Berückſichtigung der allgemeinen

Milderungsgründe, ähnlich wie bei den mildernden Umſtänden, um

deswegen nicht wohl ſtattfinden, weil eben nur einzelne thatſächliche

Momente dabei in Betracht kamen, die in dem gegebenen Fall von ge-

ringem Belang ſein oder durch andere erſchwerende Momente wieder

aufgehoben werden konnten.

Einen ganz unbeſchränkten Gebrauch hat das Franzöſiſche Recht

von den mildernden Umſtänden (circonstances atténuantes) gemacht,

indem durch neuere Geſetze vorgeſchrieben iſt, daß in allen Fällen, wo

es ſich von Verbrechen handelt, ſelbſt beim Rückfall, es den Geſchwore-

nen freiſtehen ſoll, zu Gunſten des Angeklagten das Vorhandenſein von

mildernden Umſtänden feſtzuſtellen. z) Es iſt dieß ein Auskunftsmittel

geweſen, um die zu große Härte der Strafbeſtimmungen des Code

pénal, namentlich in Beziehung auf den Rückfall zu mildern, ohne zu

durchgreifender materieller Aenderung des Geſetzbuchs zu ſchreiten, —

ein Verfahren, welches allerdings ſehr gewichtigen Bedenken unterliegt. a)

Nach Preußiſchem Recht hat die Sache jedenfalls eine ganz andere

Geſtalt gewonnen, da nur bei einzelnen Verbrechen und Vergehen die

Feſtſtellung mildernder Umſtände überhaupt in Betracht kommt, und

eine Frage darauf den Geſchworenen auch nicht nothwendig vorzulegen

iſt. b) Nichts deſtoweniger wurden in der Kommiſſion der zweiten

Kammer, wo dieſer Gegenſtand wiederholt und gründlich erörtert worden

iſt, manche Bedenken auch gegen dieſe beſchränkte Auffaſſung laut, aber

man vereinigte ſich doch zuletzt in der Anſicht, daß der wohlthätige

Zweck der Einrichtung ſich nur in der von der Staatsregierung vorge-

ſchlagenen Weiſe erreichen laſſe, und ſuchte nur durch eine genauere

Faſſung die beſtimmte Grenze zwiſchen der Aufgabe der Geſchworenen

und der Richter anzugeben, und auch bei den Vergehen das Gericht zu

einem ausdrücklichen Beſchluß über das Vorhandenſein mildernder Um-

z) Code d'instruct. crim. art. 341. (Loi du 9 Sept. 1835.) En toute

matière criminelle, même en cas de recidive, le président, après avoir posé

les questions résultant de l'acte d'accusation et des débats, avertira le

jury, à peine de nullité, que, s'il pense, à la majorité, qu'il existe, en

faveur d'un ou de plusieurs accusés reconnus coupables, des circonstances

atténuantes, il devra en faire la déclaration en ces termes: A la majorité,

il y a des circonstances atténuantes en faveur de tel accusé. — Das Geſetz

vom 28. April 1832, welches die Neuerung eigentlich eingeführt hat, verlangte noch

eine Majorität von mehr als ſieben Stimmen.

a) Ueber die Einwirkung dieſer Neuerung auf die Strafrechtspflege, namentlich

in Beziehung auf den Rückfall, ſ. Ad. Chauveau et Hélie Fauſtin,

théorie du Code pénal (Bruxelles 1837). T. I. chap. IX.

b) Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. XXIV.

[33/0043]

§. VII. Die mildernden Umſtände.

ſtände zu veranlaſſen. Daher die ſtehende Formel: Wird feſtgeſtellt,

daß mildernde Umſtände vorhanden ſind.

I. Wenn das Vorhandenſein mildernder Umſtände bei einem Ver-

brechen oder Vergehen zu berückſichtigen iſt, ſo gilt dieß auch für den

Verſuch und die Theilnahme. In Beziehung auf den Verſuch iſt dieß

§. 32. Abſ. 3 ausdrücklich ausgeſprochen; für die Theilnahme liegt es

in der Faſſung der Vorſchrift, daß auf den Theilnehmer daſſelbe

Strafgeſetz anzuwenden iſt, welches auf den Thäter Anwendung findet

(§. 35). Davon unabhängig iſt dann noch die beſondere Erwähnung

mildernder Umſtände bei der Umwandlung der Todesſtrafe und der

lebenslänglichen Zuchthausſtrafe im Fall der nicht weſentlichen Theil-

nahme.

II. Bei folgenden Verbrechen iſt die Feſtſtellung mildernder

Umſtände zugelaſſen:

a. bei dem Hochverrath, in den Fällen des §. 63. 64. 65. 66.

b. bei dem Landesverrath, wenn ein Preuße die Waffen gegen

Preußen oder deſſen Bundesgenoſſen trägt (§. 68).

c. bei der Majeſtätsbeleidigung, wenn ſich jemand einer Thätlichkeit

gegen die Perſon des Königs (§. 74) oder gegen ein Mitglied

des Königlichen Hauſes (§. 76) ſchuldig macht.

d. bei feindlichen, dem Hochverrath gleichſtehenden Handlungen ge-

gen befreundete Staaten (§. 78).

e. bei Mißhandlung oder Körperverletzung (§. 196).

f. bei dem ſchweren Diebſtahl (§. 218).

g. bei der Hehlerei (§. 238).

h. bei dem betrüglichen Bankerutt (§. 259. 260).

i. bei der Beſtechung von Beamten oder Schiedsrichtern (§. 310).

k. bei dem Mißbrauch der Strafgewalt (§. 321).

In allen dieſen Fällen ſoll, wenn das Vorhandenſein mildernder

Umſtände von den Geſchwornen feſtgeſtellt worden, eine Herabſetzung der

Strafe zu Gunſten des Schuldigen eintreten, und zwar in den Fällen

unter a-d auf Einſchließung, in den übrigen aber auf Gefängniß er-

kannt werden.

III. Bei folgenden Vergehen kann der Richter mildernde Um-

ſtände berückſichtigen:

a. bei der Beleidigung oder Verleumdung politiſcher Körperſchaften,

öffentlicher Behörden u. ſ. w. (§. 102).

b. bei der Verleumdung (§. 156).

c. bei der einfachen Mißhandlung oder Körperverletzung (§. 187).

d. bei dem einfachen Diebſtahl (§. 216. 217).

Beſeler Kommentar. 3

[34/0044]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

e. bei der Unterſchlagung (§. 227).

f. bei der Hehlerei (§. 237).

g. bei dem einfachen Betruge (§. 242).

h. bei der Beſchädigung oder Zerſtörung fremder Sachen (§. 281).

Die Folge der Annahme mildernder Umſtände iſt, daß bei den unter

c und h genannten Vergehen der Richter ſtatt der härteren Strafe

des Gefängniſſes auf Geldbuße erkennen muß; in den übrigen Fällen

wird ihm nur die Befugniß zur Herabſetzung der geſetzlichen Strafe

gegeben, und zwar kann er bei den unter a und b genannten Vergehen

auf eine Geldbuße heruntergehen, bei dem unter g genannten iſt ihm die

Wahl zwiſchen einer niedrigeren Gefängnißſtrafe und einer Geldbuße

gelaſſen, in den übrigen Fällen iſt es ihm nur freigeſtellt, ſtatt der

geſetzlichen Gefängnißſtrafe mit der acceſſoriſchen Ehrenſtrafe eine gerin-

gere Gefängnißſtrafe auszuſprechen.

IV. Die mildernden Umſtände umfaſſen ſämmtliche in den Kreis

Beziehung auf den objektiven Thatbeſtand als auf die Perſönlichkeit

und die Verſchuldung des Thäters. Inſofern laſſen ſich für das Er-

meſſen der Geſchwornen und des Richters keine allgemein gültigen Re-

geln aufſtellen, und auch für die einzelnen Arten der Verbrechen und

Vergehen, bei denen mildernde Umſtände in Betracht kommen, ſind die-

ſelben nicht auf beſtimmte Milderungsgründe mit Sicherheit zurückzu-

führen. Doch wird die Frage nicht zu umgehen ſein, warum denn nur

bei einzelnen Verbrechen und Vergehen ausnahmsweiſe den Geſchworenen

oder Richtern eine ſolche beſondere Machtvollkommenheit beigelegt wor-

den iſt, und gerade der Verſuch, in die Motive des Geſetzbuchs bei

Erörterung dieſer Frage einzudringen, muß auch in Verbindung mit der

genaueren Analyſe der einzelnen Verbrechen und Vergehen dahin führen,

die mildernden Umſtände, inſoweit ſie überhaupt zum Gegenſtande der

ſtrafrichterlichen Feſtſtellung gemacht werden können, ihrem Umfange

und ihrer Beſchaffenheit nach näher zu beſtimmen. Dieß kann aber in

genügender Weiſe erſt bei der Betrachtung der Vorſchriften des Straf-

geſetzbuchs über die einzelnen Verbrechen und Vergehen geſchehen; hier

ſind nur, um für die Beurtheilung des Rechtsinſtituts der mildernden

Umſtände einen Anhalt zu gewähren, einzelne beſonders nahe liegende

Momente kurz hervorzuheben.

a. Daß bei den politiſchen Verbrechen — Hochverrath, Landes-

verrath, Majeſtätsbeleidigung, in gewiſſen Fällen ſtatt des entehrenden

Zuchthauſes die mildere Einſchließung als Strafe freigelaſſen worden,

hängt mit der allgemeinen Auffaſſung der Strafbarkeit politiſcher Ver-

[35/0045]

§. VII. Die mildernden Umſtände.

brecher in Beziehung auf die Gefährlichkeit ihrer ſtrafbaren Thätigkeit

und auf die dabei an den Tag gelegte Geſinnung zuſammen.

b. In Beziehung auf die Ehrverletzungen darf nicht überſehen

werden, daß die ſtrafbare Handlung nach der Auffaſſung unſeres Volkes

den Charakter eines reinen Privatdelicts an ſich tragen kann, deſſen

Sühnung durch eine Geldbuße unter gewiſſen Umſtänden als die an-

gemeſſenſte ſich darſtellt. Es kommt hinzu, daß gerade bei Ehrver-

letzungen, wenn ſie auch formell als ſtrafbar erſcheinen, doch die Ver-

anlaſſung eine den Thäter wenig beſchwerende ſein kann, ja daß bei

der Verleumdung ſogar die unvorſichtige Wiederholung anderweitig ver-

nommener Aeußerungen ſchon unter Strafe geſtellt iſt. Was aber für

die Beleidigungen gilt, kommt auch für leichtere Mißhandlungen und

Körperverletzungen, welche jetzt die Stelle der Realinjurien des früheren

Syſtems einnehmen, zur Anwendung. Ueberhaupt muß in dieſer ganzen

Lehre dem richterlichen Ermeſſen ein weiter Spielraum gegeben werden,

was ſich am deutlichſten bei der Behandlung der gegenſeitigen Beleidi-

gungen und Mißhandlungen darſtellt.

c. Anders kommt die Sache zu ſtehen, wenn es zu einer ſchweren

Körperverletzung oder gar zu einer Tödtung gekommen iſt. Hier wird

bei Feſtſtellung der mildernden Umſtände die Zahl der zur Beachtung

kommenden thatſächlichen Momente eine weit geringere ſein, und es

dient ſchon zur Aufklärung, daß das Handeln im Affekt beſonders dazu

gerechnet iſt (§. 196).

d. Bei den direct gegen das Vermögen gerichteten Rechtsverletzun-

gen wird der verſchiedene Grad der Bosheit und Gefährlichkeit, welcher

ſich bei dem Thäter zeigt, ſo wie die Größe des Objekts von dem

Richter ganz beſonders ins Auge zu faſſen ſein, und es laſſen ſich in

beiden Beziehungen Fälle denken, wo ein Heruntergehen unter die an

ſich ſchon harten Strafen des Geſetzbuchs gegen Vermögensverletzungen

nothwendig erſcheint. Man bedenke nur, daß der civilrechtliche Dolus

unter Strafe geſtellt, daß für den Diebſtahl an ganz geringfügigen

Sachen kein beſonderer Satz in der Strafſkala gebildet, daß jede vor-

ſätzliche und rechtswidrige Beſchädigung fremder Sachen mit Gefängniß

bedroht iſt. In ſolchen Fällen iſt die Möglichkeit, mildernde Umſtände

zu berückſichtigen, für den Richter nur ein Erſatz dafür, daß aus den

höheren Gründen der Kriminalpolitik die gewöhnliche Strafe nicht zu

niedrig gegriffen werden durfte und eine Wahl zwiſchen mehreren ge-

ſetzlich feſtgeſtellten Strafarten in der Regel nicht zuläſſig erſchien.

Mußte nämlich eines Theils bei Verbrechen die Vermittlung des Wahr-

ſpruchs der Geſchworenen nothwendig feſtgehalten werden, ſo konnte bei

3 *

[36/0046]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

den Vergehen der bezeichneten Art eine bloße Geldbuße nicht als die

angemeſſene geſetzliche Strafe erſcheinen, nicht einmal in Konkurrenz mit

der Gefängnißſtrafe, wie dieß bei anderen leichteren Delikten vorkommt.

§. VIII.

Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

Nur die freie Handlung des Menſchen, zu der er durch ſeinen

Willen beſtimmt worden, kann ihm als eine ſtrafbare zugerechnet wer-

den; wegen eines reinen Zufalls wird niemand zur Verantwortung

gezogen. Aber freilich iſt die Frage: ob ein Ereigniß Folge eines Zu-

falls geweſen oder durch die Handlung eines Menſchen hervorgerufen

worden, oft ſchwer zu entſcheiden, und dann iſt nicht jede Handlung

eine ſolche, daß ſie als eine freie, mit Bewußtſein begangene dem Thäter

zugerechnet werden kann. Welche Gründe nun als geeignet gelten

können, eine an ſich rechtswidrige Handlung mit Rückſicht auf die be-

ſtimmte Perſon, die ſie begangen, und auf die beſonderen Verhältniſſe,

unter denen ſie begangen worden, der Anwendung des Strafgeſetzes zu

entziehen, — darüber wird ſpäter bei dem vierten Titel des erſten Theils,

wo von der Zurechnung im Allgemeinen zu handeln iſt, eine Erörterung

ſtatt finden. Die gegenwärtige Ausführung hat es mit der Frage zu

thun, in welcher Beziehung der Wille zur That ſtehen muß, damit ſie

— die freie Selbſtbeſtimmung vorausgeſetzt, — als eine ſolche aufge-

faßt werden kann, gegen welche das Strafgeſetz gerichtet und zur An-

wendung zu bringen iſt.

Es liegt jedoch außer dem Plane dieſes Werkes, über den Begriff

der Verſchuldung und ihre Abſtufungen in dolus und culpa hier auf

allgemeine Erörterungen einzugehen; c) nur das ſoll gezeigt werden, wie

das Geſetzbuch zu dieſer Lehre ſich geſtellt hat, was um ſo unerläßlicher

iſt, da es ſich keineswegs negativ dagegen verhalten hat, obgleich bei

der letzten Redaktion darauf verzichtet worden iſt, durch allgemeine Be-

ſtimmungen das richterliche Ermeſſen zu leiten. Aber nicht allein die

einzelnen Vorſchriften des Geſetzbuchs, welche ſich auf Vorſatz, Fahr-

läſſigkeit u. ſ. w. beziehen, verlangen eine ſorgfältige Erwägung, ſon-

dern auch die Materialien verdienen berückſichtigt zu werden, da ſie

c) Sehr ſchöne Unterſuchungen hierüber ſo wie überhaupt über die allgemeinen

Lehren des Strafrechts finden ſich bei E. R. Köſtlin, Neue Reviſion der Grund-

begriffe des Criminalrechts. Tübingen 1845.

[37/0047]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

weſentlich dazu beitragen, den Standpunkt, welchen der Geſetzgeber zu

dieſer wichtigen Lehre eingenommen hat, zu bezeichnen.

Die Beſtimmungen des allgemeinen Landrechts über Vorſatz, Fahr-

läſſigkeit und Zufall (Th. II. Tit. 20. §. 26-38) wurden gleich beim

Anfange der Reviſion als ungenügend erkannt, und an deren Stelle in

den Entwurf von 1830 einige andere Vorſchriften aufgenommen, welche

auch in den beiden folgenden Entwürfen im Weſentlichen unverändert

ſtehen blieben. Sie lauten nach dem Entwurfe von 1836, wie folgt:

§. 45. „Ob ein Verbrechen vorſätzlich oder aus Fahrläſſigkeit

verübt worden, muß aus den Umſtänden beurtheilt werden.

§. 46. Die, aus einer verbrecheriſchen Handlung entſtandene

Rechtsverletzung wird dem Thäter, auch wenn er ſie nicht ausſchließlich

beabſichtigte, ſondern dieſe oder eine andere Rechtsverletzung bewirken

wollte, als eine vorſätzliche zugerechnet.

§. 47. Iſt aus einer Handlung eine größere Rechtsverletzung ent-

ſtanden, als der Verbrecher bewirken wollte; ſo iſt ihm, falls nicht bei

einzelnen Verbrechen das Gegentheil beſtimmt iſt, nur die beabſichtigte

Verletzung als eine vorſätzliche, die ohne ſeinen Willen entſtandene

größere aber nach Maaßgabe der Umſtände zugleich als eine fahrläſſige

zuzurechnen und die Strafe nach den Beſtimmungen über Zuſammen-

treffen der Verbrechen (§. 114) zuzumeſſen.

§. 48. Eine Handlung, welche, vorſätzlich verübt, Strafe nach

ſich zieht, wird, wenn dadurch keine Rechtsverletzung bezweckt wird,

ſondern ihr blos Fahrläſſigkeit zum Grunde lag, nur in den Fällen

geſtraft, in welchen das Geſetz dies ausdrücklich vorſchreibt.“

Bei der Berathung dieſes Entwurfs fand die Anſicht, daß man

überhaupt von der Aufſtellung ſolcher allgemeinen Regeln über Vorſatz

und Fahrläſſigkeit abſtehen, und dieſe Lehre der Doktrin überlaſſen möge,

keinen Anklang; d) die vorgeſchlagenen Beſtimmungen wurden vielmehr

im Allgemeinen gebilligt, und nur der §. 48. als bedenklich geſtrichen. e)

Man bezweckte alſo namentlich durch §. 45. die praesumptio doli zu

beſeitigen, welche in §. 369. der Kriminalordnung eine Stütze fand,

und ſtellte in §. 46. unter Hinzufügung einer Definition des Vorſatzes,

Beſtimmungen über den ſ. g. dolus indeterminatus, eventualis s. al-

ternativus, in §. 47. aber über die ſ. g. culpa dolo determinata auf.

d) Staatsraths-Protokolle, Sitzung vom 18. Jan. 1840.

e) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. I.

(Berlin 1839). S. 66-68. 75-77. — K. O. v. 9. Jan. 1843. a. a. O. III.

(Berlin 1843) a. E.

[38/0048]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

Dabei war man in der Staatsraths-Kommiſſion einverſtanden, daß zum

Weſen des dolus indeterminatus dreierlei gehöre, nämlich:

1) daß der Verbrecher eine ſtrafbare Handlung in der Abſicht un-

ternehmen will, dadurch eine Rechtsverletzung zuzufügen;

2) daß er dabei einſieht, daß aus dieſer Handlung auch eine andere

Rechtsverletzung entſtehen könne, und

3) daß er nun den Entſchluß faßt, die Handlung zu unternehmen,

damit entweder die eine oder die andere der von ihm als mög-

lich gedachten Rechtsverletzungen entſtehe.

Man entſchied ſich alſo dafür, daß der Thäter bei dem dolus in-

determinatus die entſtandene Rechtsverletzung beſtimmt, wenn auch nur

eventuell mitgewollt haben müſſe, und daß es nicht genüge, wenn er

ſich die Rechtsverletzung als Folge ſeiner Handlung als möglich habe

denken können, ſie aber nicht habe hervorbringen wollen. Doch fügte

man nachträglich noch eine allgemeine Vorſchrift über den Irrthum in

der Perſon oder in den Beweggründen hinzu. f) Daraus gingen für

den Entwurf von 1843 folgende Sätze hervor:

§. 51. „Ob ein Verbrechen vorſätzlich oder aus Fahrläſſigkeit

verübt worden, hat der Richter nach den Umſtänden zu ermeſſen.

§. 52. Als vorſätzlich verübt iſt das Verbrechen zu erachten, wenn

daſſelbe ſo erfolgt iſt, wie es in der Abſicht des Thäters gelegen hat.

Auch dann iſt das Verbrechen als ein vorſätzliches zuzurechnen,

wenn der eingetretene Erfolg zwar nicht zunächſt oder ausſchließlich

bezweckt war, aus den Umſtänden aber hervorgeht, daß ſolcher, für

den als möglich vorauszuſehenden Fall ſeines Eintritts, nicht außer

der Abſicht des Thäters gelegen hat.

Durch einen Irrthum in der Perſon des Verletzten, oder in den

Beweggründen wird der Vorſatz nicht ausgeſchloſſen.

§. 53. Iſt aus der Handlung ein Erfolg entſtanden, welcher

außer der Abſicht des Verbrechers lag, ſo iſt ihm, falls nicht bei ein-

zelnen Verbrechen ein anderes beſtimmt iſt, die That nur in Beziehung

auf den beabſichtigten Erfolg als eine vorſätzliche, in Beziehung auf

den ohne ſeinen Willen entſtandenen Erfolg aber, nach Bewandniß der

Umſtände, zugleich als eine fahrläſſige anzurechnen und die Strafe nach

den Beſtimmungen über das Zuſammentreffen von Verbrechen (§. 118

-122) abzumeſſen.“

Bei der wiederholten Prüfung dieſes Entwurfs war man Anfangs

geneigt, den §. 51 in das Einführungsgeſetz zu verweiſen, entſchloß ſich

f) a. a. O. II. (Berlin 1840). S. 188-90. — III. S. 553, 54.

[39/0049]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

aber ſpäter, denſelben an dieſer Stelle in einer etwas erweiterten Faſ-

ſung beizubehalten. Gegen den §. 52 waren aber in allen ſeinen Thei-

len die entſchiedenſten Bedenken erhoben worden. Den erſten Abſatz

hatten viele Monenten für überflüſſig erklärt oder doch die in demſelben

vorwaltende Vermiſchung der Begriffe von Vorſatz und Abſicht, ſo wie

die geforderte Uebereinſtimmung des Vorſatzes und des Erfolges geta-

delt. Der zweite Abſatz war ebenfalls nicht nur als entbehrlich an-

gegriffen, ſondern auch nach Inhalt und Form getadelt worden; man

beſorgte namentlich eine Verwirrung der Begriffe des Dolus und der

Culpa von der Wendung: „nicht außer der Abſicht“ und „für den als

möglich vorauszuſehenden Fall;“ es ſei zweifelhaft, ob man hier mehr

den ſ. g. dolus alternativus oder eventualis bezeichnet habe. Auch der

dritte Abſatz war als überflüſſig oder in ſeiner Allgemeinheit unrichtig

angefochten worden. Daß auf das Motiv des Vorſatzes nichts an-

komme, verſtehe ſich von ſelbſt, wolle man aber des Irrthums gedenken,

ſo ſei nicht bloß der Irrthum in der Perſon, ſondern auch der Irrthum

in der Sache, in den Mitteln oder in der Handlung ſelbſt zu berück-

ſichtigen, und jeder Verwirrung zwiſchen dem error in objecto und der

aberratio criminis (ictus) vorzubeugen. Statt Irrthum hätte es hier:

Verwechslung heißen müſſen. g)

In dem Miniſterium für die Geſetz-Reviſion wurde anerkannt, daß

die Definition zu Anfang des §. 52. verfehlt ſei und auch der Schluß-

ſatz als entbehrlich und in ſeiner Allgemeinheit zu weit gehend aufge-

geben werden müſſe. Dagegen glaubte man einer Vorſchrift über den

dolus indeterminatus nicht entbehren zu können, wenn auch die in dem

Entwurf gegebene nicht aufrecht zu halten ſei. Die verſchiedenen For-

men des techniſch ſ. g. dolus alternativus, eventualis und indetermi-

natus ſeien ihrem inneren Weſen nach gleichbedeutend. Beim dolus

alternativus habe der Thäter den einen oder den andern möglichen Er-

folg — keinen ausſchließend — beabſichtigt. Beim eventualis habe er

zunächſt nur den Einen Erfolg im Auge gehabt, auf einen möglichen

andern Erfolg es aber gleichwohl auch ankommen laſſen. Bei dem

vorzugsweiſe ſ. g. dolus indeterminatus endlich habe er eine Rechts-

verletzung vornehmen wollen, die verſchiedene mögliche Folgen haben

konnte, und er ſei einverſtanden mit jedem dieſer möglichen Erfolge

geweſen, ohne irgend einen derſelben klar zu denken und zu wollen,

aber indem er, unbekümmert um den Erfolg, alles auf ſich genommen,

g) Reviſion des Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. I.

S. 127, 128.

[40/0050]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

habe er von ſelbſt auch in den ſchwerſten Erfolg eingewilligt. In allen

dieſen Fällen alſo, die eigentlich nur durch äußerliche Nüancen ver-

ſchieden ſeien, liege voller ſtrafbarer Dolus vor. Nur ſtehen dolus al-

ternativus und eventualis in ihrer Nüancirung eigentlich noch näher

an dem dolus directus, als der vorzugsweiſe ſ. g. indeterminatus. h)

Auf dieſe Erwägungen wurde der Vorſchlag geſtützt, einen Titel

von dem Vorſatze in folgender Faſſung aufzunehmen:

§. 41. „Ein Verbrechen iſt als ein vorſätzliches anzuſehen, nicht

nur in dem Falle, wenn der Wille des Handelnden ausſchließlich auf

den eingetretenen geſetzwidrigen Erfolg gerichtet war, ſondern auch dann,

wenn der Handelnde dieſen Erfolg als einen von mehreren möglichen

Erfolgen bezweckte, ſelbſt wenn er den einen oder den anderen derſelben

vorzugsweiſe bewirken wollte. — Nicht minder iſt das Verbrechen als

ein vorſätzliches anzuſehen, wenn der Wille des Handelnden auf eine

unbeſtimmte Rechtsverletzung gerichtet war, inſofern dieſelbe nach dem

allgemeinen oder dem Thäter beſonders bekannten Laufe der Dinge, von

der Gefahr des wirklich eingetretenen Erfolges begleitet wurde.“ i)

Zur Unterſtützung dieſes Vorſchlags wurde denn noch hinzugefügt,

daß die Definition des dolus directus mehr vorausgeſetzt als dispoſitiv

aufgeſtellt worden; ſie diene nur zur Unterlage für die darin bezeichne-

ten, dem dolus directus verwandten Begriffe, welche beide (im Gegen-

ſatze zum indeterminatus) beſtimmte Gedanken und Abſichten in ſich

ſchließen. Charakteriſirt aber ſei dabei der Vorſatz durch die Richtung

des Willens auf den eingetretenen geſetzwidrigen Erfolg. — In dem

zweiten Abſatz habe man zur Bezeichnung des dolus indeterminatus

eine mehr objektive und weniger hypothetiſche Faſſung gewählt, wie

früher. Das Charakteriſtiſche ſei dabei zunächſt die Richtung des Wil-

lens auf eine unbeſtimmte Rechtsverletzung, ein Moment, welches kei-

nesweges bloß bei dem Todtſchlage, wie man wohl angenommen habe,

ſondern auch bei der Brandſtiftung und anderen gemeingefährlichen Ver-

brechen hervortreten könne. Die Handlung ſelbſt, das was der Thäter

an dem Objekt thue, möge hierbei immer etwas Beſtimmtes ſein; die

Rechtsverletzung, auf welche ſich der Wille richte, ſei an ſich unbeſtimmt.

Dieſe Rechtsverletzung müſſe aber demnächſt im Verhältniſſe zu ihrem

wirklich eingetretenen Erfolge aufgefaßt werden. k)

h) a. a. O. S. 129.

i) Revidirter Entwurf des Strafgeſetzbuchs für die Preuß. Staa-

ten. Vorgelegt von dem Miniſterium der Geſetz-Reviſion (Berlin 1845). §. 41.

k) Reviſion des Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. I.

S. 129, 130.

[41/0051]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

Während alſo der §. 52. des Entwurfs von 1843. in veränderter

Faſſung aufrecht erhalten wurde, ließ man im Miniſterium für die

Geſetz-Reviſion den §. 53. Ganz fallen. „Er ſagt eigentlich nichts, als:

Vorſatz und Fahrläſſigkeit ſind ſtrafbar, ſoweit ſie vorhanden ſind. Das

Geſetzbuch thut genug, wenn es den Umfang des ſtrafbaren Dolus er-

ſchöpfend angiebt. Die Gleichſtellung des dolus indeterminatus mit

dem direkten Dolus verſteht ſich nicht von ſelbſt, ſondern iſt im Geſetz

poſitiv auszuſprechen. Will man dagegen auch von der culpa dolo

determinata im Geſetzbuche ſprechen, ſo muß man konſequent die ganze

doktrinelle Behandlung des Dolus und der Culpa mit hineinziehen.

Wenn ſich aber der §. 53 in den Fällen, auf welche er unbedenklich

angewendet werden kann, von ſelbſt verſteht, ſo kann er umgekehrt in

den Fällen, in welchen er ſich nicht von ſelbſt verſteht, zu bedenklichen

Anwendungen, ja zu einer Verwirrung der Grenzen zwiſchen der culpa

dolo determinata und dem dolus indeterminatus führen.“ l)

In Beziehung auf den §. 53 erklärte man ſich in der Staats-

raths-Kommiſſion mit dieſen Ausführungen einverſtanden, aber man

ging noch weiter, und verlangte auch die Fortlaſſung des an die Stelle

von §. 52. getretenen §. 41. des revidirten Entwurfs. Namentlich be-

merkte der Juſtizminiſter Uhden: Jeder bisherige Verſuch, die verwik-

kelte und ſchwierige Lehre vom dolus in die Form des Geſetzes zu

faſſen, ſei geſcheitert. Die Faſſung, welche gegenwärtig vorliege, ſei

die vierte, und es ſtehe dahin, ob ſie alle Ausſtellungen beſeitige und

als eine gelungene zu betrachten ſei. Der §. 41 habe eine rein doktri-

nelle Bedeutung; er enthalte nichts als eine Begriffsbeſtimmung, eine

Definition. Solche Sätze müſſe der Geſetzgeber aus der Wiſſenſchaft

vorausſetzen, und in ihrer Fortbildung der Doktrin überlaſſen, welche

der Richter ſeiner Seits zu Rathe ziehe. Gerade der vorliegende Ge-

genſtand ſei ein Punkt, wo es das Angemeſſenſte ſei, auf das Ermeſſen

und den geſunden praktiſchen Verſtand des Richters zu vertrauen. Je

mehr man es verſuche, das Arbitrium des Richters durch Spezial-

beſtimmungen zu feſſeln, um ſo weniger werde dieß bei der vielſeitigen

Auslegung, deren ſolche komplizirte Vorſchriften fähig ſeien, gelingen.

Zwar wurde hierauf von dem Juſtizminiſter v. Savigny erwie-

dert, die Vorſchrift des §. 41. ſei nicht lediglich eine Frage der Doktrin,

vielmehr habe ſie den Zweck, die in der Wiſſenſchaft und Praxis ſtrei-

tigen Fragen über den dolus alternativus, eventualis und indetermi-

natus zu entſcheiden. Allein die Majorität der Kommiſſion beſchloß,

l) a. a. O. S. 131.

[42/0052]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

den §. 41. fortfallen zu laſſen, m) und ſo beſtand in dem Entwurf von

1847. der Tit. III. Th. I. von dem Vorſatze und der Fahrläſſigkeit, nur

aus folgender Beſtimmung.

§. 39. „Ob eine Handlung vorſätzlich verübt worden, imgleichen

ob eine nicht vorſätzlich verübte Handlung als eine fahrläſſige dem

Handelnden zugerechnet werden könne, iſt nach freiem Ermeſſen aus den

Umſtänden zu beurtheilen.“

Dieſe Vorſchrift war zunächſt gegen die Präſumtion der Kriminal-

Ordnung gerichtet worden, und ward in dem vereinigten ſtändiſchen

Ausſchuß auch nur von dieſem Standpunkte aus vertheidigt; n) mit dem

veränderten Strafrechtsverfahren und dem Aufgeben der früheren Be-

weistheorie verlor ſie daher auch ihre Bedeutung, und der ganze Titel

war mit dem §. 39. aus dem Entwurf von 1850. verſchwunden. Auch

die Kommiſſion der zweiten ſowohl wie der erſten Kammer erklärten

ſich damit einverſtanden, daß über den Vorſatz und die Fahrläſſigkeit

keine allgemeinen Beſtimmungen in das Strafgeſetzbuch aufgenommen

würden, o) was demnach auch nicht geſchehen iſt.

In der Kommiſſion der zweiten Kammer kam es über die Grund-

ſätze, welche nach dem Strafgeſetzbuch über die Zurechnung der rechts-

widrigen Willensbeſtimmung gelten ſollen, zu wiederholten Erörterungen.

In den Fällen z. B., wo die Verbreitung unzüchtiger und beleidigender

Schriften unter Strafe geſtellt iſt (§. 151 und 152), war man darüber

einverſtanden, daß abgeſehen von beſonderen, die bloß formale Verant-

wortlichkeit betreffenden Beſtimmungen der Preßgeſetzgebung — nach

den allgemeinen Grundſätzen des Strafrechts, die auch hier ihre An-

wendung fänden, die Strafbarkeit von der Kenntniß des Inhalts der

Schrift abhängig ſei und daß dieſe aus den Umſtänden entnommen

werden müſſe. Es wurde daher nicht für nöthig gehalten, deshalb eine

beſondere Vorſchrift hinzuzufügen. p Ebenſo war man der Anſicht, daß

die härtere Strafe, welche auf die Hehlerei geſetzt iſt, wenn die Sachen

m) Verhandlungen der Kommiſſion des Staatsraths über den rev.

Entwurf des Strafgeſetzbuchs (Berlin 1846). S. 31, 32.

n) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. II.

S. 346, 347.

o) Bericht der Kommiſſion der II. Kammer am Schluß des erſten Ti-

tels. — Bericht der Kommiſſion der I. Kammer an demſelben Orte; ſ. Ver-

handlungen der I. und II. Kammer über die Entwürfe des Strafgeſetzbuchs u. ſ. w.

(Berlin 1851). S. 74, 75, 450.

p Kommiſſionsbericht der II. Kammer a. a. O. S. 129. 130.

[43/0053]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

von einem Raube oder einem andern ſchweren Verbrechen herrühren,

nur dann angewandt werden könne, wenn der Hehler von dieſer Qua-

lifikation gewußt habe, und hauptſächlich aus dieſem Grunde hielt man

es für nothwendig, den §. 34. der Regierungsvorlage, welcher dieß nicht

ausgeſprochen hatte, ſeinem Inhalte nach aufzulöſen und zu einem be-

ſonderen Titel umzuarbeiten (§. 237-40). q) Um in dieſer Hinſicht

keinen Zweifel über die Abſicht des Geſetzbuchs aufkommen zu laſſen,

beſchloß die Kommiſſion im Einverſtändniß mit dem Kommiſſar des

Juſtizminiſteriums, aus dem Entwurf von 1847. eine allgemeine Be-

ſtimmung aufzunehmen, welche in der Regierungsvorlage als ſich von

ſelbſt verſtehend weggelaſſen war, und daher aus jenem Entwurfe den

§. 60. in etwas veränderter Faſſung als §. 44. wiederherzuſtellen.

„Es giebt,“ heißt es hierüber im Kommiſſionsbericht, „gewiſſe

Handlungen, welche nicht unter allen Umſtänden ſtrafbar ſind, ſondern

den Charakter eines Verbrechens oder Vergehens nur dann annehmen,

wenn ſie unter beſonderen Umſtänden begangen worden oder wenn in

der Perſon des Thäters oder desjenigen, auf welche ſich die That be-

zieht, beſondere Eigenſchaften oder Beziehungen vorhanden ſind, wie dieß

z. B. beim Ehebruch und Inzeſt der Fall iſt. — Waren dem Thäter

dieſe beſonderen Umſtände, Eigenſchaften und Beziehungen nicht bekannt,

ſo hat er das, was den Thatbeſtand des Verbrechens ausmacht, nicht

gewollt; ein ſtrafbarer Vorſatz war nicht vorhanden. Es kann daher

gerechterweiſe auch keine Beſtrafung eintreten. Aehnlich verhält es ſich

in den Fällen, wo die Handlung zwar jedenfalls ſtrafbar iſt, ihre

Strafbarkeit aber durch ſolche beſonderen Umſtände, Eigenſchaften oder

Beziehungen erhöht wird. Hier kann das, was nicht im Vorſatze des

Thäters lag, ebenfalls nicht beſtraft werden. Dieſe Grundſätze laſſen

ſich zwar auch ohne eine ausdrückliche Beſtimmung aus der ganzen

Theorie des Strafrechts deduziren. Die Kommiſſion hält es indeſſen

doch für richtiger, dieſelben nach dem Vorgang anderer Geſetzbücher

ausdrücklich auszuſprechen.“ r)

Bei dieſer Anſchauungsweiſe mußte es in der Kommiſſion zum

Gegenſtande reiflicher Erwägung gemacht werden, als von dem Vertreter

der Regierung vorgeſchlagen wurde, die Theilnehmer an einer Schlägerei,

q) a. a. O. S. 156. Die Kommiſſion (heißt es hier in Beziehung auf §. 34

der Regierungsvorlage), findet dieſe Beſtimmung weder mit den Grundprincipien des

Strafrechts überhaupt noch mit denen des Entwurfs vereinbar; nach ihrer Anſicht

muß vielmehr, wenn das Hauptverbrechen unter beſonders erſchwerenden Umſtänden

begangen iſt, die Anwendung der dadurch verwirkten Strafe auf den Hehler, durch

deſſen Wiſſenſchaft von dieſen beſonderen Verhältniſſen bedingt ſein.

r) a. a. O. S. 78.

[44/0054]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

bei welcher eine Tödtung oder ſchwere Körperverletzung ſtattgefunden

habe, ſchon wegen dieſer Theilnahme mit einer Gefängnißſtrafe nicht

unter drei Monaten zu belegen. Man hob hervor, daß es den allge-

meinen Grundſätzen des Strafrechts widerſpreche, jemanden für etwas

Anderes verantwortlich zu machen, als was ihm als Erfolg ſeiner

Handlung nachgewieſen werden könne, und wenn dem auch entgegen-

geſetzt ward, daß eben die Beſtrafung einer ſolchen qualificirten Schlä-

gerei als eines ſelbſtändigen Vergehens (homicidium in turba com-

missum) ſich wohl rechtfertigen laſſe, ſo entſchied doch zuletzt haupt-

ſächlich das von dem Regierungskommiſſar nach amtlichen Ausweiſen

als dringend dargethane Bedürfniß für die Annahme der Beſtimmung.

Man war aber darin einverſtanden, daß hier von einer Theilnahme an

einer Tödtung oder ſchweren Körperverletzung nicht die Rede ſein dürfe,

wenn nicht die allgemeinen Grundſätze des Strafrechts und das Syſtem

dieſes Geſetzbuchs verletzt werden ſollten, und in dieſem Sinne iſt auch

der §. 195 gefaßt worden. s)

Im Allgemeinen unterſcheidet nun das Strafgeſetzbuch bei den

Verbrechen und Vergehen (von den Uebertretungen wird ſpäter in

der Einleitung zum dritten Theile beſonders gehandelt werden), ob ſie

mit Vorſatz oder aus Fahrläſſigkeit begangen ſind, was beſtimmt

bei denjenigen hervortritt, welche je nachdem das Eine oder das Andere

der Fall iſt, mit einer verſchiedenen Strafe bedroht ſind, wie die Töd-

tung, die Körperverletzung, die Brandſtiftung, Ueberſchwemmung u. ſ. w.

Doch reicht die Entwicklung dieſes Gegenſatzes nicht aus, um alle

Momente, welche hierbei in Betracht kommen, gehörig zu bezeichnen,

wenn auch ein näheres Eingehen in die Grundſätze des Strafgeſetzbuchs

über die Verſchuldung und deren verſchiedene Grade an die Unterſuchung

jener Begriffe ſich anknüpfen läßt.

I. Der Vorſatz.

Mit dem Ausdruck: vorſätzlich bezeichnet das Strafgeſetz diejenige

Willensbeſtimmung, welche auf die Verübung einer als Verbrechen oder

Vergehen unter Strafe geſtellten Handlung gerichtet iſt, t) und hebt da-

durch den Unterſchied von derjenigen Handlungsweiſe hervor, welche

möglicher Weiſe auch unter eine Strafbeſtimmung fallen kann, aber nur

weil die vom Geſetze geforderte Vorſicht (die obligatio ad diligentiam)

s) a. a. O. S. 142, 143.

t) S. §. 71, 85, 94, 95, 106, 107, 111, 113, 131, 138, 171, 180, 181,

183, 187, 189, 191, 192, 194, 197, 203, 246, 272, 285-87, 290-92, 294,

296, 297, 301-4, 308, 314, 316, 320, 322, 330.

[45/0055]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

außer Acht gelaſſen war. Der Vorſatz iſt daher immer der poſitiv böſe

Wille, mag nun damit die Abſicht verbunden ſein, ſich ſelbſt einen Vor-

theil zu verſchaffen, oder einem Andern zu ſchaden, oder Muthwille

(luxuria) als der Grund der Handlung ſich herausſtellen, wie das nament-

lich bei dem Beſchädigen oder Zerſtören fremder Sachen nicht ſelten der

Fall iſt. Jedoch iſt nicht bei allen Verbrechen und Vergehen, bei denen

eine doloſe Willensbeſtimmung ein nothwendiges Erforderniß iſt, be-

ſonders hervorgehoben worden, daß ſie vorſätzlich begangen ſein müſſen;

zuweilen iſt dieß als ſich von ſelbſt verſtehend vorausgeſetzt, zuweilen

iſt ein anderer, für den beſonderen Fall mehr bezeichnender Ausdruck

gewählt, zuweilen endlich zu dem „vorſätzlich“ noch eine genauere Begriffs-

beſtimmung erläuternd hinzugefügt worden.

a.Gewiſſe Verbrechen und Vergehen laſſen ſich nur als doloſe

denken, ſo daß eine beſondere Bezeichnung dafür ganz überflüſſig wäre.

Dahin gehören, von dem Verſuch einmal ganz abgeſehen, der Hochver-

rath, die Majeſtätsbeleidigung und überhaupt die Beleidigung, die Flei-

ſchesverbrechen, der Menſchenraub, die Entführung, die Fälſchung, der

Diebſtahl, die Unterſchlagung, der Raub und die Erpreſſung, der Betrug.

Im Allgemeinen ſind dieß ſolche Verbrechen oder Vergehen, welche in

einer beſtimmten Abſicht begangen werden, was entweder als ein ſich

von ſelbſt verſtehendes Merkmal vorausgeſetzt, oder bei der Aufſtellung

des Begriffs ausdrücklich angeführt wird. u) Es kommt alſo nicht bloß

darauf an, daß die Handlung vorſätzlich begangen wurde, ſondern auch

darauf, daß ein beſtimmter Zweck damit erreicht werden ſollte. v) Das

ſtellt ſich denn zuweilen ſo, daß der Grad der Verſchuldung ſich nach

der bei demſelben Verbrechen hervortretenden verſchiedenen Abſicht des

Thäters richtet, wie bei der Tödtung in der Ausführung eines Verbre-

chens oder Vergehens, im Gegenſatz zu dem einfachen Todtſchlage, und

bei der Ueberſchwemmung (§. 176. 178. 290-92).

b.Aehnlich wie bei den an ſich doloſen Verbrechen und Vergehen

verhält es ſich da, wo zur Bezeichnung einer ſtrafbaren Handlung Aus-

drücke gebraucht ſind, welche auf die bloße Fahrläſſigkeit nicht bezogen

werden können, und ſchon ohne weiteren Zuſatz den doloſen Charakter

der Handlung andeuten. Dahin ſind Ausdrücke zu rechnen wie: an-

u) S. §. 154, 158, 215, 230, 234, 241, 244, 247, 248, 256, 259, 279, 321.

v) An die über den nächſten Zweck der Handlung hinausgehende Abſicht, ob

z. B. jemand ſtiehlt, um ſeine Schulden bezahlen zu können, iſt hier nicht zu denken.

— In einem allgemeineren Sinn, als oben angeführt worden, iſt §. 93 der Ausdruck

böswillig, in böswilliger Abſicht gebraucht worden.

[46/0056]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

reizen, verleiten, verführen, falſche Entſchuldigung, falſche Anzeige, un-

terſchieden, ausſetzen, läſtern, verſpotten. w)

c.Statt vorſätzlich iſt zuweilen der Ausdruck wiſſentlich,

wiſſend, wider beſſeres Wiſſen gebraucht worden, weil eben der

Umſtand, daß jemand von gewiſſen Thatſachen unterrichtet iſt, und er

deſſenungeachtet eine beſtimmte Handlung unternimmt, dieſe zu einer

doloſen und deswegen zu einer ſtrafbaren macht. Solche Bezeichnungen

finden ſich bei der Theilnahme und der Begünſtigung, bei dem Landes-

verrath, dem Meineid und den verwandten Verbrechen, der Bigamie,

der Hehlerei, dem Gebrauch falſcher Urkunden, Maaße und Gewichte. x)

d.In zwei Fällen iſt der Ausdruck vorſätzlich zur Bezeichnung

einer doloſen Handlung nicht für ausreichend gehalten worden, weil zum

Begriff des Verbrechens ein beſonderes Merkmal gehört, welches in der

eigenthümlichen Form der Willensbeſtimmung zu ſuchen iſt. Bei dem

Morde nämlich muß zu dem Vorſätzlichen der Handlung noch die Ue-

berlegung (die Prämeditation) hinzutreten, wodurch er eben von dem

Todtſchlage ſich unterſcheidet (§. 175, 176); und dem entſprechend iſt

auch die Mißhandlung und Körperverletzung qualificirt worden, wenn

ſie mit Ueberlegung verübt wird (§. 190), während umgekehrt der Affekt

(impetus) genau für dieſelben Fälle als geſetzlicher Milderungsgrund

anerkannt iſt (§. 177, 196).

e.Iſt eine Handlung an ſich nicht nothwendig ſtrafbar, auch

wenn ſie vorſätzlich begangen worden, ſondern muß noch durch die be-

ſonderen Umſtände die Rechtswidrigkeit hinzukommen, ſo iſt der Aus-

druck: vorſätzlich und rechtswidrig oder unbefugt gewählt. So

bei dem Einſperren eines Menſchen und der Verhaftung, bei dem Ein-

dringen in die Wohnung, der Eröffnung fremder Briefe, der Beſchädi-

gung fremder Sachen. y) Es wird hier alſo die Begehung einer ſolchen

Rechtswidrigkeit aus Fahrläſſigkeit beſtimmt ausgeſchloſſen, aber es kann

nach der Faſſung des Geſetzes zweifelhaft ſein, ob unter Vorſatz hier

ſchlechthin die auf die Vornahme der Handlung gerichtete Willensbeſtim-

mung verſtanden wird, oder ob das Bewußtſein der Rechtswidrigkeit

(des Unrechts) noch hinzukommen muß. Nach dem Begriff des ſtraf-

baren Dolus iſt das Letztere im Allgemeinen anzunehmen, nur daß auch

hier die verſchiedenen Grade der Verſchuldung, namentlich in Beziehung

auf Muthwillen oder frevelhaften Uebermuth (Iuxuria), ihre Berückſichti-

w) S. §. 36, 87, 88, 100, 109, 114, 132, 135, 138, 145, 149, 183.

x) S. §. 34, 37, 69, 125-27, 129, 130, 133, 139, 237, 238, 243, 249,

252-54, 257, 269, 326, 330.

y) S. §. 210, 211, 214, 280-83, 317, 318.

[47/0057]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

gung finden müſſen. Es wird dieſe Frage ſpäter bei der Betrachtung

der einzelnen Verbrechen und Vergehen wieder aufzunehmen ſein.

Ueberblickt man dieſe aus dem Strafgeſetzbuch hervorgehobenen Mo-

mente, welche auf die Behandlung der Lehre vom Dolus von Einfluß

ſind, ſo ergiebt ſich, daß daſſelbe im Allgemeinen von dem Begriff des

Dolus, wie er ſich in der Strafrechtswiſſenſchaft ausgebildet hat, aus-

geht; daß es denſelben aber nach der beſonderen Natur der verſchiedenen

Verbrechen und Vergehen in konkreter Weiſe zu beſtimmen ſucht, und in

dieſem Sinne auch die bezeichnenden Ausdrücke wählt, ohne ſich unbe-

dingt an die hergebrachte Terminologie zu binden.

II. Die Fahrläſſigkeit.

Konnte der Dolus oben als der poſitiv böſe Wille bezeichnet wer-

den, ſo ſtellt ſich die Fahrläſſigkeit, das Verſehen, die Kulpa als der

negativ böſe Wille dar: man will kein Unrecht thun, aber man wendet

auch nicht die Sorgfalt an, welche erforderlich iſt, um ſeine Handlun-

gen in Uebereinſtimmung mit dem Geſetze zu erhalten. Weil aber im

Allgemeinen eine Handlung an und für ſich und ohne Rückſicht auf die

ihr zum Grunde liegende Willensbeſtimmung nicht unter Strafe geſtellt

wird, ſo ſetzt die Ahndung einer Fahrläſſigkeit nothwendig voraus, nicht

bloß, daß ein Strafgeſetz beſteht, welches die Handlung als Verbrechen

oder Vergehen qualifizirt, ſondern auch die Beſtimmung, daß ſelbſt die

fahrläſſige Begehung deſſelben geſtraft werden ſoll. In dieſem Sinne

hatten die früheren Entwürfe eine Vorſchrift aufgenommen, welche in

dem von 1836 ſo gefaßt iſt:

§. 53. „Eine Handlung, welche, vorſätzlich verübt, Strafe nach

ſich zieht, wird, wenn dadurch keine Rechtsverletzung bezweckt wird, ſon-

dern ihr blos Fahrläſſigkeit zum Grunde lag, nur in den Fällen geſtraft,

in welchen das Geſetz dies ausdrücklich vorſchreibt.“

Dieſe Beſtimmung iſt bereits in dem Entwurfe von 1843. wegge-

blieben, und auch bei der ſpäteren Reviſion hat man ſich gegen die

Wiederherſtellung derſelben entſchieden, obgleich viele Monenten nach

dem Vorgange anderer deutſchen Strafgeſetzbücher ſich dafür ausgeſpro-

chen hatten. z) Man erwog nämlich, daß für diejenigen Verbrechen und

Vergehen, welche ausdrücklich als doloſe bezeichnet ſind oder ihrer Na-

z) Herrmann, S. 491 ff. — Temme, I. S. 36. — Abegg, S. 141. —

Jenaer Beitrag, S. 13 ff. — Schwarze, S. 10. — Zacharia, S. 46 ff. —

Schüler, S. 47-51. — Martin, S. 129-35. Vergl. Sächſ. Strafgeſetzb.

Art. 42. — Braunſchw. §. 26, 29. — Würtemb. Art. 58. — Heſſiſch.

Art. 57. — Bad. Entw. §. 90.

[48/0058]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

tur nach nur ſo aufgefaßt werden können, die Ausſchließung der fahrläſ-

ſigen Begehung für die Beſtrafung gar nicht nöthig ſei, und auf dieſe

beziehe ſich doch zunächſt eine ſolche Vorſchrift, wie der angeführte §. 53.

ſie enthalte. Dagegen gebe es manche Strafbeſtimmungen, bei denen

es auf den Vorſatz gar nicht ankomme und eine bloße Unterlaſſung

zum Thatbeſtande gehöre, oder eine gewiſſe Handlungsweiſe ohne Rück-

ſicht auf die Willesbeſtimmung geahndet werden ſolle. Nähme man

nun eine ſolche allgemeine Beſtimmung, wie die angeführte, in das

Strafgeſetzbuch auf, ſo würde man die zuletzt bezeichneten Fälle der Ge-

fahr einer unrichtigen Behandlung ausetzen. a) — Dem hätte ſich nun

freilich vorbeugen laſſen, wenn auch hier die Strafbarkeit der fahrläſſt-

gen Handlungsweiſe in jedem Falle beſonders hervorgehoben wäre; aber

zu dieſem Auskunftsmittel, welches die Redaktion allerdings ſchwerfällig

gemacht hätte, hat man nicht greifen wollen, und auch in dem Straf-

geſetzbuch ſelbſt muß man daher diejenigen Verbrechen und Vergehen,

welche, auch wenn ſie aus Fahrläſſigkeit begangen ſind, beſtraft werden

ſollen, nach den angegebenen Kategorien aufſuchen und bezeichnen.

a.In manchen Fällen iſt die fahrläſſige Handlung ausdrücklich

unter Strafe geſtellt worden. So bei der Entweichung eines Gefange-

nen, dem Meineide, der Tödtung, der Körperverletzung, bei Verſehen

in Ausübung eines Amtes, eines Berufs und eines Gewerbes, ſo wie

bei den meiſten gemeingefährlichen Verbrechen oder Vergehen. b)

b.Wo eine gewiſſe Handlung unter einer Strafandrohung vorge-

ſchrieben worden, da iſt im Allgemeinen anzunehmen, daß die Unterlaſſung

derſelben, auch wenn ſie nur aus Fahrläſſigkeit ſtatt fand, beſtraft wer-

den ſoll, z. B. die unterlaſſene Anzeige gewiſſer Verbrechen; S. §. 39,

112, 118.

c.So wie der gewählte Ausdruck in gewiſſen Fällen auf den

doloſen Charakter einer ſtrafbaren Handlung hinweiſt, ſo liegt darin auch

zuweilen die Abſicht ausgeſprochen, daß die Fahrläſſigkeit unter der

Strafandrohung mit begriffen iſt; oder es ergiebt ſich aus der Natur

der Sache, daß es auf eine beſtimmte doloſe Willensrichtung bei der

unter Strafe geſtellten Handlungsweiſe nicht ankommt. Dahin gehö-

ren die Beſtimmungen über das Verhalten beim Auflauf, die eigenmäch-

tige Vornahme einer Handlung, zu der es der Erlaubniß oder doch des

Vorwiſſens einer Behörde bedarf, ferner die Beſtimmungen über das

a) Reviſion des Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. (Berlin,

1845.) I. S. 122-26.

b) S. §. 95, 132, 184, 198, 201-3, 288, 293, 295, 298, 301-4, 308, 322.

[49/0059]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

Vagabondiren, den liederlichen Lebenswandel, über die Verleumdung,

den einfachen Bankerutt. c)

d.Die Fahrläſſigkeit wird auch dann beſtraft, wenn das Rechts-

widrige der Handlung darin liegt, daß etwas vorgenommen wird, wozu

jemand nicht befugt iſt, und alſo der Eingriff in die fremde Rechts-

ſphäre der Grund der Strafandrohung iſt, ſtatt deren nach römiſchem

Recht regelmäßig die actio injuriarum in ihrem weiteren Sinne zur

Anwendung kommen würde. d)

Das Princip, welches bei der Beſtrafung fahrläſſiger Handlungen

im Geſetzbuch befolgt worden iſt, läßt ſich nicht auf ein einzelnes Mo-

ment zurückführen, ſondern iſt aus verſchiedenen Erwägungen hervor-

gegangen. Einmal kann die fahrläſſige Handlung eine ſolche ſein, daß

ſie aus höheren Gründen der ſtrafenden Gerechtigkeit geahndet werden

muß, was namentlich dann der Fall iſt, wenn ſchon die Wichtigkeit

des verletzten Rechtes den negativ böſen Willen beſonders auszeichnet,

und die ſchweren Folgen des Verſehens — Tödtung eines Menſchen,

Brand, Ueberſchwemmung — die Strafbarkeit deſſelben begründen. In

ſolchen Fällen iſt die fahrläſſige Handlung neben der doloſen ausdrück-

lich unter Strafe geſtellt worden. Außerdem aber ſind in dem Geſetz-

buch auch außer den bloßen Uebertretungen manche Handlungen mit

Strafe bedroht, nicht ſowohl, weil ſie an ſich beſonders ſtrafwürdig

erſcheinen, ſondern vorzugsweiſe aus Rückſichten der polizeilichen Vor-

beugung und Aufſicht. Gerade hierauf beziehen ſich zunächſt die oben

aufgeführten Strafbeſtimmungen wegen fahrläſſiger Handlungen. Der

Richter darf aber in zweifelhaften Fällen nicht vergeſſen, daß das Straf-

recht regelmäßig den Dolus vorausſetzt, damit eine Handlung als Ver-

brechen oder Vergehen beſtraft werden kann.

Steht es aber auch feſt, wann überhaupt die Fahrläſſigkeit beſtraft

werden ſoll, ſo bleibt doch noch die weitere Frage zu erledigen, welchen

Grad des Verſehens das Geſetzbuch vorausſetzt, um die Beſtrafung

eintreten zu laſſen. Dieß iſt um ſo wichtiger zu wiſſen, da die Grenze

zwiſchen dem Zufall und dem Verſehen eine ſehr unſichere iſt, und auch

nach der andern Seite hin, dem Dolus gegenüber, der Unterſchied oft

leichter im Begriff als bei der Beurtheilung des beſonderen Falles feſt-

zuſtellen iſt. e) Das Strafgeſetzbuch kommt nun aber dem Verſtändniß

c) S. §. 92, 110, 115-17, 119, 156, 186, 261, 264, 268, 278, 306, 307.

d) S. §. 97, 104, 105, 137, 155, 265, 273, 274.

e) Selbſt in den älteſten deutſchen Rechtsquellen kommen über dieſe Fragen

ſchon Kontroverſen vor; f. Wilda, das Strafrecht der Germanen. (Halle, 1842.)

S. 587.

Beſeler Kommentar. 4

[50/0060]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

nicht dadurch zur Hülfe, daß es, wie das Rheiniſche Recht, f) gewiſſe

Anhaltspunkte der Beurtheilung in Beiſpielen giebt, um den Begriff der

Fahrläſſigkeit zur praktiſchen Anſchauung zu bringen. Die im Jahre

1847. bei der Berathung des Strafgeſetzbuchs hinzugezogenen Rheiniſchen

Juriſten wünſchten, namentlich im Intereſſe der Geſchworenen, eine ge-

nauere Beſtimmung in dieſem Sinne; der von ihnen eingereichte Vor-

ſchlag ward aber in der Staatsraths-Kommiſſion theils für überflüſſig,

theils für bedenklich erachtet, und fand keine Billigung. g) Auch enthält

das Geſetzbuch in der That einige Andeutungen, welche darthun, daß es

weder das ganz geringe, ſchwer zu vermeidende Verſehen, noch umge-

kehrt bloß die grobe Fahrläſſigkeit beſtraft wiſſen will. Dieß ergiebt

ſich namentlich aus den Stellen, wo die Fahrläſſigkeit überhaupt und

diejenige, welche durch Vernachläſſigung beſonderer Amts- und Berufs-

pflichten begangen wird, ſich einander gegenübergeſtellt finden. Bei der

fahrläſſigen Tödtung wird im Allgemeinen angenommen, daß der Thäter Auf-

merkſamkeit oder Vorſicht aus den Augen geſetzt haben müſſe, und wenn

er dazu beſonders verpflichtet war, trifft ihn eine Verſchärfung der Strafe;

aber eben das Amt, der Beruf oder das Gewerbe legen auch Pflichten

der Vorſorge auf, deren Vernachläſſigung Anderen, die ſich nicht in ei-

nem ſolchen Verhältniß befinden, nicht angerechnet wird. h)

Ueber dieſe Stellung der Fahrläſſigkeit im Strafgeſetzbuch, na-

mentlich den Beſtimmungen des Allgemeinen Landrechts gegenüber, findet

ſich ein Gutachten des Juſtizminiſters v. Savigny vom 11. März

1846, veranlaßt durch die Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion,

welches die Frage in einer ſo umfaſſenden und gründlichen Weiſe be-

handelt, daß eine vollſtändige Mittheilung deſſelben hier am Platze ſein

wird. i)

„Das Allgemeine Landrecht ſtellt im 3. Titel des I. Theils §§. 16

f) Code pénal art. 319. Quiconque, par maladresse, imprudence,

inattention, négligence ou inobservation des règlemens, aura commis invo-

lontairement un homicide, ou en aura involontairement été la cause, sera

puni etc.

g) Der Vorſchlag der Herren Jähnigen und Simons lautete: „In den Fäl-

len, in welchen das Strafgeſetzbuch wegen fahrläſſiger Vergehen Strafen beſtimmt,

ſoll auf dieſe erkannt werden, wenn die unvorſätzlich verübte Handlung oder Unter-

laſſung mit Nichtbeachtung beſtehender Verordnungen, Ungeſchicklichkeit, Unvorſichtigkeit

oder Nachläſſigkeit verbunden geweſen iſt.“ S. Fernere Verhandlungen der Kom-

miſſion des Staatsraths. (Berlin, 1847.) S. 35. 36. und Beilage S. 3 u. 20.

h) S. §. 184. vgl. mit §. 201-3. und §. 295.

i) S. Verhandlungen der Kommiſſion des Staatsraths über den

revid. Entwurf des Strafgeſetzbuchs. (Berlin, 1846.) S. 216-21.

[51/0061]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

bis 25. die allgemeinen Begriffe und Grundſätze über die culpa in fol-

gender Weiſe auf:“;

„Zuerſt werden, übereinſtimmend mit der damals im gemeinen

Recht allgemein angenommenen Lehre, drei Grade des Verſehens un-

terſchieden (§. 18-23.); hierauf folgt eine Vorſchrift über die Berück-

ſichtigung der Individualität des Handelnden (§§. 24. 25.).“

„Ueber die drei Grade des Verſehens finden ſich folgende Beſtim-

mungen:“

1)„„Grobes Verſehen heißt dasjenige, welches, bei gewöhnlichen

Fähigkeiten, ohne Anſtrengung der Aufmerkſamkeit vermieden

werden konnte (§. 20.). Die eigenthümliche Folge dieſes Grades beſteht

nur darin, daß derſelbe, in ſo fern es auf Schadenerſatz ankommt, dem

Vorſatz gleich beurtheilt werden ſoll““ (§. 19.).

2) „„Ein mäßiges Verſehen heißt dasjenige, welches bei einem

gewöhnlichen Grade von Aufmerkſamkeit vermieden werden

konnte““ (§. 20.).

„Für dieſen Grad wird folgende praktiſche Regel aufgeſtellt:“

„„Auch ein mäßiges Verſehen muß verantwortet wer-

den““ (§. 21.).

3) „„Geringes Verſehen iſt dasjenige, welches nur durch eine

ungewöhnliche Anſtrengung der Aufmerkſamkeit u. ſ. w. ver-

mieden werden konnte““ (§. 22.).

„Für dieſen letzten Grad gilt die Regel, daß derſelbe nur aus-

nahmsweiſe vertreten werden ſoll, nämlich nur da, wo es die Geſetze

beſonders vorſchreiben (§. 23.).

„Aus dieſer Zuſammenſtellung ergiebt es ſich ganz klar, daß das

mäßige Verſehen als der in der Regel zu beachtende Fall (als das

Verſehen ſchlechthin) angeſehen wird, anſtatt daß die beiden andern Grade

nur eine exceptionelle und vergleichungsweiſe untergeordnete Natur

haben.“

„Geſetzt nun, es wären im Strafrecht einzelne Verbrechen aus

Fahrläſſigkeit, ohne nähere Beſtimmung eines Grades, mit Strafe

bedroht, ſo würde, nach den oben entwickelten allgemeinen Begriffen und

Regeln, kein Richter im Zweifel ſein können, nicht nur die grobe, ſon-

dern auch die mäßige Fahrläſſigkeit zu beſtrafen, und er würde die zwi-

ſchen beiden eintretende natürliche Verſchiedenheit nur als einen Abmeſ-

ſungsgrund der Strafe behandeln. Dagegen würde er die geringe Fahr-

4*

[52/0062]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

läſſigkeit gar nicht beſtrafen, wo nicht ein beſonderes Geſetz auch dieſe

Beſtrafung ausdrücklich vorſchriebe.“

„Mit dieſer an ſich natürlichen Auffaſſung ſtimmen denn auch fol-

gende Stellen des Kriminalrechts (Th. II. Tit. 20.) überein.“

„In dem Abſchnitt von Verbrechen und Strafen überhaupt wird

geſagt, daß ein Verbrechen aus Fahrläſſigkeit ſtets anzunehmen

iſt, wenn der Handelnde die Folgen der Handlung bei gehöriger Auf-

merkſamkeit und Ueberlegung hätte vorausſehen können (§. 28.).

Dieſe Erklärung ſtimmt mit der oben angegebenen Erklärung des mä-

ßigen Verſehens (durch gewöhnlichen Grad der Aufmerkſamkeit zu

vermeiden) faſt wörtlich überein, und es liegt alſo darin die Vorſchrift,

daß der Richter ſchon das mäßige Verſehen, um ſo mehr alſo das grobe

Verſehen, als ſtrafbare Fahrläſſigkeit zu behandeln habe. Daß die Ver-

ſchiedenheit dieſer beiden Fälle in der Abmeſſung der Strafe beachtet

werden ſoll, ſagt der darauf folgende §. 29. — Daß nun in der That

die Sache auf dieſe natürliche und einfache Weiſe aufgefaßt war, wird

noch durch den Umſtand beſtätigt, daß am Schluß des §. 28. auf Th. I.

Tit. 3. §. 25. hingewieſen wird, welcher bei fahrläſſigen Verbrechen die

Berückſichtigung der Individualität des Handelnden vorſchreibt, während

die dieſem §. 25. vorhergehenden, von den drei Graden des Verſehens

handelnden Paragraphen nicht allegirt werden. Es lag alſo nicht in

Abſicht des Geſetzgebers, im Kriminalrecht von dieſer ſubtilen Unterſchei-

dung der drei Grade Gebrauch zu machen.“

„Dieſelbe Auffaſſung wird beſtätigt durch die Vorſchrift des §. 1558.

über die unvorſichtige Brandſtiftung, worin der Fall der Strafbarkeit in

folgenden Worten bezeichnet wird:

„„Wer außerdem durch Unvorſichtigkeit, oder Verabſäumung

der gewöhnlichen Sorgfalt, zum Entſtehen einer Feuers-

brunſt Anlaß giebt.““

„Auch dieſe Bezeichnung ſtimmt faſt buchſtäblich überein mit der

Erklärung des mäßigen Verſehens, welches bei einem gewöhnlichen

Grade von Aufmerkſamkeit vermieden werden konnte.“

„Dagegen iſt allerdings nicht zu leugnen, daß in den Geſetzen

über Tödtung und Körperverletzung mehrere Stellen enthalten ſind,

welche an der hier dargeſtellten Auffaſſung Zweifel erregen können.“

„Dahin gehört zuerſt folgende allgemeine Vorſchrift:

§. 511. „„Auch grobe Fahrläſſigkeit, wodurch jemand an Leib

und Leben beſchädigt worden, zieht Strafe nach ſich.““

„Damit ſtimmen überein die §§. 777. (aus grober Fahrläſſigkeit) und

780. (durch grobe Vernachläſſigung).“

[53/0063]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

„Aus dieſen Stellen könnte man, nach dem hier ſehr nahe liegen-

den argumentum a contrario folgern, daß die durch eine mäßige Fahr-

läſſigkeit, alſo durch Vernachläſſigung des gewöhnlichen Grades von

Aufmerkſamkeit, bewirkte Entleibung eines Menſchen ſtraflos bleiben

ſollte. Allein ein ſolches Privilegium für die gegen das Menſchenleben

bewieſene Gleichgültigkeit kann unmöglich in der Abſicht des Geſetz-

gebers gelegen haben. Vielmehr wird die Annahme deſſelben durch fol-

gende Gründe völlig widerlegt:“

1) „Die allgemeine Vorſchrift des §. 691. lautet ſo:

„„Ein jeder iſt ſchuldig, ſein Betragen ſo einzurichten, daß er we-

der durch Handlungen, noch Unterlaſſungen, Anderer Leben oder Ge-

ſundheit in Gefahr ſetze““ (dazu gehört doch gewiß die Beobachtung

des gewöhnlichen Grades von Aufmerkſamkeit).

2) „Die oben angeführte Vorſchrift des §. 1558. über die fahr-

läſſige Brandſtiftung, da man unmöglich annehmen kann, daß im All-

gemeinen die Gefährdung von Gebäuden durch ſtrengere Strafen ver-

hütet werden ſolle, als die Vernichtung des Menſchenlebens.“

3) „Die neben den oben angeführte Stellen von der groben Fahr-

läſſigkeit hinzugefügte Regel, daß die Strafabmeſſung nach dem Grade

der Fahrläſſigkeit geſchehen ſolle (§§. 778. 781.), welche Vorſchrift gar

keine Bedeutung hätte, wenn die unmittelbar vorher erwähnte Fahr-

läſſigkeit buchſtäblich, alſo von dem äußerſten denkbaren Grade der

Fahrläſſigkeit überhaupt, zu verſtehen wäre.“

„Aus allen dieſen Gründen iſt anzunehmen, daß die in den ange-

führten Stellen erwähnte grobe Fahrläſſigkeit nicht einen beſonders ho-

hen Grad der Fahrläſſigkeit bezeichnen ſoll, ſondern eben nur die ſtraf-

bare Fahrläſſigkeit überhaupt, ſo daß das Beiwort „grobe“ nur durch

die Abſicht veranlaßt worden ſein mag, die Fahrläſſigkeit in Beziehung

auf Menſchenleben als etwas ſehr Tadelnswerthes zu bezeichnen, durch

welche Annahme jenes Beiwort eine blos deklarative, nicht reſtriktive

Bedeutung erhält.“

„Dieſe Anſicht wird auch durch die Einſicht der Materialien des

Allgem. Landrechts völlig beſtätigt, aus welchen erhellt, daß in jenen

Stellen der Ausdruck „grobe Fahrläſſigkeit“ gar nicht in Folge

irgend einer beſonderen Ueberlegung über den Grad der ſtrafbaren Fahr-

läſſigkeit, ſondern überhaupt ohne irgend eine ſichtbare Abſicht gebraucht

worden iſt. Ich enthalte mich hierüber einer genaueren Ausführung,

da dieſer Punkt bereits ſehr gründlich und völlig erſchöpfend ſchon frü-

her behandelt worden iſt.

[54/0064]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

Motive zum Kriminal-Geſetzbuch. Berlin, 1829. Band 3.

S. 216-220.

Auch hat ſich durch jene Ausdrücke ſchwerlich jemals ein Richter

abhalten laſſen, denjenigen zu beſtrafen, welcher etwa bei dem Scheiben-

ſchießen durch Vernachläſſigung des gewöhnlichen Grades von

Sorgfalt einen Menſchen getödtet hat.“

„Dennoch iſt der Gebrauch des Ausdrucks „grobe Fahrläſſigkeit“

in den oben angeführten Stellen über die Tödtung und Körperverletzung

gewiß nicht zu loben, da die im 3. Tit. des I. Thl. gewählte Bezeich-

nung der drei Grade leicht das Mißverſtändniß herbeiführen konnte, als

ſollte die Entleibung durch mäßiges Verſehen ſtraflos bleiben.“

„Gegenwärtig entſteht nun die Frage, wie in dem neuen Straf-

geſetzbuch dafür geſorgt werden ſoll, daß die Verbrechen aus Fahrläſſig-

keit auf angemeſſene Weiſe, alſo weder zu ſtrenge, noch zu gelinde, be-

handelt werden. Nach der oben entwickelten Anſicht würde es zu gelinde

ſein, wenn man nur allein das grobe Verſehen (im Sinne des §. 18.

des Allg. Landrechts I. 3.), zu ſtrenge dagegen, wenn man auch ſelbſt

das geringe Verſehen beſtrafen wollte, durch welches letzte Verfahren

einem Jeden zugemuthet würde, ſtets eine ängſtliche, gewiß nicht wün-

ſchenswürdige Aufmerkſamkeit auf alle ſeine Handlungen zu verwenden.

Es wird jetzt vorzüglich dieſe letzte Abweichung von einem richtigen

Verfahren befürchtet, und dagegen ein beſonderer Schutz durch die Faſ-

ſung des neuen Geſetzes gewünſcht.“

„Nach meiner Ueberzeugung iſt es völlig hinreichend und gar kein

Mißbrauch zu befürchten, wenn blos von Fahrläſſigkeit ohne allen Zu-

ſatz geſprochen wird, ſo wie es in den bisherigen Entwürfen ohne Wi-

derſpruch geſchehen iſt. Auch ſelbſt der Umſtand, daß das Allg. Land-

recht bei der Tödtung von grober Fahrläſſigkeit ſpricht, kann nicht, wie

man befürchtet, die falſche Meinung erzeugen, das neue Strafgeſetz wolle

jetzt eine ſtrengere, als die bisher angewendete Behandlung der Fahr-

läſſigkeit herbeiführen, indem die Gerichte, wie ich glaube, jenen Ausdruck

auch bisher ſchon als bedeutungslos anzuſehen gewohnt waren. Daß

die eben erwähnte falſche Meinung über die Abſicht des neuen Straf-

geſetzbuchs entſtehen möchte, iſt um ſo weniger zu befürchten, als künf-

tig der Tit. 20. Th. II. des Allgem. Landrechts, worin allein die mög-

licherweiſe irreleitenden Ausdrücke vorkommen, aufgehoben werden wird,

während der 3. Tit. Th. I., welcher ganz den richtigen Geſichtspunkt

angiebt, auch ferner in Gültigkeit bleiben ſoll.“

[55/0065]

§. VIII. Vorſatz und Fahrläſſigkeit.

„Zur Unterſtützung meines Vorſchlags muß ich noch auf die gro-

ßen Uebelſtände aufmerkſam machen, welche jeder Verſuch einer nähe-

ren Beſtimmung mit ſich führen würde. Man könnte nämlich entweder

im Allgemeinen Theil, oder aber bei den einzelnen fahrläſſigen Verbre-

chen eine beſondere Vorſorge verſuchen.“

1) „Im Allgemeinen Theil die Fahrläſſigkeit näher zu beſtimmen

und zu begrenzen, würde als eine auffallende Inkonſequenz erſcheinen,

nachdem man durch die ſorgfältigſte Erwägung beſtimmt worden iſt,

die Natur des Vorſatzes im Geſetz zu übergehen und dem richterlichen

Ermeſſen zu überlaſſen, obgleich der Vorſatz, verglichen mit der Fahr-

läſſigkeit, an ſich viel wichtiger, und obgleich die Natur deſſelben grö-

ßeren Mißverſtändniſſen unterworfen iſt.“

2) „Es würde alſo nichts übrig bleiben, als eine nähere Beſtim-

mung der ſtrafbaren Fahrläſſigkeit in folgenden einzelnen Paragraphen

auszuſprechen:

§§. 126. 144. 158. 222. 237. 326. 327. 328. 329. 330. 332.

336. 341. k)

Ein ſolcher Zuſatz müßte in allen Paragraphen gleichglautend gemacht

werden, weil außerdem neue Zweifel entſtehen würden.“

„Ein geehrtes Mitglied der Kommiſſion hat vorgeſchlagen, in allen

dieſen Paragraphen zu ſetzen: grobe Fahrläſſigkeit. Dadurch aber

würde der übel gewählte Ausdruck des Allg. Landrechts ohne inneren

Grund perpetuirt, und es würde zur Verhütung einer zu ſtrengen Be-

handlung die Gefahr herbeigeführt werden, daß künftig der Richter bei

unbefangener und genauer Auffaſſung dieſes Ausdrucks eine zu gelinde

Behandlung der Fahrläſſigkeit eintreten laſſen möchte.“

„Für meinen Vorſchlag kann endlich auch noch das Beiſpiel der

neueren deutſchen Geſetzbücher angeführt werden. Kein einziges derſel-

ben giebt die grobe Fahrläſſigkeit als Bedingung der Strafbarkeit über-

haupt an, und ebenſo ſucht keines auf andere Weiſe zu verhüten, daß

der Richter in der Annahme ſtrafbarer Fahrläſſigkeit überhaupt zu

ſtrenge verfahren möge. Sie bezeichnen großentheils das Weſen der

ſtrafbaren Fahrläſſigkeit mit mehr oder weniger abwechſelnden, umſchrei-

benden Ausdrücken, welche gewiß weniger empfehlenswerth ſind, als der

überall gleichförmig durchgeführte Ausdruck: Fahrläſſigkeit.“

k) Dieſen Paragraphen des rev. Entwurfs von 1845. entſprechen die folgenden

des Strafgeſetzbuchs: §. 95, (§. 144. iſt nicht aufgenommen) 132, 184, 198, 308,

304, (§. 328. in veränderter Faſſung als §. 307. aufgenommen) 301, 303, 302,

293, 288.

[56/0066]

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.

„Folgende kurze Ueberſicht wird dieſe Behauptung beſtätigen und

anſchaulich machen.

Sachſen. Art. 127. „aus Nachläſſigkeit, Unvorſichtigkeit oder

Ungeſchicklichkeit.“ Ebenſo Art. 138. Endlich Art. 132. „nach

dem Verhältniſſe der größeren oder geringeren Fahrläſſigkeit.“

Württemberg. Art. 58. „aus Mangel an Aufmerkſamkeit oder

Ueberlegung.“ Art. 251. „durch Nachläſſigkeit, Unvorſichtig-

keit, Ungeſchicklichkeit.“ Aehnlich Art. 267.

Braunſchweig. §. 29. „aus Mangel an Aufmerkſamkeit oder

Ueberlegung.“ §. 161. „Unvorſichtigkeit, Ungeſchicklichkeit, Fahr-

läſſigkeit.“

Hannover. Art. 47-51. beſtimmen größere oder geringere Stra-

fen für die grobe und für die geringere Fahrläſſigkeit.

Heſſen. Art. 58. erklärt für die Fälle ausdrücklich verpönter

Fahrläſſigkeit nur diejenigen Handlungen für ſtraflos, wobei

„die gewöhnlich gehörige Aufmerkſamkeit und Vorſicht ange-

wendet worden iſt.“ Bei einzelnen Verbrechen wird dann ſtets

nur die Fahrläſſigkeit (ohne Zuſatz) erwähnt. Art. 255. 269.

279. 421.

l)

l) Vgl. Badiſches Strafgeſetzbuch. §. 101. — Thüringiſches Straf-

geſetzbuch Art. 30.

[[57]/0067]

Das Strafgeſetzbuch.

[[58]/0068]

[[59]/0069]

Einleitende Beſtimmungen.

§. 1.

Eine Handlung, welche die Geſetze mit der Todesſtrafe, mit Zuchthausſtrafe

oder mit Einſchließung von mehr als fünf Jahren bedrohen, iſt ein Ver-brechen.

Eine Handlung, welche die Geſetze mit Einſchließung bis zu fünf Jahren,

mit Gefängnißſtrafe von mehr als ſechs Wochen oder mit Geldbuße von mehr

als funfzig Thalern bedrohen, iſt ein Vergehen.

Eine Handlung, welche die Geſetze mit Gefängnißſtrafe bis zu ſechs Wochen

oder mit Geldbuße bis zu funfzig Thalern bedrohen, iſt eine Uebertretung.

Wenn man ſieht, ein wie lebhafter Kampf früher bei uns darüber

geführt worden iſt, ob dieſe Dreitheilung in das Strafgeſetzbuch aufzu-

nehmen ſei oder nicht, ſo kommt man leicht zu der Anſicht, daß ihr

eine größere Bedeutung beigelegt worden, als ihr eigentlich gebührt.

Daß zwiſchen den verſchiedenen ſtrafbaren Handlungen nach dem Grade

der Verſchuldung unterſchieden werden muß, iſt außer Zweifel, und daß

von dieſer größeren oder geringeren Verſchuldung die Strafbarkeit wie-

der im Weſentlichen bedingt iſt, kann eben ſo wenig in Abrede geſtellt

werden. Warum aber dieſe Eintheilung gerade nothwendig eine drei-

theilige ſein, und ſich genau nach einer beſtimmten im Geſetz vorge-

ſchriebenen Strafſkala richten muß, das ſcheint aus allgemeinen Gründen

kaum dargethan werden zu können. In der That handelte es ſich bei

jenem Streite auch weniger um den Werth der Dreitheilung im Allge-

meinen, als um die Inſtitution des Schwurgerichts, welche man in der

Rheinprovinz für bedroht, in den andern Theilen der Monarchie für

kaum erreichbar hielt, wenn nicht im Strafgeſetzbuch ſelbſt zwiſchen den

[60/0070]

Einleitende Beſtimmungen.

ſchweren und den minder ſchweren Verbrechen ſicher und genau unter-

ſchieden würde, ſo daß jene vor die Schwurgerichte, dieſe vor die ein-

fachen Kriminalgerichte verwieſen werden könnten. In dieſem Gegenſatze

lag das eigentliche Gewicht der Sache, während die Ausſcheidung der

Polizei-Uebertretungen nach der Kompetenz der zuſtändigen Behörden

von keiner Seite bedenklich gefunden wurde.

In Frankreich ſcheint man die innere, rechtsphiloſophiſche Begrün-

dung der Dreitheilung kaum verſucht zu haben; wenigſtens waren es

äußere Gründe der Zweckmäßigkeit, die zu ihrer Aufſtellung führten.

Schon Treilhard führte die Dreitheilung auf das Bedürfniß der Kom-

petenzbeſtimmung zurück, und ſpätere Juriſten ſprachen es unbefangen

aus, daß es ſich dabei nicht von einem Princip der Strafgeſetzgebung,

ſondern von einer Regel für die Feſtſtellung der Kompetenz handle. a)

Es iſt freilich einmal der Verſucht gemacht worden, die Vergehen von

den Verbrechen auch im Syſtem zu unterſcheiden, und ihnen wie den

Uebertretungen einen beſonderen Abſchnitt anzuweiſen. Aber dieſe im

Code pénal von 1791. durchgeführte Anordnung ließ ſich nicht aufrecht

halten, da es bei der Feſtſtellung des Strafmaaßes nicht allein auf die

Natur der ſtrafbaren Handlungen, ſondern noch auf manche andere,

durch Perſönlichkeit und Gegenſtand beſtimmte Momente ankommt, und

wenn dieſe im Syſtem nicht beachtet werden, es ſich nicht vermeiden

läßt, daß die zuſammengehörenden Lehren auseinandergeriſſen, die ein-

fachen Vergehen z. B. und die zum Verbrechen qualificirten Handlungen

derſelben Art an verſchiedenen Orten abgehandelt werden.

Der einzige allgemein begründete innere Unterſchied zwiſchen den

verſchiedenen ſtrafbaren Handlungen iſt darin zu ſuchen, ob die Strafe

eintritt, um den Anforderungen der Gerechtigkeit zu genügen, und die

Schuld des böſen Willens, der ſich der ſtaatlichen Rechtsordnung ent-

gegenſtellt, zu ahnden, oder ob ſie bloß verhängt wird, um die Aufgabe

der Polizei in ihrer Durchführung mit den Mitteln des Staats zu

ſichern. Aber für die ſyſtematiſche Anordnung eines Strafgeſetzbuchs

a) Ad.Chauvean et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. I.

chap. I. Il n'est pas besoin d'une étude bien approfondie du Code pénal

pour se convaincre que la division dont il s'agit est d'ordre plutôt que de

principe. En effet, les définitions qu'il pose, il ne tarde pas à les mettre

lui-même bientôt de coté. C'est ainsi que nous pourrions citer un grand

nombre de faits, tels que les associations non autorisées, les infractions

aux règles sur les inhumations, les maisons de jeu qui n'ont évidemment

que le caractère des contraventions, quoiqu'ils soient classés parmi les dé-

lits.Assurément le législateur n'a point prétendu imprimer à ces infractions

le caractère moral du délit, rien ne peut même faire supposer qu'il en ait

eu la pensée; ce qu'il a voulu c'est poser, ainsi qu'on l'a déjà dit une règle

d'ordre, un principe générateur de la compétence.

[61/0071]

§. 1. Die Dreitheilung.

kann auch dieſe Unterſcheidung nicht als beſtimmende Norm gelten.

Denn wollte man die Polizeiübertretungen in dieſem Sinne als einen

beſonderen Theil ausſcheiden, ſo würde man, auch wenn ſich die Grenze

zwiſchen denſelben und den Verbrechen im einzelnen Fall immer mit

Sicherheit ziehen ließe, doch zuweilen in die Verlegenheit gerathen, eine

und dieſelbe Handlung, je nachdem ſie eine vorſätzliche oder fahrläſſige iſt,

in verſchiedenen Theilen des Geſetzbuchs abhandeln zu müſſen; wollte man

aber die polizeilichen Strafvorſchriften ſtets in unmittelbare Verbindung

mit jeder Hauptlehre bringen, ſo würde eine Unklarheit des Syſtems

herauskommen, um derentwegen für das Allgemeine Landrecht eine Ab-

änderung ſo dringend nöthig erſchien. Im Allgemeinen läßt ſich aber

auch nicht in Abrede ſtellen, daß unter den wirklichen Verbrechen eine

Abſtufung zwiſchen den ſchweren und leichteren beſteht, welche durch den

verſchiedenen Grad der Verſchuldung beſtimmt wird, und nicht bloß bei

der geſetzlichen Feſtſtellung der Strafe zur Norm dient, ſondern auch in

der Meinung des Volkes ihre entſchiedene Würdigung findet. Gelänge

es nun einem Geſetzgeber, die Grenze, welche zwiſchen den ſchweren und

den leichteren Verbrechen hinläuft, mit feſter Hand gerecht und den

Volksanſichten entſprechend zu ziehen, ſo würde daraus ein wichtiger

Eintheilungsgrund zu entnehmen ſein, und es wäre auch gerechtfertigt,

den Unterſchied ſelbſt im Ausdruck anzugeben, und durch die Wahl einer

angemeſſeneren Bezeichnung, wenn dieſe ſich noch nicht vorfände, der

Beſtimmtheit des Rechtsbegriffs zu Hülfe zu kommen.

Geht man nun auf das Rechtsbewußtſein des Volkes zurück, um

die richtige Grenze zwiſchen den Verbrechen in ihrer verſchiedenen Ab-

ſtufung aufzufinden, ſo ſtellt ſich der Unterſchied, der zwiſchen entehren-

den und nicht entehrenden Handlungen gemacht wird, als beſonders

beachtungswerth dar. In der That iſt es auch die Abſicht unſerer Ge-

ſetzgebung geweſen, dieſen Unterſchied zum Theilungsgrund zwiſchen den

Verbrechen und den Vergehen zu machen, wie es denn nichts we-

niger als zufällig iſt, daß in die Frage, ob die Dreitheilung in das

Geſetzbuch aufzunehmen ſei, ſtets die andere mit hineingezogen wurde,

welche Ehrenſtrafen und von welchen Gerichten erkannt werden ſollten.

Ganz konſequent hat freilich jenes Princip nicht durchgeführt werden

können, die Todesſtrafe iſt nur ausnahmsweiſe entehrend, und die Ein-

ſchließung iſt es nie; auch hat das praktiſche Bedürfniß dazu genöthigt,

bei Vergehen die Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit

zuzulaſſen. Es bleibt ferner der Erwägung der Strafrechtspolitik an-

heimgegeben, ob einerſeits die Theorie der Ehrenſtrafen, welche das

Geſetzbuch aufgeſtellt hat, als gelungen angeſehen werden kann, anderer-

ſeits aber in der Anwendung der Zuchthausſtrafe, welche die gewöhnliche

[62/0072]

Einleitende Beſtimmungen.

Strafe für die Verbrechen iſt, das richtige Maaß gehalten und die

Schwere der Verſchuldung an ſich, das Intereſſe der Geſammtheit und

das Rechtsbewußtſein des Volkes in angemeſſener Weiſe dabei berück-

ſichtigt worden iſt. Sollte das Geſetzbuch in beiden Beziehungen ſeine

Aufgabe glücklich gelöſt haben, ſo würde die Unterſcheidung von ſchweren

und leichteren Verbrechen und die Bezeichnung der letzteren als Ver-

gehen gerechtfertigt ſein und auch in dem Rechtsbewußtſein und der

Vorſtellung des Volkes den erwarteten Anklang finden. Ausſtellungen

gegen die Durchführung im Einzelnen werden ſich freilich mit mehr

oder weniger Grund immer machen laſſen; denn Vollkommenes zu leiſten

wird keine Geſetzgebung wie überhaupt kein menſchliches Beſtreben im

Stande ſein.

Dieſe Erwägungen haben auch dahin geführt, daß ſchon während

der Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes die Staats-

regierung den Widerſpruch gegen die Aufnahme der Dreitheilung in das

Strafgeſetzbuch fallen ließ, und die vorberathende Abtheilung einſtimmig

ſich dafür ausſprach, im Plenum aber faſt die ganze Verſammlung ſich

dafür erhob. b)

Wenn nun aber dieſe Unterſcheidung der Verbrechen, Vergehen und

Uebertretungen ſich ſchon in der angegebenen Weiſe rechtfertigen läßt, ſo

bedarf es keiner weiteren Ausführung, daß ſie ihre rechte praktiſche Be-

deutung erſt durch die Beziehung auf die Kompetenzverhältniſſe der Ge-

richte bekommt. Im Allgemeinen läßt ſich freilich auch hier vom Stand-

punkt einer verneinenden Kritik einwenden, daß jede Strafe ein Uebel

und die auf Vergehen geſetzte unter Umſtänden ein ſehr großes Uebel

ſei, daß es daher nur willkührlich erſcheine, wenn man für die ſchweren

Strafen ausſchließlich die Garantien gewähren wolle, welche die allein

für Verbrechen zuſtändigen Schwurgerichtshöfe darbieten. Allein mit

demſelben Grunde könnte man für die Uebertretungen den Spruch von

Richterkollegien in Anſpruch nehmen, und darnach alle ſtrafbaren Hand-

lungen entweder vor die Aſſiſen oder vor die Einzelrichter verweiſen

wollen. Auch hier gilt die Regel, daß nur das Erreichbare anzuſtreben,

wenn es auch zu bedauern iſt, daß die Kompetenz der Schwurgerichts-

höfe nicht weiter, als geſchehen, hat ausgedehnt werden können. Eine

gewiſſe Begrenzung iſt aber unerläßlich; konnte doch ſchon nach altdeut-

ſchem Rechte die Garantie, welche im Grafengericht gefunden wurde,

nur für die Anklage um Verbrechen, deren Beſtrafung auf Leib, Leben

und unbewegliches Gut ging, gewährt werden, und auch in England

b) S. Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes I.

S. 113. — II. S. 97-116. 217. 467-69. 482.

[63/0073]

§. 1. Die Dreitheilung.

macht ſich das Bedürfniß geltend, die Kompetenz der Vierteljahrs-Siz-

zungen der Friedensrichter zu erweitern.

Die Zweckmäßigkeit der Dreitheilung für die Kompetenzbeſtim-

mung wird nun auch von ſolchen anerkannt, welche ihre Nothwen-

digkeit in Abrede ſtellen. c) Daß man ſich für die Schwurgerichte ohne

ſie behelfen kann, hat allerdings, wenn man ſonſt noch daran zweifeln

ſollte, die neuere Preußiſche Geſetzgebung gezeigt; d) aber wie ſehr die

Rechtsſicherheit gewinnt, wenn ſchon das materielle Strafrecht auf die

Gerichtsverfaſſung und das gerichtliche Verfahren Rückſicht nimmt, wird

die nächſte Zukunft bei uns zeigen. Für manche Verhältniſſe iſt es

außerdem noch von beſonderer Wichtigkeit, daß der ſtrafrechtliche Cha-

rakter der Handlungen, welche unter Verfolgung geſtellt ſind, durch das

rechtskräftige Urtheil, welches die Strafe auferlegt, beſtimmt wird. e)

Nach dieſer allgemeinen Erörterung über den Werth und die Be-

deutung der Dreitheilung können die einzelnen Punkte, welche dabei noch

beſonders zu erwägen ſind, in Betracht gezogen werden.

I. Das Strafmaaß, nach welchem ſich die Unterſcheidung der

Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen richtet, iſt im Strafgeſetzbuch

abweichend von den Beſtimmungen des Rheiniſchen Rechts und der

Verordnung vom 3. Jan. 1849. feſtgeſtellt worden. Doch iſt dieſe Ver-

ſchiedenheit hinſichtlich der Verbrechen im Grunde nur eine ſcheinbare

und auf keinen Fall ſo weſentlich, wie es auf den erſten Blick den An-

ſchein hat. Zwangsarbeit und Rekluſion, welche der Code pénal als zwei

Arten der entehrenden Strafen auseinander hält, fallen in der Wirklichkeit

doch bei uns zuſammen, da ſie in denſelben Strafanſtalten vollſtreckt

werden, und das Minimum der Zuchthausſtrafe von zwei Jahren, wel-

ches das Strafgeſetzbuch im Gegenſatz zu dem von fünf Jahren im

Rheiniſchen Recht, angenommen hat, ſtellt ſich weſentlich nur als eine

Milderung dar, da im Allgemeinen dieſelben Handlungen mit der Zucht-

hausſtrafe belegt ſind, welche das Rheiniſche Recht mit Zwangsarbeit und

Rekluſion bedroht. f) — In Beziehung auf die Verordnung vom 3. Jan.

1849. §. 60. welche diejenigen Verbrechen, die mit einer härteren als

dreijährigen Freiheitsſtrafe bedroht ſind, vor die Geſchworenen verweiſt,

c) (Ruppenthal) Bemerkungen über den Entwurf des Preußiſchen Strafge-

ſetzbuchs (Heidelberg 1843). S. 16.

d) V. O. vom 3. Jan. 1849. §. 27. 38. 60. — Einführungsgeſetz vom

14. April 1851. Art. VIII. IX.

e) Eine ſolche Bedeutung wie im Franzöſiſchen Recht, namentlich in Beziehung

auf die Beſtrafung des Rückfalls, hat dieſes Moment bei uns allerdings nicht; ſ.

Chauveau I. c. chap. II. in f.

f) Kommiſſionsbericht der zweiten Kammer, zu §. 1.

[64/0074]

Einleitende Beſtimmungen.

iſt zu bemerken, daß dieſe Freiheitsſtrafe nicht wie die Zuchthausſtrafe

des Geſetzbuchs nothwendig eine entehrende war.

Viel bedeutender iſt die Abweichung zwiſchen der Beſtimmung des

Strafgeſetzbuchs und des Rheiniſchen Rechts in Beziehung auf das

Strafmaaß bei den Uebertretungen. In der Kommiſſion der zweiten

Kammer wurde auch eine Ermäßigung deſſelben beantragt, indem man

die Höhe der Geldbuße wohl gelten laſſen, bei Freiheitsſtrafen die Kom-

petenz des Einzelrichters aber auf vier Wochen und nach einem andern

Antrage auf vierzehn Tage beſchränkt haben wollte. Die Kommiſſion

lehnte aber dieſe Anträge ab, aus Gründen, welche unten, §. 334, an-

gegeben werden ſollen. g) .

Die nähere Ausführung über den Einfluß der in §. 1. aufgeſtellten

Begriffsbeſtimmung auf die Kompetenzverhältniſſe, namentlich auch mit

Rückſicht auf die Vorſchriften der Verfaſſungsurkunde, Art. 94. und des

Geſetzes über die Preſſe vom 12. Mai 1851. §. 27. wird unten in dem

Kommentar über das Einführungsgeſetz ihren Platz finden. Nur das

ſei ſchon hier hervorgehoben, daß die Kommiſſion der zweiten Kammer

im Einverſtändniß mit dem Vertreter des Juſtizminiſters folgende Sätze

als maaßgebend für die Beurtheilung des §. 1 in ihrem Berichte auf-

geſtellt hat.

a. Daß diejenigen Handlungen, welche entweder mit den Stra-

fen der Verbrechen oder der Vergehen belegt werden können, der Form

des Verfahrens, welche für die Verfolgung der Verbrechen vorgeſchrieben

iſt, und diejenigen Handlungen, welche entweder mit den Strafen der

Vergehen oder der Uebertretungen belegt werden können, der Form

des Verfahrens, welche für die Verfolgung der Vergehen angeordnet iſt, un-

terworfen werden ſollen.

b. Daß bei denjenigen Handlungen, welche nach Beſchaffenheit

der Umſtände entweder mit Zuchthausſtrafe, alſo zugleich mit dem

Verluſte der bürgerlichen Ehre, oder mit einer nicht entehrenden Frei-

heitsſtrafe belegt werden können, von den Geſchworenen nicht nur darüber,

ob der Angeſchuldigte ſchuldig ſei oder nicht, ſondern auch darüber ent-

ſchieden werden müſſe, ob auf die entehrende oder die nicht entehrende

Strafe zu erkennen ſei. h)

II. Die Begriffsbeſtimmung, welche §. 1. über Verbrechen, Ver-

gehen und Uebertretungen aufſtellt, beruht nur auf der Anwendung der

Todesſtrafe, der Freiheitsſtrafen und der Geldbuße; die ſonſt noch im

g) Ebendaſelbſt zu §. 334-37. (§.305-7. des Entwurfs).

h) Ebendaſelbſt zu §. 1; ſ. Verhandlungen der erſten und zweiten

Kammer über das Strafgeſetzbuch (Berlin, 1851.). S. 55.

[65/0075]

§. 1. Die Dreitheilung.

Geſetzbuch vorkommenden Nebenſtrafen ſind dabei nicht in Betracht ge-

zogen worden. In der Kommiſſion der zweiten Kammer gab dieſer

Umſtand zu umfaſſenden Erörterungen Anlaß, indem von einer Seite

darauf gedrungen wurde, daß in Beziehung auf die Ehrenſtrafen eine

allgemeine Vorſchrift aufgenommen werde, welche es ausſpreche, daß,

abgeſehen von der Art und dem Maaße der Hauptſtrafe, jede Handlung,

welche mit dem Verluſte der bürgerlichen Ehre oder einzelner bürger-

lichen Ehrenrechte (der politiſchen Rechte) bedroht iſt, unbedingt als ein

Verbrechen, und jede Handlung, welche mit Unterſagung der Ausübung

der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit bedroht iſt, unbedingt als ein

Vergehen zu behandeln ſei. Zur Unterſtützung dieſes Vorſchlags ward

namentlich angeführt: in dem Verluſt oder der Schmälerung der bür-

gerlichen Ehre liege für den ehrenhaften Mann ein größeres Strafübel,

als in den — vielleicht mäßigen — Freiheits- oder Geldſtrafen. Dieſes

Bewußtſein, dieſe Auffaſſung müſſe die Geſetzgebung kräftigen und ver-

breiten, aber nicht abſtumpfen oder ſchwächen. Das Letztere thue ſie

aber, wenigſtens ſcheinbar, wenn ſie die Frage, ob eine Handlung zu

den Verbrechen oder zu den Vergehen gehöre, lediglich von der etwas

längeren oder kürzeren Dauer der Freiheitsſtrafe abhängig mache, und

dabei den Umſtand, ob mit dieſer Strafe eine Entziehung oder Schmä-

lerung der bürgerlichen Ehre verbunden ſei, als einen gleichgültigen

ganz außer Acht laſſe. Zwar ſei thatſächlich in dem vorliegenden Ent-

wurf das Princip befolgt, welches man ausgeſprochen wünſche; aber

es ſei eben nicht einerlei, ob ſich etwas als die im Geſetzbuch befolgte

Regel oder als einen leitenden Grundſatz hinſtelle, zu dem ſich der Ge-

ſetzgeber ausdrücklich bekannt habe. Von beſonderer Wichtigkeit ſei das

für etwa zu erlaſſende Spezialgeſetze, in denen man ſpäter nicht ſo leicht

ein ausdrücklich ausgeſprochenes Princip verletzen werde, wenn auch die

Neigung dazu vorhanden ſei, und für die einzelnen Strafgeſetze, welche

wenigſtens vorläufig noch neben dem Strafgeſetzbuch fortbeſtehen ſollten.

Dieſen Gründen ward aber von anderer Seite entgegengehalten,

daß es überflüſſig und für den Richter irreführend ſei, wenn ein Grund-

ſatz, der ſich nach dem Geſetzbuch von ſelbſt verſtehe, mit beſonderem

Nachdruck noch beſonders hervorgehoben werde. Der Verluſt der Ehre

trete, abgeſehen von der Todesſtrafe, eben nur als Folge der Zucht-

hausſtrafe ein, und auch der einzige Fall, in dem einzelne politiſche

Ehrenrechte abgeſprochen werden könnten (§. 63.), ſei durch die Haupt-

ſtrafe ſchon als ein Verbrechen qualifizirt. Die zeitige Unterſagung der

Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte komme aber nur bei Vergehen

vor. Das Princip alſo, welches man ausdrücklich aufgeſtellt haben

Beſeler Kommentar. 5

[66/0076]

Einleitende Beſtimmungen.

wolle, ſei in dem Entwurf nach deſſen ganzem Strafſyſteme ſo ſcharf

ausgeprägt, daß eine künftige Geſetzgebung es nicht wohl werde ver-

kennen können. Vereinigten ſich aber die drei Faktoren der Geſetzgebung

einmal darüber, es zu verlaſſen, ſo werde auch eine ausdrückliche Be-

ſtimmung des Strafgeſetzbuchs dieß nicht hindern können. Was aber die

einzelnen Strafgeſetze betreffe, die neben dem Geſetzbuch noch in Kraft

bleiben würden, ſo ſei in dem Einführungsgeſetz das Nöthige anzuord-

nen, um ſie mit den in §. 1. aufgeſtellten Vorſchriften in Einklang zu

bringen. Durch den beantragten Zuſatz werde dieß aber nicht erreicht,

da ſowohl das bisher geltende Syſtem der Freiheitsſtrafen als auch die

Grundſätze, nach welchen bisher in der Form der Aberkennung der Na-

tionalkokarde die Ehrenſtrafen ausgeſprochen worden, von denen des

Strafgeſetzbuchs weſentlich abwichen.

In Folge dieſer Erörterungen und nachdem man ſich darin ein-

verſtanden gezeigt hatte, das im Geſetzbuch befolgte Princip über die

Aberkennung der Ehrenrechte, ſoweit es bei der Kommiſſion ſtehe, kon-

ſequent aufrecht zu erhalten und auch im Einführungsgeſetz zur Geltung

zu bringen, wurde der Antrag auf eine Abänderung des §. 1. in dem

angegebenen Sinne abgelehnt. i)

III. In den älteren Entwürfen des Strafgeſetzbuchs findet ſich die

Beſtimmung, daß unter der Bezeichnung: Handlungen, auch die

Unterlaſſungen begriffen ſeien; ſo im Entwurf von 1836.

§. 7. „Die in dieſem Titel enthaltenen, allgemeinen Vorſchriften

über verbrecheriſche Handlungen gelten auch von verbrecheriſchen Unter-

laſſungen.“

Später ließ man dieſe Vorſchrift, die ſich übrigens in den meiſten

deutſchen Strafgeſetzbüchern findet, als ſich von ſelbſt verſtehend weg,

und auch der §. 1 ſpricht nur von Handlungen. In der Kommiſſion

der zweiten Kammer ward dieß zur Sprache gebracht, ohne daß man

eine Abänderung für nöthig hielt; auch in der Kommiſſion der erſten

Kammer hielt man die Faſſung für unverfänglich, indem man erwog,

daß die Beſtimmung des §. 1 nur die ſei, die Grenzen der Kompetenz

nach der Höhe der Strafen abzumeſſen, und daß auch an andern Stel-

len des Geſetzentwurfs der Ausdruck Handlung die entſprechende Unter-

laſſung mit bezeichne. k)

i) S. den Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O. S. 56-59.

k) S. Sitzungsprotokoll der Kommiſſion der zweiten Kammer

vom 10. Jan. 1851. sub Nr. V. — Bericht der Kommiſſion der erſten

Kammer zu §. 1.

[67/0077]

§. 2. Nulla poena sine lege.

§. 2.

Kein Verbrechen, kein Vergehen und keine Uebertretung kann mit einer

Strafe belegt werden, die nicht geſetzlich beſtimmt war, bevor die Handlung

begangen wurde.

Der Entwurf von 1847. hatte dieſe Vorſchrift in einer Faſſung,

welche derſelben einen etwas anderen Sinn gab. §. 7. nämlich lautete:

„Keine Handlung darf mit einer Strafe belegt werden, die nicht

ihrer Art und ihrem Maaße nach geſetzlich dafür beſtimmt iſt.“

Mit dieſen Worten war der Rechtsgrundſatz ausgeſprochen: nulla

poena sine lege, aber es war darin zugleich die Anſicht gewahrt, daß

eine Handlung nicht erſt durch die geſetzliche Strafe nothwendig zum

Verbrechen geſtempelt werde; daß nicht der Begriff, ſondern nur die

rechtliche Folge des Verbrechens von dem Ausſpruch des Geſetzes ab-

hänge. Nachdem aber §. 1. in das Geſetzbuch aufgenommen worden,

konnte eine ſo allgemeine Faſſung nicht wohl beibehalten werden. Ob

das kriminelle Unrecht an und für ſich unabhängig von einer Straf-

ſatzung iſt, war hier nicht zu entſcheiden; aber die beſtimmten Formen

deſſelben, welche das Geſetzbuch als Verbrechen, Vergehen und Ueber-

tretungen bezeichnet und mit denen die Strafgewalt des Staates es

allein zu thun hat, ſollen durch die ausdrückliche Strafandrohung des

Geſetzes bedingt ſein. Nur in dieſem Sinne ſtellt alſo der §. 2 den

Satz auf: nullum crimen sine lege. i)

Es liegt aber in der zuletzt gewählten Faſſung des Paragraphen

außer jenem Princip, welches ſchon in der Verfaſſungsurkunde Art. 8.

gewahrt iſt, noch ein anderes von nicht geringerer Bedeutung. Es ſoll

keine Strafe auferlegt werden, die nicht geſetzlich beſtimmt war, bevor

die Handlung begangen wurde. In dieſen Worten iſt das

Verbot der rückwirkenden Kraft der Strafgeſetze ausgeſpro-

chen, wovon nur dann zu Gunſten des Angeſchuldigten eine

Ausnahme eintritt, wenn das neuere Geſetz milder iſt als das ältere.

m)

Es genügt jedoch nicht, bei der Betrachtung des §. 2. nur die

beiden großen darin aufgeſtellten Rechtsgrundſätze im Allgemeinen her-

vorzuheben; der zuerſt bezeichnete bedarf vielmehr noch einer näheren

Erwägung.

i) Warum §. 2. in der jetzigen Faſſung nicht zu §. 1. paſſen ſollte, wie

Abegg (der Entwurf des Strafgeſetzbuchs. Halle 1851. S. 12) behauptet, läßt ſich

nicht wohl einſehen.

m) Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. IV. — Sehr feine kaſui-

ſtiſche Erörterungen über dieſe Frage finden ſich bei Chauveau et Hélie Fau-

stin, Théorie du Code pénal. I. chap. II. Ich gehe hier nicht näher darauf

ein, da Fragen dieſer Art mit Sicherheit nur an der Hand der ſich unter der Herr-

ſchaft des Strafgeſetzbuchs bildenden Praxis gelöſt werden können.

5 *

[68/0078]

Einleitende Beſtimmungen.

I. Wenn es heißt: „mit einer Strafe belegt werden, die nicht

geſetzlich beſtimmt war,“ — ſo bezieht ſich das nicht bloß auf die

Strafandrohung im Allgemeinen, die nur im Geſetze gültig geſchehen

kann, ſondern es wird dadurch auch für nothwendig erklärt, daß die

Strafe ihrer Art und ihrem Grade nach geſetzlich beſtimmt ſein muß. n)

Die unbeſtimmte Androhung einer willkührlichen Strafe würde alſo

künftig den Richter in Preußen nicht zur Verhängung einer Strafe be-

rechtigen, was übrigens ſchon deswegen nicht wohl anginge, weil dafür

ein nach den Beſtimmungen des Geſetzes kompetenter Richter fehlen

würde. In Beziehung auf die neben dem Strafgeſetzbuch fortbeſtehenden

Spezialgeſetze hat indeſſen das Einführungsgeſetz, Art. VIII. Vorſehung

getroffen, indem es die Fälle, wo eine willkührliche Strafe angedroht

iſt, zu den Uebertretungen rechnet.

II. Indem ein Straferkenntniß nur auf Grund des Geſetzes für

zuläſſig erklärt wird, iſt die Geltung jeder andern Rechtsquelle, nament-

lich des Gewohnheitsrechts, vom Gebiete der Strafrechtspflege ausge-

ſchloſſen. Daſſelbe gilt auch von der Autonomie, und nur wenn es

ſich von der Beſtrafung der Uebertretungen handelt, ſind die geſetzlich

erlaſſenen Verordnungen der Behörden den Geſetzen gleichgeſtellt; ſ. un-

ten §. 332.

III. Was die Auslegung der Strafgeſetze betrifft, ſo finden

hier die allgemeinen Grundſätze über die Auslegung der Geſetze ihre

Anwendung. Es kommt aber darauf an, den Sinn des Geſetzes feſt-

zuſtellen, damit es richtig angewandt werde, und zu dieſem Behuf iſt

auch für die Strafgeſetze die Auslegung als eine geiſtige Operation in

ihrer Freiheit anzuerkennen. Aber es ſoll eben nur der Sinn des Ge-

ſetzes hergeſtellt werden, der Ausleger hat ſich nicht auf den Standpunkt

des Geſetzgebers zu ſtellen, um deſſen Aufgabe zu übernehmen, und das

Geſetz zu verbeſſern oder zu ergänzen. Die Rechtsentwicklung aus

dem Grunde (der ratio) des Geſetzes, welche für das Civilrecht aller-

dings anzuerkennen iſt, kann da, wo es ſich um die Auferlegung einer

Strafe handelt, nach den Beſtimmungen des §. 2. als zuläſſig nicht

anerkannt werden. Ausgeſchloſſen iſt alſo die Analogie.

Nach dem gemeinen deutſchen Rechte ſtellt ſich allerdings die Sache

anders, wenngleich von den meiſten Rechtslehrern nur die Geſetzes-

analogie, die Anwendung eines Geſetzes auf andere, nicht darin ent-

haltene Fälle wegen Gleichheit des Grundes für das Strafrecht aner-

kannt, und dagegen die Rechtsanalogie, welche aus dem Geiſte des

ganzen Rechtsſyſtems einen übergegangenen Fall entſcheiden will, ver-

n) S. Motive zum Entwurf des Strafgeſetzbuchs von 1850. §. 2.

[69/0079]

§. 2. Nulla poena sine lege.

worfen wird. o) Auch unter den neueren deutſchen Strafgeſetzbüchern

haben manche die Geltung der Analogie anerkannt, p) während andere

mit der Auffaſſung unſeres Strafgeſetzbuchs übereinſtimmen, q) und die

Franzöſiſche Jurisprudenz über den gleichen Sinn des Code pénal kei-

nen Zweifel hat. r) Dieſer letztere Umſtand iſt um ſo wichtiger, da der

§. 2. unſeres Geſetzbuchs dem Art. 4 des franzöſiſchen offenbar genau

nachgebildet worden iſt. Indeſſen zeigen auch die Materialien, daß man

von jeher bei der Entwerfung des Strafgeſetzbuchs die Abſicht hatte,

die Anwendbarkeit der Analogie von demſelben auszuſchließen. In

dieſem Sinne enthalten ſchon die Motive zum erſten Entwurfe eine um-

faſſende Erörterung, s) und als ſpäter Bedenken geäußert waren, ob

nicht die Faſſung des betreffenden Artikels doch die Annahme zulaſſe,

daß die Analogie ſtattfinden könne, wählte man gerade aus dieſem

Grunde einen noch beſtimmteren Ausdruck. t)

In der That beruht die Anſicht, welche auch für ein Strafgeſetz-

buch die Analogie nicht glaubt entbehren zu können, im Weſentlichen

auf der kleinlichen Sorge, daß doch möglicher Weiſe eine ſtrafwürdige

Handlung von dem Geſetzgeber könne überſehen ſein. Statt ſich dieſer

Gefahr auszuſetzen, die, wenn ſie überhaupt in Betracht kommt, durch

eine Novelle leicht zu beſeitigen iſt, greift man zu einem für das Straf-

recht ſehr bedenklichen Rüſtzeug der früheren Jurisprudenz, welche im

Allgemeinen nur auf die Rechtseinſicht der Juriſten Rückſicht nahm, und

dieſen ausſchließlich die Auslegung der Geſetze zuwies, — und opfert

o) Vergl. überhaupt Wächter, Lehrbuch des Römiſch-Teutſchen Strafrechts.

I. §. 41.

p) Braunſchw. Criminalgeſetzbuch §. 4. „Die Vorſchriften dieſes Ge-

ſetzes ſind auf ſolche Handlungen oder Unterlaſſungen anzuwenden, welche entweder

nach den Worten oder nach dem Sinne oder nach dem Grunde der einzelnen Beſtim-

mungen derſelben, als darin unzweifelhaft enthalten, anzuſehen ſind.“ — Württemb.

Strafgeſetzbuch Art. I. — Sächſiſches Criminalgeſetzb. Art. I.; vgl. dazu

den Kommentar von Weiß (2. Aufl. Dresden und Leipzig 1848.). S. 36-44.

q) Heſſiſches Strafgeſetzbuch Art. I. „Nur diejenigen Handlungen oder

Unterlaſſungen werden als Verbrechen oder Vergehen beſtraft, welche vorher durch das

Geſetz mit Strafe bedroht ſind.“ — Bad. Strafgeſetzb. §. 1.

r) Code pénal art. 4. Nulle contravention, nul délit, nul crime, ne

peuvent être punis de peines qui n'étaient pas prononcées par la loi avant

qu'ils fussent commis. cf. Chauveau et Hélie Faustin I. c. chap. II.

s) Motive zu dem von dem Reviſor vorgelegten erſten Entwurf I.

(Berlin 1827.). S. 15. 16.

t) Statt der früheren Faſſung: „mit einer andern als mit der geſetzlich dafür

beſtimmten Strafe oder Strafart“ ſagte man: „mit einer Strafe, die nicht ihrer

Art und ihrem Maaße nach geſetzlich dafür beſtimmt iſt.“ S. Reviſion des

Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. I. S. 20. 21. — Mit der im

Text entwickelten Anſicht über die Unzuläſſigkeit der Analogie nach dem Strafgeſetz-

buch ſtimmt auch überein Abegg, der Entwurf des Strafgeſetzbuchs (Halle 1851.).

S. 13.

[70/0080]

Einleitende Beſtimmungen.

gerade eine der wohlthätigſten Folge der Kodifikation, — die Rechts-

ſicherheit auf.

§. 3.

Die Preußiſchen Strafgeſetze finden Anwendung auf alle in Preußen be-

gangene Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen, auch wenn der Thäter ein

Ausländer iſt.

§. 4.

Wegen der im Auslande begangenen Verbrechen und Vergehen findet in

Preußen in der Regel keine Verfolgung und Beſtrafung ſtatt.

Jedoch kann in Preußen nach Preußiſchen Strafgeſetzen verfolgt und be-

ſtraft werden:

1) ein Ausländer, welcher im Auslande gegen Preußen eine in dieſem

Strafgeſetzbuche als eine hochverrätheriſche oder als eine Majeſtätsbe-

leidigung bezeichnete Handlung oder ein Münzverbrechen begangen hat;

2) ein Preuße, welcher im Auslande gegen Preußen eine hochverrätheriſche

oder eine landesverrätheriſche Handlung, eine Majeſtätsbeleidigung oder

ein Münzverbrechen begangen hat;

3) ein Preuße, welcher im Auslande eine Handlung begangen hat, welche

nach Preußiſchen Geſetzen als ein Verbrechen oder ein Vergehen beſtraft

wird, und auch durch die Geſetze des Orts, wo ſie begangen wurde,

mit Strafe bedroht iſt. Die Verfolgung und Beſtrafung bleibt jedoch

in dieſem Falle ausgeſchloſſen, wenn von den Gerichten des Auslandes

über die Handlung rechtskräftig erkannt und die etwa ausgeſprochene

Strafe vollzogen oder durch Begnadigung erlaſſen iſt.

Uebertretungen, die im Auslande begangen werden, ſollen in Preußen nur

dann beſtraft werden, wenn dies durch beſondere Geſetze oder Staatsverträge

angeordnet iſt.

Wenn in Beziehung auf die Geſetzgebung eines beſtimmten Staates

die örtlichen Grenzen ihrer Anwendung bezeichnet werden ſollen, ſo pflegt

man den allgemeinen Satz voran zu ſtellen, daß gegenwärtig nicht mehr

das Princip des Perſonalrechts, wie im Mittelalter, gelte, ſondern

daß das Princip des Territorialrechts an deſſen Stelle getreten ſei.

Im Allgemeinen bezeichnet dieſer Gegenſatz nun auch ganz richtig die

veränderten Verhältniſſe. Denn während im Mittelalter, wo der Be-

griff des Staates das Gemeinweſen noch nicht mit Alles beherrſchender

Kraft durchdrungen hatte, das Recht des Individuums auch inſofern

mehr anerkannt wurde, daß für den Einzelnen regelmäßig nicht das

Recht ſeines Wohnorts, ſondern das ſeiner Herkunft (ſein National-

recht) zur Anwendung kam; ſo iſt in der neueren Zeit der Grundſatz immer

konſequenter ausgebildet worden, daß das Recht eines ſouveränen Staa-

tes ausſchließlich für die ganze Bevölkerung und das ganze Gebiet ſo

wie für alle Handlungen und Rechtsgeſchäfte gilt, welche im Bereiche

[71/0081]

§§. 3. 4. Anwendung der Strafgeſetze.

der Staatsgewalt vorgenommen werden, und daß die Gerichte auf die

Anwendung dieſes Landesrechts verpflichtet ſind. u)

Dieß Princip der Territorialität reicht jedoch nicht aus, um in

allen Fällen, wo es ſich um die mögliche Kolliſion inländiſcher und

fremder Geſetze handelt, die Regel für die Entſcheidung zu geben. Der

einzelne Staat iſt nicht iſolirt hingeſtellt, und kann ſich nicht ausſchließ-

lich darauf beſchränken, ſein Recht nur inſoweit wahrzunehmen, als es

ſich um die Herrſchaft des Geſetzes innerhalb ſeines Gebietes handelt;

er muß ſein Intereſſe auch nach außen hin vertreten, und kann nament-

lich gegen das, was ſeine Unterthanen in der Fremde thun, ſich nicht

immer gleichgültig verhalten. Auf der andern Seite iſt nicht zu über-

ſehen, daß jeder civiliſirte Staat mit andern in internationalen Bezie-

hungen ſteht, und daß dadurch wechſelſeitige Anſprüche und Rückſichten

hervorgerufen werden, deren Anerkennung freilich von äußeren Umſtänden

abhängen kann und regelmäßig durch die Gegenſeitigkeit bedingt iſt,

deren willkührliche Verletzung aber als ein Bruch des Völkerrechts zu

betrachten ſein würde.

Für das Privatrecht ſind nun gewiſſe Regeln, welche das Princip

der Territorialität beſchränken, allgemein als gültig anerkannt worden,

und die Frage, nach welchen Geſetzen die Rechtsfähigkeit und die Fa-

milienverhältniſſe einer Perſon, die Formen und die materiellen Wir-

kungen der Rechtsgeſchäfte u. ſ. w. zu beurtheilen ſind, kann der Richter

nicht dadurch beſeitigen, daß er ſich einfach für gebunden an das Recht

ſeines Landes erklärt. Auch für das Strafrecht können ſchwierige

Kolliſionsfälle eintreten, ſowohl in Beziehung auf die Frage, nach wel-

chem Recht geſtraft werden, als auf die Frage, ob überhaupt die Ver-

folgung und Beſtrafung einer Handlung ſtattfinden ſoll. Hier aber iſt

das Staatsintereſſe meiſtens viel unmittelbarer betheiligt, als bei Pri-

vatrechtsverhältniſſen, und die Feſtſtellung einer allgemeinen völkerrecht-

lichen Uebung darum auch weſentlich erſchwert worden. Von der

Geſetzgebung des einzelnen Staates iſt daher zu erwarten, daß ſie für

alle Betheiligten die Normen aufſtellt, welche ſie angewandt wiſſen will.

Die Vorarbeiten zum Strafgeſetzbuch enthalten über dieſe Lehre

ein außerordentlich reiches Material; es iſt kaum ein anderer Gegen-

ſtand gründlicher und umfaſſender erörtert worden. Namentlich ſind

die Verhandlungen des Staatsraths tief in die Sache eingedrungen,

und wenn auch die gefaßten Beſchlüſſe im weiteren Gange der Reviſion

u) S. G. Beſeler, Syſtem des gemeinen deutſchen Privatrechts I. §. 38. —

Zu der dort angeführten Literatur iſt nun hinzuzufügen: v. Savigny, Syſtem des

heutigen Röm. Rechts. Band 8.

[72/0082]

Einleitende Beſtimmungen.

nicht immer aufrecht erhalten worden ſind, ſo haben doch die Gründe

der ſpäteren Abänderungen in jenen Verhandlungen ſchon durchweg ihre

Ausführung und Vertretung gefunden. v) Die Monita gegen den nach

den Beſchlüſſen des Staatsraths redigirten Entwurf von 1843. ſind in

der Reviſionsſchrift von 1845. zuſammengeſtellt und geprüft worden,

und die meiſten Veränderungen, welche ſpäter beliebt worden ſind, haben

dort ihre nähere Begründung erhalten. w) Bei der folgenden Darſtellung

iſt daher auf dieſe Arbeit beſondere Rückſicht genommen worden. Dieß

bezieht ſich gleich auf die bei der Behandlung dieſer Lehre zu befolgenden

Methode. Es kommen hier nämlich drei Gegenſätze in Betracht:

1. ein Verbrechen iſt im Inlande oder im Auslande begangen;

2. der Verbrecher iſt ein Unterthan oder ein Ausländer;

3. der Verletzte iſt ein Unterthan (oder auch der Preußiſche Staat

ſelbſt) oder ein Ausländer (oder fremder Staat).

Die früheren Entwürfe hatten nun den Gegenſatz von Inländern

und Ausländern hauptſächlich hervorgehoben; in jener Schrift (S. 9.)

aber wird nachgewieſen, daß es hier hauptſächlich auf den Gegenſatz

von Inland und Ausland ankomme, und daß darin der eigentliche

Theilungsgrund zu ſuchen ſei. So iſt auch im Strafgeſetzbuch ver-

fahren.

A. Die Preußiſchen Strafgeſetze finden Anwendung

auf alle in Preußen begangene Verbrechen, Vergehen und

Uebertretungen, auch wenn der Thäter ein Ausländer iſt.

Dieſe Vorſchrift des Strafgeſetzbuchs (§. 3.) beruht auf der reinen An-

wendung des Princips der Territorialität. „Unſer Strafgeſetz (heißt es

a. a. O. S. 9.) iſt anzuwenden auf alle im Inlande begangenen,

ſtrafbaren Handlungen, ohne Unterſchied von wem und gegen wen

ſie begangen werden mögen. Die Richtigkeit des Grundſatzes an ſich

iſt nie bezweifelt worden. Der Fremde, der unſer Gebiet betritt, un-

terwirft ſich unſern Strafgeſetzen, wie unſeren Polizei-Verordnungen.

Und dieſer Satz bleibt richtig, ſelbſt wenn er auf politiſche Verbrechen

bezogen wird, die gegen das Ausland gerichtet ſind, d. h. in dieſem

Fall eben nur dann, wenn wir in unſeren Geſetzen eine Strafe dafür

finden.“ Das bezieht ſich alſo namentlich auf die in §. 78. und 79.

vorgeſehenen Fälle.

In der That iſt die Gültigkeit dieſes Satzes wohl allenthalben

anerkannt, x) und kann in ſeiner principiellen Richtigkeit nicht bezweifelt

v) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 11. und 14. Dec. 1839.

w) Reviſion des Entwurfs des Strafgeſetzbuchs von 1843. I.

S. 7-17.

x) Auch in England, deſſen Hospitalität gegen Fremde mit Recht berühmt iſt.

[73/0083]

§§. 3. 4. Anwendung der Strafgeſetze.

werden, wenn es auch damit recht wohl vereinbar iſt, daß innerhalb

des geſetzlichen Strafmaaßes der Richter auf die beſonderen Verhältniſſe

eines Fremden die gebührende Rückſicht nimmt. Dieß iſt jedoch nicht

ſo zu verſtehen, als ob die Eigenſchaft des Fremden als ſolche unter

allen Umſtänden eine verhältnißmäßig mildere Strafe rechtfertige. Na-

mentlich wenn es ſich um die Erkennung einer Nebenſtrafe, beſonders

einer Ehrenſtrafe handelt, wird es zu erwägen ſein, daß eine ſolche den

Fremden doch kaum in der Art trifft, wie das Geſetz es beabſichtigt

und der Inländer davon erfaßt wird, ja daß ſie unter Umſtänden rein

illuſoriſch werden kann. Auch iſt man genöthigt geweſen, in den Fällen,

wo auf Stellung unter Polizei-Aufſicht oder auf Einſperrung in ein

Arbeitshaus zu erkennen ſein würde, gegen den Fremden die Landesver-

weiſung eintreten zu laſſen (§. 29. 120. 146.).

B. In Beziehung auf die ſtrafbaren Handlungen, welche im

Auslande begangen ſind (§. 4.), iſt zuvörderſt zu bemerken, daß die

allgemeinen Beſtimmungen hierüber ſich nur auf die Verbrechen und

Vergehen beziehen; denn hinſichtlich der im Auslande begangenen Ueber-

tretungen kommt der letzte Abſatz des Paragraphen zur Anwendung, daß

ſie in Preußen nur dann beſtraft werden ſollen, wenn dieß durch be-

ſondere Geſetze oder Staatsverträge angeordnet iſt. Kommt es aber zu

einer ſolchen Beſtrafung und iſt für die beſonderen Fälle nicht Abwei-

chendes beſtimmt, ſo wird aus den Gründen, die ſogleich entwickelt

werden ſollen, in Preußen auch das Preußiſche Strafgeſetz anzuwen-

den ſein.

Wegen der im Auslande begangenen Verbrechen und Vergehen hat

das Geſetzbuch im Gegenſatz zu der in §. 3. enthaltenen Vorſchrift den

allgemeinen Grundſatz aufgeſtellt, daß ſie in der Regel in Preußen nicht

verfolgt und beſtraft werden ſollen. Es beruht dieß auf dem Princip

der Territorialität, nach welchem die regelmäßige Ausübung der Staats-

gewalt nur innerhalb des Staatsgebietes ſtattfindet, und alſo auch die

Wirkung der Geſetze für gewöhnlich auf dieſen Kreis beſchränkt bleiben

muß. Wollte man in dieſer Beziehung das Princip der Territorialität

aufgeben, und die Zuſtändigkeit der Preußiſchen Gerichte als Regel

aufſtellen, etwa nur mit gewiſſen, durch die Zweckmäßigkeit gebotenen

Beſchränkungen; ſo hieße das die Aufgabe des einzelnen Staates ver-

kennen, und man würde dadurch, abgeſehen von anderen praktiſchen

Unzuträglichkeiten, leicht in ſchwierige völkerrechtliche Verwicklungen ge-

x)

x) Nur inſofern wird dort auf den unter Anklage geſtellten Fremden beſondere Rückſicht

genommen, daß es ihm verſtattet iſt, eine jury de medietate linguae zu fordern,

d. h. zur Hälfte aus Fremden, zur Hälfte aus Engländern zuſammengeſetzt.

[74/0084]

Einleitende Beſtimmungen.

rathen können. Mit Recht hat man daher dieſen im Entwurf von 1843.

feſtgehaltenen Standpunkt ſpäter verlaſſen. y)

Allein der Grundſatz, daß Verbrechen und Vergehen, die im Aus-

lande begangen ſind, in Preußen nicht verfolgt und beſtraft werden

ſollen, kann nicht unbedingt zur Anwendung gebracht werden; es können

Fälle eintreten, die eine Ausnahme nothwendig machen. „Dieſe Aus-

nahmen,“ heißt es in den Motiven, z) „ſind entweder durch die Rückſicht

auf die Sicherheit des Preußiſchen Staates geboten, der, gewiſſermaaßen

im Stande der Nothwehr, ſich gegen Angriffe vertheidigen und ſchützen

muß, oder ſie werden durch die Principien des Völkerrechts und der

Gerechtigkeitspflege im Allgemeinen bedingt, nämlich wenn ein Preuße,

der als ſolcher an den fremden Staat nicht ausgeliefert werden kann,

im Auslande eine ſowohl nach den ausländiſchen, wie den Preußiſchen

Geſetzen ſtrafbare Handlung begangen hat.“

In den Fällen aber, wo eine ſolche Ausnahme ſtatt findet, gelten

folgende Regeln:

I. Es iſt im Strafgeſetzbuch nur die rechtliche Möglichkeit der

Verfolgung und Beſtrafung ausgeſprochen, nicht aber ihre Nothwendig-

keit vorgeſchrieben. „Jedoch kann in Preußen“ u. ſ. w. lautet die

Vorſchrift des Geſetzes. Es wird daher immer von der Erwägung der

Umſtände abhängen, ob die Behörden von der ihnen ertheilten Befugniß

Gebrauch machen wollen, und zu dieſem Behuf hat die Staatsanwalt-

ſchaft ihre Entſchließungen zu faſſen. a)

II. Wenn eine Verfolgung und Beſtrafung ſtattfindet, ſo geſchieht

es nach Preußiſchen Strafgeſetzen. In Beziehung auf die Inländer

haben wegen dieſer Vorſchrift keine Bedenken ſtattgefunden; aber wegen

der Ausländer enthalten die früheren Entwürfe zum Theil abweichende

Beſtimmungen. Der Entwurf von 1833. nämlich nahm die Beſtim-

mungen des Allgemeinen Landrechts b) inſoweit auf, daß das Geſetz

des Ortes, wo die Handlung verübt worden, auf Ausländer zur An-

wendung kommen ſolle, wenn es milder ſei wie das Preußiſche Geſetz,

und das Verbrechen nicht gegen den Preußiſchen Staat oder einen

Preußiſchen Unterthan gerichtet geweſen. c) Dieſe Vorſchrift ging auch

y) S. daſ. §. 1-3. und Reviſion von 1845. I. S. 10 ff.

z) S. Motive zum Entwurf von 1850. §. 4.

a) Die früher lebhaft erörterten Bedenken gegen die Einwirkung des Juſtizmi-

niſters auf die Verfolgung der im Auslande begangenen Verbrechen und Vergehen

haben mit der Umänderung des gerichtlichen Verfahrens ihre Bedeutung verloren.

b) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 14. 15.

c) Entwurf von 1833. §. 4. und v. Kamptz, Motive (Berlin 1833.) S. 7. ff.

[75/0085]

§§. 3. 4. Anwendung der Strafgeſetze.

in den Entwurf von 1843. über, nur daß man ſie, um zu vermeiden,

daß nicht „das auswärtige Strafgeſetz ſtatt des Preußiſchen zum eigent-

lichen dispoſitiven erhoben würde,“ in die Form eines geſetzlichen Mil-

derungsgrundes brachte. d) Da nun das Strafgeſetzbuch nur ſolche von

Ausländern im Auslande begangene Handlungen beſtrafen läßt, bei

denen jener Milderungsgrund überhaupt nicht zugelaſſen wurde, ſo recht-

fertigt ſich ſchon aus dieſem Grunde die Weglaſſung deſſelben. Aber

auch nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen und dem Vorgange anderer

Geſetzgebungen würde eine ſolche Beſchränkung der unbedingten Geltung

der Landesgeſetze nicht anzunehmen ſein. e)

Die Fälle nun, in denen in Preußen ein im Auslande began-

genes Verbrechen oder Vergehen verfolgt und beſtraft werden kann, ſind

folgende:

1. Wenn ein Ausländer gegen Preußen eine Handlung began-

gen hat, welche in dieſem Strafgeſetzbuch entweder

a. als eine hochverrätheriſche, oder

b. als eine Majeſtätsbeleidigung bezeichnet iſt, oder

c. ein Münzverbrechen darſtellt.

Die umſchreibende Faſſung der unter a und b aufgeführten Fälle

iſt deswegen gewählt worden, weil das Geſetz wohl die Handlung eines

Ausländers, welche, von einem Inländer begangen, Hochverrath oder

Majeſtätsbeleidigung ſein würde, unter Strafe ſtellen kann, es aber doch

eine ſehr ungenaue Ausdrucksweiſe ſein würde, deswegen eine ſolche

Handlung des Ausländers Hochverrath oder Majeſtätsbeleidigung zu

nennen. — Es fallen alſo unter dieſe Beſtimmung die

§§. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 72. 73. 74. 75. 121. 122. 124.

Dagegen gehört §. 78. nicht hierher, weil daſelbſt nur ſehr uneigentlich

von einer hochverrätheriſchen Handlung geſprochen wird, und die ganze

Beſtimmung eine ſinguläre iſt, welche auf den Ausländer ausdrücklich

nur für den Fall bezogen wird, wenn er die Handlung während ſeines

Aufenthalts in Preußen vornimmt, während die Handlung, welche in

§. 4. Nr. 1. vorgeſehen iſt, gerade gegen Preußen gerichtet ſein muß.

Im Entwurf von 1847. §. 3. waren übrigens die hier bezeich-

neten Handlungen nicht ſpezialiſirt, ſondern es hieß allgemein: ein

Verbrechen gegen den Preußiſchen Staat. Der vereinigte ſtändiſche

Ausſchuß ſtellte aber den Antrag, eine Spezialiſirung eintreten zu laſſen,

d) Entwurf von 1843. §. 117. — Vgl. Berathungsprotokolle der

Staatsrathskommiſſion. I. S. 7. 138.

e) S. Code d'instr. crim. art. 5. 6. — Sächſiſches Criminal-

geſetzb. Art. 3. — Württemb. Strafgeſetzb. Art. 4. — Braunſchweig.

Criminalgeſetzb. §. 2. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 5.

[76/0086]

Einleitende Beſtimmungen.

die auch ſpäter von Seiten der Staatsregierung vorgelegt und vom

Ausſchuſſe genehmigt wurde, und daraus iſt die gegenwärtige Faſſung

des Geſetzbuchs hervorgegangen. f) Dieſelbe iſt aber enger, als die

damals angenommene, und auch ein zweiter Fall, in welchem nach je-

nem Entwurf die Beſtrafung einer im Auslande von einem Ausländer

begangenen Handlung in Preußen ſtatt finden ſollte, — nämlich wenn

ein Preußiſcher Unterthan dadurch verletzt wird, — iſt jetzt weggeblie-

ben. Dieß beruht nach den Motiven auf der Erwägung, daß einerſeits

bei gemeinen Verbrechen keine Geſetzgebung unterſcheidet, ob ſie gegen

Inländer oder Ausländer begangen ſind, alſo von Seiten des auslän-

diſchen Staats die Beſtrafung wegen ſolcher gegen einen Preußen ver-

übten Verbrechen und Vergehen eintreten wird, andererſeits aber der

Begriff der gegen eine Perſon begangenen Verbrechen ſehr unbeſtimmt

iſt, indem beiſpielsweiſe es zweifelhaft ſein würde, ob Zweikampf und

Wucher unter dieſe Kategorie von Verbrechen zu zählen ſeien oder

nicht. g)

Auf das Bedenken aber, daß nach dem angenommenen Grundſatze

ſchlimme Uebelſtände eintreten könnten, und Preußen, uneingedenk ſeiner

völkerrechtlichen Verpflichtungen, Verbrecher ungeſtraft bei ſich dulden

würde, iſt ſchon früher von Seiten des Miniſteriums für die Geſetz-

Reviſion treffend geantwortet worden: daß wir den ausländiſchen Ver-

brecher, den wir nicht beſtrafen können, entweder ausliefern oder bloß

ausweiſen oder ihn ein Aſyl bei uns finden laſſen und ihn allenfalls

nur polizeilich überwachen. Mit den meiſten benachbarten Staaten

ſeien auch Reziprozitätsverträge über Auslieferung der Verbrecher abge-

ſchloſſen. h)

Die Verfolgung und Beſtrafung iſt ferner zuläſſig

2. wenn ein Preuße im Auslande gegen Preußen eine hoch-

verrätheriſche oder eine landesverrätheriſche Handlung, eine Majeſtäts-

beleidigung oder ein Münzverbrechen begangen hat, ſo wie

3. wenn ein Preuße im Auslande eine Handlung begangen

hat, welche nach Preußiſchen Geſetzen als ein Verbrechen oder ein Ver-

gehen beſtraft wird. Für dieſen dritten Ausnahmefall ſind aber noch

beſondere Beſtimmungen hinzugefügt worden.

a. Die Handlung ſoll nur beſtraft werden, wenn ſie auch durch

die Geſetze des Orts, wo ſie begangen wurde, mit Strafe bedroht iſt.

f) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. I.

S. 174. II. S. 55. — I. S. 361. IV. S. 704. Die hier genannten Verbrechen

ſind: Hochverrath, Landesverrath, Majeſtätsbeleidigung in den Fällen der §§. 99-104.

und 106. und Münzfälſchung.

g) Motive zum Entwurf von 1850. §. 4.

h) Reviſion von 1845. I. S. 12.

[77/0087]

§§. 3. 4. Anwendung der Strafgeſetze.

Dieſe Beſchränkung rechtfertigt ſich durch die Erwägung, daß die

neueren Strafgeſetze, zumal die deutſchen, auf die es hier zunächſt an-

kommt, im Ganzen auf gleicher Stufe ſtehen, und daß nur höchſt ſelten

eine durch unſer Geſetz verpönte Handlung nach ausländiſchem Recht

ſtraflos ſein wird. i) Es müßten aber doch ganz unabweisbare Gründe

der Zweckmäßigkeit aufgeſtellt werden, wenn eine Geſetzgebung dahin

gebracht werden ſollte, wegen Handlungen, die unter dem Schutze eines

geordneten Rechtszuſtandes vollkommen rechtmäßig in der Fremde vor-

genommen wurden, den zurückkehrenden Inländer zu beſtrafen. Anders

ſtellt es ſich in den unter 1. und 2. aufgeführten Fällen, weil es zu-

fällig iſt, ob und inwieweit die fremde Geſetzgebung überhaupt auf die

Sicherheit und das Recht des Preußiſchen Staates Rückſicht nimmt.

Aber dieſe Fälle ſind auch mit den gewöhnlichen gemeinen Verbrechen

nicht zu verwechſeln, und können für dieſe keine Regel bilden. — Da-

gegen könnte es nothwendig erſcheinen, eine ſolche im Auslande ſtrafloſe

Handlung nach dem inländiſchen Geſetz zu beſtrafen, wenn ſie in der

Abſicht im Auslande vorgenommen worden, das Preußiſche Geſetz zu

umgehen. Der Entwurf von 1847. §. 2. enthielt auch eine ſolche Vor-

ſchrift, und der Antrag, dieſelbe aus dem Geſetzbuch zu entfernen, bekam

in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſe nicht die Mehrheit. k) In-

deſſen ſpricht doch Vieles dafür, daß das Strafgeſetzbuch eine ſolche

Beſtimmung nicht aufgenommen hat. Die praktiſche Bedeutung derſel-

ben iſt an ſich gering anzuſchlagen, der Begriff einer in fraudem legis

vorgenommenen Handlung ſchwer zu beſtimmen und der Beweis einer

ſolchen Abſicht ſelten zu führen.

b. Die Verfolgung und Beſtrafung ſoll in dieſem letzten Fall

auch dann nicht ſtatt finden, wenn von den Gerichten des Auslandes

über die Handlung rechtskräftig erkannt und die etwa ausgeſprochene

Strafe vollzogen oder durch Begnadigung erlaſſen iſt. Dieſe Beſtim-

mung beruht auf dem allgemeinen Rechtsgrundſatz: ne bis in idem;

ſie erhält ihre Bedeutung eigentlich durch den Gegenſatz, welcher daraus,

daß ſie an dieſer Stelle ausdrücklich ausgeſprochen iſt, für die unter

1.und 2. behandelten Fälle hervorgeht; für dieſe kommt jener Rechts-

grundſatz alſo nicht zur Anwendung. Die Rechtfertigung dieſer an ſich

allerdings ſehr bedenklichen Abweichung von einer ſolchen Grundregel

der Rechtspflege kann nur in derſelben Weiſe geführt werden, wie die

Vertheidigung der Vorſchrift, daß für dieſelben Fälle die Strafloſigkeit

nach dem ausländiſchen Recht ohne Einwirkung bleiben ſoll.

i) Reviſion a. a. O. S. 13.

k) Verhandlungen a. a. O. II. S. 31. 33. 37. 45. 50.

[78/0088]

Einleitende Beſtimmungen.

„Die Anwendung dieſes Grundſatzes (ne bis in idem) iſt aber

nicht zuläſſig bei den gegen den Preußiſchen Staat verübten Verbrechen,

da Verbrechen dieſer Art in den ausländiſchen Geſetzgebungen entweder

gar nicht oder mit einer relativ ungenügenden Strafe bedroht ſind. Das

Auskunftsmittel gegen etwaige zu große Härten muß hier entweder in

der unterbleibenden Verfolgung oder in einer Milderung der ſpäter zu

erkennenden Strafe im Gnadenwege gefunden werden.“ (S. Motive

a. a. O.)

§. 5.

Auf Preußiſche Militairperſonen finden die allgemeinen Strafgeſetze inſo-

weit Anwendung, als nicht die Militairgeſetze ein Anderes beſtimmen.

Der §. 5. beſtimmt das Verhältniß des allgemeinen Strafgeſetzbuchs

zu den Militair-Strafgeſetzen und geht hierbei von dem, aus der bishe-

rigen Geſetzgebung entlehnten Grundſatz aus, daß die Vorſchriften der

allgemeinen Strafgeſetze auf Militairperſonen nur inſoweit Anwendung

finden, als die Militair-Strafgeſetze nichts Anderes beſtimmen. Die

Feſthaltung dieſes Grundſatzes findet in den militairiſchen Dienſtverhält-

niſſen ihre Rechtfertigung. l)

Die Militairperſonen haben nämlich außer den allgemeinen Staats-

bürgerpflichten beſondere Pflichten ihres Berufs. Die Handlungen welche

eine Verletzung militairiſcher Berufspflichten darſtellen, machen den In-

begriff der militariſchen Verbrechen aus und die Vorſchriften wegen Be-

ſtrafung dieſer Handlungen bilden ein eigenes, den allgemeinen Straf-

geſetzen nicht angehörendes Rechtsgebiet.

In Anſehung der allgemeinen Staatsbürgerpflichten ſind dagegen

auch die Militairperſonen den allgemeinen Strafgeſetzen unterworfen und

wegen der darin unter Strafe geſtellten Handlungen nach dieſen Ge-

ſetzen zu beurtheilen und zu beſtrafen, wenn nicht die eigenthümlichen

Verhältniſſe des Militairſtandes Ausnahme von dieſer Regel erfordern.

Die Nothwendigkeit ſolcher Ausnahmen tritt ein:

1) bei Beurtheilung ſolcher in den allgemeinen Strafgeſetzen mit

Strafe bedroheten Handlungen, die, von Militairperſonen verübt,

einen beſonderen Charakter annehmen,

2) bei denjenigen bürgerlichen Strafen, die mit den Verhältniſſen

des Militairſtandes nicht vereinbar ſind.

Demnach bilden die Militairgeſetze in Betreff der darin für militairiſche

Verbrechen enthaltenen Strafbeſtimmungen ein Specialrecht; und, inſo-

l) Vgl. Code pénal art. 5. — Württemb. Strafgeſetzb. Art. 2. —

Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 3. — Bad. Strafgeſetzb. §. 2.

[79/0089]

§. 5. Militairſtrafgeſetze.

weit ſie Vorſchriften über Beurtheilung und Beſtrafung ſolcher Hand-

lungen enthalten, welche nicht zu den militairiſchen Verbrechen gehören,

ein Singularrecht.

Dies beſtätigen die jetzt gültigen Militair-Strafgeſetze. Hauptſäch-

lich kommen hierbei in Betracht:

1) die Verordnung über die Disciplinar-Beſtrafung in der Armee

vom 21. Oktober 1841. Geſetzſammlung S. 325. u. folgende.

2) die Verordnungen über die Ehrengerichte und über die Beſtra-

fung der unter Offizieren vorfallenden Beleidigungen und Duelle

vom 20. Juli 1843. Geſetzſammlung S. 300. u. folgde.

3) die Kriegsartikel und die Verordnung wegen deren Anwendung

vom 27. Juni 1844. Geſetzſammlung S. 276 u. folgde., und

4) das Strafgeſetzbuch für das Heer vom 3. April 1845. Geſetz-

ſammlung S. 287. u. folgde.

Für die Civilgerichte ſind die, ein Spezialrecht bildenden Beſtimmungen

dieſer Geſetze und Verordnungen von ſehr untergeordneter Bedeutung,

weil die Verfolgung der von Militairperſonen verübten militairiſchen

Verbrechen den Militairgerichten zuſteht und die Civilgerichte nach §. 17.

Th. II. des Militair-Strafgeſetzbuchs nur dann (und dies gehört zu den

höchſt ſelten vorkommenden Fällen) über ein militairiſches Verbrechen zu

entſcheiden haben, wenn daſſelbe erſt nach dem gänzlichen Ausſcheiden

des Angeſchuldigten aus den Militairverhältniſſen zur Sprache kommt.

Anders verhält es ſich mit den ſingulären Vorſchriften der Mili-

tairgeſetze. Dieſe kommen bei den Civilgerichten ſehr häufig zur An-

wendung, weil die Beurtheilung und Beſtrafung der von Perſonen des

Beurlaubten-Standes verübten ſtrafbaren Handlungen, welche nicht zu

den militairiſchen Verbrechen gehören, den Civilgerichten gebührt und

dieſe hierbei, namentlich bei der Beſtimmung der Strafart, jene ſingulai-

ren Vorſchriften genau zu beachten haben.

Abgeſehen von der Verordnung vom 20. Juli 1843., welche nur

ſingulaire Vorſchriften über die Beſtrafung der Offiziere wegen Beleidi-

gungen unter einander und wegen Zweikampfs enthält, ſind in dieſer

Hinſicht beſonders wichtig, die Kriegsartikel nebſt der Verordnung we-

gen deren Anwendung vom 27. Juni 1844. und der erſte Theil des

Militair-Strafgeſetzbuchs. Die Kriegsartikel und die Verordnung vom

27. Juni 1844. haben zwar, ſo weit ſie für militairiſche Verbrechen

Strafbeſtimmungen enthalten, ſeit der Publikation des Militair-Straf-

geſetzbuchs ihre frühere Bedeutung verloren, weil ſie, — obſchon ſie

eher als dieſes Geſetzbuch ins Leben getreten ſind — nichts anders als

einen Auszug aus demſelben in Abſicht auf die Beurtheilung und die

Beſtrafung jener Verbrechen bilden. Dagegen haben die darin ertheil-

[80/0090]

Einleitende Beſtimmungen.

ten ſingulairen Vorſchriften für ſtrafbare Handlungen, die nicht den mi-

litairiſchen Verbrechen beizuzählen ſind, bisher ihre volle Wirkſamkeit

behalten, wie ſich aus §. 192. Thl. I. des Militair-Strafgeſetzbuchs

deutlich ergiebt. Dieſe Vorſchriften beziehen ſich hauptſächlich auf den

Diebſtahl, die Unterſchlagung, den Betrug, die Fälſchung, ſowie auf

Schlägereien, leichte Körperverletzungen und auf die mit zehnjähriger

Freiheitsſtrafe bedrohten Verbrechen. Sie ſind enthalten in dem letzten

Theile der Kriegsartikel (Art. 60. u. folgde.) und in den §§. 60.

u. folgde. der Verordnung vom 27. Juni 1844. Dabei bleibt zu berück-

ſichtigen, daß ſie nur auf Unteroffiziere und Soldaten Anwendung fin-

den, weil die Kriegsartikel nicht für alle Militairperſonen, ſondern nur

für Unteroffiziere und Soldaten ertheilt ſind.

Der erſte Theil des Militair-Strafgeſetzbuchs dagegen enthält im

1. Titel die ſingulairen Vorſchriften über die bei der Verurtheilung der

Militairperſonen von den Gerichten anzuwendenden Strafarten und über

das Verhältniß der bürgerlichen und militairiſchen Strafen zu einander.

Da, wie bereits erwähnt worden, der vorſtehende §. 5. das ſeit-

her ſchon beſtandene Verhältniß der allgemeinen Strafgeſetze zu den

Militairgeſetzen nicht ändert, ſo könnte es den Anſchein gewinnen, als

ob die Militairgeſetze durch die Vorſchriften des allgemeinen Strafgeſetz-

buchs gar nicht alterirt würden, indem letztere nur an die Stelle der

bisher beſtandenen allgemeinen Strafgeſetze treten und ebenſo wie dieſe

erſt dann auf Militairperſonen Anwendung finden ſollen, wenn die Mi-

litairgeſetze nicht ein Anderes beſtimmen. Inſoweit die Militair-Straf-

geſetze ein Spezialrecht bilden, iſt dieß auch faſt durchgehends richtig;

anders dagegen verhält es ſich mit denjenigen Vorſchriften der Militair-

geſetze die als Singularrecht, den allgemeinen Strafgeſetzen gegenüber,

zu betrachten ſind. Dieſe Vorſchriften ſind durch die bis jetzt gültig ge-

weſenen allgemeinen Strafgeſetze, namentlich durch die Beſtimmungen

des Tit. 20. Th. II. des Allgemeinen Landrechts hervorgerufen und ſte-

hen mit denſelben inſofern in einem genauen Zuſammenhange, als ſie

an dieſe Beſtimmungen ſich anſchließen und die durch die Militair-

verhältniſſe bedingten Modifikationen derſelben enthalten. Die Aufhe-

bung jener Geſetze, insbeſondere des Tit. 20. Th. II. des Allgemeinen

Landrechts würde daher nur dann auf jene ſingulairen Vorſchriften der

Militairgeſetze ohne Einfluß ſein, wenn die Beſtimmungen, durch welche

ſie hervorgerufen ſind, in das allgemeine Strafgeſetzbuch aufgenommen

worden wären. Dies iſt jedoch nicht geſchehen. Das allgemeine Straf-

geſetzbuch hat dieſe Beſtimmungen theils gar nicht, theils nur unter we-

ſentlichen Aenderungen beibehalten. Deshalb verlieren mit der Einfüh-

rung des allgemeinen Strafgeſetzbuchs jene ſingulairen Vorſchriften der

[81/0091]

§. 6. Schadenerſatz.

Militairgeſetze zum Theil ihren Zweck und ihre Bedeutung. Eine Ver-

gleichung der im Juſtizminiſterial-Blatt von 1847. enthaltenen Zuſam-

menſtellung der Vorſchriften, welche die Civilgerichte aus Rückſicht auf

die Militairverhältniſſe in Strafſachen bisher zu befolgen hatten, mit

den Beſtimmungen des allgemeinen Strafgeſetzbuchs ergiebt dies zur

Genüge. Dennoch werden ſo lange, bis die danach nothwendigen Ab-

änderungen der Militairgeſetze erfolgen, die ſtrafbaren Handlungen der

Militairperſonen unter Berückſichtigung jener Vorſchriften zu beurtheilen

und zu beſtrafen ſein. Dieß folgt ſchon mit Nothwendigkeit aus der

Beſtimmung des §. 5. des allgemeinen Strafgeſetzbuchs. Zur Herbei-

führung jener als nothwendig erkannten Abänderungen iſt jedoch ſchon

die Einleitung getroffen, indem eine Reviſion der Militairſtrafgeſetze vor-

bereitet wird. m)

§. 6.

Das Recht des Beſchädigten auf Schadenerſatz iſt von der Beſtrafung un-

abhängig.

In dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß vertheidigte der Regie-

rungs-Kommiſſar Biſchoff den Inhalt dieſes Paragraphen in folgen-

der Weiſe:

„Aehnliche Beſtimmungen, wie der §. 6., enthält die Kriminal-

Ordnung von 1805., jedoch nicht in der erforderlichen Präziſion. Der

§. 6. hat hauptſächlich den Zweck, auszuſprechen, daß das Straferkennt-

niß nicht präjudizirlich ſei für die Civil-Entſchädigungsklagen. Daß

man eine ſolche Beſtimmung aufnimmt, iſt gewiß angemeſſen; auch

findet ſich im Weſentlichen dieſelbe Vorſchrift im Art. 10. des Rheini-

ſchen Strafgeſetzbuchs.“ n)

m) Die obigen zu §. 5. gemachten Bemerkungen ſind im Weſentlichen einer

Mittheilung entlehnt, die ich der Güte des Herrn Geh. Kriegsraths Fleck in Ber-

lin verdanke.

n) Verhandlungen a. a. O. II. S. 90.

Beſeler Kommentar. 6

[82/0092]

Theil I. Von der Beſtrafung der Verbrechen u. Vergehen im Allg.

Erſter Theil.

Von der Beſtrafung der Verbrechen und Vergehen im

Allgemeinen.

Erſter Titel.

Von den Strafen.

Den wichtigſten Theil, ja das eigentliche Fundament des materiel-

len Strafrechts bilden diejenigen Vorſchriften, welche von den Strafarten

und ihrer Anwendung handeln. So wenig ein Strafgeſetzbuch, auch

wenn es noch ſo vortrefflich iſt, die Mängel des gerichtlichen Verfahrens

ausgleichen und heilen kann, ſo wenig iſt die durchdachteſte, reifſte Be-

handlung der allgemeinen Lehren, die ſchärfſte Begriffsbeſtimmung, die

ſorgfältigſte Abmeſſung der Verſchuldung im Stande, ohne ein vernünf-

tiges, dem Rechtsbewußtſein des Volkes entſprechendes Strafſyſtem den

Anforderungen der Gerechtigkeit zu genügen. Die allgemeinen Fragen:

welche Handlungen ſind mit Strafe zu bedrohen? welches Strafmaaß

ſoll für den einzelnen Fall angeordnet werden? — können erſt dann

ihre gerechte Löſung finden, wenn über die einzelnen Strafarten, über

ihr Verhältniß unter einander und über die ihre Anwendung beſtim-

menden Normen die richtigen Grundſätze gefunden ſind. In dieſer Lehre

iſt zum größten Theil das politiſche Intereſſe, welches ſich an das ma-

terielle Strafrecht knüpft, zuſammengefaßt; hier macht ſich die unmittel-

bare Betheiligung des Rechtsbewußtſeins im Volke an der Rechtsbildung

geltend. Strafarten, welche mit den Sitten, der Bildung, der ganzen

Anſchauungsweiſe eines Volkes nicht in Einklang ſtehen, laſſen ſich auf

die Dauer ſelbſt dann nicht aufrecht halten, wenn die Geſetzgebung in

deren zeitgemäßen Umänderung ſäumig iſt; das Gewohnheitsrecht zeigt

ſeine Macht, auch gegen den Buchſtaben des geſchriebenen Geſetzes, und

ſelbſt die Gerichte können ſich dieſer Einwirkung nicht entziehen. Auf

dieſem Wege hat das gemeine deutſche Strafrecht ſeine jetzige Geſtalt

erhalten.

[83/0093]

Tit. I. Von den Strafen.

Auch in Preußen iſt die Reviſion des Strafrechts hauptſächlich

deswegen nothwendig geworden, weil das Strafſyſtem den Anforderun-

gen der Gegenwart nicht mehr genügte. Dieß gilt nicht bloß für das

Allgemeine Landrecht, ſondern auch für das Rheiniſche und das gemeine

Deutſche Strafrecht; in verſchiedener Weiſe, aber gleich dringend war

für alle drei Rechte nach dieſer Seite hin eine Reform unabweislich

geworden. Eine kurze Betrachtung wird dieß darthun.

Das Allgemeine Landrecht hat über die Strafarten keine all-

gemeinen Vorſchriften gegeben; das Syſtem derſelben muß daher, ſoweit

ein ſolches überhaupt vorhanden geweſen, den einzelnen Beſtimmungen

entnommen werden. Es kommen darnach folgende Strafen vor: o)

1) Die Todesſtrafe.

Dieſelbe wird vollſtreckt: durch das Rad von unten; durch das

Rad von oben; durch Feuer; durch den Strang oder Galgen; durch

das Schwert, an deſſen Stelle ſpäter das Beil getreten. Daneben

kommen als Verſchärfung der Todesſtrafe vor: Schleifung des Verbre-

chers zur Richtſtätte und öffentliche Ausſtellung des Leichnams.

2) Freiheitsſtrafen.

Von dieſen kennt das Landrecht: Zuchthausſtrafe, Strafarbeit, Ge-

fängniß und Feſtungsſtrafe. Die letztere iſt entweder Feſtungsarbeit,

die härteſte aller Freiheitsſtrafen, oder Feſtungsarreſt, die mildeſte Form

des Gefängniſſes, die ſ. g. cuſtodia honeſta. Das Geſetz läßt es aber

zuweilen zweifelhaft, welche dieſer beiden Arten der Feſtungsſtrafe ge-

meint iſt, und auch zwiſchen ihnen und dem Zuchthaus, der Strafarbeit

und dem Gefängniß iſt dem Richter in der Regel die Wahl gelaſſen,

ſo daß die Perſönlichkeit des Thäters, ſein Stand u. ſ. w. den Aus-

ſchlag geben. Auf die beiden härteſten dieſer Strafen, Feſtungsarbeit

und Zuchthaus, kann für kurze Zeit und wiederum für die Lebensdauer

erkannt werden. — Als Schärfungsmittel werden genannt: Brandmar-

kung, Staupenſchlag, öffentliche Ausſtellung, körperliche Züchtigung.

3) Körperliche Züchtigung.

4) Ehrenſtrafen.

5) Vermögenskonfiskation.

6) Geldbußen.

7) Amtsentſetzung und Amtsſuspenſion.

8) Verbannung.

Die Strafen des Rheiniſchen Rechts unterſcheiden ſich, je nach-

dem ſie auf Verbrechen, Vergehen oder Uebertretungen geſetzt ſind.

o) Vgl. Motive zu dem erſten Entwurfe des Criminalgeſetzbuchs I. (Berlin,

1827.) S. 16-87. — Temme, Handbuch des Preuß.

Criminalrechts (Leipzig,

1837.) S. 11-17.

6 *

[84/0094]

Theil I. Von der Beſtrafung der Verbrechen u. Vergehen im Allg.

A. Die Strafen in peinlichen Sachen (en matière criminelle)

ſind immer entehrend.

1) Die Todesſtrafe.

Sie wird durch Enthauptung vollſtreckt, und wenn ſie wegen El-

ternmordes erkannt iſt, durch Kleidung, Ausſtellung des Verbrechers und

Abhauen der rechten Hand verſchärft. p)

2) Lebenslängliche Zwangsarbeit (les travaux forcés

à perpétuité).

3) Die Deportation.

Der zu dieſer Strafe Verurtheilte wird auf Lebenszeit nach einer

Franzöſiſchen Kolonie gebracht, was die Anwendung der Strafe nach

Rheiniſchem Rechte verhindert hat, wie auch die Zwangsarbeit für das-

ſelbe ihre eigentliche Bedeutung verloren hat, da ſie nicht, wie in Frank-

reich, in den bagnots abgebüßt werden kann. Die Deportation wie

die lebenslängliche Zwangsarbeit haben übrigens den bürgerlichen Tod

des Verurtheilten zur Folge.

4) Zwangsarbeit auf Zeit, von fünf bis zwanzig Jahren.

5) Zuchthausſtrafe (la reclusion), von fünf bis zehn Jahren.

6) Der Pranger (le carcan).

7) Die Verbannung.

8) Der Verluſt der bürgerlichen Ehre (la degradation

civique).

Mit den entehrenden Strafen kann in den geſetzlich beſtimmten

Fällen die Brandmarkung und die Vermögenskonfiskation verbunden

werden; erſtere erfolgt immer bei der Verurtheilung zu lebenslänglicher

Zwangsarbeit. Auch werden die zu dieſer Strafe, zur Zwangsarbeit

auf Zeit und zur Einſperrung Verurtheilten vor Erleidung der Strafe

am Pranger öffentlich ausgeſtellt. q) — Stellung unter Polizei-Aufſicht,

Geldbuße und Konfiskation einzelner Gegenſtände ſind Strafen, die ge-

meinſchaftlich für Verbrechen und Vergehen gelten.

B. Die Strafen der Vergehen (en matière

correctionelle) ſind:

1) Gefängniß von ſechs Tagen bis zu fünf Jahren.

2) Die Unterſagung gewiſſer ſtaatsbürgerlicher, bür-

gerlicher und Familienrechte auf Zeit.

3) Die Geldbuße.

p) Das Geſetz vom 28. April 1832. hat in Frankreich das Abhauen der Hand

abgeſchafft.

q) Das Strafſyſtem des Code pénal iſt, ſoweit es die eigentlich peinlichen

Strafen betrifft, in Frankreich durch das Geſetz vom 28. April 1832. nicht unerheb-

lich geändert worden. Die Strafen der Brandmarkung, des Prangers und der Ver-

mögenskonfiskation ſind aufgehoben, und zwiſchen der Zwangsarbeit auf Zeit und dem

Zuchthauſe iſt die Detention eingeſchoben, die auch entehrend iſt.

[85/0095]

Tit. I. Von den Strafen.

C. Die Strafen der Uebertretungen (peines de

police) ſind:

1) Gefängniß, ein bis fünf Tage.

2) Die Geldbuße, ein bis fünf Franken.

3) Die Konfiskation gewiſſer in Beſchlag genommener Ge-

genſtände.

Neben dieſen in den beiden Geſetzbüchern aufgeſtellten Strafarten

laſſen ſich die des gemeinen deutſchen Strafrechts nicht wohl einzeln

aufführen. Die in den gemeinrechtlichen Quellen angeordneten Strafen

ſollten eigentlich, inſofern man ſie als die im Geſetz beſtimmten an-

zuſehen hat, auch jetzt noch zur Anwendung kommen. Aber die Strafen

des Römiſchen Rechts ſind ſchon, ſoweit ſie nicht ausführbar waren,

in Deutſchland überhaupt nicht recipirt worden, und die in der Hals-

gerichtsordnung Karl V. vorgeſchriebenen haben ſich ebenſowenig allge-

mein in Geltung erhalten können. Das in der juriſtiſchen Doktrin und

Praxis dargeſtellte Gewohnheitsrecht, weſentlich ein Juriſtenrecht, ver-

mittelte die allmähliche Umwandlung der Strafen in ſolche, welche der

modernen Anſchauungsweiſe entſprachen. In den einzelnen Ländern

vollendete dann die Geſetzgebung, auch vor der Einführung neuer

Strafgeſetzbücher, dieſen Prozeß, theils durch Spezialgeſetze, theils durch

die Aenderungen in der Einrichtung des Gefängnißweſens. Die To-

desſtrafe kam im Allgemeinen immer ſeltener zur Anwendung, die grau-

ſamen Leibesſtrafen traten mehr und mehr zurück, und das Strafſyſtem

ward allmählich faſt ganz auf die Freiheitsſtrafen beſchränkt. Auch die

Preußiſchen Landestheile, in denen das gemeine Recht noch gilt, haben

dieſen allgemeinen Entwickelungsgang mit durchgemacht.

Bei der Reviſion des Strafrechts hat man nun, freilich unter

manchen Schwankungen, das Ziel verfolgt, nur ſolche Strafarten, die

an ſich für angemeſſen gelten können, in das Geſetzbuch aufzunehmen,

und ſie unter einander und in Beziehung auf ihre Anwendung in das

richtige Verhältniß zu ſetzen. Ganz aufgegeben ſind daher: die körper-

liche Züchtigung, die ſchimpflichen Strafen der Brandmarkung und des

Prangers, die Vermögenskonfiskation, die Strafe des bürgerlichen To-

des, die Verbannung. Auf die Ehrenſtrafen, welche dem gemeinen

Deutſchen Strafrecht faſt ganz abhanden gekommen waren, iſt wieder ein

beſonderes Gewicht gelegt; die Freiheitsſtrafen bilden jedoch den Mittel-

punkt des Syſtems. Dabei iſt aber überhaupt zu unterſcheiden zwiſchen

den Hauptſtrafen und den Nebenſtrafen (wie ich die ſ. g. acceſſoriſchen

Strafen nicht unpaſſend zu bezeichnen glaube). Die erſteren ſind die-

jenigen, auf welche allein ausſchließlich erkannt werden kann, und nach

deren Anwendung die rechtliche Beſchaffenheit einer Handlung als eines

Verbrechens, eines Vergehens oder einer Uebertretung beſtimmt wird.

[86/0096]

Theil I. Von der Beſtrafung der Verbrechen u. Vergehen im Allg.

Die Nebenſtrafen treten nur verſtärkend zu den Hauptſtrafen hinzu;

aber ſie tragen den Charakter der Strafe an ſich, und ſind nicht bloß

Mittel vorläufiger Sicherung, wie die Verhaftung, die Beſchlagnahme

des Vermögens (§. 73. 110.). — Darnach enthält das Geſetzbuch fol-

gendes Strafſyſtem:

A. Hauptſtrafen.

I. Die Todesſtrafe. Die früheren Schärfungen ſind beſeitigt;

nur auf den Verluſt der bürgerlichen Ehre kann neben der Todesſtrafe

erkannt werden.

II. Freiheitsſtrafen. Von dieſen giebt es folgende Arten:

1) Die Zuchthausſtrafe. Sie hat den Verluſt der bürgerlichen

Ehre von Rechtswegen zur Folge, ſo wie während ihrer Dauer die Be-

ſchränkung der Rechtsfähigkeit des Verurtheilten in Beziehung auf ſein

Vermögen. Die Zuchthausſtrafe iſt entweder lebenslänglich oder auf

Zeit, nämlich von zwei bis zwanzig Jahren.

2) Die Einſchließung. Dieſe Strafe beſteht in einfacher Frei-

heitsentziehung, und kommt, jedoch nur in ſeltenen Fällen, ſelbſtändig

vor oder tritt im Fall mildernder Umſtände an die Stelle der Zuchthaus-

ſtrafe. Die kürzeſte Dauer der Einſchließung (wie überhaupt der Frei-

heitsſtrafen, mit Ausnahme des Zuchthauſes) iſt Ein Tag, die längſte

Dauer beträgt zwanzig Jahre.

3) Die Gefängnißſtrafe. Dieſe tritt ein

a. bei den Vergehen. Die Verurtheilten können in einer ihren

Fähigkeiten und Verhältniſſen angemeſſenen Weiſe beſchäftigt

werden; die längſte Dauer der Strafe iſt, wenn das Geſetz nicht

ein Anderes beſtimmt, fünf Jahre.

b. bei Uebertretungen. Die polizeiliche Gefängnißſtrafe beſteht, mit

Ausnahme Eines Falls (§. 341.), in einfacher Freiheitsentziehung; ſie

kann höchſtens auf ſechs Wochen erkannt werden.

III. Die Geldbuße. Dieſe kommt vor:

1) ausſchließlich, ohne weiteren Zuſatz;

2) alternativ, ſo daß dem Richter die Wahl zwiſchen Gefängniß

und Geldbuße gelaſſen iſt, und zwar ſowohl bei beſtimmten Vergehen

als auch bei den Uebertretungen. Bei letzteren iſt dieſe Wahl ſogar

regelmäßig dem Richter gegeben; doch iſt das Maximum der Geldbuße

auf fünfzig Thaler feſtgeſetzt.

3) cumulativ, indem in gewiſſen Fällen zu einer Freiheitsſtrafe

eine Geldbuße verſtärkend hinzutritt.

B. Nebenſtrafen.

I. Ehrenſtrafen.

1) Der Verluſt der bürgerlichen Ehre tritt als die noth-

[87/0097]

Tit. I. Von den Strafen.

wendige Folge der Verurtheilung in die Zuchthausſtrafe von Rechts-

wegen ein; ausdrücklich wird nur auf den Verluſt der politiſchen Rechte

erkannt, und zwar in den Fällen der §§. 63. und 64.

2) Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehren-

rechte auf Zeit. Dieſe kommt, abgeſehen von dem Fall, daß wegen

mildernder Umſtände die Strafe eines Verbrechens heruntergeſetzt wird,

nur bei Vergehen in Verbindung mit der Gefängnißſtrafe vor, und zwar

in den vom Geſetz beſtimmten Fällen, entweder nothwendig oder nach

richterlichem Ermeſſen. Die Zeit iſt Ein bis zehn Jahre.

II. Zeitige Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher

Aemter.

1) Es muß darauf erkannt werden, oder

2) es kann darauf erkannt werden, und zwar auf Zeit, deren

Dauer Ein bis fünf Jahre beträgt.

Dieſe Strafart, welche den Verluſt der von dem Verurtheilten be-

kleideten Aemter von Rechtswegen zur Folge hat, iſt an die Stelle der

früheren Amtsentſetzung getreten, die als ſelbſtändige Kriminalſtrafe

im Geſetzbuch nicht vorkommt. Es hängt dieß zum Theil mit der Aus-

ſcheidung der Disciplinarſtrafen von der Zuſtändigkeit der ordentlichen

Strafgerichte zuſammen.

III. Unfähigkeit zur Bekleidung des von dem Verurtheil-

ten bisher verwalteten Amtes oder zum ſelbſtändigen Betriebe der

bisher ausgeübten Kunſt oder des bisher betriebenen

Gewerbes.

1) Es muß darauf erkannt werden, für immer oder auf

Zeit;

2) es kann darauf erkannt werden, für immer oder auf

Zeit;

Unter Amt iſt hier die vom Staate oder einer Korporation über-

tragene Funktion eines Sachverſtändigen, z. B. eines Phyſikus, eines

Eiſenbahnbeamten, verſtanden, vgl. §. 184. 203. 299.

IV. Konfiskation einzelner Gegenſtände.

V. Beſchränkung der freien Verfügung über das

Vermögen, entweder als von Rechtswegen eintretende Folge der Zucht-

hausſtrafe oder nach ausdrücklichem Erkenntniß, vgl. §. 73. 110.

VI. Oeffentliche Bekanntmachung des Strafurtheils.

Dieſe geſchieht nach allgemeiner Vorſchrift (§. 30.) oder wenn beſon-

ders darauf erkannt worden, ſ. §. 134. 163.

VII. Stellung unter Polizei-Aufſicht.

VIII. Einſperrung in ein Arbeitshaus, ſ. §. 120. 146.

IX. Landesverweiſung, — nur gegen Ausländer ſtatt der

Nr. VII. und VIII. genannten Strafen.

[88/0098]

Theil I. Von der Beſtrafung der Verbrechen u. Vergehen im Allg.

An dieſe Ueberſicht ſchließen ſich folgende allgemeine Bemer-

kungen an.

I. Die Strafe der Verbrechen iſt nicht nothwendig entehrend, wie

nach dem Rheiniſchen Recht; das Zuchthaus hat freilich immer den

Verluſt der bürgerlichen Ehre zur Folge, aber die Todesſtrafe nur aus-

nahmsweiſe, die Einſchließung nie.

II. Die Verwandlung einer Freiheitsſtrafe in eine andere findet

nur ſtatt, wenn von den Geſchworenen das Vorhandenſein mildernder

Umſtände feſtgeſtellt worden iſt. Die Art der Freiheitsſtrafen iſt in

jedem Fall beſtimmt angegeben, und dem Gericht nie eine Wahl zwi-

ſchen mehreren Freiheitsſtrafen überlaſſen. Nur in beſtimmten Fällen

kann vom Gericht zwiſchen Geldbuße und Gefängniß gewählt werden,

ſo daß die erſtere die mildere Strafe iſt, — und zwar bei einigen Ver-

gehen regelmäßig, bei andern nur in Folge mildernder Umſtände. Wo

dieſe letzteren eine Strafverwandlung herbeiführen, könnte man die Ein-

theilung der Strafen in ordentliche und außerordentliche anwen-

den; doch kennt das Geſetzbuch dieſe Bezeichnung nicht.

III. Auch auf die Nebenſtrafen, namentlich auf die Konfiskation

einzelner Gegenſtände, muß im Strafurtheile ausdrücklich erkannt werden.

IV. Die früheren Entwürfe nahmen bei Zumeſſung der Freiheits-

ſtrafen Rückſicht auf die unverſchuldete Unterſuchungshaft; der Entwurf

von 1847. beſtimmt hierüber

§. 18. „Wenn die Unterſuchungshaft gegen einen Angeklagten

ohne ſein Verſchulden verhängt oder verlängert worden iſt, ſo

kann hierauf bei einer demnächſt zu erkennenden Freiheitsſtrafe

oder Geldbuße dergeſtalt Rückſicht genommen werden, daß dieſe

Strafe durch jene Haft für ganz oder theilweiſe abgebüßt zu

erklären iſt.“

Dieſe Vorſchrift iſt nicht in das Geſetzbuch übergegangen, und es

fragt ſich nun, ob dadurch jede Anrechnung der unverſchuldeten Unter-

ſuchungshaft ausgeſchloſſen iſt. Schon früher iſt dieß Gegenſtand nä-

herer Erwägung geworden, da eine ähnliche Beſtimmung in dem Ent-

wurf von 1843. als überflüſſig angefochten war. Dagegen erklärte ſich

aber das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion. „Ohne beſondere geſetz-

liche Erlaubniß kann der Richter weder unter das Strafminimum gehen,

wo ein ſolches fixirt iſt, noch auch innerhalb der Strafſkala bei Zu-

meſſung der Strafe Rückſicht auf unverſchuldet erlittene Haft

nehmen.“ r)

— Daß dieſe Anſicht, ſoweit ein Heruntergehen unter das Minimum

r) Reviſion des Entwurfs von 1843. I. S. 117.

[89/0099]

Tit. I. Von den Strafen.

in Frage kommt, richtig iſt, erſcheint unzweifelhaft; wie aber verhält

es ſich mit der Anrechnung innerhalb des geſetzlichen Strafmaaßes?

Zunächſt iſt hier zu bemerken, daß in Folge der großen Umände-

rungen in der Strafrechtspflege und der geſetzlichen Beſtimmungen über

den Schutz der perſönlichen Freiheit eine Vorſchrift der angeführten Art

die Bedeutung, welche ſie früher, zumal zur Zeit des heimlichen Unter-

ſuchungsverfahrens hatte, gegenwärtig verloren hat. Auch wird darüber

kaum eine Kontrolle möglich ſein, ob der Richter bei Abmeſſung einer

Strafe, wofür das Geſetz ihm in der Regel einen ſo weiten Spielraum

gewährt, auf Thatſachen, welche mit der ſtrafbaren Handlung und dem

Grade der Verſchuldung des Thäters nicht in unmittelbarer Beziehung

ſtehen, Rückſicht genommen hat, ja zuweilen wird es kaum der gewiſſen-

hafteſten Erwägung gelingen, ſolche mehr äußerliche Momente bei der

Strafzumeſſung von den aus der That und der Perſönlichkeit des Ver-

brechers hergenommenen beſtimmt zu unterſcheiden und fern zu halten.

Im Allgemeinen iſt aber der Richter nicht für befugt zu achten, ein

Uebel, welches der Thäter nicht als Strafe erlitten hat, auf die geſetz-

liche Strafe anzurechnen. Daß das Geſetzbuch ihm dieſes Recht nicht

mehr beigelegt hat, erſcheint indeſſen nach dem Angeführten und aus

andern Gründen, die ſich gegen eine ſolche Anrechnung anführen laſſen,

gerechtfertigt; hatte doch ſchon der Entwurf von 1847. die frühere dis-

poſitive Faſſung der Vorſchrift in eine bloß fakultative umgeändert.

V. Eine andere Frage iſt es, ob dem zu einer Freiheitsſtrafe

Verurtheilten während deren Verbüßung der Aufenthalt in einem Kran-

kenhauſe auf die Strafe angerechnet werden muß. Auch hierüber enthielt

der Entwurf von 1847. eine Beſtimmung:

§. 19. „Wenn der Verurtheilte aus der Strafanſtalt wegen

körperlicher oder Geiſteskrankheit in eine öffentliche Heilanſtalt

gebracht worden iſt, ſo wird ihm die Zeit des Aufenthalts in

der Heilanſtalt auf die Strafzeit angerechnet.“

Als dieſe Frage in der Kommiſſion der zweiten Kammer zur Sprache

kam, erklärte der Kommiſſar des Juſtizminiſters, eine ſolche ausdrückliche

Vorſchrift erſcheine nicht nöthig, da ſie ſich ſchon von ſelbſt ergebe.

Man müſſe nämlich unterſcheiden:

den Aufenthalt in einer Privatheilanſtalt. Hier könne eine An-

rechnung nicht ſtattfinden, während ſie

bei der Unterbringung in einer öffentlichen Heilanſtalt allerdings

eintreten müſſe, weil hier Aufſicht und Abſchließung dieſelbe und

nur ein Wechſel des Ortes eingetreten ſei.

s)

s) Protokolle der Kommiſſion der zweiten Kammer, Sitzung vom

14. Jan. 1851. — Bericht der Kommiſſion zu §. 15.

[90/0100]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d.

Strafen.

Die Kommiſſion beruhigte ſich bei dieſer Erklärung.

VI. Die gerechte Durchführung des neuen Syſtems der Freiheits-

ſtrafen macht eine Reform des Gefängnißweſens nothwendig, welche

namentlich in einzelnen Landestheilen große Koſten verurſachen wird,

aber nichtsdeſtoweniger ganz unerläßlich geworden iſt. Schuldgefäng-

niſſe, Unterſuchungs- und Strafgefängniſſe verlangen verſchiedene Rück-

ſichten; unter den letzteren aber muß durchaus die Scheidung des Zucht-

hauſes von dem einfachen Gefängniſſe durchgeführt und von dieſem

wieder das Lokal für die Polizeihaft getrennt werden. Das ſind An-

forderungen von großer praktiſcher Bedeutung, denn — wie früher ſchon

hervorgehoben worden, t) — das Volk ſchätzt die Härte der Freiheitsſtrafe

und namentlich das Entehrende des Zuchthauſes hauptſächlich nach der

Räumlichkeit, wo die Abbüßung ſtattfindet. Es iſt eine einfache For-

derung der Gerechtigkeit, daß jedem ſeine Strafe zu Theil werde, nicht

mehr, nicht weniger; von den höheren Anſprüchen der Philanthropie iſt

hier noch gar nicht die Rede. Darum kann aber auch die Einrichtung

und Beaufſichtigung des Gefängnißweſens nicht der Verwaltung über-

laſſen werden, ſondern muß, um für die dem Erkenntniß entſprechende

geſetzliche Vollſtreckung der Freiheitsſtrafen die erforderliche Garantie zu

gewähren, an die Juſtizbehörden übergehen. u)

In der Kommiſſion der zweiten Kammer kam es namentlich zur

Sprache, wie es denn werden ſolle, wenn man ſich etwa zur Einfüh-

rung des penſylvaniſchen Syſtems entſchließen werde. Der Kommiſſar

des Juſtizminiſters bemerkte darauf: ein Geſetzentwurf über die Einfüh-

rung dieſes Syſtems ſei früher ausgearbeitet worden, doch habe man

denſelben zurückgelegt, weil gegen die Angemeſſenheit der Neuerung

ebenſo, wie in England, Frankreich und Belgien, Bedenken entſtanden

ſeien. Sollte man ſich einmal zur Annahme dieſes Syſtems entſchließen,

ſo würde das betreffende Geſetz die neue Strafe zu den jetzt angenom-

menen Strafarten in das richtige Verhältniß zu bringen haben. — Die

Kommiſſion begnügte ſich nach dieſer Mittheilung damit, die ausdrück-

liche Erklärung im Protokoll niederzulegen: daß ſie bei der vorliegenden

Berathung von der Vorausſetzung ausgegangen, daß die Freiheitsſtrafen

nicht in Gefängniſſen nach dem penſylvaniſchen Syſteme vollſtreckt

würden. v) Sie wollte damit kein Urtheil über dieſes Syſtem ausſpre-

t) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 21. Dec. 1839.

u) Reviſion a. a. O. I. S. 36-39. — Verhandlungen zwiſchen dem Juſtiz-

miniſterium und dem Miniſterium des Innern ſind über dieſen Gegenſtand ſchon ſeit

Jahren gepflogen.

v) Protokolle der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O.

[91/0101]

§§. 7. 8. 9. Die Todesſtrafe.

chen, ſondern nur die Baſis ihrer Beſchlüſſe über die Freiheitsſtrafen

beſtimmt bezeichnen.

§. 7.

Die Todesſtrafe iſt durch Enthauptung zu vollſtrecken.

Mit der Todesſtrafe iſt zugleich auf den Verluſt der bürgerlichen Ehre zu

erkennen, wenn dies entweder für einzelne Fälle im Geſetz ausdrücklich beſtimmt

iſt, oder wenn feſtgeſtellt wird, daß das mit der Todesſtrafe bedrohte Ver-

brechen unter beſonders erſchwerenden Umſtänden begangen worden iſt.

§. 8.

Die Vollſtreckung der Todesſtrafe ſoll in einem

umſchloſſenen Raume, ent-

weder auf einem Platze innerhalb der Mauern der Gefangenanſtalt oder auf

einem anderen abgeſchloſſenen Platze ſtattfinden.

Bei der Hinrichtung ſollen zugegen ſein: mindeſtens zwei Mitglieder des

Gerichts erſter Inſtanz, ein Beamter der Staatsanwaltſchaft, ein Gerichts-

ſchreiber und ein oberer Gefängnißbeamter. Von der Hinrichtung iſt dem

Gemeinde-Vorſtande des Orts, in welchem ſolche ſtattfindet, Nachricht zu er-

theilen; derſelbe hat zwölf Perſonen aus den Vertretern der Gemeinde oder

aus anderen achtbaren Mitgliedern der Gemeinde abzuordnen, um der Hin-

richtung beizuwohnen.

Außerdem iſt einem Geiſtlichen von der Konfeſſion des Verurtheilten der

Zutritt zu geſtatten.

Auch iſt dem Vertheidiger und aus beſonderen Gründen anderen Perſonen

der Zutritt zu gewähren.

Die Vollſtreckung des Todesurtheils wird durch das Läuten einer Glocke

angekündigt, welches bis zum Schluſſe der Hinrichtung andauert.

§. 9.

Der Leichnam des Hingerichteten iſt ſeinen Angehörigen auf ihr Verlangen

zur einfachen, ohne Feierlichkeiten irgend einer Art vorzunehmenden Beerdigung

zu verabfolgen.

Die Rechtmäßigkeit der Todesſtrafe iſt in neuerer Zeit häufig der

Gegenſtand philoſophiſcher Unterſuchungen geweſen, und auch vom

Standpunkte der Politik hat man ſie gründlich geprüft. w) Wer durch

ſein Gefühl gehindert wird, die Todesſtrafe principiell für rechtmäßig

zu halten, und doch nicht vermag, ſie für entbehrlich zu erklären, der

kann hier ein Problem finden, ähnlich wie bei der Frage über die

w) Mit Beziehung auf das Strafgeſetzbuch iſt die Frage beſonders erwogen im

Königlichen Staatsrath (Protokolle, Sitzung vom 18. und 21. Dec. 1839.), und in

dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß; ſ. Verhandlungen II. S. 117-174. — Vgl.

überhaupt den lehrreichen Aufſatz im Juſtiz-Miniſterial-Blatt von 1848.,

S. 247-58.

[92/0102]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d.

Strafen.

Rechtmäßigkeit des Krieges, und für ſich auf die Löſung deſſelben ver-

zichten. Wer aber dem Staate unbedingt das Recht abſpricht, über

das Leben ſeiner Bürger aus Gründen der ſtrafenden Gerechtigkeit zu

verfügen, der wird den Beweis führen müſſen, warum der Strafe gerade

hier eine Grenze geſetzt ſein ſoll, und woher denn das Recht des Staa-

tes kommt, für öffentliche Zwecke die Aufopferung des Lebens zu er-

zwingen. Durch die Hinweiſung auf das Unſchätzbare, das Unerſetzliche

des menſchlichen Lebens wird dieſer Beweis auch in ſeinem erſten Theile

nicht geführt, da vorher die Frage entſchieden werden muß, bis zu wel-

chem Maaße dem Staate die Gewalt über den Einzelnen gegeben iſt.

Auf der andern Seite wird freilich die Berufung auf altteſtamentariſche

Satzungen für die Nothwendigkeit der Todesſtrafe nur den überzeugen,

der überhaupt jene Autorität als bindend für das moderne Rechtsbe-

wußtſein anerkennt.

Wer überhaupt gewohnt iſt, das Verſtändniß über Staat und Recht

auf dem Wege der Geſchichte zu ſuchen und die Gegenwart und deren

unmittelbare Anſchauung zum Ausgangspunkt für die geſchichtliche Be-

trachtung nimmt, der wird ſich der Einſicht nicht verſchließen, daß in

keiner Zeit, unter keiner Regierungsform der Staat ſich des Rechtes

über Leben und Tod vollſtändig (z. B. auch bei Kriegsverrath, Meuterei)

entäußert hat, und daß auch jetzt noch für gewiſſe beſonders ſchwere

Verbrechen das gemeine Rechtsgefühl des Volkes die Sühnung der

Schuld nur durch den Tod für möglich hält. Das ſind die Momente,

welche der Geſetzgeber zu erfaſſen hat, wenn er, ohne den weiteren Ent-

wicklungen der Zukunft vorzugreifen, für ſein Volk und ſeine Zeit thä-

tig ſein will.

Läßt ſich aber auch von dieſem Standpunkte aus die Zuläſſigkeit

der Todesſtrafe nicht in Abrede ſtellen, ſo iſt doch ebenſo gewiß, daß

die Anſichten über ihre Anwendung in den letzten Jahrhunderten ſich

weſentlich geändert haben. Die Zahl der todeswürdigen Verbrechen hat

in den neueren Geſetzen, falls dieſe nicht den Charakter von Ausnahme-

geſetzen namentlich über den ſ. g. Belagerungszuſtand an ſich tragen,

immer mehr abgenommen, und bei der Vollſtreckung der Strafe werden

alle Verſchärfungen immer mehr entfernt. In Beziehung auf die Frage,

welche Verbrechen für todeswürdig zu erklären ſind, wird beſonders häufig

die Aufhebung der Todesſtrafe für die politiſchen Verbrechen verlangt,

und zwar hauptſächlich aus dem Grunde, weil die Strafbarkeit dieſer

Verbrechen von dem Erfolge abhange, und der glückliche Ausgang

dem Sieger Vortheil und Ehre ſtatt der Strafe zu bringen pflege. Dieß

Raiſonnement, an ſich hohl, beweiſt nur, daß wir uns in einer Zeit

befinden, in welcher die ſtaatlichen Einrichtungen nicht durch die allge-

[93/0103]

§§. 7. 8. 9. Die Todesſtrafe.

meine Rechtsüberzeugung geweiht ſind, und in dem Glauben an ihrem

Werth und ihrer Dauer keine ſichere Stütze finden. Im Allgemeinen

muß aber doch das als allgemeine Regel gelten, daß das Verbrechen

gegen das Ganze ſchwerer zu ahnden iſt als das gegen den Einzelnen

begangene, und daß denjenigen die höchſte Strafe treffen muß, welcher

den Staat in ſeiner Exiſtenz und Integrität gefährdet. Oft mag aber

auch bei denen, welche die Todesſtrafe bei politiſchen Verbrechen aus-

ſchließen wollen, die Unbeſtimmtheit des Begriffs dieſer Verbrechen ein-

wirken; obgleich doch z. B. der Landesverrath gewiß dahin gehört, und

wenn irgendwo, die Todesſtrafe hier begründet ſein kann. — Daß die-

ſelbe, namentlich bei politiſchen Verbrechen, ſo ſelten wie irgend thun-

lich, vollzogen werde, iſt ein naheliegender Wunſch; aber die Möglich-

keit ihrer Anwendung kann nicht wohl aufgegeben werden.

In dem Geſetzbuch kommt die Todesſtrafe bei folgenden Verbrechen

zur Anwendung:

1) bei dem Hochverrath, wenn das Verbrechen vollendet worden,

ſ. §. 61. 62.

2) bei dem Landesverrath, in beſonders ſchweren Fällen, ſ. §. 67.

68. 69.

3) bei einer Thätlichkeit gegen die Perſon des Königs, jedoch nur

in den ſchwereren Fällen, ſ. §. 74.

4) bei dem Morde, §. 175.

5) bei dem Todtſchlage, der in der Ausführung eines Verbrechens

(§. 178.) oder an einem leiblichen Verwandten aufſteigender

Linie verübt wird (§. 179.).

6) bei gewiſſen gemeingefährlichen Verbrechen, Brandſtiftung, Ueber-

ſchwemmung u. ſ. w., wenn ein Menſch dadurch das Leben ver-

loren hat, §. 285. 290. 294. 302. 303. 304.

Iſt die Handlung gegen eine Telegraphenanſtalt verübt, ſo tritt

wegen des geringeren Grades der gemeinen Gefahr in dieſem Fall die

Todesſtrafe nicht ein, §. 297., und ſelbſt bei der Nothzucht und der

Vergiftung ſoll, wenn die Abſicht nicht auf Tödtung ging, obgleich dieſe

erfolgt iſt, nur auf lebenslängliches Zuchthaus erkannt werden, §. 144.

197. Den Grund dieſer Beſtimmung muß man eben darin ſuchen, daß

der Begriff der gemeinen Gefahr hier keine Anwendung findet.

I. Nach dem Geſetzbuch §. 7. iſt mit der Todesſtrafe zugleich

auf den Verluſt der bürgerlichen Ehre zu erkennen, und zwar

1) wenn dieß für einzelne Fälle im Geſetz ausdrücklich beſtimmt iſt.

Das iſt geſchehen

a. bei dem Hochverrath, im Fall der Gefährdung des Le-

bens, der Geſundheit oder der Freiheit des Königs, §. 61.;

[94/0104]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

b. bei dem Landesverrath, wenn eine fremde Regierung

zum Kriege gegen Preußen veranlaßt worden iſt, §. 67.;

c. bei dem Morde, wenn derſelbe an leiblichen Eltern oder

Großeltern oder an dem Ehegatten verübt iſt, §. 175.

2) wenn feſtgeſtellt wird, daß das mit der Todesſtrafe bedrohte

Verbrechen unter beſonders erſchwerenden Umſtänden begangen

worden iſt. Es wird alſo nach den Vorſchriften des Geſetzes

darüber eine Frage an die Geſchwornen zu ſtellen ſein. x)

In der Kommiſſion der zweiten Kammer wollte man dieſe Hinzu-

fügung des Verluſtes der bürgerlichen Ehre zur Todesſtrafe nicht als

eine eigentliche Schärfung anſehen, und vermied daher den Ausdruck,

was inſofern richtig, als die Erſchwerung nicht in einer Qualifikation

der Hauptſtrafe beſteht. Aber gegen die ganze Verbindung laſſen ſich

gewichtige Bedenken erheben. Mit dem Tode, der höchſten Strafe, wird

auch die ſchwerſte Schuld auf Erden geſühnt; auch hier wieder Abſtu-

fungen eintreten zu laſſen, geht über die Aufgabe der ſtrafenden Gerech-

tigkeit. Soll aber dennoch eine Erſchwerung hinzugefügt werden, dann

muß ſie im Sinne der früheren Geſetzgebung auf die Hauptſtrafe ſich

unmittelbar beziehen, um das Schimpfliche und Entehrende unmittelbar

zur Anſchauung des Volkes zu bringen, und die Familie des Verurtheil-

ten nicht ſtatt ſeiner ſelbſt zu treffen. — Die Aberkennung der bürger-

lichen Ehre hat hier eigentlich keinen Sinn; denn wenn darin, wie ſpä-

ter gezeigt werden ſoll, der Verluſt beſtimmter ſtaatsbürgerlicher und

bürgerlicher Rechte liegt, ſo kann für den, welcher dem Tode verfallen

iſt, kaum eine Bedeutung darin gefunden werden. Wenn dieß unter

Umſtänden, bei der Flucht des Verbrechers, der Begnadigung ſich anders

verhält, ſo kann die zufällige Wirkung einer Strafbeſtimmung ihre Auf-

ſtellung im Allgemeinen nicht rechtfertigen. — Die Kommiſſion trat die-

ſen Gründen jedoch nicht bei, indem namentlich darauf Gewicht gelegt

wurde, daß doch auch von dem Tage des rechtskräftigen Urtheils an

bis zur Hinrichtung der Ehrenſtrafe nicht alle Wirkung abzuſprechen

ſei. y) — Bei der Entſcheidung der Frage, ob zu der Todesſtrafe der

Verluſt der bürgerlichen Ehre noch hinzutreten ſoll, wird im einzelnen

Fall nicht der allgemeine Begriff der Ehrloſigkeit, Niederträchtigkeit

u. ſ. w. den Ausſchlag geben können, ſondern es kommt darauf an, ob

das beſtimmte Verbrechen: dieſer Mord, dieſe Brandſtiftung unter

beſonders erſchwerenden Umſtänden begangen worden iſt.

x) Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. XXIV.

y) Kommiſſionsbericht der zweiten Kammer zu §. 7. Vergl. auch

Verhandlungen des vereinigten ſtänd. Ausſchuſſes II. S. 571. ff.

[95/0105]

§§. 7. 8. 9. Die Todesſtrafe.

II. Die Strafe wird vollſtreckt durch Enthauptung. Die Ent-

würfe von 1827. und 1830. nennen das Fallbeil als das Inſtrument,

mit welchem die Hinrichtung zu vollziehen ſei; und da in den ſpäteren

Entwürfen dieſe Beſtimmung fehlte, ſo beantragte der vereinigte ſtän-

diſche Ausſchuß faſt einſtimmig, daß die Enthauptung durch Anwendung

des Fallbeils zu vollſtrecken und dieß im Geſetz auszudrücken ſei. z)

Der Entwurf von 1850. hatte aber dieſem Antrage keine Folge gegeben,

und auch in das Geſetzbuch iſt die Beſtimmung nicht aufgenommen

worden. Der Kommiſſionsbericht der zweiten Kammer ſagt darüber:

„Der Entwurf ſetzt die Enthauptung als die einzig zuläſſige To-

desſtrafe feſt, ſchweigt aber darüber, wie dieſelbe zu vollſtrecken iſt.

Daraus folgt, daß es bis auf Weiteres bei den beſtehenden Beſtimmun-

gen verbleiben, mithin vorläufig im Bezirk des Appellations-Gerichts-

hofes zu Köln das Fallbeil, im übrigen Umfange der Monarchie aber

das Beil des Scharfrichters beibehalten werden ſoll. Die Kommiſſion

hält es nun allerdings für wünſchenswerth, in der ganzen Monarchie

nur eine Art der Enthauptung zuzulaſſen. Sie würde ſich auch, wenn

eine Beſtimmung hierüber in das Strafgeſetzbuch aufgenommen werden

ſollte, unbedenklich für die allgemeine Einführung des Fallbeils aus-

ſprechen. Sie erkennt indeß an, daß die öffentliche Meinung gegen dieſe

Art der Hinrichtung noch vielfach eingenommen iſt, a) und daß es des-

halb den Vorzug verdient, die Herſtellung einer gleichmäßigen Hinrich-

tungsart einem ſpäteren Geſetze vorzubehalten.“

III. Das Rheiniſche Recht enthält die Vorſchrift, daß die Todes-

ſtrafe an einer ſchwangeren Frau erſt nach ihrer Entbindung zu voll-

ſtrecken iſt. b) Dieß darf als ſich von ſelbſt verſtehend angenommen

werden, da auch die Leibesfrucht unter den Schutz der Geſetze geſtellt

iſt, und die Vollziehung der Strafe an einer Schwangeren über die Ab-

ſicht des Geſetzes und des Urtheils hinausgehen würde.

IV. Die Oeffentlichkeit der Hinrichtungen, die bisher im Sinne

der Abſchreckungstheorie (Kriminalordnung §. 546.) unbedingt ſtatt fand,

iſt in dem Strafgeſetzbuch §. 8. weſentlich beſchränkt worden, indem die

ſ. g. Intramuran-Hinrichtung Aufnahme gefunden hat. Die Erfahrung

hat gezeigt, daß die Vollſtreckung der Todesſtrafe auf öffentlichen Plätzen,

(die ſ. g. Extramuran-Hinrichtung) unter dem Zudrange großer Volks-

maſſen mit manchen Uebelſtänden verbunden iſt, daß zu leicht ein Schau-

ſpiel für Neugierige daraus wird. In Nordamerika hat man daher an

z) Verhandlungen II. S. 161.

a) Die Richtigkeit dieſer Behauptung wurde in der Kommiſſion freilich von meh-

reren Seiten in Abrede geſtellt.

b) Code pénal art. 27.

[96/0106]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u.:Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

deren Stelle die Hinrichtung innerhalb der Gefängnißmauern unter Zu-

ziehung einer Anzahl von Perſonen, die theils durch ihren Beruf dazu

beſtimmt ſind, theils aus den Bürgern des Orts beſonders dazu ge-

wählt und berufen werden, treten laſſen. c) Dieſe Abänderung hat ſich

in Nordamerika bewährt; auch in Belgien iſt ihre Einführung vorge-

ſchlagen worden. d) In der Kommiſſion der zweiten Kammer entſchied

man ſich einſtimmig für dieſe Art der Vollſtreckung, und ſuchte nur da-

für vollſtändige Garantie, daß auch jeder Schein der heimlichen Hin-

richtung vermieden, und die Möglichkeit gegeben werde, anderen Perſo-

nen, die nicht im Geſetz ausdrücklich genannt ſind, aus beſonderen

Gründen die Anweſenheit zu geſtatten. Man dachte dabei namentlich

an die Angehörigen des Verurtheilten.

1) Unter den im zweiten Abſatz genannten Mitgliedern des Ge-

richts erſter Inſtanz ſind nicht die richterlichen Mitglieder des Schwur-

gerichtshofs verſtanden, ſondern die des betreffenden Kreis- oder bezie-

hungsweiſe Stadt- oder Landgerichts, weil dieſe Gerichte die Geſchäfte

zu beſorgen haben, welche die Verhandlungen vor dem Schwurgericht

vorbereiten und dem Erkenntniſſe nachfolgen.

2) Im zweiten Abſatz des §. 8. hatte die Regierungsvorlage we-

gen Zuziehung der zwölf Gemeindeglieder den Ausdruck gewählt: „welche

der Hinrichtung beiwohnen können.“ Dieſe Einräumung der Befugniß

hielt man für den Zweck der Anordnung nicht für genügend, und ſetzte

dafür die Worte: „welche der Hinrichtung beizuwohnen haben.“ Um

aber nicht die Anſicht aufkommen zu laſſen, daß die Abweſenheit der

einen oder der andern dieſer Perſonen die Aufſchiebung der Vollſtreckung

c) Motive zum Entwurf von 1850., §. 8. Vergl. Mittermaier und

v. Mohl, kritiſche Zeitſchrift für Rechtswiſſenſchaft und Geſetzgebung des Auslandes.

Band 17. S. 1-30. Revised Statuty of the State of New-York. Band 2.

S. 458. §. 25-38. Bd. 3. S. 810.

d) In Belgien wird eine Reform des Strafgeſetzbuchs vorbereitet; die Vor-

ſchläge der dazu niedergeſetzten Kommiſſion, welche die einleitenden Beſtimmungen und

das erſte Buch umfaſſen, ſind von der Regierung, mit Ausnahme der Aufhebung der

lebenslänglichen Rekluſion, adoptirt und unter dem 12. Dez. 1849. als Geſetzesvor-

ſchlag an die Kammern gebracht worden. S. Code pénal. Revision du titre

préliminaire et du livre premier. Extrait des annales de la Chambre des

Représentants. Bruxelles, Imprimerie de Deltombe, 1850. 3 Hefte in Fol.

Hier heißt es: Art. 13. Tout condamné à mort aura la tête tranchée. Art. 14.

L'exécution se fera dans l'enceinte de la prison qui sera indiquée par l'ar-

rêt de condemnation. Art. 15. La condemnation sera exécutée en pré-

sence de deux membres de la cour d'appel ou du tribunal de première in-

stance, d'un officier du ministère public, du greffier de la cour d'assisses,

du directeur et du médicin de la prison, d'un on de plusieurs ministres

du culte et de douze témoins au moins. A l'heure indiquée pour l'exécu-

tion, les cloches sonneront le glas. Le procès-verbal d'exécution,

dressé par le greftier, sera signé par lui et par les autres fonctionnaires ci

dessus indiqués.

[97/0107]

§§. 7. 8. 9. Die Todesſtrafe.

nothwendig mache, wählte man zuletzt die Bezeichnung: um der Hin-

richtung beizuwohnen.

V. Die Vorſchrift in §. 9. über die Behandlung der Leiche des

Hingerichteten war um ſo nöthiger, da nur das Rheiniſche Recht bisher

darüber etwas verfügte, und ſelbſt die Allgemeine Kriminalordnung

§. 547., obgleich eigentlich sedes materiae, die Frage mit Stillſchwei-

gen übergangen hat.

VI. Es wird hier der Ort ſein, ſchließlich der Beſtätigung der

Todesurtheile durch den Landesherrn zu gedenken.

Die ältere Geſetzgebung kannte die Beſtätigung richterlicher Straf-

urtheile in einem ſehr ausgedehnten Umfange, und zwar ſowohl durch

den Landesherrn, als durch den Juſtizminiſter.

Rückſichtlich des Landesherrn beſtimmt der §. 8. Th. II. Tit. XIII.

des Allgem. Landrechts:

Todesurtel, ingleichen ſolche, die eine zehnjährige Gefängniß-

ſtrafe, oder noch längere oder härtere Strafe feſtſetzen, können

ohne ausdrückliche Beſtätigung des Oberhauptes im Staate

nicht vollzogen werden.

Der §. 530. der Kriminalordnung wiederholt dieſe Beſtimmung des

Landrechts, indem er feſtſetzt:

Todesurtel, ingleichen ſolche, die eine zehnjährige Gefängniß-

oder noch härtere Strafe feſtſetzen, können ohne unmittelbare Be-

ſtätigung nicht vollzogen werden,

und endlich fügt der §. 201. Th. II. Tit. 20. des Allg. Landrechts hinzu:

Alle über dies Verbrechen der beleidigten Majeſtät — §. 197. bis

200. — abgefaßten Straferkenntniſſe müſſen dem Landesherrn

beſonders vorgelegt, und ihm anheim geſtellt werden, in wie fern

er dabei von ſeinem Begnadigungsrechte Gebrauch machen wolle.

In Bezug auf die miniſterielle Beſtätigung enthalten die §§. 508-512.

der Krim.-Ord. eine ganze Reihe von Verbrechen, bei welchen eine Be-

ſtätigung des ergangenen Urtels durch das „Kriminaldepartement des

Juſtizminiſteriums“ nöthig ſein ſolle.

Schon eine Kabinetsordre vom 15. Juli 1809. (Geſetzſammlung

von 1806., S. 576-577.) ſchränkt die landesherrliche Beſtätigung er-

heblich ein, indem ſie nur:

Todesurtel und ſolche, welche auf lebenswierige Beraubung

der Freiheit ausgefallen ſind,

der Beſtätigung durch den Monarchen vorbehielt. Die miniſterielle

Beſtätigung — denn nichts anderes war die durch das Kriminaldepar-

tement — gleichfalls ſchon durch jene Kabinetsordre eingeſchränkt, ward

es noch mehr durch eine fernere Ordre vom 9. Juni 1821. (Geſetzſamml.

Beſeler Kommentar. 7

[98/0108]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

S. 100.), ſo wie den Allerhöchſten Erlaß vom 4. Dezbr. 1824. (Ge-

ſetzſamml. S. 221.), welcher beſtimmt:

daß fortan die Einſendung der Kriminal-Erkenntniſſe zur Beſtä-

tigung des Juſtizminiſters nur dann ſtatt finden ſolle, wenn

die Unterſuchung wegen Hochverraths, Landesverrätherei, oder

beleidigter Majeſtät eröffnet, und jeder Zeit wenn auf Todes-

ſtrafe, oder lebenswierige Freiheitsſtrafe erkannt worden.

Die durch das Geſetz vom 17. Juli 1846. (§. 23., Geſetzſ. S. 272.)

angebahnte gänzliche Aufhebung der miniſteriellen Beſtätigung iſt end-

lich durch die Verordnung vom 3. Januar 1849. (Geſetzſ. S. 18.) für

den ganzen Umfang der Monarchie zur Ausführung gekommen, indem

der §. 26. jener Verordnung es ausſpricht:

daß eine Beſtätigung des richterlichen Urtels durch den Juſtiz-

miniſter nicht ferner ſttatt finde.

Nachdem die landesherrliche Beſtätigung der wegen Majeſtätsbeleidigung

ergangenen Erkenntniſſe durch die Verordnung vom 12. Septbr. 1841.

(Geſetzſ. S. 289.) aufgegeben worden, die landesherrliche Beſtätigung

anderer auf Freiheitsſtrafe lautenden Kriminalurtel aber gleichfalls für

fortgefallen zu erachten iſt, ſeitdem die Einreichung ſolcher Erkenntniſſe

an den Juſtizminiſter aufgehoben worden; ſind nur noch — abgeſehen

von den gegen Militairperſonen ergangenen Urtheilen (ſ. Militairſtraf-

gerichtsordnung §. 154. Geſetzſ. von 1845. S. 355.) — die auf die

Todesſtrafe lautenden Erkenntniſſe der Königlichen Beſtätigung vor-

behalten.

Es ſteht aber mit Zuverſicht zu erwarten, daß die fortſchreitende

Geſetzgebung auch dieſe Beſtätigung aufgeben wird.

Es kann dahin geſtellt bleiben, in wie weit jenes Beſtätigungsrecht

des Monarchen unſerer früheren Staats- und Rechtsverfaſſung entſprach,

oder wohl gar als ein Ausfluß der patrimonialen Richtergewalt des

Landesherrn gerechtfertigt werden konnte. Dem Stande der jetzigen

Geſetzgebung entſpricht ſie jedenfalls nicht.

Alle Urtheile werden jetzt „im Namen des Königs“ geſprochen —

Verordnung vom 2. Januar 1849. §. 23. (Geſetzſ. S. 11.) — Ver-

faſſungsurkunde Art. 86.; es enthält ſomit ſchon in ſich einen Wider-

ſpruch, ein „im Namen des Landesherrn“ geſprochenes Urtel demnächſt

durch dieſen beſtätigen zu laſſen, und es, bis dieß geſchehen, als ein

nicht-geſprochenes anzuſehen.

Es iſt überdieß ein ſolches Beſtätigungsrecht auch deswegen be-

denklich, weil es den Monarchen in eine Lage bringen kann, welche es

ihm ſchwer macht, das Recht der Begnadigung in freier, objektiver Er-

wägung der Verhältniſſe auszuüben; ja es führt den Monarchen auf

[99/0109]

§§. 10. 11. Die Zuchthausſtrafe.

ein Gebiet, auf welchem nur der Spruch des Richters, der legis instar

gelten muß, ſich in ungefährdeter Autorität behauptet.

Erwägungen dieſer und ähnlicher Art ſind es ohne Zweifel gewe-

ſen, die den jetzt regierenden Monarchen bald nach ſeinem Regierungs-

antritte bewogen haben, die frühere Form der Beſtätigung von Todes-

urtheilen aufzugeben, und an ihre Stelle die Formel zu ſetzen:

„daß der Gerechtigkeit freier Lauf zu laſſen.“

Der Einwand endlich: daß durch das Aufgeben der Landesherr-

lichen Beſtätigung leicht eine Beeinträchtigung des landesherrlichen Be-

gnadigungsrechtes herbeigeführt werden könnte, widerlegt ſich, wenn man

— wie der Entwurf der neuen Strafprozeßordnung es §. 514. vor-

ſchlägt:

ein Todesurteil nicht eher vollſtrecken läßt, als bis feſt ſteht, daß

der König von ſeinem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch ge-

macht habe — (Juſtizminiſterial-Blatt von 1851. S. 143.) —

und es ſcheint in dieſem Vorſchlage überhaupt der richtige Weg getrof-

fen zu ſein, auf welchem die vielberufene Frage über das landesherr-

liche Beſtätigungsrecht bei Todesurtheilen in angemeſſener, der Gerech-

tigkeit und Autorität des Landesherrn gleich entſprechender Weiſe, von

der Geſetzgebung wird gelöſt werden müſſen.

§. 10.

Die Zuchthausſtrafe iſt entweder eine lebenslängliche oder eine zeitige.

Die Dauer der zeitigen Zuchthausſtrafe iſt mindeſtens zwei Jahre und

höchſtens zwanzig Jahre.

§. 11.

Die zur Zuchthausſtrafe Verurtheilten werden in einer Strafanſtalt verwahrt

und zu den in derſelben eingeführten Arbeiten angehalten.

Während der Strafzeit ſind die zur Zuchthausſtrafe Verurtheilten unfähig,

ihr Vermögen zu verwalten und unter Lebenden darüber zu verfügen; ſie wer-

den nach den Formen, die zur Ernennung der Vormünder vorgeſchrieben ſind,

unter Vormundſchaft geſtellt; auch darf ihnen während der Strafzeit kein Theil

ihres Vermögens oder ihrer Einkünfte verabfolgt werden.

Die Verurtheilung zur Zuchthausſtrafe zieht den Verluſt der bürgerlichen

Ehre von Rechtswegen nach ſich.

Die Zuchthausſtrafe iſt diejenige Strafe, welche gewöhnlich bei

Verbrechen zur Anwendung kommt; ſie findet ſich daher ſehr häufig in

dem Geſetzbuch. Ihrer Dauer nach iſt ſie entweder eine lebenslängliche

oder zeitige.

I. Die lebenslängliche Zuchthausſtrafe. Dieſe iſt an-

gedroht

7*

[100/0110]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

1) unbedingt, ſo daß dem Richter die Wahl einer geringeren Dauer

nicht freigeſtellt iſt. § 144. 176. 182. 197. 233.

2) als höchtes Strafmaaß, neben welchem ein Minimum beſteht,

und zwar von fünfjährigem (§. 63. 64.) oder von zehnjährigem

Zuchthaus (§. 285. 290. 301.).

II. Die zeitige Zuchthausſtrafe.

1) Nur ſelten iſt ein Verbrechen ſchlechthin mit Zuchthaus bedroht,

ſo daß der Richter eine Strafe von zwei- bis zwanzigjähriger

Dauer auferlegen kann; ſ. §. 144. 312. 313. 320.

2) Gewöhnlich iſt das im Geſetz aufgeſtellte niedrigſte Maaß von

zwei Jahren beibehalten worden,

§. 65. 66. 69. 70. 78. 83. 91. 96. 125. 126. 127. 128.

130. 138. 139. 141. 142. 145. 148. 181. 183. 193. 195.

197. 205. 207. 210. 218. 219. 236. 238. 239. 240. 259.

260. 284. 286. 294. 297. 301. 302. 310. 314. 317. 319.

321. 322. 329.

Außerdem kommt ein Minimum von drei Jahren vor,

§. 68. 316. 325.

von fünf Jahren,

§. 71. 76. 121. 122. 180. 182. 204. 219. 231. 240.

291. 304.

und von zehn Jahren,

§. 67. 70. 74. 82. 126. 127. 128. 194. 197. 232. 285.

290. 294. 297. 301. 302. 303.

3) Als höchſtes Maaß der zeitigen Zuchthausſtrafe iſt vorgeſchrieben

die zwanzigjährige Dauer,

§. 67. 70. 71. 74. 76. 82. 126. 180. 182. 194. 197. 204.

219. 232. 240. 291. 294. 297. 302. 303. 316.

die funfzehnjährige Dauer,

§. 121. 122. 193. 205. 210. 219. 231. 239. 240. 259. 284.

301. 304. 317.

die zehnjährige Dauer,

§. 65. 68. 69. 70. 78. 91. 96. 125. 126. 127. 128. 138.

183. 195. 197. 207. 218. 238. 260. 286. 294. 297.

302. 325.

die achtjährige Dauer

§. 83.

und die fünfjährige Dauer,

§. 66. 130. 139. 141. 142. 145. 148. 181. 236. 310. 314.

319. 321. 322. 329.

[101/0111]

§§. 10. 11. Die Zuchthausſtrafe.

III. Die Wirkungen der Zuchthausſtrafe beſtehen in der Beſchaf-

fenheit des Ortes, wo der Verurtheilte aufbewahrt wird, in dem Zwang

zu beſtimmten Arbeiten, in der Beſchränkung der Rechtsfähigkeit in Be-

ziehung auf das Vermögen und in dem Verluſt der bürgerlichen Ehre.

Ueber den letzteren Punkt iſt bei dem folgenden §. zu handeln; hier

ſind nur in Beziehung auf die Vermögensverhältniſſe einige Bemerkun-

gen zu machen.

Der Entwurf von 1843. enthielt die aus dem Entwurf von 1827.

aufgenommene, vom Staatsrathe ohne Abſtimmung gebilligte e) Be-

ſtimmung:

§. 12. „Während der Strafzeit ſind die zur Zuchthausſtrafe

Verurtheilten unfähig zur Verwaltung ihres Vermögens und

zur Verfügung darüber unter Lebenden; auch darf ihnen kein

Theil ihres Vermögens oder ihrer Einkünfte zur freien Verfü-

gung verabfolgt werden.“

Gegen dieſe dem Rheiniſchen Recht nachgebildete f) Vorſchrift waren

verſchiedene Monita erhoben worden, indem namentlich die weſtphäli-

ſchen Stände den erſten Satz geſtrichen haben wollten, beſonders weil

er ohne Nothwendigkeit eine koſtſpielige Kuratel oft nur für kurze Zeit

bedinge. g) Die Staatsraths-Kommiſſion trat dieſem Bedenken bei, h)

und der Paragraph ward daher aus dem Entwurf von 1847. entfernt,

iſt aber jetzt nach dem Vorſchlage der Staatsregierung in das Geſetzbuch

aufgenommen worden, und zwar unter Hinzufügung der Beſtimmung

über die Beſtellung einer Vormundſchaft. Die Gründe, welche für eine

ſolche Beſchränkung der Rechtsfähigkeit in den früheren Verhandlungen,

mit Bezugnahme auf §. 53. und 568. der Kriminalordnung angeführt

worden ſind, laſſen ſich darauf zurückführen, daß im Intereſſe der Fa-

milie und des Verurtheilten ſelbſt eine Vermögenskuratel nothwendig

ſein könne, und daß dem Letzteren, um die ſtrenge Vollziehung der Strafe

e) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 21. Dec. 1839. zur

Frage Nr. 6.

f) Code pénal Art. 29. Quiconque aura été condamné à la peine

des travaux forcés à temps ou de la reclusion, sera, de plus, pendant la

durée de sa peine, en état d'interdiction legale; il lui sera, nominé un cura-

teur pour gerer et administrer sès biens, dans les formes prescrites pour

la nomination des tuteurs aux interdits. Art. 30. Les biens du condamné

lui seront remis après qu'il aura subi sa peine, et le curateur lui rendra

compte de son administration. Art. 31. Pendant la durée de la peine, il

ne pourra lui être remis aucune somme, aucune provision, aucune portion

de ses revenus.

g) Reviſion von 1845. I. S. 41-43.

h) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 17. 18.

[102/0112]

Th. 1. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. 1. Von d. Strafen.

zu ſichern, die Möglichkeit entzogen werden müſſe, Verwendungen aus

ſeinem Vermögen zu machen. i)

1) Die Beſtellung einer Vormundſchaft hat die Vertretung des

Verurtheilten in Beziehung auf die Vermögensverwaltung zum Zweck;

darauf weiſen die Beſtimmungen des Rheiniſchen Rechts hin, die hier

Quelle geweſen ſind, desgleichen die früheren Verhandlungen und der

Zuſammenhang des §. 11. Abſatz 2. — Hat daher der Verurtheilte

gar kein Vermögen, ſo wird die Beſtellung der Vormundſchaft (Kuratel)

unterbleiben können, da ſie ſich auf die Ausübung der eigentlichen Fa-

milienverhältniſſe des Verurtheilten nicht bezieht.

2) Die Beſchränkung gilt nur während der Strafzeit; nach deren

Beendigung iſt dem Verurtheilten ſein Vermögen auszuliefern, und von

dem Vormunde nach den Vorſchriften der Geſetze Rechnung zu legen.

3) Dem Verurtheilten ſoll kein Theil ſeines Vermögens oder

ſeiner Einkünfte während der Strafzeit verabfolgt werden; eine Ver-

wendung aber in deſſen Intereſſe, z. B. in Krankheitsfällen, durch Ver-

mittlung der Behörde iſt, ſoweit die Ordnung der Anſtalt dieß zuläßt,

durch das Geſetz nicht ausgeſchloſſen. Es kann von keinem Einfluß

ſein, ob die Mittel zu dieſem Behuf aus dem Vermögen des Verur-

theilten oder eines Dritten genommen werden. k)

4) Die Pflichten, welche der Verurtheilte in Beziehung auf Ali-

mentation, Dotirung u. ſ. w. gegen ſeine Familie hat, ſind von dem

Vormunde zu erfüllen. l)

§. 12.

Der Verluſt der bürgerlichen Ehre umfaßt:

1) den Verluſt des Rechts, die Preußiſche National-Kokarde zu tragen;

2) die Unfähigkeit, öffentliche Aemter, Würden, Titel, Orden und Ehren-

zeichen zu führen oder zu erlangen, ſowie den Verluſt des Adels;

3) die Unfähigkeit, Geſchworener zu ſein, in öffentlichen Angelegenheiten

zu ſtimmen, zu wählen oder gewählt zu werden, oder die aus öffent-

lichen Wahlen hervorgegangenen oder andere politiſche Rechte aus-

zuüben;

4) die Unfähigkeit, als Zeuge oder Sachverſtändiger eidlich vernommen

zu werden, oder als Zeuge bei der Aufnahme von Urkunden zu dienen;

5) die Unfähigkeit, Vormund, Nebenvormund, Kurator, gerichtlicher Bei-

ſtand oder Mitglied eines Familienrathes zu ſein, es ſei denn, daß es

i) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 53. 54. — Protokolle der

Staatsraths-Kommiſſion I. (Berlin, 1839.) S. 25. 26.

k) Reviſion von 1845. I. S. 43.

l) Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. T. I.

chap.. VI.

[103/0113]

§. 12. Verluſt der bürgerlichen Ehre.

ſich um die eigenen Kinder handle und die obervormundſchaftliche Be-

hörde oder der Familienrath die Genehmigung ertheile.

6) den Verluſt des Rechts, Waffen zu tragen und die Unfähigkeit, in die

Armee einzutreten.

Der Verluſt der bürgerlichen Ehre tritt mit dem Tage ein, an welchem das

Urtheil rechtskräftig wird.

Inſofern nach den beſtehenden beſonderen Vorſchriften, in Folge der Bege-

hung von ſtrafbaren Handlungen, der Verluſt noch anderer, als der vorſte-

hend erwähnten Rechte, namentlich der Mitgliedſchaft an kaufmänniſchen und

anderen Korporationen eintritt, behält es bei dieſen Beſtimmungen ſein Be-

wenden.

Wenn man die Gründe aufſucht, welche die Lehre von der Ehr-

loſigkeit und den verwandten Rechtsinſtituten im gemeinen deutſchen

Rechte verdunkelt und für die Praxis faſt ganz bedeutungslos gemacht

haben; ſo ergiebt ſich, daß die Jurisprudenz in dieſer Lehre lange Zeit

das Verſtändniß von der Kontinuität der Rechtsentwicklung verloren

hatte, und daß auch die Geſetzgebung es nicht vermochte, eine Reform,

die hier nothwendig erſchien, ſelbſtändig durchzuführen.

Zunächſt kommt es darauf an, den Begriff der Ehre in ihrem

techniſchen Sinn feſtzuſtellen. Verſteht man unter Ehre die Anerkennung

der perſönlichen Achtbarkeit in der öffentlichen Meinung, wie der gute

Name und Ruf ſie herbeiführen, ſo verſetzt man dieſelbe auf ein Gebiet,

welches der Einwirkung der Staatsgewalt immer nur in ſehr beſchränkter

Weiſe unterworfen iſt. Es kann freilich die Schmälerung auch dieſer

Ehre durch ein Straferkenntniß unmittelbar herbeigeführt werden, und

wenn das Geſetz mit der Volksüberzeugung in dem rechten Einklang

ſteht, ſo wird es ſogar regelmäßig der Fall ſein; aber nothwendig iſt es

nicht, da die öffentliche Meinung ſich ihre ſelbſtändige Entſcheidung

nicht nehmen läßt. Auch macht ſich dieſelbe in ihrem Urtheile über die

Würdigkeit einzelner Perſonen nicht bloß da geltend, wo die Strafrechts-

pflege ihre Thätigkeit beginnt, ſondern über deren Grenzen hinaus zieht

ſie die Unſittlichkeit der Handlungsweiſe, auch wenn ſie ſich nicht in

einem Verbrechen offenbart hat, vor ihr Forum. Der Staat muß ſich

aber im Allgemeinen darauf beſchränken, die ſittliche Verworfenheit,

welche in der Verübung einer ſtrafbaren Handlung hervortritt, nach

dem Maaße der geläuterten Volksüberzeugung abzuwägen, und darnach

zu beſtimmen, ob ſie den Verbrecher unfähig machen ſoll, gewiſſe Rechte,

welche vom Staate gewährt werden und alſo auch entzogen werden

können, auszuüben. Der Inbegriff dieſer Rechte macht die bürgerliche

Ehre aus. m)

m) G. Beſeler, Syſtem des gemeinen deutſchen Privatrechts. I. §. 60 ff.

[104/0114]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

So faßte auch das Mittelalter die Sache auf, nur daß hier der

Einfluß der Korporationen und Stände größtentheils die Aufgabe des

modernen Staates erfüllte. Die Friedloſigkeit hob jede Rechtsfä-

higkeit auf, ſtellte den Geächteten außer dem Geſetz. Die Rechtloſig-

keit war der Verluſt der Freiheitsrechte, die Ehrloſigkeit der Verluſt

der Ehre als Inbegriff der beſonderen Standesrechte gedacht. Dieſe

gaben im ſpäteren Mittelalter dem öffentlichen Rechtsleben faſt ſeinen

ganzen Inhalt, traten aber allmählich vor der Entwicklung des moder-

nen Staatsbürgerthums zurück. Dadurch ward der Begriff der Ehr-

loſigkeit unſicher und ſchwankend, und als nun noch die römiſche In-

famie — in der ſpäteren Kaiſerzeit faſt ohne Bedeutung — von den

Juriſten hineingezogen wurde, wußte man der ganzen Lehre kaum ein

praktiſches Intereſſe abzugewinnen.

Das Allgemeine Landrecht iſt ein Ausdruck dieſer Entwicklung der

gemeinrechtlichen Doktrin; die wenigen Beſtimmungen, welche es über

Ehrloſigkeit, Verluſt der Ehre enthält, ſtehen vereinzelt und ohne daß

ſich die rechtlichen Wirkungen mit Sicherheit beſtimmen ließen. Aber

das Bedürfniß der Reform machte ſich geltend, und es iſt intereſſant,

daß es gerade in der Zeit des patriotiſchen Aufſchwungs im Jahre 13.

und vom Standpunkte der ſittlichen Würdigung des Staatsbürgerrechts

aus geſchah. n) Das Recht, die National-Kokarde zu tragen, ſollte nach

der Verordnung vom 22. Febr. 1813. verwirkt werden durch Feigheit

vor dem Feinde, durch Ausweichen des Kriegsdienſtes und durch Fe-

ſtungs- oder Zuchthausarreſt mit Strafarbeit. Aber die Eh-

renſtrafe als Folge dieſer Strafarten auszuſprechen, war deswegen im

hohen Grade bedenklich, weil dieſelben nach dem Allgemeinen Landrecht

nicht bloß auf ſchwere, entehrende Verbrechen geſetzt waren, ſondern

auch wegen geringerer Verſchuldung, ja wegen bloßer Fahrläſſigkeit ein-

treten konnten, und in ihrer Anwendung zum Theil von dem Stande

des Verbrechers abhingen. Die Verordnung vom 22. Febr. erfuhr da-

n) B. D. v. 22. Febr. 1813. (G.-S. 1813. S. 22.). In Erwägung, daß

die herzerhebende allgemeine Aeußerung treuer Vaterlandsliebe ein äußeres Kennzeichen

derſelben für alle Staatsbürger fordert, verordnen Wir, daß: 1) auch außer dem

Kriegsdienſte von allen Männern, die das zwanzigſte Jahr zurückgelegt haben, die

Preußiſche National-Kokarde von bekannter Farbe, ſchwarz und weiß, am Hute ge-

tragen werden ſoll, wenn dieſe Ehre von ihnen nicht verwirkt iſt; 2) die Kokarde

wird getragen von allen, welche in Unſerm Staate geboren ſind, oder die Rechte Un-

ſerer Unterthanen durch Anſiedlung oder Eintritt in Unſern Dienſt erlangt haben;

3) das Recht, die Kokarde zu tragen, wird verwirkt durch Feigheit vor dem Feinde,

durch die Beſtimmung des heutigen Geſetzes über das Ausweichen des Kriegsdienſtes

und durch Feſtungs- oder Zuchthausarreſt mit Strafarbeit verbunden. Das ſtets an-

weſende Sinnbild von dem Panier des Vaterlandes muß Jeder, der es in der Ko-

karde trägt, mit der Erinnerung an ſeine heiligſten Pflichten, doppelt erfüllen.

[105/0115]

§. 12. Verluſt der bürgerlichen Ehre.

her bald eine Abänderung, und zwar in der Form einer Deklaration,

welche beſtimmte, daß außer der Feigheit vor dem Feinde und dem Aus-

weichen des Kriegsdienſtes nur ſolche Verbrechen oder Vergehungen den

Verluſt des Rechts, die National-Kokarde zu tragen, nach ſich ziehen

ſollten, welche einen Mangel patriotiſcher oder ehrliebender

Geſinnung anzeigen, und daß es dabei nicht auf die Art der Be-

ſtrafung ankomme. o)

Dieſe als Geſetz nicht publicirte Deklaration iſt die Grundlage des

neueren Preußiſchen Rechts über die Ehrenſtrafen geworden. Auf dem

Wege des Gewohnheitsrechts, welches in einzelnen geſetzlichen Anord-

nungen ſeine Anerkennung fand, bildete ſich die Lehre aus, daß der

Richter im einzelnen Fall zu erkennen habe, ob wegen Mangel ehrlie-

bender Geſinnung die National-Kokarde abzuſprechen ſei, und daß der

Verluſt derſelben, welche die bürgerliche Ehre ſinnbildlich darſtelle, Ehr-

loſigkeit zur Folge habe. p) Eine ſolche, nur ausnahmsweiſe beſchränkte

Machtvollkommenheit der Gerichte, welchen ohne Rückſicht auf die Art

der Verbrechen und der Strafen den Verluſt der bürgerlichen Ehre nach

freiem Ermeſſen auszuſprechen geſtattet war, konnte bei der Reviſion der

Strafgeſetze nicht beibehalten werden, zumal da noch der Uebelſtand

hinzukam, daß über den Umfang der bürgerlichen Rechte, welche mit

der Aberkennung der National-Kokarde verloren gingen, keine ganz feſte

Regeln beſtanden. Die Reviſion beſchäftigte ſich unausgeſetzt mit den

Ehrenſtrafen und gelangte allmählich dahin, den Verluſt des Rechts,

die National-Kokarde zu tragen, nur als einen Theil des Verluſtes der

Ehrenrechte aufzufaſſen, und dieſe überhaupt näher zu beſtimmen, außer-

dem aber feſtzuſetzen, daß die Verurtheilung zur Zuchthausſtrafe und

zur Kaſſation ſtets den Verluſt der Ehrenrechte nach ſich ziehe. q) Dabei

wollte man aber im Gegenſatz zum Rheiniſchen Rechte den Grundſatz

feſthalten, daß die Ehrloſigkeit nicht Folge der Strafe, ſondern des

Verbrechens ſei, und ſtellte neben dem Zuchthaus die nicht entehrende

Strafarbeit auf, ſo daß zwiſchen beiden dem Richter die Wahl gelaſſen

o) Deklaration vom 30. Sept. 1813. (Sammlung der Verordnungen

u. ſ. w. Berlin, 1816. S. 11.). Auf Ihren Bericht vom 17. d. M. deklarire ich

die Verordnung vom 22. Febr. c. hierdurch dahin, daß außer der Feigheit vor dem

Feinde und dem Ausweichen des Kriegsdienſtes, ſo wie ſolches in der V. D. vom

22. Febr. d. J. bezeichnet iſt, nur ſolche Verbrechen oder Vergehungen den Verluſt

des Rechts, die National-Kokarde zu tragen, nach ſich ziehen, welche einen Mangel

patriotiſcher oder ehrliebender Geſinnungen anzeigen, und daß es dabei nicht auf die

Art der Beſtrafung ankomme. Sie werden hiernach das Erforderliche an die Juſtiz-

behörden erlaſſen; einer förmlichen Publikation dieſer Deklaration durch die öffent-

lichen Blätter und in der Geſetzſammlung bedarf es nicht.

p) Motive des erſten Entwurfs. I. S. 46. ff. — Temme, Hand-

buch. §. 15.

q) Entwurf von 1847. §. 9. 11. 15. 20. 21. 23.

[106/0116]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

werden konnte. r) Auch ſollte der Verluſt der Ehrenrechte für immer

und nicht auf Zeit eintreten.

In dieſem letzten Punkt gab die Staatsregierung ſchon während

des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes nach, indem ſie die Unterſagung

der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit zur Aufnahme in

das Strafgeſetzbuch vorſchlug. s) Aber auch die Feſtſtellung der einzel-

nen Ehrenrechte konnte nach der in der Staatsverfaſſung erfolgten Aen-

derung nicht ganz dieſelbe bleiben, und die Wahl zwiſchen dem Zucht-

haus und einer andern Freiheitsſtrafe durch die Gerichte ließ ſich mit

der Einführung der Geſchworenen nicht vereinigen. Man mußte dieſen

entweder im einzelnen Fall die Frage zur Entſcheidung vorlegen laſſen,

ob ein Mangel ehrliebender Geſinnung — oder wie man dieſe Quali-

fikation ſonſt faſſen mochte — bei dem Angeſchuldigten anzunehmen ſei,

und dann von dem Wahrſpruch die Zuerkennung des Zuchthauſes oder

der Strafarbeit abhängig machen, oder man mußte auf dieſe Unterſchei-

dung überhaupt verzichten, und für einzelne Verbrechen ſich auf die

Berückſichtigung mildernder Umſtände beſchränken. t) Der erſte Ausweg,

der bei der Todesſtrafe getroffen worden, läßt am Meiſten die milde

Berückſichtigung des individuellen Falls zu, der zweite hat den Vorzug

der größeren Konſequenz, und hält den Willen des Geſetzgebers freier

von der Einwirkung des ſubjektiven Ermeſſens. Das Strafgeſetzbuch

hat den zweiten Weg eingeſchlagen, und iſt dadurch im Weſentlichen

mit dem Rheiniſchen Recht zuſammen getroffen. Doch nicht unbedingt.

1) Die Strafe des bürgerlichen Todes, welche den Verluſt der

Rechtsfähigkeit zur Folge hat, und als die aufs höchſte geſteigerte Ehr-

loſigkeit erſcheint, hat keine Stelle im Preußiſchen Strafrecht gefunden.

Der Vorſchlag, dieſe Strafe namentlich an die Stelle der Vermögens-

konfiskation zu ſetzen, hatte keine Folgen. u)

2) Nach Rheiniſchem Recht iſt die Strafe der Verbrechen ſtets

entehrend; das Strafgeſetzbuch hat dieß weder für die Todesſtrafe an-

genommen, noch für die Freiheitsſtrafen, da es neben dem Zuchthaus

die nicht entehrende Einſchließung kennt.

r) Reviſion von 1845. I. S. 36. — (Ruppenthal) Bemerkungen. S. 60.

s) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. II.

S. 467 ff.

t) Einem andern, in der Kommiſſion der zweiten Kammer gemachten Vorſchlage,

bei einer Zuchthausſtrafe bis zu fünfjähriger Dauer den Verluſt der

bürgerlichen Ehre

unter Umſtänden wegfallen zu laſſen, wurde mit Recht entgegnet, daß die Bedeutung

der Zuchthausſtrafe im Allgemeinen dadurch weſentlich beeinträchtigt werde. Vgl.

Bericht der Kommiſſion der II. Kammer zu §. 11.

u) Protokolle des Staatsraths, Sitzung v. 15. Jan. 1840. In Folge

dieſer Verhandlungen wurden über die Strafe des bürgerlichen Todes zwei Gutachten

erſtattet von K. F. Eichhorn und Biſchoff, von denen der erſtere ſich für, dieſer

ſich gegen die Einführung erklärte. Die Gutachten ſind abgedruckt als Anlage A.

und B. zu den Berathungs-Protokollen der Staatsraths-Kommiſſion. Band I.

[107/0117]

§. 12. Verluſt der bürgerlichen Ehre.

3) Das Strafgeſetzbuch verbindet mit dem Verluſt der bürgerlichen

Ehre keine äußerliche ſymboliſche Beſchimpfung durch Brandmarkung,

Pranger u. dgl.

4) Die Wirkungen des Verluſtes der bürgerlichen Ehre in Be-

ziehung auf die einzelnen Ehrenrechte ſind nicht genau dieſelben; das

Strafgeſetzbuch läßt namentlich auch den Adel verloren gehen.

Nach dieſer Erörterung kann die Wirkung des Verluſtes der bür-

gerlichen Ehre, welche von Rechtswegen mit der Verurtheilung zur

Zuchthausſtrafe verbunden und im Urtheile alſo nicht beſonders auszu-

ſprechen iſt, in Beziehung auf die einzelnen darunter begriffenen Eh-

renrechte dargeſtellt werden. v)

1) Der Verluſt des Rechts, die Preußiſche National-Kokarde zu

tragen. Es hätte Vieles für ſich gehabt, wenn man dieſe ſymboliſche

Form der Aberkennung der Ehrenrechte, welche für die Anſchauungsweiſe

des Volkes von Bedeutung geworden war, hätte beibehalten können, ſo

daß im Urtheil neben der Zuchthausſtrafe ausdrücklich darauf zu erkennen

geweſen wäre. Aber theils pflegt man gegenwärtig die Wichtigkeit ſolcher

Symbole im Recht überhaupt nicht hoch anzuſchlagen, theils hatte man

Urſache, gerade bei den Ehrenſtrafen einen Zuſammenhang zwiſchen dem

Geſetzbuch und der früheren Jurisprudenz möglichſt zu vermeiden.

2) Die zweite Nummer enthält die Beſtimmung, daß der Verluſt

der bürgerlichen Ehre nicht bloß die Unfähigkeit, öffentliche Aemter,

Würden, Titel, Orden und Ehrenzeichen zu führen oder zu erlangen,

umfaſſe, ſondern auch den Verluſt des Adels. In erſterer Beziehung

könnten Bedenken entſtehen, inwiefern die Vorſchrift ſich auch auf aus-

ländiſche Titel, Orden, u. ſ. w. beziehen ſoll, da deren Ertheilung nicht

von dem Willen der Preußiſchen Staatsregierung abhängt. Es ver-

ſteht ſich aber von ſelbſt, daß die Wirkung einer Strafe nur ſo weit

geht, als ſie überhaupt vom Staate vollſtreckt werden kann. Dieſer

kann es nun freilich nicht verhindern, daß einem Preußen, der die bür-

gerlichen Ehrenrechte verloren hat, von einer auswärtigen Macht irgend

eine Auszeichnung der angeführten Art verliehen werde; aber der Staat

kann erklären, daß der Beliehene nicht befähigt iſt, eine ſolche Auszeich-

nung zu erlangen, und wenn er ſie doch annimmt, und dieß äußerlich

durch die Führung des Titels u. ſ. w. zu erkennen giebt, ſo kommen die

Beſtimmungen des §. 105. des Strafgeſetzbuchs zu Anwendung.

Wegen der Aberkennung des Adels fanden noch in der Kommiſſion

der zweiten Kammer wiederholte Verhandlungen ſtatt, in welchen die

v) Von der Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit,

ſ. unten §. 21. 22.

[108/0118]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

ſchon oft erörterte Frage vom politiſchen und rechtlichen Standpunkte

erwogen wurde. Von der einen Seite wurde hervorgehoben, daß nach

der Verfaſſung (Art. 4.) Standesvorrechte nicht mehr beſtehen, der Adel

alſo in dieſer Beziehung keinen Gegenſtand der richterlichen Entſcheidung

ausmachen könne; als angeborenes Recht der Perſon, als Theil des

Namens ſei er aber der Einwirkung der Staatsgewalt entzogen. Von

der andern Seite legte man hauptſächlich das Gewicht darauf, daß der

Adel eine Auszeichnung darſtellte, die noch vom Könige verliehen werden

könne, und daß die Entziehung dieſer Auszeichnung wie die eines Titels

durchaus zuläſſig ſein müſſe. Die Kommiſſion, obgleich Anfangs geneigt,

dieſe Beſtimmung über den Verluſt des Adels zu ſtreichen, entſchied ſich

in ihrer Mehrheit zuletzt doch für die Beibehaltung, indem bei dem

großen Gewicht, welches von einigen darauf gelegt wurde, das Ein-

verſtändniß über die Annahme des Geſetzbuchs im Ganzen dadurch

weſentlich gefördert wurde, und die Form der Aberkennung des Adels,

als Folge des von Rechtswegen eintretenden Verluſtes der bürgerlichen

Ehre, die ganze Frage weniger ſchroff heraustreten läßt. Die weitere

Erörterung dieſes Gegenſtandes, namentlich hinſichtlich der rechtlichen

Wirkungen des Verluſtes für die Kinder — iſt in das Civilrecht zu

verweiſen.

3) Daß mit dem Verluſte der bürgerlichen Ehre die eigentlichen

politiſchen Rechte aufgehoben werden, folgt aus dem vorher entwickelten

Begriff der ganzen Einrichtung; dagegen iſt die Vorſchrift, daß

4) auch die Unfähigkeit darunter befaßt wird, als Zeuge oder Sach-

verſtändiger eidlich vernommen zu werden, oder als Zeuge bei der Auf-

nahme von Urkunden zu dienen, — eine Neuerung, welche erſt in dem

Entwurfe von 1850. ſich findet und aus dieſem in das Geſetzbuch ge-

kommen iſt. Ebenſo verhält es ſich

5) mit der Unfähigkeit, Vormund, Nebenvormund, Kurator, ge-

richtlicher Beiſtand oder Mitglied eines Familienrathes zu ſein. Beide

Beſtimmungen entſprechen im Weſentlichen den Vorſchriften des Rheini-

ſchen Rechts, w) und beruhen zum Theil auf denſelben Motiven. Die

Ausſchließung des Ehrloſen von der Vormundſchaft und den verwandten

Funktionen entſpricht nur der höheren Auffaſſung dieſer Inſtitute, deren

Weſen gerade in dem Vertrauen ruht, und für welche erſt die rechte

Stelle gefunden iſt, wenn man ſie im Sinne des Ehrenamtes auffaßt

und geſetzlich normirt. Es ſpricht ſich darin nur die Anſchauung des

älteren Deutſchen Rechts aus, welches die Rechtloſen und Ehrloſen von

der Vormundſchaft ausſchloß. x) In Beziehung auf die eigenen Kinder

w) Code pénal. Art. 28.

x) Kraut, die Vormundſchaft. I. S. 60.

[109/0119]

§. 12. Verluſt der bürgerlichen Ehre.

des Ehrloſen hat ja auch das Geſetzbuch eine Beſchränkung hinzuge-

fügt, welche eine zu große Härte fern hält.

Auch die Beſtimmung, daß der Ehrloſe nicht als Sachverſtändiger

eidlich vernommen und nicht als Sollemnitätszeuge bei der Aufnahme

von Urkunden zugezogen werden kann, wird keine erhebliche Bedenken

erregen; es könnte ſich etwa nur fragen, warum in letzterer Beziehung

die Vorſchrift nicht allgemeiner gefaßt worden. Sehr viel ſchwieriger

und von jeher beſtritten iſt die Frage, ob der Ehrloſe als Zeuge eidlich

zu vernehmen und dem Richter die Abmeſſung ſeiner Glaubwürdigkeit

zu überlaſſen ſei, oder ob auch die Beeidigung unterbleibe, was denn

dahin führt, daß er, wie das Rheiniſche Recht ſich ausdrückt, vor Gericht

bloße Auskunft zu geben hat. Die Gründe für und gegen werden ge-

wöhnlich nicht den Rückſichten auf den Verurtheilten, ſondern dem In-

tereſſe des Publikums entnommen; es kommt darauf an, ob die Aus-

ſchließung oder die Zulaſſung größere Nachtheile für die Rechtsſicherheit

mit ſich führt. In der Kommiſſion der zweiten Kammer, wo beide

Anſichten vertreten waren, hat man ſich für die Regierungsvorlage ent-

ſchieden. y) Uebrigens liegt die praktiſche Bedeutung dieſer Frage für

das gegenwärtige Recht vorzugsweiſe nur noch im Civilprozeſſe.

6) Nach der Regierungsvorlage ſollte der Verluſt der bürgerlichen

Ehre die „Unfähigkeit, Waffen zu tragen und in der Armee zu

dienen“, zur Folge haben. Statt deſſen iſt auf den Vorſchlag der

Kommiſſion der zweiten Kammer geſagt worden: „Verluſt des

Rechts,

Waffen zu tragen, und die Unfähigkeit, in die Armee einzutreten“. —

„Verluſt des Rechts“ ſtatt: „Unfähigkeit“ iſt

bloß eine Faſſungsänderung;

die zweite Abweichung: „die Unfähigkeit, in die Armee einzutre-

ten“, iſt dagegen von ſachlicher Bedeutung. Der Kommiſſar des Kriegs-

miniſteriums bemerkte nämlich in der Kommiſſion, daß es die Abſicht

der Staatsregierung ſei, mit der Verhängung der Zuchthausſtrafe gegen

Militairperſonen künftighin ſtets die Ausſtoßung aus dem Soldatenſtande

zu verbinden, und daß nicht mehr umgekehrt jene Strafe von der Aus-

ſtoßung abhängig gemacht werden ſolle. Das Militairſtrafgeſetzbuch werde

in dieſem Sinne abgeändert werden müſſen. Dagegen hielt er nicht für

zuläſſig, daß, wie die Kommiſſion geneigt war, anzunehmen, bei der

bloßen Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit

y) Kommiſſionsbericht zu V. 12. Nr. 4. und 5. — Im Badiſchen

Strafgeſetzbuch §. 17., weches im Uebrigen dem Code pénal in dieſer Lehre folgt,

iſt nur die Fähigkeit „bei öffentlichen Beurkundungen als Zeuge mitzuwirken“ ge-

nommen. Einer brieflichen Mittheilung von Mittermaier entnehme ich die Notiz,

daß im Jahre 1848. in England jeder Ausſchließungsgrund vom Zeugniß durch das

Geſetz aufgehoben iſt, und, fügt er hinzu, jeder Praktiker ſegnet dieſe Vorſchrift.

[110/0120]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

ſtets eine Ausſtoßung aus dem Soldatenſtande ſtatt finde, wenn auch das

Eintreten in den Soldatenſtand während der Dauer der Unterſagung

unterbleiben könne. Neben der Ausſtoßung müſſe die Verſetzung in die

zweite Klaſſe des Soldatenſtandes beibehalten werden. Auf der andern

Seite ſei es nicht wünſchenswerth, wie die Regierungsvorlage §. 20. es

dargethan, z) jede Beziehung der Beſtimmungen über die zeitige Unter-

ſagung der Ehrenrechte auf den Soldatenſtand ganz auszuſchließen; man

könne dies auch vermeiden, wenn man in §. 20. auch die Nr. 6. des

§. 12. maaßgebend ſein laſſe, dafür aber die oben angeführte Verände-

rung in §. 12. vornehme. Die Kommiſſion ging auf dieſen Antrag ein,

indem ſie ſich bei der gegebenen Verſicherung beruhigte, daß die Aus-

ſtoßung aus dem Soldatenſtande als Folge der Zuchthausſtrafe in dem

zu erwartenden Geſetzentwurf über die Abänderungen des Militairſtraf-

geſetzbuchs ausgeſprochen werden ſolle. a) Darnach wird ſich alſo künftig

die Sache ſo ſtellen:

a) Verluſt der bürgerlichen Ehre: Unfähigkeit, in die Armee einzu-

treten; Ausſtoßung aus dem Soldatenſtande;

b) zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte:

Unfähigkeit in die Armee einzutreten; Ausſtoßung aus dem Sol-

datenſtande oder Verſetzung in die zweite Klaſſe.

Ueber den Verluſt der bürgerlichen Ehre ſind noch zum Schluß fol-

gende Bemerkungen zu machen:

I. Der Verluſt tritt mit dem Tage ein, an welchem das Urtheil

rechtskräftig wird. Es iſt alſo eine Folge der Verurtheilung in die

Zuchthausſtrafe, und nicht der thatſächlichen Verbüßung derſelben.

II. Die Wirkung des Verluſtes dauert für die ganze Lebenszeit

des Verurtheilten, wie kurz oder lang auch die Zuchthausſtrafe ſein

mag, als deren Folge ſie eintritt, und nur auf dem Wege der Begna-

digung kann ſie aufgehoben werden. Darin beſteht gerade der weſent-

liche Unterſchied von der neben dem Gefängniß vorkommenden zeitigen

Unterſagung.

z) In dem Entwurf von 1850. §. 20. heißt es nämlich: „Die Unterſagung der

Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit bewirkt die Unfähigkeit, während der

im Urtheil beſtimmten Zeit die in §. 12. unter Nr. 1. bis 5. erwähnten Rechte aus-

zuüben.“ — Vergl. Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 19. und 20.

a) Der mir mitgetheilte, von Kommiſſarien des Kriegs- und des Juſtiz-

miniſteriums vorläufig feſtgeſtellte Entwurf hat auch in der That die Beſtimmung:

§. 7. Die Verurtheilung zur Baugefangenſchaft oder zur Zuchthausſtrafe hat die Aus-

ſtoßung aus dem Soldatenſtande zur Folge.

[111/0121]

§. 12. Verluſt der bürgerlichen Ehre.

III. Es treten ſtets ſämmtliche Wirkungen des Verluſtes ein, in-

ſoweit ſie überhaupt bei dem Verurtheilten zur Anwendung kommen

können, was denn auch, wie ſich von ſelbſt verſteht, für die Weiber gilt.

Sonſt findet eine Theilung der Ehrenrechte nach ihrer verſchiedenen Be-

ſchaffenheit nicht ſtatt; eine Ausnahme davon kommt nur hinſichtlich

der eigentlich politiſchen Rechte bei dem Hochverrathe vor (§. 63. 64.). —

Ueber den Verluſt der Penſionen und Gnadengehalte ſ. unten §. 23.

IV. Inſofern im Mittelalter die Theilnahme an gewiſſen Kor-

porationen der wichtigſte Ausfluß politiſcher Berechtigung war, mußte es

von beſonderer Wichtigkeit ſein, daß der Ehrloſe nicht als Genoſſe in

ſolchen Vereinen geduldet wurde. Es war ihm aber nicht allein der

Eintritt verſagt, ſondern wenn Jemand ſpäter ehrlos geworden war,

erfolgte ſeine Ausſchließung. Die Vorfrage aber, ob jemand ehrlos ſei,

ward nicht immer von einem gerichtlichen Erkenntniß abhängig gemacht,

ſondern auch auf die Entſcheidung der Genoſſen geſtellt. Dabei wurde

denn nicht immer auf die Verübung beſtimmter Verbrechen geſehen;

auch ein Treubruch, eine verächtliche Lebensart, eine unehrliche Hand-

thierung genügte, um jemanden als des guten Leumundes baar, als

beſcholten oder auch als anrüchig aus der Korporation zu entfernen.

Von dieſen Einrichtungen finden ſich auch im ſpäteren Rechte noch

Spuren. Bei der reinen Privataſſociation entſcheiden hierüber die Sta-

tuten, ſo daß über deren richtige Auslegung im Falle des verletzten

Privatrechts die Civilgerichte zu entſcheiden haben. Anders verhält es

ſich mit den politiſchen Korporationen und ſolchen, welche ihren Mit-

gliedern die Ausübung gewiſſer bürgerlicher Rechte ſichern, wie früher

bei den Zünften und jetzt noch in gewiſſer Weiſe bei den kaufmänniſchen

Korporationen. Die Städteordnung von 1808. (§. 39.) beſtimmte noch,

daß jeder, der ſich durch niederträchtige Handlungen verächtlich gemacht

oder wegen eines Verbrechens Kriminalſtrafe erlitten hat, durch einen

Beſchluß der Stadtverordneten des Bürgerrechts verluſtig erklärt werden

kann. Das Statut für die Kaufmannſchaft zu Berlin giebt ſogar den

Aelteſten das Recht, nach ihrem Ermeſſen „zur Erhaltung der Ehre und

des unbeſcholtenen Rufs der Korporation im Publiko und auf aus-

wärtigen Handelsplätzen“ die Ausſtoßung zu verhängen. b)

Es iſt bekannt, wie zur Zeit der provinzialſtändiſchen Verfaſſung

ſich an dieſe Einrichtungen die weitere Ausbildung des vagen Begriffs

der Beſcholtenheit anſetzte, welcher neben dem Rechtsgebiet der Ehren-

ſtrafen herlief, und die Frage, ob ein Preuße der politiſchen Rechte

b) Statut für die Kaufmannſchaft zu Berlin v. 2. März 1820. (Geſetzſ.

S. 46 ff.) §. 71. 72.

[112/0122]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

theilhaftig ſein ſollte, nicht von dem Ausſpruch der zuſtändigen Gerichte,

ſondern von dem Ermeſſen der Verwaltung abhängig machte. Die

neueren Geſetze ſeit 1848. haben dieſe Auffaſſung verlaſſen, und die

Entziehung politiſcher Rechte von dem Richterſpruch abhängig gemacht;

auch die Gemeindeordnung, welche an die Stelle der Städteordnung

getreten, befolgt daſſelbe Princip. c) Dadurch iſt dem Schlußſatz des

§. 12. nur ein geringer Wirkungskreis geblieben. Er handelt von der

Mitgliedſchaft an kaufmänniſchen und anderen Korporationen, welche

nach beſtehenden beſonderen Vorſchriften in Folge der Begehung von

ſtrafbaren Handlungen verloren geht.

1) Bei dieſen Beſtimmungen ſoll es ſein Bewenden behalten; der

Verluſt ſolcher Korporationsrechte kann alſo ſtatt finden, ohne daß auf

Zuchthausſtrafe erkannt worden iſt.

2) Es bedarf auch nicht eines den Verluſt dieſer Rechte unmittel-

bar ausſprechenden richterlichen Erkenntniſſes; die Begehung einer ſtraf-

baren Handlung genügt.

3) Daß aber eine ſtrafbare Handlung begangen worden, muß durch

richterliches Urtheil feſtgeſtellt ſein; ſchlechter Lebenswandel z. B., der

nicht zu einer ſolchen Verurtheilung geführt hat, Verdacht eines Ver-

brechens genügt nicht zur Ausſtoßung. Inſofern iſt auch hier der Be-

griff der Beſcholtenheit im früheren Sinne aufgegeben.

4) Das Nähere hängt von den beſonderen Vorſchriften, namentlich

von den Statuten der einzelnen Korporationen ab.

§. 13.

Die Strafe der Einſchließung beſteht in Freiheitsentziehung mit Beauf-

ſichtigung der Beſchäftigung und Lebensweiſe der Gefangenen; ſie wird in

Feſtungen oder in anderen beſonders dazu beſtimmten Räumen vollſtreckt.

Die Einſchließung kann nicht über zwanzig Jahre erkannt werden.

Die Einſchließung iſt ihrer Vollſtreckung nach die mildeſte Freiheits-

ſtrafe, die ſ. g. custodia honesta, der Feſtungsarreſt des Allgemeinen

Landrechts. Sie wird regelmäßig in Feſtungen abgebüßt, und daher

hätte man ſie wohl Feſtungshaft nennen können; doch wollte man, in-

dem man dieſe Bezeichnung vermied, auch die Unſicherheit des früheren

c) Verfaſſungs-Urkunde Art. 68. 74. — Gemeinde-Ordnung für

den Preußiſchen Staat v. 11. März 1850. §. 4. — Dem Geſetz über die Preſſe

vom 12. Mai 1851, überhaupt ſo reich an Ausnahmebeſtimmungen, iſt es vorbehalten

geweſen, im §. 1. den Begriff der Unbeſcholtenheit, und zwar in Beziehung auf den

Gewerbebetrieb in der Art wieder praktiſch zu machen, daß das Ermeſſen der Ver-

waltungsbehörden hier maaßgebend ſein ſoll.

[113/0123]

§. 13. Einſchließung.

Begriffs fern halten. Mit der Franzöſiſchen reclusion, einer entehren-

den Freiheitsſtrafe, unſerem Zuchthaus vergleichbar, hat ſie nur die Aehn-

lichkeit des Namens gemein.

I. Der Zuſatz: „oder in anderen beſonders dazu beſtimmten Räu-

men“ iſt nur gemacht worden, um zu beſtimmen, daß, wenn in den Fe-

ſtungen nicht die nöthigen Räumlichkeiten vorhanden ſein ſollten, die

Einſchließung nicht in den gewöhnlichen Strafanſtalten vollſtreckt wer-

den darf. d) Daß aber eine

ſolche Subſtitution nicht beliebig von der

vollſtreckenden Behörde verfügt werden könne, verſteht ſich nach dem

Sinne des Geſetzes von ſelbſt, und die Kommiſſion der erſten Kammer

lehnte auch aus dieſem Grunde die Umänderung des Wortes:

beſonders

in geſetzlich als unnöthig ab. e) Entweder wird, wenn ein

Bedürfniß

nach anderen Räumlichkeiten, als die Feſtungen ſie bieten, ſich allge-

mein herausſtellen ſollte, von der Geſetzgebung Vorſehung zu treffen ſein,

oder es iſt im einzelnen Fall für eine angemeſſene Subſtitution Sorge

zu tragen, wobei das erkennende Gericht darüber zu wachen hat, daß

die Bedeutung der milderen Strafe bei der Vollſtreckung nicht verkannt

wird.

II. Die Natur der Strafe giebt auch das Maaß für die Behand-

lung des Verurtheilten; er kann namentlich nicht zwangsweiſe beſchäf-

tigt werden, ſondern ſeine Beſchäftigung und Lebensweiſe ſind nur zu

beaufſichtigen.

III. Weil die Einſchließung der Art nach milder iſt als die Ge-

fängnißſtrafe (ſ. §. 16.), ſo hätte man auch dieſe zunächſt auf die Zucht-

hausſtrafe folgen laſſen, und die §§. 13. und 14. umſtellen können. Die

jetzige Reihenfolge iſt beliebt worden, weil die Einſchließung auf zwan-

zig Jahre, das Gefängniß regelmäßig nur auf fünf Jahre erkannt wer-

den kann, jene alſo der möglichen Dauer nach die härtere Strafe iſt.

IV. Die Einſchließung iſt als Strafmittel nur ſelten benutzt wor-

den. Außer den Fällen, wo ſie wegen mildernder Umſtände an die

Stelle der Zuchthausſtrafe tritt (ſ. Einleitung §. VII.), kommt ſie nur

noch bei vorbereitenden hochverrätheriſchen Handlungen gegen andere

Staaten (§. 78.) und beim Zweikampfe (Th. II. Tit. 14.) vor.

d) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 13. Die Re-

gierungsvorlage hatte den Ausdruck: ſie wird, ſoweit es die Verhältniſſe ge-

ſtatten, in den dazu beſtimmten Feſtungen vollſtreckt.

e) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 13.

Beſeler Kommentar. 8

[114/0124]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

§. 14.

Die zur Gefängnißſtrafe Verurtheilten werden in einer Gefangenanſtalt ein-

geſchloſſen und können daſelbſt in einer, ihren Fähigkeiten und Verhältniſſen

angemeſſenen Weiſe beſchäftigt werden.

Die Dauer der Gefängnißſtrafe ſoll, inſofern nicht das Geſetz ein Anderes

beſtimmt, höchſtens fünf Jahre betragen.

Wenn das Zuchthaus die gewöhnliche Strafe für Verbrechen ge-

nannt werden konnte, ſo iſt es das Gefängniß für die Vergehen; nur

ſelten tritt Geldbuße ausſchließlich dafür ein, häufiger iſt die Wahl

zwiſchen beiden Strafarten geſtattet, ſ. unten §. 17. Das Gefängniß

unterſcheidet ſich vom Zuchthauſe dadurch, daß der Verluſt der bürger-

lichen Ehre nicht damit verbunden iſt; nur in beſtimmten Fällen kann

die zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte als Schärfung hin-

zutreten, die wiederum bei der Einſchließung nicht vorkommt. Bei dem

Gefängniß findet ferner eine Beſchränkung der Dispoſitionsfähigkeit des

Verurtheilten über ſein Vermögen nicht ſtatt, und es gelten beſondere

geſetzliche Beſtimmungen über die Beſchäftigung des Gefangenen und

die Dauer der Strafe.

I. Die Gefangenen können in einer, ihren Fähigkeiten und Ver-

hältniſſen angemeſſenen Weiſe beſchäftigt werden. Sie werden alſo da-

bei nicht bloß beaufſichtigt, wie bei der Einſchließung, aber auch nicht

zu beſtimmten Arbeiten angehalten, die in der Strafanſtalt eingeführt

ſind, wie bei dem Zuchthauſe. Der Entwurf von 1847. hatte in die-

ſer Beziehung eine noch mildere Faſſung, indem er beſtimmte:

§. 12. „Die Gefängnißſtrafe beſteht in einfacher Freiheitsentzie-

hung; doch können diejenigen Verurtheilten, welche nicht auf

eigene Koſten verpflegt werden, zu einer ihren Fähigkeiten und

Verhältniſſen angemeſſenen Arbeit angehalten werden.“

Allein dabei iſt zu beachten, daß der Entwurf noch zwiſchen Ge-

fängniß und Zuchthaus die Strafarbeit hatte, welche jetzt weggefallen

iſt. Der Entwurf von 1850. beſtimmte dagegen, daß eine ſolche Be-

ſchäftigung der Gefangenen geſchehen müſſe, was in der Kommiſſion

der zweiten Kammer wiederum Anſtoß erregte, theils weil es unter Um-

ſtänden zu hart ſein kann, zumal da die Strafe der Einſchließung ſo

ſelten benutzt worden, theils weil es nicht immer ausführbar ſein wird,

wenn nämlich die Gefangenanſtalt nicht im Stande iſt, den Gefangenen

eine angemeſſene Beſchäftigung zu bieten. Man zog daher die ins Ge-

ſetzbuch übergegangene fakultative Faſſung vor.

II. Eine andere Abweichung vom Entwurfe von 1847. beſteht

darin, daß derſelbe bei Gefängnißſtrafe von höchſtens drei Monaten,

[115/0125]

§. 14. Gefängniß. §. 15. Berechnung der Freiheitsſtrafen.

nach der Perſönlichkeit der Angeſchuldigten, eine Schärfung der Strafe

durch Schmälerung der Koſt, Anweiſung einer harten Lagerſtätte oder

einſames Gefängniß zuließ, und dafür eine verhältnißmäßige Verkürzung

der Dauer der Strafe geſtattete oder, nach dem Beſchluß des vereinig-

ten ſtändiſchen Ausſchuſſes, vorſchrieb. f) Obgleich die Hinzufügung

einer ſolchen Verſchärfung durch den Richter ausgeſprochen werden ſollte,

iſt doch die Weglaſſung dieſer Beſtimmung, durch welche die allgemeine

Natur der Gefängnißſtrafe weſentlich verändert werden konnte, nur zu

billigen. Wenigſtens müßte eine ſolche Anordnung mit einer allgemei-

nen Reform des Gefängnißweſens in Verbindung gebracht, und auch

nur bei beſtimmten Arten der Vergehen zugelaſſen werden.

III. Die längſte Dauer der Gefängnißſtrafe iſt fünf Jahre, — in-

ſofern nicht das Geſetz ein Anderes beſtimmt. Eine ſolche Verlänge-

rung der Strafzeit kann nach dem Geſetzbuch eintreten: bei der nicht

weſentlichen Theilnahme, im Fall mildernder Umſtände (§. 35.), bei dem

jugendlichen Alter (§. 43.), bei der realen Konkurrenz (§. 57.) und bei

dem Rückfall (§. 58.). In den erſten Fällen kann die Dauer der Strafe

auf zehn, funfzehn und zwanzig Jahre, im vierten Fall um die Hälfte

des höchſten geſetzlichen Strafmaaßes, alſo auf ſieben Jahre und ſechs

Monate erhöht werden.

Das geſetzliche Strafmaaß wechſelt ſehr nach der Beſchaffenheit der

einzelnen Vergehen; das am höchſten gegriffene Minimum der Strafe

iſt zwei Jahre (§. 292.), das niedrigſte Maximum, welches ſich findet,

acht Wochen (§. 146.); zuweilen findet ſich auch ſchlechthin Gefängniß,

alſo von Einem Tage bis zu fünf Jahren, angedroht, z. B. §. 311.

§. 15.

Bei den nach Tagen, Wochen oder Monaten beſtimmten Freiheitsſtrafen

wird der Tag zu vierundzwanzig Stunden, die Woche zu ſieben Tagen, der

Monat zu dreißig Tagen gerechnet.

Die Dauer einer Freiheitsſtrafe ſoll mindeſtens Einen Tag betragen.

Die letzte Vorſchrift gilt nur für die Einſchließung und das Ge-

fängniß, da auf Zuchthaus nicht unter zwei Jahren erkannt werden

kann; ſie bezieht ſich aber auch nur, wie ſich von ſelbſt verſteht, auf

diejenigen Fälle, in denen dem Richter überlaſſen iſt, die Dauer der

Strafe nach dem niedrigſten Maaße, welches das Geſetz überhaupt zu-

läßt, zu beſtimmen, — alſo wenn kein Minimum vorgeſchrieben iſt.

Denn nur einmal (§. 227.) iſt ein ſolches ausdrücklich auf Einen Tag

f) Entwurf von 1847. §. 13. — Verhandlungen d. vereinigten ſtänd.

Ausſchuſſes. II. S. 246.

8 *

[116/0126]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

heruntergeſetzt; ſonſt kommt, wenn es überhaupt aufgeſtellt iſt, als ge-

ringſte Dauer Eine Woche vor; ſ. §. 102. 108. 116. 117. 118. 119.

156. 214. 254. 264. 271.

§. 16.

Wenn bei Freiheitsſtrafen eine Umwandlung der geſetzlich vorgeſchriebenen

Strafart erfolgen muß, ſo iſt einjährige Einſchließung einer achtmonatlichen

Gefängnißſtrafe und einjährige Gefängnißſtrafe einer achtmonatlichen Zucht-

hausſtrafe gleich zu achten.

Eine Beſtimmung über das Verhältniß der verſchiedenen Freiheits-

ſtrafen zu einander erſchien beſonders nothwendig, nachdem in der Kom-

miſſion der zweiten Kammer der Grundſatz angenommen war, daß bei

einer realen Konkurrenz auf ſämmtliche Strafen der begangenen Ver-

brechen und Vergehen zu erkennen iſt, daß aber, wenn verſchiedene Frei-

heitsſtrafen zur Anwendung kommen müßten, unter Verkürzung ihrer

Geſammtdauer auf die ſchwerſte dieſer Strafarten erkannt werden ſoll;

ſ. unten §. 56. 57. Die Abmeſſung bei der Strafverwandlung in die-

ſem Fall und in dem des §. 17. dem Richter ganz zu überlaſſen, ſchien

bedenklich, und ſo ward nach dem Vorgange des Entwurfs von 1843.

§. 46., dem auch das Militairſtrafgeſetzbuch gefolgt iſt, das Verhältniß

der Freiheitsſtrafen in der oben angegebenen Weiſe feſtgeſtellt. g) Viel-

leicht kann es ſcheinen, daß man dabei die größere Härte der Zucht-

hausſtrafe, dem Gefängniß gegenüber, nicht genügend angeſchlagen hat,

wie denn auch der Entwurf von 1843. nicht das Gefängniß, ſondern

die Strafarbeit in jenes Verhältniß von drei zu zwei der Zuchthaus-

ſtrafe gegenüber geſetzt hat. Namentlich mit Rückſicht auf den Verluſt

der bürgerlichen Ehre, welche mit der letzteren Strafe verbunden iſt,

ſcheint dieß Bedenken ſeinen guten Grund zu haben. Allein dagegen

iſt doch zu erwägen, daß eine ſolche Verwandlung einer milderen Frei-

heitsſtrafe in die härtere nur dann ſtattfindet, wenn auf dieſe letztere

ſchon wegen einer anderen Handlung zu erkennen iſt; daß alſo die Wirkung

der Zuchthausſtrafe, welche für immer eintritt, unwiderruflich feſt ſteht,

und die Verlängerung der Dauer vermittelſt der Hinzurechnung einer

andern Strafe auf den Verluſt der bürgerlichen Ehre ohne Einwirkung

iſt. Nur die größere Härte der Zuchthausſtrafe an ſich und die län-

gere Beſchränkung der Dispoſitionsfähigkeit über das Vermögen kommt

g) Es iſt hier übrigens nur der Abſatz 1. des §. 46. gemeint; der Abſatz 2.,

welcher beſtimmt, daß mehrere Gefängnißſtrafen, welche das damalige höchſte geſetz-

liche Maaß von Einem Jahre überſchreiten, in Strafarbeit verwandelt werden ſollen,

iſt nicht wieder aufgenommen worden; ſ. unten §. 57.

[117/0127]

§. 16. Strafverwandlung. §§. 17. 18. Geldbuße.

hier in Betracht, und da iſt es eben die Frage, ob dieſe Erſchwerungen,

mit dem Uebel des Gefängniſſes verglichen, richtig abgemeſſen ſind,

oder ob beide Strafen etwa weiter von einander abſtehen, wie Einſchlie-

ßung und Gefängniß. Das Meiſte hängt dabei freilich von der Ein-

richtung der verſchiedenen Strafanſtalten ab; ob im Allgemeinen aber

das richtige Maaß getroffen worden, wird die weitere Erfahrung lehren.

Andere Fälle der Strafverwandlung, nämlich bei der Herunter-

ſetzung der Todesſtrafe und der lebenslänglichen Zuchthausſtrafe im Fall

des Verſuchs und der Theilnahme (§. 32. 35.) und wegen jugendlichen

Alters (§. 43.) gehören nicht hierher.

§. 17.

Geldbußen können nicht unter dem Betrage Eines Thalers erkannt werden.

An der Stelle einer Geldbuße, welche wegen Unvermögens des Verurtheil-

ten nicht beigetrieben werden kann, ſoll Gefängnißſtrafe treten. Die Dauer

derſelben ſoll vom Richter ſo beſtimmt werden, daß der Betrag von Einem

Thaler bis zu drei Thalern einer Gefängnißſtrafe von Einem Tage gleich-

geachtet wird; die Dauer der Gefängnißſtrafe beträgt mindeſtens Einen Tag

und höchſtens vier Jahre.

Wenn eine zu verwandelnde Gefängnißſtrafe neben Zuchthaus auszuſprechen

iſt, ſo ſoll die Geldbuße nicht in Gefängniß, ſondern in Zuchthaus, jedoch

unter Verkürzung der Dauer (§. 16.), verwandelt werden.

§. 18.

Läßt das Geſetz zwiſchen Freiheitsſtrafe und Geldbuße die Wahl, ſo iſt

auf die Geldbuße in den milderen Fällen zu erkennen. Im Falle des Unver-

mögens tritt Freiheitsſtrafe nach den Grundſätzen über die Strafverwandelung

(§. 17.) ein.

Die Geldbuße kommt in folgenden Fällen als Strafmittel vor:

A. Als ausſchließliche Strafe, nämlich gegen pflichtvergeſſene

Medizinalperſonen (§. 200.), gegen Inhaber öffentlicher Verſammlungs-

örter, welche Hazardſpiele begünſtigen (§. 267.), gegen Perſonen, welche

ohne obrigkeitliche Erlaubniß öffentliche Lotterien veranſtalten (§. 268.),

und gegen Perſonen, welche Namen oder Firmen inländiſcher Fabrikan-

ten u. ſ. w. mißbrauchen (§. 269.).

B. alternativ mit der Gefängnißſtrafe, ſo daß dem Rich-

ter die Wahl zwiſchen beiden Strafarten gelaſſen iſt. Dieß iſt vor-

geſchrieben:

§§. 87. 93. 95. 100. 101. 105. 107. 110. 123. 151. 152. 155.

186. 198. 199. 201. 211. 270. 273. 274. 275. 280. 300. 309.

318. 326.

Der höchſte Betrag der hier angedrohten Geldbußen iſt eintauſend Tha-

[118/0128]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d.

Strafen.

ler (§. 110.); in den andern Fällen kommt nur ein Maximum von 50.

100. 200. 300. Thalern vor. Das Maximum der Gefängnißſtrafe be-

wegt ſich zwiſchen zwei Monaten und zwei Jahren.

C. cumulativ, ſo daß neben einer Freiheitsſtrafe auf Geldbuße

erkannt werden muß, und zwar

1) neben der Zuchthausſtrafe, im Fall eines qualifizirten Betrugs

(§. 244.) und der Urkundenfälſchung (§. 250. 251. 252. 323.);

2) neben der Gefängnißſtrafe, wegen Betrugs (§. 242. 243.), Un-

treue (§. 246.), Wuchers (§. 263.), unbefugten Gebrauchs ver-

pfändeter Sachen (§. 265.), gewerbmäßigen Hazardſpielens

(§. 266.) und im Rückfall wegen Anwendung falſcher Waaren-

zeichen (§. 269.).

Für die Fälle, in denen Geldbußen eintreten, ſind im Geſetzbuch einige

Beſtimmungen gegeben, welche für alle gemeinſam gelten; einige bezie-

hen ſich nur auf die eine oder die andere Klaſſe.

I. Eine Geldbuße kann — abgeſehen von den Uebertretungen,

die hier nicht in Betracht kommen — nicht unter dem Betrage eines

Thalers erkannt werden. Dieß iſt alſo das niedrigſte Maaß, bei wel-

chem der Richter bei der Strafzumeſſung anfangen kann, wenn das Ge-

ſetz kein höheres Minimum aufgeſtellt hat. Das iſt aber immer geſche-

hen, wo die Geldbuße zu einer Freiheitsſtrafe hinzutritt. Das Maxi-

mum der Strafe iſt immer feſtgeſtellt; es kommt kein Fall vor, daß die

Höhe der Geldbuße nach dem verurſachten Schaden oder dem geſuchten

Gewinn beſtimmt worden iſt.

II. Kann die Geldbuße wegen Unvermögens des Verurtheilten nicht

beigetrieben werden, ſo wird ſie in eine verhältnißmäßige Freiheitsſtrafe

verwandelt.

1) Regelmäßig tritt ſtatt der Geldbuße Gefängniß ein, und zwar

in dem Verhältniß, daß Ein bis drei Thaler Einem Tage Gefängniß

gleichſtehen. Der Richter hat hier alſo nach ſeinem Ermeſſen zu be-

ſtimmen, wie innerhalb dieſes Maaßes die Geldbuße anzurechnen iſt. —

Früher galt in dieſer Hinſicht eine für den Verurtheilten weit ungünſti-

gere Berechnung, indem fünf Thaler Geldbuße einer Gefängnißſtrafe von

acht Tagen gleichgeſtellt waren. h) Bei der Reviſion nahm man Anfangs

eine nach der Höhe der Geldbuße ſteigende Berechnung an, ſo daß bis

zu dreißig Thalern Ein Tag Einem Thaler, von mehr als dreißig bis

einhundert Thalern Ein Tag zwei Thalern und über einhundert Thaler

h) Die Vorſchrift des A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 88., die ſich wohl nur auf

einen beſonderen Fall bezieht, iſt ſpäter allgemein ausgedehnt worden durch die K.-O.

v. 24. Febr. 1812. (Geſ. S. S. 14.) Vergl. Motive zum erſten Entwurf I. S. 69.

[119/0129]

§§. 17. 18. Geldbuße.

Ein Tag drei Thalern gleichgeſtellt wurde. i) Richtiger iſt es aber ge-

wiß, daß man, ſtatt dieſes Verhältniß geſetzlich feſtzuſtellen, dem richter-

lichen Ermeſſen es überlaſſen hat, die Höhe der umzuwandelnden Geld-

ſtrafe wie andere thatſächliche Momente bei der Umwandlung innerhalb

der vom Geſetz gezogenen Grenzen in Anſchlag zu bringen. k) Daß man

aber keinen abſoluten Werthmeſſer, z. B. die Höhe des Tagelohns, bei

der ganzen Berechnung zum Grunde gelegt hat, rechtfertigt ſich, auch

abgeſehen von der Verſchiedenheit der Verhältniſſe, dadurch, daß die

Freiheitsſtrafe nicht bloß den entzogenen Gewinn, ſondern auch das

Uebel der Freiheitsentziehung darſtellt.

2) Die längſte Dauer einer ſolchen umgeſetzten Gefängnißſtrafe ſoll

vier Jahre ſein; was über dieſe Zeit hinaus geht, fällt zu Gunſten des

Verurtheilten weg. Früher war hier eine viel weitere Grenze geſetzt,

indem nach der Kabinetsordre vom 24. Febr. 1812. ſtatt der Geldbuße

eine zehnjährige Freiheitsſtrafe eintreten konnte. Das jetzt geſtellte höchſte

Maaß von vier Jahren iſt mit Rückſicht auf das Zollſtrafgeſetzbuch vom

23. Jan. 1838. angenommen worden. l)

3) Iſt auf Geldbuße in Verbindung mit Zuchthausſtrafe erkannt

worden, ſo erfolgt die Umwandlung im Fall des Unvermögens in dieſe

letztere, jedoch ſo, daß die größere Härte der Zuchthausſtrafe nach dem

§. 16. aufgeſtellten Grundſatz bei der Anrechnung berückſichtigt wird.

Würde alſo z. B. eine Geldbuße von zweihundert Thalern in drei Mo-

nate Gefängniß umzuſetzen ſein, ſo macht das bei der Zuchthausſtrafe

nur zwei Monate aus.

III. Wenn dem Richter die Wahl zwiſchen Freiheitsentziehung und

Geldbuße gelaſſen iſt, ſo ſoll die letztere als die mildere Strafe ange-

ſehen werden. Kann in einem ſolchen Fall aber die Zahlung der auf-

erlegten Buße wegen Unvermögens nicht geſchehen, ſo findet wiederum

eine Verwandlung in Freiheitsſtrafe ſtatt, und zwar nach den in §. 17.

aufgeſtellten Regeln. Ein Beiſpiel möge die Abſicht dieſer Beſtimmung

deutlich machen. Nach §. 100. ſoll, wer den öffentlichen Frieden da-

durch gefährdet, daß er die Angehörigen des Staates zum Haſſe oder

zur Verachtung gegen einander öffentlich aufreizt, mit Geldbuße von

zwanzig bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß von Einem

Monat bis zu zwei Jahren beſtraft werden. Findet nun der Richter

den Fall darnach angethan, daß er die mildeſte Strafe für ausreichend

i) Entwurf v. 1843. §. 47.

k) Reviſion von 1845. I. S. 114.

l) Berathungs- Protokolle der Staatsraths-Kommiſion I. S. 42.

— Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 25.—

Ueber das Rheiniſche Recht ſ. Code pénal. Art. 53.

[120/0130]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d.

Strafen.

hält, ſo verurtheilt er in eine Geldbuße von zwanzig Thalern, und ſetzt

dieſe, wenn wegen Unvermögens keine Zahlung erfolgen kann, etwa in

eine Gefängnißſtrafe von zehn Tagen um, indem er nach dem Mittel-

verhältniß Einen Tag zu zwei Thalern rechnet. Hätte er aber, ſtatt

eine ſolche Umwandlung vorzunehmen, das Minimum der geſetzlichen

Freiheitsſtrafe anwenden müſſen, ſo würde Gefängniß von Einem Mo-

nate das geringſte Strafmaaß geweſen ſein.

Die Vorſchrift des §. 18. iſt aber auch noch deswegen von Be-

deutung, weil ſie den Grundſatz in ſich ſchließt, daß in den Fällen, wo

dem Richter die Wahl zwiſchen Geldbuße und Gefängniß gegeben iſt,

nur die größere oder geringere Verſchuldung, und nicht die äußeren Ver-

hältniſſe des Angeſchuldigten den Ausſchlag geben ſollen, als ob etwa

der Wahlhabende mit Geld, der Arme mit Gefängniß zu büßen hätte.

Um den richtigen Sinn des Geſetzbuchs für dieſe alternativen Strafbe-

ſtimmungen auszudrücken, wurde in der Kommiſſion der zweiten Kammer

unter Zuſtimmung des Kommiſſars des Juſtizminiſters der §. 18. hin-

zugefügt, was um ſo angemeſſener erſchien, da früher andere Normen

in dieſer Beziehung zur Anwendung kamen. m) — Der in einem früheren

Stadium der Reviſion gemachte Vorſchlag, den Richter zu ermächtigen,

eine jede Gefängnißſtrafe von höchſtens vier Wochen in eine Geldbuße

zu verwandeln, wurde ſchon vom Staatsrathe beſeitigt, n) und es er-

ſchien überflüſſig, eine ſolche, im Geſetzbuch gar nicht begründete Macht-

vollkommenheit des Richters durch eine ausdrückliche Beſtimmung aus-

zuſchließen, wie in dem Entwurf von 1847. §. 27. Abſ. 3. geſche-

hen war.

§. 19.

Die Konfiskation findet nur in Beziehung auf einzelne Gegenſtände ſtatt.

Gegenſtände, welche durch das Verbrechen oder Vergehen hervorgebracht,

oder welche zur Begehung deſſelben gebraucht oder beſtimmt worden ſind, ſollen,

ſofern ſie dem Thäter oder einem Theilnehmer der That gehören, konfiszirt

werden.

Wenn der Inhalt einer Schrift, Abbildung oder Darſtellung ſich als That-

beſtand einer ſtrafbaren Handlung darſtellt, ſo iſt im Strafurtheile zugleich die

Vernichtung aller vorfindlichen Exemplare und der dazu beſtimmten Platten

und Formen auszuſprechen.

Iſt die Schrift, Abbildung oder Darſtellung ihrem Hauptinhalte nach eine

erlaubte, ſo ſoll nur auf die Vernichtung der geſetzwidrigen Stellen und des-

jenigen Theils der Platten und Formen erkannt werden, auf welchem ſich dieſe

Stellen befinden.

m) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 85.

n) Protokolle des Staatsraths, Sitzung v. 18. Jan. 1840. — Bera-

thungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion I. S. 193. 194.

[121/0131]

§. 19. Konfiskation einzelner Gegenſtände.

Da die Konfiskation des Vermögens aus der Reihe der geſetzlichen

Strafen entfernt worden iſt, ſo bleibt nur die Konfiskation einzelner

Gegenſtände für das Strafrecht von Bedeutung. Der §. 19. enthält

darüber einige allgemeine Beſtimmungen, an welche ſich die Vorſchrift

über die Vernichtung von Schriften, Abbildungen und Darſtellungen, ſo

wie der dazu beſtimmten Platten und Formen anſchließt.

I. Als die zu konfiscirenden Gegenſtände werden bezeichnet:

1) ſolche, welche durch das Verbrechen oder Vergehen hervorge-

bracht worden ſind. Dies würde z. B. Anwendung finden bei der Münz-

fälſchung.

2) Gegenſtände, welche zur Begehung des Verbrechens oder Ver-

gehens gebraucht oder beſtimmt worden ſind, alſo die Inſtrumente, von

denen die Kriminalordnung §. 638. handelt, und zwar ſowohl wenn die

ſtrafbare Handlung vollendet worden, als auch im Falle des Verſuchs,

wenn z. B. Dieteriche bei dem vor vollendetem Diebſtahl ergriffenen

Diebe gefunden werden. Bei der Reviſion kam es zur Frage, ob nicht

die im Geſetzbuch gebrauchten Ausdrücke zu unbeſtimmt ſeien und über

den Sinn, welchen man damit verbinde, hinausgingen. Es ſei vielleicht

die Auslegung zu befürchten, daß man glauben könnte, das Pferd, mit

welchem jemand zu ſchnell gefahren, oder das Meſſer, mit welchem der

ungeſchickte Chirurg eine Operation vollzogen habe, confisciren zu müſſen.

Sicherer ſei es, nach dem Vorgange anderer Geſetzgebungen o) die Be-

ſtimmung auf die vorſätzlichen Handlungen zu beſchränken. Es ward

aber hierauf erwiedert, daß es ſich hier nicht um alle Gegenſtände

handle, welche mit der ſtrafbaren Handlung in einer unmittelbaren

Beziehung ſtehen, ſondern nur um ſolche, deren man ſich zu der Be-

gehung derſelben bediene, und daß gerade in dieſem Ausdrucke: „zur

Begehung deſſelben gebraucht oder beſtimmt“ eine Hinweiſung auf die

vorſätzliche Handlungsweiſe liege. Man glaubte daher, die Entſcheidung

des einzelnen Falles dem richterlichen Ermeſſen überlaſſen zu können. p)

II. Die Konfiskation findet nur dann ſtatt, wenn die Gegenſtände

dem Thäter oder einem Theilnehmer der That gehören. Dieß iſt in dem

Strafgeſetzbuch konſequent durchgeführt worden, bis auf Einen Fall,

nämlich bei dem Jagdfrevel (§. 277.), wo dringende Gründe der Zweck-

mäßigkeit zu einer Ausnahme von der Regel führten.

III. Da die Strafgerichtsbarkeit gegenwärtig nur im Namen des

o) Braunſchw. Criminalgeſetzb. §. 21. — Thüringſch. Strafgeſetz-

buch Art. 18.

p) Berathungs-Protokolle der Staatsrathskommiſſion I. S. 159.

160. — Reviſion von 1845. I. S. 81.

[122/0132]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d.

Strafen.

Staates ausgeübt wird, ſo iſt die konfiscirte Sache dem Fiskus zu-

zuſprechen.

IV. Die Konfiskation iſt als eine Strafe, wenn auch nur als

Nebenſtrafe aufgefaßt; ſie tritt daher nur ein, wenn im Strafurtheil

ausdrücklich darauf erkannt wird; vergl. unten §. 20. Dieß iſt im

Strafgeſetzbuch in allen Fällen, wo die Konfiskation vorkommt, auch

beſtimmt ausgedrückt; ſ. z. B. §. 277.

V. Auch bei den durch die Preſſe begangenen und den verwandten

Verbrechen und Vergehen hätte man ſich mit der Konfiskation der ſtraf-

bar befundenen Erzeugniſſe begnügen können; das Geſetzbuch ſchreibt

aber die gänzliche oder theilweiſe Vernichtung der vorfindlichen Exem-

plare und der zu ihrer Herſtellung beſtimmten Platten und Formen vor.

Daß hierunter nicht die Typen und ähnliche in wechſelnder Zuſammen-

ſetzung zur Darſtellung geiſtiger Erzeugniſſe beſtimmten Gegenſtände zu

rechnen ſind, bedarf für denjenigen, der gewohnt iſt, Rechtsfragen vom

Standpunkte einer geſunden Jurisprudenz zu beurtheilen, keiner weiteren

Ausführung. Es knüpfte ſich aber in der Kommiſſion der zweiten

Kammer an die beiden letzten Abſätze des §. 19. eine andere Erörterung.

Indem nämlich in der Regierungsvorlage die Worte: „im Straf-

urtheile zugleich“ fehlten, entſtand die Frage, ob nicht durch dieſe

Beſtimmung die Staatsanwaltſchaft ermächtigt werde, auch in ſolchen

Fällen, wo ſie wegen des Inhalts einer Schrift, Abbildung oder Dar-

ſtellung eine beſtimmte Perſon nicht verfolgt, die Vernichtung der vor-

gefundenen Exemplare und der dazu beſtimmten Platten und Formen

zu beantragen, und ob nicht der Richter in einem ſolchen Falle, ohne

einen Angeſchuldigten vor ſich zu haben, lediglich über dieſen Antrag

erkennen müſſe?

In der Kommiſſion war man allſeitig darüber einig, daß ein ſol-

ches — jedenfalls abnormes — Verfahren, wenn deſſen Nothwendigkeit

auch unter Umſtänden anzuerkennen ſein ſollte, nicht in dem allgemei-

nen Strafgeſetzbuch, ſondern nur in dem ſpeziellen Preßgeſetze ange-

ordnet werden könne. q) Indem man daher jene Worte: „im Straf-

urtheile zugleich“ hinzufügte, wollte man eben nur ausdrücken, daß

jenes Erkenntniß auf die Vernichtung ein Strafurtheil gegen einen be-

ſtimmten Angeſchuldigten vorausſetze. r) Auch in einem ſolchen iſt aber

nur dann jenes Erkenntniß auf die Vernichtung auszuſprechen, „wenn

der Inhalt der Schrift u. ſ. w. ſich als Thatbeſtand einer ſtrafbaren

q) Im Preßgeſetz vom 12. Mai 1851. §. 50. findet ſich in der That dieſes

Verfahren angeordnet.

r) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 19.

[123/0133]

§. 20. Verhaftung d. Nachlaſſes. §§. 21. 22. Zeitige Unterſag. d. bürgl. c.

Handlung darſtellt,“ — nicht alſo, wenn Verletzungen einer bloßformellen

Beſtimmung des Preßgeſetzes die Verurtheilung herbeigeführt haben.

§. 20.

Geldſtrafen können in den Nachlaß eines Angeſchuldigten nur dann voll-

ſtreckt werden, wenn derſelbe bei Lebzeiten rechtskräftig verurtheilt worden iſt.

Die Konfiskation einzelner Gegenſtände kann nach dem Tode des Ange-

ſchuldigten in deſſen Nachlaß geltend gemacht werden, ſelbſt wenn zu ſeinen

Lebzeiten noch kein Urtheil ergangen iſt.

Die erſte Beſtimmung des Paragraphen entſpricht den allgemeinen

Grundſätzen des Civilrechts; die Geldbuße, welche bei Lebzeiten des

Angeſchuldigten rechtskräftig erkannt worden iſt, haftet wie eine Schuld

auf dem Nachlaß. Von einer Beſtrafung unſchuldiger Erben kann hier

keine Rede ſein.

Die zweite Beſtimmung dagegen, daß die Konfiskation einzelner

Gegenſtände in den Nachlaß des Angeſchuldigten geltend gemacht werden

kann, auch wenn zu ſeinen Lebzeiten kein Urtheil ergangen iſt, trägt

allerdings einen ſingulären Charakter an ſich, und iſt namentlich mit

Rückſicht auf die Zollſtrafgeſetze aufgenommen worden. Man hat ſich

dafür auf die Behandlung des commissum nach Römiſchem Rechte, ſo

wie auf die bisher geltende Geſetzgebung berufen. s) Uebrigens iſt es

nur vorbehalten, die Konfiskation gegen den Nachlaß geltend zu machen,

ohne daß für die betreffenden Behörden eine allgemeine Verpflichtung

beſteht: „kann geltend gemacht werden“; und da die Konfiskation nicht

eher ſtatt findet, bevor ein rechtskräftiges Erkenntniß abgegeben iſt, ſo

muß ein ſolches, auch wenn der Angeſchuldigte geſtorben, erwirkt werden.

§. 21.

Die Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit be-

wirkt die Unfähigkeit, während der im Urtheil beſtimmten Zeit die im §. 12.

erwähnten Rechte auszuüben.

Die Zeit ſoll wenigſtens Ein Jahr und höchſtens zehn Jahre betragen.

Die Wirkungen der Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehren-

rechte beginnen mit der Rechtskraft des Urtheils, in welchem ſie ausgeſprochen

iſt. Die Dauer dieſer Strafe wird jedoch erſt von dem Tage an berechnet,

an welchem die Freiheitsſtrafe verbüßt iſt.

s) A. L. R. Th. I. Tit. 9. §. 364. Th. II. Tit. 20. §. 297. — Zollſtraf-

geſetz vom 23. Jan. 1838. §. 22. (Geſ. S. S. 84.) — Vgl. überhaupt Reviſion

von 1845. I. S. 227. — Verhandlungen der Staatsraths- Kommiſſion

von 1846. S. 26.

[124/0134]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

§. 22.

Die Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit hat

den Verluſt aller aus früheren öffentlichen Wahlen für den Verurtheilten her-

vorgegangenen Rechte, ingleichen den Verluſt der öffentlichen Aemter, Würden,

Titel, Orden und Ehrenzeichen, ſowie den Verluſt des Adels von Rechtswegen

zur Folge. Die Entfernung aus der Armee tritt ein, ſoweit die Militairgeſetze

dies vorſchreiben.

Die Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf

Zeit oder, wie man wohl in kürzerem Ausdruck dieſe Strafe gewöhnlich

bezeichnen wird, die (zeitige) Unterſagung der (bürgerlichen) Ehrenrechte,

muß entweder neben einer anderen Strafe erkannt werden, oder es iſt

dem Richter überlaſſen, ſie hinzuzufügen oder wegzulaſſen. Außer den

Fällen der §§. 63. und 64. kommt ſie nur in Verbindung mit der Ge-

fängnißſtrafe vor.

A. Sie muß erkannt werden in folgenden Fällen:

wegen Fälſchung u. ſ. w. von Wahl- und Stimmzetteln bei

öffentlichen Wahlen (§. 85.);

wegen vorſätzlicher Vernichtung öffentlich verwahrter Urkunden

u. ſ. w., wenn die Handlung in gewinnſüchtiger Abſicht

begangen worden (§. 106.);

wegen Verſtümmelung, zum Zweck, ſich ſelbſt oder einen Ande-

ren zum Militairdienſt untauglich zu machen (§. 113.);

wenn unbefugt Leichen weggenommen, Gräber zerſtört ſind,

falls der Handlung gewinnſüchtige Abſicht zum Grunde

lag (§. 137.);

wegen widernatürlicher Unzucht (§. 143.);

wegen gewohnheitsmäßiger oder eigennütziger Kuppelei (§. 147.);

wegen Diebſtahls (§. 216. 217.);

beim qualificirten Diebſtahl, wenn im Fall mildernder Umſtände

ſtatt Zuchthausſtrafe Gefängniß eintritt (§. 218.);

wegen Unterſchlagung (§. 227.);

wegen Erpreſſung (§. 235.);

wegen Hehlerei, und zwar wegen der einfachen (§. 237.), ſo

wie bei der qualificirten dann, wenn im Fall mildernder Um-

ſtände ſtatt der Zuchthausſtrafe Gefängniß eintritt (§. 238.);

bei dem Betruge (§. 242. 243.);

bei der Untreue (§. 246.);

wegen Verfälſchung u. ſ. w. von Stempelpapier, Poſtfreimar-

ken und geſtempelten Briefcouverts (§. 253.);

wenn Aerzte, Wundärzte und andere Medizinalperſonen wider

beſſeres Wiſſen unrichtige Zeugniſſe ausſtellen (§. 257.);

[125/0135]

§§. 21. 22. Zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte.

bei dem Wucher (§. 263.);

gegen den, welcher vom Hazardſpiele ein Gewerbe macht

(§. 266.);

gegen gewerbsmäßige Jagdfrevler oder Wilderer (§. 276.);

wegen Unterſchlagung von Geldern oder Sachen, die ein Beam-

ter in amtlicher Eigenſchaft empfangen hat (§. 324.).

Beim Hochverrath hat der Richter ausnahmsweiſe im Fall der

§§. 63. und 64. die Wahl, wenn feſtgeſtellt wird, daß mildernde Um-

ſtände vorhanden ſind, neben der Einſchließung auf den Verluſt der

politiſchen Rechte oder auf die zeitige Unterſagung ihrer Ausübung zu

erkennen.

B. Es kann auf die Unterſagung erkannt werden:

bei der Majeſtätsbeleidigung (§. 75.), und der Beleidigung von

Mitgliedern des Königlichen Hauſes (§. 77.);

gegen den, der bei öffentlichen Wahlen eine Wahlſtimme kauft

oder verkauft (§. 86);

gegen den, welcher einer öffentlichen Behörde eine Verſicherung

an Eidesſtatt wiſſentlich falſch abgiebt (§. 129.);

gegen den, welcher einen Andern zur Abgabe einer ſolchen fal-

ſchen Verſicherung wiſſentlich zu verleiten ſucht (§. 130.);

wegen falſcher Anſchuldigung (§. 133.);

wegen Unzucht zwiſchen Schwiegereltern und Schwiegerkindern,

Stiefeltern und Stiefkindern und zwiſchen vollbürtigen und

halbbürtigen Geſchwiſtern (§. 141.);

gegen den, welcher durch Verletzung der Schamhaftigkeit ein

öffentliches Aergerniß giebt (§. 150.);

gegen den, welcher Zeugniſſe unter dem Namen einer Medizi-

nalperſon ausſtellt und davon zur Täuſchung von Behörden

und Verſicherungsgeſellſchaften Gebrauch macht (§. 256.);

gegen den, welcher von falſchen Zeugniſſen dieſer Art Gebrauch

macht (§. 258);

wegen betrüglichen Bankerutts, wenn mildernde Umſtände vor-

liegen (§. 259. 260.);

wenn jemand ſeine eigene bewegliche Sache dem Nutznießer

u. ſ. w. in rechtswidriger Abſicht wegnimmt (§. 271.);

wegen vorſätzlicher Zerſtörung oder Beſchädigung befriedeter

Sachen (§. 282.);

wegen vorſätzlicher Verletzung mit einer öffentlichen Behörde

geſchloſſener Lieferungsverträge (§. 308.);

wegen begangener oder verſuchter Beſtechung (§. 311.).

[126/0136]

Thl. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

Mit Bezugnahme auf die hier aufgeführten einzelnen Fälle ſind

nun folgende allgemeine Regeln aufzuſtellen.

I. Die Wirkung der zeitigen Unterſagung der bürgerlichen Ehren-

rechte iſt gleich, ſie mag nun ausgeſprochen werden müſſen oder nur

können; der einzige Unterſchied bezieht ſich auf die Frage, wann ſie ſtatt

findet, und dieſe iſt im Strafurtheile ſtets ausdrücklich zu entſcheiden.

Die Unterſagung auf Zeit tritt niemals von Rechtswegen ein, wodurch

ſie ſich von dem Verluſt der bürgerlichen Ehre, der nothwendigen Folge

der Verurtheilung in die Zuchthausſtrafe, weſentlich unterſcheidet.

II. Für die Fälle, in denen die Unterſagung nur zugelaſſen und

nicht vorgeſchrieben iſt, genügt es nicht, das richterliche Ermeſſen auf

das Princip zu verweiſen, welches früher für die Aberkennung der Na-

tionalkokarde maaßgebend ſein ſollte. Ein Mangel an ehrliebender,

patriotiſcher Geſinnung kann bei Handlungen ſich offenbaren, die unter

kein Strafgeſetz geſtellt ſind, und wo die Kognition des Richters alſo

ganz ausgeſchloſſen bleibt. Man nehme die Verführung eines unbe-

ſcholtenen Mädchens, das älter als ſechszehn Jahre iſt, die Niederle-

gung eines Amtes in der Zeit der Gefahr u. ſ. w. Aber auch an ſich

ſtrafbare Handlungen, z. B. das Austreten aus den Königlichen Landen,

um ſich dem Militairdienſt zu entziehen (§. 110), Störungen des öf-

fentlichen Gottesdienſtes (§. 136.) und andere, ſelbſt unter den Ueber-

tretungen aufgeführten Fälle können vom Standpunkte des ſittlichen

Urtheils aus, ſo verwerflich wie ein Verbrechen oder wie ein mit einer

Ehrenſtrafe bedrohtes Vergehen erſcheinen. Der Richter muß daher,

wenn er über die Hinzufügung der zeitigen Unterſagung der bürgerlichen

Ehrenrechte zu erkennen hat, die beſondere Beſchaffenheit des einzelnen

Vergehens (oder im Fall mildernder Umſtände des einzelnen Verbrechens)

gehörig erwägen, und nach der Art der Verübung und dem Grade der

dabei bewieſenen Verſchuldung die Frage entſcheiden, ob die immer

außerordentlich große Erſchwerung, welche in der Ehrenſtrafe liegt, be-

gründet iſt. Er iſt in einem ſolchen Fall ähnlich geſtellt wie die Ge-

ſchworenen, wenn ſie zu entſcheiden haben, ob ein Landesverräther, ein

Mörder der bürgerlichen Ehre verluſtig erklärt werden ſoll. Nur wenn

ſich eine beſondere Gemeinheit, Rohheit oder Böswilligkeit bei dem An-

geſchuldigten herausſtellt, wodurch das gewöhnliche Maaß der Straf-

barkeit des Verbrechens an ſich, in ſeiner Handlung weſentlich geſteigert

worden, rechtfertigt ſich eine ſolche Straferhöhung. Denn wenn der

Geſetzgeber nicht bloß die milderen Fälle, ſondern auch das gewöhnliche

Maaß der Strafbarkeit mit der zeitigen Entziehung der Ehrenrechte hätte

belegen wollen, ſo würde dieſe dispoſitiv vorgeſchrieben und etwa nur

für den Fall mildernder Umſtände ausgeſchloſſen ſein, wie dieß z. B.

[127/0137]

§§. 21. 22. Zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte.

bei dem einfachen Diebſtahl und der Unterſchlagung geſchehen iſt. Auf

dieſe Auffaſſung weiſt auch die Beſtimmung hin, welche in zwei Fällen

die Ehrenſtrafe nur dann vorſchreibt, wenn der Handlung gewinnſüchtige

Abſicht zum Grunde lag (§. 106. 137.) Denn wenn dieß Motiv auch

nicht immer und nicht allein den Ausſchlag geben kann (einigen Ver-

gehen liegt ja ihrer Natur nach die gewinnſüchtige Abſicht ſtets zum

Grunde, bei anderen kommt ſie kaum jemals vor, oder erſcheint doch

nicht ſchlimmer als das Motiv der Rache u. ſ. w.); ſo iſt es doch bei

der Würdigung mancher Vergehen von Einfluß, und zeigt jedenfalls,

wie der Geſetzgeber im einzelnen Fall ſich die Qualifikation der ſtraf-

baren Handlung gedacht hat, um die zeitige Entziehung der Ehrenrechte

für begründet zu halten. — Auf die einzelnen Strafbeſtimmungen wird

ſpäter bei der beſonderen Erörterung der einzelnen Vergehen näher ein-

gegangen werden.

In der Kommiſſion der zweiten Kammer fehlte es übrigens nicht

an Stimmen, welche es als einen Uebelſtand hervorhoben, daß dem

richterlichen Ermeſſen bei der fakultativen Unterſagung der bürgerlichen

Ehrenrechte ein zu weiter Spielraum gelaſſen werde, und daß dieſe Ne-

benſtrafe zu bedeutend ſei, um dazu zu dienen, für daſſelbe Vergehen die

Handlungen nach dem Grade der Verſchuldung mit einer verſchiedenen

Strafe zu treffen. Wenn dieſe Anſicht auch nicht allgemein durchdrang,

ſo hat die Kommiſſion doch in jedem einzelnen Fall genau geprüft, ob

die Hinzufügung der Strafe begründet erſcheine, und darnach ihre Ent-

ſcheidung nicht immer in Uebereinſtimmung mit der Regierungsvorlage

getroffen. Geſtrichen hat ſie die Ehrenſtrafe namentlich bei der Ver-

leumdung, hinzugefügt bei der falſchen Verſicherung an Eidesſtatt und

bei der Zerſtörung oder Verletzung befriedeter Sachen. t)

III. Die Wirkung der Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen

Ehrenrechte auf Zeit beſteht für den Verurtheilten in der Unfähigkeit,

während der im Urtheile beſtimmten Zeit die in §. 12. erwähnten Rechte

auszuüben. Die Strafe unterſcheidet ſich alſo von dem Verluſt der

bürgerlichen Ehre im Allgemeinen nicht durch den Umfang ihrer Wir-

kung, ſondern nur durch die Dauer derſelben.

1) Der Verluſt der bürgerlichen Ehre als Folge der Verurtheilung

in die Zuchthausſtrafe umfaßt ſtets ſämmtliche, im §. 12. aufgezählten

Rechte, und nur im Fall des §. 63. und 64. gehen bloß die politiſchen

Rechte verloren. Daſſelbe gilt für die zeitige Unterſagung der Ausübung

der bürgerlichen Ehrenrechte; auch ſie erſtreckt ſich auf ſämmtliche in

t) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer, zu §. 117. (129.)

§. 145. (156.) §. 256. (282.)

[128/0138]

Thl. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

§. 12. erwähnten Rechte, mit demſelben Ausnahmefall der §§. 63. und 64.

Die Beſtimmung des Rheiniſchen Rechts, u) daß der Richter die Aus-

übung einzelner dieſer Rechte unterſagen kann, iſt in das Strafgeſetz-

buch nicht übergegangen.

2) Für gewiſſe Rechte, welche einen Theil der bürgerlichen Ehre

ausmachen, ſoll nach §. 22. nicht bloß während der Zeit, auf welche

im Urtheile erkannt worden, die Ausübung unterſagt ſein, ſondern ſie

werden in derſelben Weiſe aufgehoben, wie es bei dem Verluſt der bür-

gerlichen Ehre der Fall iſt, und nur die Möglichkeit, nach dem Ablauf

der feſtgeſetzten Strafzeit dieſe Rechte zu erlangen oder wieder zu erlan-

gen, läßt die zeitige Unterſagung als die mildere Strafe auch in dieſer

Beziehung erſcheinen. Definitiv verloren gehen aber alle aus früheren

öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte (§. 12. Nr. 3.), ingleichen

die öffentlichen Aemter, Würden, Titel, Orden und Ehrenzeichen, ſo wie

der Adel (§. 12. Nr. 2.).

3) In Beziehung auf die §. 12. Nr. 5. genannten Rechte kann

die Frage entſtehen, ob derjenige, welchem die Ausübung der bürger-

lichen Ehrenrechte unterſagt iſt, das Amt des Vormundes u. ſ. w.,

welches er zur Zeit der Verurtheilung ſchon inne hat, verliert, ſo daß

ein Anderer an ſeine Stelle tritt, oder ob er bloß in der Ausübung

ſeiner amtlichen Funktionen ſtille geſtellt wird, und in der Zwiſchenzeit,

bis zur Wiedererlangung ſeiner vollen Rechtsfähigkeit, von einem An-

deren vertreten werden muß. Auf die letzte Annahme ſcheint die Faſ-

ſung des §. 22. hinzuweiſen, da unter den Rechten, die definitiv ver-

loren gehen, die Fälle des §. 12. Nr. 5. nicht genannt werden, und

neben den öffentlichen Aemtern die Funktionen eines Vormunds u. ſ. w.

keine Erwähnung gefunden haben. Auf der andern Seite ſcheint es

doch mit allgemeinen Rechtsgrundſätzen unvereinbar, daß derjenige, wel-

cher durch richterliches Erkenntniß für unfähig erklärt iſt, während einer

beſtimmten Zeit das Amt eines Vormundes u. ſ. w. auszuüben, das-

ſelbe auch nur nominell behalten könnte. Es kommt hinzu, daß es ſich

hier nicht bloß um das Recht des Verurtheilten, ſondern eben ſo ſehr

um das Intereſſe des Mündels, Kuranden u. ſ. w. handelt, und daß

es dieſem nicht entſprechen würde, eine interimiſtiſche Geſchäftsführung

zu beſtellen, um ſie ſpäter dem Rehabilitirten wieder zu überlaſſen. Da-

her darf wohl als Regel angenommen werden, daß, wer auch nur auf

beſtimmte Zeit unfähig geworden iſt, eins der in §. 12. Nr. 5. ange-

u) Code pénal. Art. 42. Les tribunaux, jugeant correctionellement,

pourront dans certains cas, interdire en tout ou en partie, l'exercice des

droits civiques, civils et de famille suivans etc.

[129/0139]

§§. 21. 22. Zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte.

führten Rechte auszuüben, auch das in Folge einer ſolchen Berechtigung

früher erlangte Amt verliert. Indeſſen verſteht es ſich von ſelbſt, daß

nach dem Ablauf der Strafzeit, auf welche die Unterſagung ausgeſpro-

chen war, die volle Rechtsfähigkeit des Verurtheilten auch in dieſer Be-

ziehung wieder eintritt. Hat er alſo vermöge ſeiner Stellung in der

Familie ein Recht, gewiſſe Funktionen für ſich in Anſpruch zu nehmen,

z. B. die Vormundſchaft über ſeine Kinder, eine Stelle im Familienrath

als vollbürtiger Bruder, ſo kann er nun auch dieſes Recht ſelbſtändig

geltend machen.

Daß übrigens auch bei der zeitigen Unterſagung der bürgerlichen

Ehrenrechte eben ſo gut wie im Fall des Verluſtes der bürgerlichen

Ehre die in §. 12. Nr. 5. hinzugefügte Beſtimmung, daß über die

eigenen Kinder ausnahmsweiſe eine Vormundſchaft u. ſ. w. des Ver-

urtheilten zugelaſſen werden kann, zur Anwendung kommt, wird hier

nur, um Mißverſtändniſſe zu verhüten, ausdrücklich bemerkt.

3. Die Wirkung der zeitigen Unterſagung der bürgerlichen Eh-

renrechte auf die Militairverhältniſſe iſt ſchon oben zu §. 12. erörtert

worden.

IV. Die Zeit, für welche eine ſolche Unterſagung ausgeſprochen

werden kann, iſt mindeſtens Ein Jahr und höchſtens 10 Jahre; wei-

tere Schranken in der Feſtſtellung der Dauer ſind dem Richter nicht

geſetzt.

Die Wirkungen der Unterſagung beginnen mit der Rechtskraft des

Urtheils, in welchem ſie ausgeſprochen iſt, ſo wie auch die Wirkungen

des Verluſtes der bürgerlichen Ehre mit der rechtskräftigen Verurthei-

lung in die Zuchthausſtrafe ihren Anfang nehmen. Die Dauer der

Strafe ſoll jedoch bei der Unterſagung erſt von dem Tage an berechnet

werden, an welchem die Freiheitsſtrafe verbüßt iſt. Dieß iſt auch inſo-

fern ganz konſequent, als ein Theil der Wirkungen, welche die Unter-

ſagung mit ſich führt, nicht wohl eintreten kann, ſo lange der Verur-

theilte gefangen iſt. Indeß iſt dieſe Berechnung in anderer Beziehung

doch auch eine Verlängerung der Strafe, und der Richter wird wohl

thun, dieß im einzelnen Fall bei deren Abmeſſung zu beachten. Ueber-

haupt iſt aber zu erwarten, daß bei der Feſtſetzung der Dauer ſowohl wie

überhaupt bei der Unterſagung der Ehrenrechte, wo ſie dem richterlichen

Ermeſſen überlaſſen iſt, alle in Betracht kommende Umſtände gehörig er-

wogen werden, und daß man namentlich den Anforderungen des öffent-

lichen Intereſſe gegenüber die Rückſichten auf den einzelnen Uebelthäter

nicht zu gering anſchlägt. Denn kaum etwas erſchwert es wohl ſo ſehr

für den Verurtheilten, ſich wieder zum nützlichen Mitgliede der bürger-

Beſeler Kommentar. 9

[130/0140]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

lichen Geſellſchaft zu machen, als die Schmälerung der Ehrenrechte,

zumal in dem Umfange, wie ſie der §. 12. aufſtellt. v)

§. 23.

Entlaſſene Staatsdiener und Gemeindebeamte werden durch den Verluſt der

bürgerlichen Ehre und durch die Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen

Ehrenrechte auf Zeit der ihnen aus der Staatskaſſe oder einer Gemeindekaſſe

zu zahlenden Penſionen und Gnadengehalte von Rechtswegen verluſtig.

§. 24.

Iſt ein Preuße im Auslande wegen eines Verbrechens oder Vergehens be-

ſtraft worden, welches nach Preußiſchen Geſetzen den Verluſt der bürgerlichen

Ehre oder die Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf

Zeit nach ſich zieht, ſo kann ein neues Strafverfahren vor den Preußiſchen

Gerichten eingeleitet, und es muß gegen den Schuldigen in Gemäßheit der

Preußiſchen Geſetze auf Verluſt der bürgerlichen Ehre oder Unterſagung der

Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit erkannt werden.

Beide Paragraphen enthalten Beſtimmungen, welche ſich ſowohl

auf den Verluſt der bürgerlichen Ehre als auch auf die zeitige Unter-

ſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte beziehen, und hier

daher zuſammen gefaßt werden können.

I. Die Frage wegen des Verluſtes der Penſionen und Gnaden-

gehalte wurde urſprünglich in Verbindung mit der Strafe der Kaſſation

und Amtsentſetzung behandelt, und durch Beſchlüſſe des Staatsraths

wurde in dieſer Hinſicht feſtgeſtellt:

daß beide Strafen den Verluſt der Penſionen und Gnadenge-

halte nach ſich ziehen ſollten, und

daß dieß auch die Folge eines gemeinen Verbrechens ſein ſollte,

welches nach der Entlaſſung begangen worden, wenn daſſelbe,

im Amte verübt, mit der Kaſſation oder Amtsentſetzung beſtraft

worden wäre. w)

Dagegen trug man Bedenken, dieſe Beſtimmungen auf mittelbare

Staatsbeamten und auf ſolche Penſionen auszudehnen, welche auf ſpe-

ziellen Rechtstiteln beruhen, x) und wählte daher für den Entwurf von

1843. folgende Faſſung:

v) Im vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß wurde der Antrag der vorberathenden

Abtheilung, für die zeitige Unterſagung der Ausübung der Ehrenrechte eine Dauer

von Einem bis fünf Jahre feſtzuſtellen, mit großer Mehrheit angenommen; f. Ver-

handlungen. II. S. 499. Man hätte es vielleicht beſſer bei dieſer Dauer bewen-

den laſſen, anſtatt ein Maximum von zehn Jahren aufzuſtellen.

w) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 4. Jan. 1840.

x) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. I. S. 187.

— Reviſion von 1845. I. S. 84-86.

[131/0141]

§§. 23. 24. Gemeinſame Beſtimmungen über die Ehrenſtrafen.

§. 30. „Der Verluſt von Penſionen, welche aus der Staats-

kaſſe an entlaſſene Staatsdiener gezahlt werden, tritt ein, wenn

der Penſionair vor oder nach ſeiner Entlaſſung eines Verbrechens

ſich ſchuldig gemacht hat, welches, wenn er noch im Dienſte

geweſen wäre, die Kaſſation oder Amtsentſetzung zur Folge ge-

habt haben würde. — Auf den Verluſt anderer Penſionen iſt

nur dann zu erkennen, wenn ſolches durch beſondere Vorſchriften

beſtimmt iſt.“

Der Entwurf von 1850. dehnte dieſe Beſtimmung in der Art aus,

daß er das, was früher als Folge der Kaſſation und Amtsentziehung

vorgeſchrieben war, mit den beiden Arten der Ehrenſtrafen in Verbin-

dung brachte, es nicht bloß auf Staatsbeamte, ſondern auch auf Ge-

meindebeamte anwandte, und den beſchränkenden Zuſatz wegen anderer

Penſionen wegließ. Dagegen war bloß auf die aus der Staatskaſſe

zu zahlenden Penſionen oder Gnadengehalte Bezug genommen, was in

der Kommiſſion der zweiten Kammer mit Zuſtimmung des Kommiſſars

des Juſtizminiſters, welcher erklärte, es liege hier bloß eine Omiſſion

vor, — durch den Zuſatz: „oder einer Gemeindekaſſe“ abgeändert

wurde. y)

Die Vorſchriften des §. 23. beziehen ſich daher

1) auf entlaſſene Staats- und Gemeindebeamten; Perſonen, die in

einer anderen amtlichen Wirkſamkeit geſtanden haben, werden

dadurch nicht betroffen;

2) auf alle Penſionen und Gnadengehalte, die aus der Staats-

kaſſe oder einer Gemeindekaſſe gezahlt werden; Zahlungen, die

aus anderen Mitteln beſchafft werden, z. B. aus denen eines

geiſtlichen Stiftes, fallen nicht unter dieſe Beſtimmung.

Gegen die allgemeine Faſſung der geſetzlichen Vorſchrift und die

Gleichſtellung der zeitigen Unterſagung mit dem Verluſte der bürgerlichen

Ehre laſſen ſich manche Bedenken erheben; z) doch iſt mit den Motiven

zum Entwurf von 1850. anzuerkennen, daß §. 23. aus dem in §. 22.

aufgeſtellten Princip hergeleitet werden kann. Wo dieß im einzelnen

Fall zu einer übertriebenen Härte führen würde, wird auf eine milde

Ausgleichung im Wege der Gnade zu hoffen ſein.

II. Dagegen iſt die Beſtimmung in §. 24. principiell nicht zu

rechtfertigen; ſie ſteht mit dem Rechtsgrundſatz: ne bis in idem in

Widerſpruch, und iſt auch mit der §. 4. Nr. 3. aufgeſtellten Regel nicht

y) Protokolle der Kommiſſion der zweiten Kammer, Sitzung vom

15. Jan. 1851.

z) Vgl. Abegg, der Entwurf des Strafgeſetzbuchs von 1850. S. 22-24.

9 *

[132/0142]

Thl. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

vereinbar. Daß es einen ſehr ungünſtigen Eindruck machen kann, wenn

ein Uebelthäter, welcher im Auslande wegen eines nach Preußiſchem

Rechte entehrenden Verbrechens verurtheilt worden, im Inlande die Eh-

renrechte auszuüben befugt iſt, läßt ſich allerdings nicht in Abrede

ſtellen, und dieſer Nützlichkeitsgrund hat auch zu der Abweichung von

dem Princip geführt. Auch iſt wohl zu beachten, daß den zuſtändigen

Behörden nicht die Verpflichtung auferlegt, ſondern nur die Befugniß

eingeräumt iſt, in einem ſolchen Fall nachträglich noch ein Verfahren

vor den Preußiſchen Gerichten einzuleiten, a) und ferner, daß ſchon die

Schwierigkeit der Beweisführung zu einem ſehr vorſichtigen Gebrauche

dieſes Rechts nöthigen wird. Der Haupterfolg der Vorſchrift wird

wohl darin beſtehen, daß Perſonen, auf welche dieſelbe zur Anwendung

gebracht werden kann, zu einer gewiſſen Zurückhaltung in der Ausübung

der bürgerlichen Ehrenrechte bewogen werden möchten.

§. 25.

Die zeitige Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter ſoll auf die Dauer

von Einem Jahre bis zu fünf Jahren erkannt werden. Sie hat für die dazu

Verurtheilten den Verluſt ihrer Aemter von Rechtswegen zur Folge. Dieſe

Wirkung tritt mit der Rechtskraft des Urtheils ein. Iſt gleichzeitig auf eine

Freiheitsſtrafe erkannt, ſo wird die Dauer der zeitigen Unfähigkeit von dem

Tage an berechnet, an welchem die Freiheitsſtrafe verbüßt iſt.

Die zeitige Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter, von

welcher der §. 25. handelt, iſt nicht zu verwechſeln mit der Strafe,

welche in der Unfähigkeit zur Bekleidung des von dem Verurtheilten

bisher bekleideten Amtes oder zum ſelbſtändigen Betriebe der bisher

ausgeübten Kunſt oder des bisher betriebenen Gewerbes beſteht. Ueber

dieſe letzteren Strafen hat das Geſetzbuch keine allgemeinen Vorſchrif-

ten; ſie ſind für den einzelnen Fall normirt, §. 184. 203. 267. 299.

Auch der Entwurf von 1850. hatte noch keine allgemeinen Be-

ſtimmungen über die zeitige Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aem-

ter; der Kommiſſion der zweiten Kammer erſchien es aber angemeſſen,

zur genaueren Feſtſtellung dieſer Strafe den §. 25. hinzuzufügen. Die-

ſelbe kommt übrigens ſo vor, daß

entweder auf ſie erkannt werden muß,

§§. 98. 99. 328. 330.

oder erkannt werden kann

§§. 309. 315. 316. 317. 320. 321. 322. 326. 327.

a) Dieſe Beſchränkung beruht auf einem Beſchluß des vereinigten ſtändiſchen

Ausſchuſſes, f. Verhandlungen. II. S. 556.

[133/0143]

§§. 26. 27. 28. 29. Stellung unter Polizei-Aufſicht.

I. Die Strafe kann nur ſtattfinden bei öffentlichen Beamten, und

zwar, mit Ausnahme der Beſtimmung wegen verbotener Verbindungen

(§. 98. 99.), nur bei Amtsvergehen. Dabei iſt aber zu bemerken, daß

die eigentlichen Ehrenſtrafen, zu denen die zeitige Unfähigkeit zur Be-

kleidung öffentlicher Beamten nicht zu rechnen iſt, auch dieſe Wirkung

herbeiführen.

II. Mit dieſer Strafe, auf welche ausdrücklich im Strafurtheile

zu erkennen iſt, iſt der Verluſt der öffentlichen Aemter, welche der An-

geſchuldigte zur Zeit der Verurtheilung inne hat, von Rechts wegen

verbunden, und zwar von der Zeit an, wo das Strafurtheil rechts-

kräftig geworden.

III. Die zeitige Unfähigkeit kann auf die Dauer von Einem bis

zu fünf Jahren erkannt werden; iſt ſie aber mit einer Freiheitsſtrafe

verbunden worden, ſo wird die Dauer erſt von dem Tage an berechnet,

an welchem die Freiheitsſtrafe verbüßt iſt.

IV. Die Beſtimmungen ſind im Allgemeinen ähnlich wie die über

die zeitige Entziehung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte ge-

faßt worden; zu einer Ehrenſtrafe wollte man aber dadurch die zeitige

Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter nicht machen, und ſuchte

das ſchon dadurch auszu drücken, daß man die Vorſchriften darüber erſt

nach denjenigen folgen ließ, welche gemeinſam für den Verluſt der bür-

gerlichen Ehre und die zeitige Unterſagung der Ehrenrechte erlaſſen ſind.

§. 26.

Die Stellung unter Polizei-Aufſicht ſoll auf die Dauer von Einem bis zu

zehn Jahren erkannt werden.

Die Wirkungen der Stellung unter Polizei-Aufſicht beginnen mit der

Rechtskraft des Urtheils, in deſſen Folge ſie eintritt. Die Dauer der Polizei-

Aufſicht wird jedoch erſt von dem Tage an berechnet, an welchem die Frei-

heitsſtrafe verbüßt iſt.

§. 27.

Die Stellung unter Polizei-Aufſicht hat folgende Wirkungen:

1) es kann dem Verurtheilten der Aufenthalt an einzelnen beſtimmten Orten

von der Landespolizei-Behörde unterſagt werden;

2) Hausſuchungen unterliegen keiner Beſchränkung hinſichtlich der Zeit, zu

welcher ſie ſtattfinden dürfen.

§. 28.

Gegen diejenigen, welche wegen Diebſtahls, Raubes oder Hehlerei verur-

theilt und unter Polizei-Aufſicht geſtellt worden ſind, kann die Ortspolizei-

Behörde die Aufſicht dahin erweitern, daß dieſelben während der Nachtzeit

ihren Wohnort und ſelbſt ihre Wohnung ohne Erlaubniß nicht verlaſſen dürfen.

[134/0144]

Thl. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d. Strafen.

Die Nachtzeit umfaßt für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. März die

Stunden von 6 Uhr Abends bis 6 Uhr Morgens, und für die Zeit vom

1. April bis 30. September die Stunden von 9 Uhr Abends bis 4 Uhr

Morgens.

§. 29.

Iſt derjenige, gegen welchen die Stellung unter Polizei-Aufſicht zu erkennen

ſein würde, ein Ausländer, ſo iſt gegen denſelben, anſtatt der Stellung unter

Polizei-Aufſicht, auf Landesverweiſung zu erkennen.

In den Motiven zu dem Entwurf von 1850. §. 23. werden die

Beſtimmungen über die Polizei-Aufſicht im Allgemeinen alſo begründet:

„Die Verhängung der Polizei-Aufſicht über den wegen eines Ver-

brechens oder Vergehens Verurtheilten iſt ihrem inneren Weſen nach

eine zuſätzliche Strafe, die demſelben für das früher von ihm began-

gene Unrecht durch nachfolgende Beſchränkung der von ihm mißbrauchten

Freiheit auferlegt wird. Die Rückſicht auf die öffentliche Sicherheit,

durch welche dieſe die Verhütung neuer Verbrechen und Vergehen be-

zweckende Maaßregel geboten wird, iſt hierbei nur als Motiv der Ge-

ſetzgebung zu betrachten.“

„Aus dem Charakter der Polizei-Aufſicht als Strafe folgt, daß

dieſelbe ausſchließlich von der geſetzlichen und richterlichen Beſtimmung

abhängig ſein muß, und es kann nur die Frage ſein, ob nicht bei der

ſchwerſten Art der Freiheitsſtrafe, der Zuchthausſtrafe, ebenſo wie der

Verluſt der bürgerlichen Ehre, auch die Stellung unter Polizei-Aufſicht

von Rechtswegen, ohne daß es deshalb einer Beſtimmung in dem

Straferkenntniß bedürfe, eintreten müſſe. Allein dem ſteht entgegen, daß

die in dem Entwurf angenommene Polizei-Aufſicht ihrer Natur nach

auf verſchiedene ſchwere Verbrechen nicht paßt, und daß überdieß mit

Rückſicht auf die Individualität des Falles und insbeſondere auf den

Grad der Verderbtheit der Geſinnung und der Gefährlichkeit des Thäters

die Dauer der Polizei-Aufſicht, die eben deshalb auch durch ein zu hohes

Minimum oder ein zu niedriges Maximum nicht beſchränkt ſein darf,

durch das richterliche Erkenntniß beſtimmt werden muß.“

„Aus dem letztern Grunde hat in dieſer Beziehung eine Modifika-

tion des Geſetzes vom 12. Febr. 1850. ſtatt gefunden, bei deſſen Be-

ſtimmungen es ſonſt im Weſentlichen verblieben iſt.“

Die Stellung unter Polizei-Aufſicht ſetzt alſo ſtets ein richterliches

Straferkenntniß voraus; das Geſetzbuch unterſcheidet aber auch hier die

Fälle, wo die Strafe ausgeſprochen werden muß, oder nur ausgeſpro-

chen werden kann.

[135/0145]

§§. 26. 27. 28. 29. Stellung unter Polizei-Aufſicht.

Erſteres iſt vorgeſchrieben, wenn wegen Hochverraths- oder Lan-

desverraths eine zeitige Zuchthausſtrafe auferlegt worden iſt (§. 72.),

und außerdem in folgenden Geſetzesſtellen:

§. 91. 96. 121. 147. 148. 218. 219. 231. 232. 235. 238.

239. 240. 276.

Dem richterlichen Ermeſſen iſt die Zuerkennung der Strafe über-

laſſen:

§. 91. 96. 216. 235. 237. 241. 242. 243. 244. 245.

284. 285. 286. 287. 289. 290. 291. 294. 297. 301. 302.

303. 304.

Außer den politiſchen Verbrechen ſind es namentlich gewaltthätige

Störungen des öffentlichen Friedens, Kuppelei, Verbrechen und Vergehen

gegen das Vermögen und gemeingefährliche Verbrechen und Vergehen,

welche mit dieſer Strafe bedroht ſind.

I. Die Vorſchriften des Strafgeſetzbuchs treten im Allgemeinen

an die Stelle der Beſtimmungen, welche in dem Geſetze vom 12. Febr.

1850. (G. S. S. 49-51.) und in dem Rheiniſchen Recht b) gegeben

ſind. Jedoch iſt zu bemerken

1) daß in Folge des im Einführungsgeſetz Art. II. gemachten Vor-

behalts die im Geſetz vom 12. Febr. 1850. §. 1. Nr. n. und

§. 2. Nr. f. aufgeſtellten Strafbeſtimmungen wegen Kontrebande

und Zolldefraudationen durch das Strafgeſetzbuch nicht aufge-

hoben ſind. Zwar läßt ſich aus der Faſſung des Art. II. des

Einführungsgeſetzes ein Zweifel gegen dieſe Anſicht herleiten,

weil darin geſagt iſt, „die beſonderen Strafgeſetze bleiben in

Kraft, inſoweit ſie Materien betreffen, in Hinſicht deren das

gegenwärtige Strafgeſetzbuch nichts beſtimmt.“ Man könnte alſo

einwenden, da das Strafgeſetzbuch über die Polizei-Aufſicht etwas

beſtimmt, ſo ſeien auch die Anordnungen der Steuergeſetze dar-

über aufgehoben, inſoweit ſie im Strafgeſetzbuch nicht anerkannt

worden. Aber jener Vorbehalt bezieht ſich nicht auf die Art

und das Maaß der Strafe an ſich, ſondern auf die Beſtrafung

ſolcher Verbrechen und Vergehen, über welche das Strafgeſetzbuch

keine Vorſchriften enthält. Das ergiebt ſich ſchon, abgeſehen

von dem allgemeinen Zweck des Vorbehalts in Art II., aus den

im Einführungsgeſetz Art. VIII-X. enthaltenen Beſtimmungen

über die Umwandlung der im Geſetzbuch nicht anerkannten

Strafarten, und um auch dieſen Grund anzuführen, aus dem

Umſtande, daß die Beſtrafung der Kontrebande und Zolldefrau-

b) Code pénal. Art. 42-50.

[136/0146]

Thl. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. I. Von d.

Strafen.

dation auf dem Zollſtrafgeſetz vom 23. Jan. 1838. beruht,

deſſen einſeitige Abänderung durch die Geſetzgebung Preußens

bedenklich ſein würde.

2) Ueber die Beſtrafung derjenigen, welche, unter Polizei-Aufſicht

geſtellt, den ihnen auferlegten Beſchränkungen entgegen handeln,

verfügt der §. 116.

II. Die Dauer der Polizei-Aufſicht kann von Einem bis zu zehn

Jahren erkannt werden; dieſelbe ſoll aber, obgleich die Wirkungen der

Strafe mit der Rechtskraft des Straferkenntniſſes beginnen, erſt von

dem Tage an berechnet werden, an welchem die Freiheitsſtrafe, neben

welcher die Polizei-Aufſicht erkannt worden, verbüßt iſt (§. 26.).

III. Die Wirkungen der Strafe beſtehen darin, daß

1) dem Verurtheilten der Aufenthalt an einzelnen beſtimmten Orten

von der Landespolizei-Behörde unterſagt werden kann. Polizei-

liche Ausweiſungen erſcheinen hier alſo nur in Folge einer rechts-

kräftig auferlegten Strafe als zuläſſig (§. 27. Nr. 1.).

2) Hausſuchungen unterliegen keiner Beſchränkung hinſichtlich der

Zeit, zu welcher ſie ſtatt finden dürfen (§. 27. Nr. 2.); ſie

können alſo auch bei Nachtzeit vorgenommen werden. c)

3) Perſonen, welche wegen Diebſtahls, Raubes oder Hehlerei rechts-

kräftig verurtheilt und unter Polizei-Aufſicht geſtellt worden ſind,

kann es durch die Ortspolizei-Behörde verboten werden, während

der Nachtzeit ihren Wohnort und ſelbſt ihre Wohnung ohne

Erlaubniß zu verlaſſen. Die Nachtzeit iſt in Uebereinſtimmung

mit früheren geſetzlichen Vorſchriften beſtimmt (§. 28.).

IV. Die Strafe der Stellung unter Polizei-Aufſicht findet nur

gegen Inländer ſtatt; gegen Ausländer iſt an deren Statt auf Landes-

verweiſung zu erkennen (§. 29.).

V. Zu bedauern iſt es, daß man die Strafe der Stellung unter

Polizei-Aufſicht nicht mit der Kautionsſtellung als deren Surrogat in

Verbindung gebracht hat. Noch der Entwurf von 1847. §. 33. 34.

enthielt darüber Beſtimmungen, welche mit einigen Abänderungen zu

einer ſehr heilſamen Einrichtung hätten ausgebildet werden können.

§. 30.

Alle Strafurtheile, in welchen auf Todesſtrafe, auf

Zuchthaus, oder auf

Einſchließung von mehr als fünf Jahren erkannt wird, ſollen im Auszuge

durch das Amtsblatt des Bezirks, in welchem das erkennende Gericht ſeinen

Sitz hat, öffentlich bekannt gemacht werden.

c) Vgl. Geſetz zum Schutze der perſönlichen Freiheit vom 12. Febr.

1850. §. 8. und 12. (G. S. S. 46. und 47.)

[137/0147]

§. 30. Oeffentliche Bekanntmachung der Strafurtheile.

Die Vorſchrift betrifft nur die Strafurtheile, in welchen auf eine

der vollen geſetzlichen Strafen der Verbrechen erkannt worden iſt; tritt

im Fall mildernder Umſtände eine Herunterſetzung der Strafe ein, ſo

erfolgt auch die öffentliche Bekanntmachung nicht. — Dieſe Vorſchrift

iſt aber nicht zu verwechſeln mit den Fällen, wo dem Verletzten zu ſeiner

Privatgenugthuung die Befugniß eingeräumt iſt, auf Koſten des Ver-

urtheilten die Verurtheilung öffentlich bekannt zu machen. Dieß gilt

für die falſche Anſchuldigung (§. 163.) und die öffentliche Ehrver-

letzung (§. 163.).

Zweiter Titel.

Von dem Verſuche.

§. 31.

Der Verſuch iſt nur dann ſtrafbar, wenn derſelbe durch

Handlungen, welche

einen Anfang der Ausführung enthalten, an den Tag gelegt und nur durch

äußere, von dem Willen des Thäters unabhängige Umſtände gehindert worden

oder ohne Erfolg geblieben iſt.

Der dem Verſuch gewidmete Titel des Strafgeſetzbuchs zerfällt in

zwei Theile, von denen der Eine es mit der Frage zu thun hat: welche

Handlungen werden als Verſuch geſtraft? und der andere die Beſtim-

mungen darüber enthält, wie geſtraft werden ſoll. Auf die erſte Frage

bezieht ſich §. 31.; hinſichtlich der Strafbeſtimmungen iſt unterſchieden

worden, ob der Verſuch eines Verbrechens oder eines Vergehens vor-

liegt: über den erſteren handelt §. 32., über den letzteren §. 33. Die

Vorſchriften des §. 31., welche ſich auf den Begriff des ſtrafbaren Ver-

ſuchs im Allgemeinen beziehen, kommen daher auf die beiden Fälle

gleichmäßig zur Anwendung, — eine Faſſung, welche namentlich die

nach dem Code pénal mögliche Streitfrage ausſchließt, ob die allge-

meinen geſetzlichen Vorausſetzungen des ſtrafbaren Verſuchs auch bei

dem des Vergehens ihre Geltung haben.

I. Damit ein Verſuch überhaupt ſtrafbar werde, iſt erforderlich,

daß derſelbe durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung

enthalten, an den Tag gelegt worden iſt. Der Code pénal, dem dieſe

Vorſchrift nachgebildet worden, fügt noch hinzu, daß es äußere Hand-

[138/0148]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. II. Von d.

Verſuche.

lungen ſein müſſen, — des actes extérieurs; d) ſpäter iſt dieſe Be-

zeichnung durch ein neueres Geſetz entfernt worden, e) weil es ſich von

ſelbſt verſtehe, daß die innere Handlung der Gedanken nicht beſtraft

werde (cogitationis poenam nemo patitur), und in der Vorſchrift, daß

die Handlung einen Anfang der Ausführung enthalten müſſe, der Sinn

des Geſetzes ſchon deutlich genug ausgedrückt ſei. Dieſer Aenderung iſt

man auch in der Faſſung des §. 31. gefolgt, obgleich in Frankreich

Zweifel beſtehen, ob dieſelbe bei dem Verfahren vor Geſchworenen für

zweckmäßig gehalten werden könne. f) Wenn dieſen die Frage vorgelegt

werde: ob die Handlung 1) eine äußere ſei und 2) einen Anfang der

Ausführung enthalte, ſo werde es ihnen leichter gemacht, die verſchie-

denen Momente, welche bei der Beurtheilung eines ſtrafbaren Verſuchs

in Betracht zu ziehen ſind, genau auseinander zu halten. Indeſſen darf

doch angenommen werden, daß die Geſchworenen ſich dieß ohne Anlei-

tung des Strafgeſetzbuchs von ſelbſt zurecht legen werden, zumal nach-

dem die Verhandlungen über die Beſchaffenheit der in Frage kommenden

Handlungen vor ihnen geführt worden ſind.

Mit der Beſtimmung, daß der ſtrafbare Verſuch durch Handlungen

an den Tag gelegt ſein muß, welche einen Anfang zur Ausführung

enthalten, ſind alle ſ. g. vorbereitenden Handlungen hiervon ausgeſchloſſen.

Dieſe fallen ungefähr mit dem zuſammen, was man in der Doktrin den

conatus remotus nennt, und ſind noch von dem Allg.

Landrecht g) als

„vorläufige Anſtalten“ unter Strafe geſtellt. Die Grenze zwiſchen

ſolchen vorbereitenden Handlungen und dem Augenblicke, wo der Ver-

brecher zur Verübung der That übergeht und das Gebiet des Straf-

rechts betritt, kann freilich ſchwer zu beſtimmen ſein, ſo daß nur die

ſorgfältigſte Erwägung der Natur des einzelnen Verbrechens und Ver-

gehens ſo wie aller in Betracht kommenden thatſächlichen Momente

zur richtigen Entſcheidung des einzelnen Falles führen wird, und mit

d) Code pénal. Art. 2. Toute tentative de crime qui aura été

manifestée par des actes extérieurs et suivie d'un commencement d'exécu-

tion, si elle n'a été suspendue ou n'a manqué son effet que par des cir-

constances fortuites ou indépendantes, de la volonté de l'auteur, est consi-

derée comme le crime même.

e) Loi du 28. Avril 1832. Hiernach heißt es jetzt: — manifeſtée par

un commencement d'exécution etc.

f) Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. I. chap. X.

p. 149. (der Brüſſeler Ausgabe). — Außer dieſer Abhandlung iſt im Allgemeinen

über den Verſuch zu vergleichen: H. A. Zachariä, die Lehre vom Verſuche der

Verbrechen. 2. Theile. Göttingen 1836. 1839. — E. R. Köſtlin, neue Reviſion der

Grundbegriffe des Criminalrechts. Tübingen 1845. S. 336-447.

g) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 42. „Hat ein ſolcher Zufall ſchon die vor-

läufigen Anſtalten zu der ſtrafbaren Handlung unterbrochen, ſo wird die böſe

Abſicht nach Verhältniß des Fortſchrittes zur wirklichen Vollziehung geahndet.“

[139/0149]

§. 31. Der ſtrafbare Verſuch.

der Aufſtellung allgemeiner Regeln hier wenig genützt werden kann.

Auch iſt nicht in Abrede zu ziehen, daß ſchon in der vorbereitenden

Handlung ſich ein nicht geringer Grad von Böswilligkeit und Gefähr-

lichkeit offenbaren, und die Vermuthung, daß ohne äußere Hinderniſſe

das Verbrechen begangen worden wäre, begründet erſcheinen kann. Allein

bei näherer Prüfung ergiebt ſich, daß, wenn nicht irgendwo und gerade

hier die Strafbarkeit des Verſuchs ihre beſtimmte Grenze findet, der

Willkühr die Thüren geöffnet ſind; daß ſolche Aeußerungen der Wil-

lensbeſtimmung, welche ſich nur auf die Vorbereitung eines Verbrechens

oder Vergehens beziehen, dem Strafgeſetze gegenüber, ſich nicht weſent-

lich von den Wünſchen und Begierden, von dem bloßen Gedanken un-

terſcheiden. Alle neueren Geſetzbücher haben daher das im Geſetzbuch

aufgeſtellte Merkmal des ſtrafbaren Verſuchs aufgenommen, und die bloß

vorbereitenden Handlungen davon ausgeſchloſſen. h)

Auch die beiden erſten Entwürfe des Strafgeſetzbuchs waren dieſem

Beiſpiele gefolgt, und erſt in den Entwurf von 1833. kam eine Be-

ſtimmung hinein, welche ſich an die Auffaſſung des Allgemeinen Land-

rechts anſchloß, und auch im Entwurf von 1836. wiederholt ward.

Hier heißt es nämlich:

§. 50. „Der Verſuch eines Verbrechens wird ſtrafbar, ſobald der-

ſelbe durch eine ſolche äußere Handlung ſich offenbaret hat,

welche ſchon auf die Ausführung des beabſichtigten

Verbrechens gerichtet iſt.“

Allein ſchon in der Staatsraths-Kommiſſion ward dieſe Aenderung

aus den oben angeführten Gründen beſeitigt, i) und die Reviſion von

1845. ſuchte die urſprüngliche Abſicht des Geſetzgebers noch beſtimmter

auszudrücken, als es früher geſchehen war. k) Dieß führte aber zu einer

wiederholten Erörterung der ganzen Frage. Es heißt darüber in dem

Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion: l)

„Beim §. 42. des revidirten Entwurfs, welcher die Grenzen der

Strafbarkeit des Verſuchs in der Art beſtimmt,

daß als Verſuch nur ſolche Handlungen zu beſtrafen ſind,

welche die Begehung des Verbrechens nicht bloß vorbereiten, ſon-

dern einen Anfang der Ausführung des Verbrechens enthalten,

h) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 29. — Hannov. Criminalgeſetzb.

Art. 34. — Württemb. Strafgeſetzb. Art. 63. — Braunſchweigſch. Crimi-

nalgeſetzb. §. 40. — Heſſiſches Strafgeſetzb. Art. 65. — Thüringſch.

Strafgeſetzb. Art. 27. — Badiſches Strafgeſetzb. §. 108. 109. Vgl.

Chauveau I. c. p. 144.

i) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. I. S. 68.

k) Reviſion von 1845. I. S. 136.

l) Verhandlungen der Kommiſſion des Staatsraths von 1846.

S. 32. 33.

[140/0150]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. II. Von d.

Verſuche.

wurde vom Juſtizminiſter Uhden und mehreren Mitgliedern bemerkt:

die Grenze der Strafbarkeit ſei zu enge gezogen, wenn man alle vor-

bereitenden Handlungen ohne Unterſchied als ſtraflos bezeichne. Die

Strafe des Verſuchs müſſe eintreten, ſobald der verbrecheriſche Wille in

äußeren Handlungen ſo ſtark hervorgetreten ſei, daß man auf die ernſte

Abſicht, das Verbrechen zu begehen, ſchließen müſſe. Dieß ſei das Prinzip

des Landrechts, das bisher zu keinen Uebelſtänden Anlaß gegeben habe.

Hiezu komme, daß die Unterſcheidung zwiſchen bloß vorbereitenden und

eigentlichen Verſuchshandlungen eine durchaus ſchwankende ſei.

In

concreto werde es lediglich von der Beurtheilung des Richters ab-

hangen, ob er die vorliegende Handlung in die Kategorie der einen oder

der andern Klaſſe bringen wolle. Der Zweck des Geſetzes, eine wahr-

haft dispoſitive, den Richter bindende Beſtimmung zu geben, werde da-

her nicht erreicht, und es erſcheine demnach das Angemeſſenſte, den §. 42.

im Allgemeinen fortfallen zu laſſen, und aus demſelben lediglich die im §. 62.

des früheren Entwurfs enthaltene Beſtimmung wegen der Strafloſigkeit

der Verſuchshandlung im Falle des freiwilligen Rücktritts

vorzubehalten.“

„Von dem Juſtizminiſter von Savigny, dem Kommiſſarius des

Miniſteriums des Innern, ſo wie von mehreren Mitgliedern wurde hier-

auf Folgendes erwiedert: Die ſo eben aufgeſtellte Anſicht führe offenbar

zu weit, und gebe zur größten Willkühr Anlaß. In der Reihe der

äußeren Handlungen, welche der Vollendung des Verbrechens vorher

gegangen, müſſe man einen beſtimmten Punkt feſthalten und bezeichnen,

mit dem man die Strafbarkeit beginnen laſſe. Dieß ſei im Entwurf

geſchehen. Er bezeichne als ſolchen den Augenblick, wo die Ausführung

des Verbrechens ſelbſt begine. Darin liege ein feſtes, klares Prinzip;

allerdings werde der Richter immer in concreto beurtheilen

müſſen, zu

welcher Kategorie der vorliegende Fall gehöre, allein ſchon das ſei offen-

bar ein Gewinn, daß das Geſetz den leitenden Geſichtspunkt aufſtelle.

Der §. 42. ſei keine bloß theoretiſche Definition, ſondern eine wahrhaft dis-

poſitive Beſtimmung. Er ſei deshalb nicht wohl zu entbehren, obgleich

allerdings nicht geläugnet werden ſolle, daß die Faſſung des §. 42. in

der einen oder andern Hinſicht einer Abänderung bedürfe.“

In der Kommiſſion ſiegte indeſſen die erſtere Anſicht, und der §. 42.

wurde demnach geſtrichen, ſo daß er auch im Entwurf von 1847. fehlt.

Aber der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß nahm denſelben auf den Vor-

ſchlag der vorberathenden Abtheilung mit mehr als zwei Drittel der

Stimmen wieder auf, m) und zwar in einer Faſſung, die im Weſent-

lichen dem §. 31. des Strafgeſetzbuchs entſpricht.

m) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. I.

S. 205. — II. S. 348. 358.

[141/0151]

§. 31. Der ſtrafbare Verſuch.

II. Wenn aber auch ein Verſuch nicht beſtraft wird, ſo lange er

ſich nur in vorbereitenden Handlungen offenbart hat, ſo werden dieſe

doch natürlich, inſofern ſie an ſich ſchon ein Strafgeſetz verletzen, nach

deſſen Beſtimmungen ſelbſtändig geahndet; z. B. jemand ſchafft ſich ver-

botene Waffen an (§. 345. Nr. 7.), indem er mit dem Plane umgeht,

ſich ihrer gegen einen Feind zu bedienen. Die allgemeine Vorſchrift des

§. 31. hat aber dann überhaupt keine Geltung wenn in dem Geſetz

durch ausdrückliche Verfügung über ein einzelnes Verbrechen ſchon die

vorbereitenden Handlungen unter Strafe geſtellt ſind oder eine Handlung,

die als Vorbereitung gelten könnte, zum ſelbſtändigen Verbrechen ge-

macht worden iſt. Erſteres iſt namentlich bei dem Hochverrath der Fall

(§. 63-66.), n) letzters bei der Münzfälſchung, zu deren Thatbeſtande

die Verbreitung und überhaupt die Benutzung der falſchen Münze nicht

gehört (§. 121.), ſo wie bei der Herausforderung zum Zweikampf (§. 164.).

Dieß weiſt recht ſchlagend darauf hin, wie nothwendig es iſt, bei der

Entſcheidung der Frage, ob ein ſtrafbarer Verſuch vorliegt, ſtets auf die

Natur des einzelnen Verbrechens oder Vergehens, um welches es ſich

gerade handelt, genau einzugehen; dann wird ſich auch die, praktiſch

nicht eben erhebliche Frage erledigen, ob bei allen vorſätzlichen Verbrechen

ein Verſuch überhaupt möglich ſei.

III. Daß es keinen fahrläſſigen Verſuch, keinen Verſuch einer

fahrläſſigen Handlung giebt, wird allgemein anerkannt; der Satz bedurfte

keiner geſetzlichen Beſtätigung. Von großer Bedeutung iſt dagegen die

am Schluß des Paragraphen aufgeſtellte Beſtimmung, daß der Verſuch

nur dann ſtrafbar iſt, wenn derſelbe durch äußere, von dem Willen des

Thäters unabhängige Umſtände gehindert worden oder ohne Erfolg ge-

blieben iſt.

a. Die Anſicht freilich, daß das freiwillige Zurücktreten von der

That, auch wenn Handlungen vorliegen, welche einen Anfang der Aus-

führung bereits enthalten, dieſelben ſtraflos machen ſoll, iſt in der

neueren Jurisprudenz, beſonders ſeit Erlaſſung der Halsgerichtsordnung

Karl V. o) die überwiegende geworden, und auch in die meiſten neueren

n) Die Strafgeſetzbücher, welche das Komplott nicht bloß bei einzelnen Ver-

brechen, ſondern überhaupt als ſelbſtändige Form der Theilnahme behandeln, pflegen

ſchon bei dem Verſuch Rückſicht darauf zu nehmen; ſ. Sächſ. Criminalgeſetzb.

Art. 30. — Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 59. — Thüring. Strafgeſetzb.

Art. 28. Das Nähere darüber bei dem folgenden Titel.

o) P. G. D. Art. 178. Straff underſtandner miſſethat. Item ſo ſich

jemandt mit etlichen ſcheinlichen werden, die zu volnbringung der miſſethat dienſtlich

ſein mögen, underſteht, und doch an volnbringung derſelben miſſethat

durch andere mittel, wider ſeinen willen verhindert würde, ſolcher

böſer will, darauß etlich wercke, als obſteht volgen, iſt peinlich zu ſtraffen, Aber inn

eynem Fall herter dann in dem andern angeſehen gelegenheit und geſtalt der ſach —

[142/0152]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. II. Von d. Verſuche.

Geſetzbücher übergegangen, aber ſie hat doch keine allgemeine Anerken-

nung gefunden, p) und was die Hauptſache iſt, aus allgemeinen Rechts-

begriffen läßt ſie ſich nicht mit Sicherheit herleiten. Daher bedurfte es

der Geſetzgebung, um dieſen Rechtsſatz zur unbezweifelten Geltung zu

bringen.

Im Allgemeinen Landrecht Th. II. Tit. 20. §. 43. iſt nur beſtimmt,

daß derjenige, welcher aus eigener Bewegung von der Ausführung des

Verbrechens abſteht, und dabei ſolche Anſtalten trifft, daß die geſetz-

widrige Wirkung gar nicht erfolgen kann, einen Anſpruch auf Begna-

digung hat. Bei der Reviſion des Strafrechts ward unbedingt die

Strafloſigkeit ausgeſprochen, wenn der Thäter aus eigener Bewegung

von der Vollendung des Verbrechens abſteht, und wo dies nöthig iſt,

ſolche Anſtalten trifft, wodurch die beabſichtigte ſchädliche Wirkung ver-

hindert wird. q) Beide Momente ſind jetzt nach dem Vorgange des

Rheiniſchen Rechts in die Begriffsbeſtimmung über den ſtrafbaren Ver-

ſuch mit hineingezogen worden.

1) Der Verſuch iſt ſtrafbar, wenn er nur durch äußere, von dem

Willen des Thäters unabhängige Umſtände gehindert worden; er iſt alſo

ſtraflos, wenn der Thäter aus eigener Bewegung von der Vollendung

des Verbrechens abſteht, freiwillig davon zurücktritt. Ob dieß aus Reue,

aus Furcht vor der Strafe geſchehen, iſt gleichgültig, denn auf den

Beweggrund kommt es hier nicht an. Aber der Rücktritt muß wirklich

ein freiwilliger geweſen ſein, ſo daß äußere, von dem Willen des Thä-

ters unabhängige Umſtände ihn nicht bewirkt haben: z. B. jemand iſt in

eine Wohnung eingeſtiegen, um zu ſtehlen; er wird vor der Begehung des

Diebſtahls ergriffen, und behauptet nun, vorher ſchon zum freiwilligen

Aufgeben des Planes entſchloſſen geweſen zu ſein. Hier wird man

nicht annehmen können, daß es aus eigener Bewegung geſchehen ſei,

wie denn überhaupt die Frage, wann durch freiwilligen Rücktritt der

Verſuch ſtraflos werde, eine rein thatſächliche iſt und aus der Erwägung

der Umſtände entſchieden werden muß.

2) Die letzte in §. 31. aufgeführte Vorausſetzung, unter welcher

der Verſuch ſtrafbar ſein ſoll, iſt die, wenn derſelbe nur durch äußere,

von dem Willen des Thäters unabhängige Umſtände ohne Erfolg ge-

blieben iſt. Dieſe Vorſchrift iſt, auch im Sinne der früheren Geſetz-

entwürfe ſo zu verſtehen, daß der Verſuch ſtraflos bleiben ſoll, wenn

derjenige, welcher ihn unternommen, durch freie Thätigkeit die beabſich-

tigte ſchädliche Wirkung ſeiner Handlungen verhindert hat. Hier iſt

p) Vgl. Zachariä a. a. D. II. S. 230-322.

q) Entwurf von 1843. §. 62. Entwurf von 1847. §. 42. —

[143/0153]

§. 31. Der ſtrafbare Verſuch.

alſo der Fall gemeint, daß nicht nur eine Handlung vorliegt, welche

ihrer äußern Erſcheinung und ihrem Zwecke nach den Anfang der Aus-

führung eines Verbrechens oder Vergehens enthält, ſondern daß dieſelbe

auch einen Erfolg, und zwar einen ſchädlichen, mit der verbrecheriſchen

Abſicht zuſammenhängenden gehabt haben würde, wenn ihr nicht zur

rechten Zeit entgegengewirkt wäre. In einem ſolchen Fall genügt die

bloße Willensänderung, der freiwillige Rücktritt nicht, um den Verſuch

ſtraflos zu machen; derjenige, welcher ihn unternommen, muß vielmehr

durch ſeine eigene freie Thätigkeit den Erfolg verhindert haben. Jemand

hat z. B. Gift in das Trinkglas ſeines Feindes gegoſſen, um ihn zu

vergiften; aber noch ehe derſelbe es an den Mund bringt, ändert er ſei-

nen Sinn, er verſchüttet den Trank, ſo daß er es iſt, welcher verhindert,

daß das Gift dem Andern beigebracht wird (§. 197.).

b. In allen dieſen Fällen wird aber vorausgeſetzt, daß die Ver-

ſuchshandlungen ſelbſt nicht ſchon mit einer Strafe bedroht ſind oder

nicht ein ſelbſtändiges Verbrechen oder Vergehen bilden. Denn die ſo

eben angeführten Beſtimmungen des §. 31. beziehen ſich überhaupt nur

auf die Willensänderung, ſo lange die Thätigkeit ſich noch auf dem

Gebiete des Verſuchs bewegt. Das vollendete Verbrechen iſt nur durch

die Strafe zu ſühnen, und wenn jemand z. B. auch die geſtohlene Sache

zurückerſtattet, den vergifteten Feind durch ein Gegengift wieder herſtellt,

ſo mag das unter Umſtänden für die Strafzumeſſung von Einfluß ſein;

aber die geſetzliche Strafe wird dadurch nicht abgewandt.

c. Die ſ. g. Wahnverbrechen hat das Strafgeſetzbuch gar nicht

berückſichtigt, r) und über den Verſuch mit untauglichen Mitteln und an

einem Gegenſtande, der für die verbrecheriſche Thätigkeit abſolut unem-

pfänglich iſt, überhaupt keine Vorſchriften aufgeſtellt. Der Entwurf

von 1843. beſtimmte noch:

§. 57. „Die Strafbarkeit eines verbrecheriſchen Verſuchs wird

dadurch nicht ausgeſchloſſen, daß der Thäter ſich zu demſelben

ungenügender Mittel bedient, oder die Handlung an einem Ge-

genſtande verübt hat, bei welchem die geſetzwidrige Wirkung nicht

eintreten konnte.“

Die vielen gegen dieſe Beſtimmungen erhobenen Bedenken führten

zu einer wiederholten Prüfung, welche das Weglaſſen des Paragraphen

zur Folge hatte. Die dafür angeführten Gründe ſind im Weſentlichen

folgende: s)

r) Erwähnt ſind ſie mit Rückſicht auf die Wahl untauglicher Mittel im Hannov.

Criminalgeſetzbuch Art. 34. und im Thüring. Strafgeſetzbuch Art. 23.

s) Reviſion von 1845. I. S. 140-144.

[144/0154]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. II. Von d. Verſuche.

„Beſſer iſt es, im Geſetze ganz hiervon zu ſchweigen. Bei abſolut

untauglichen Mitteln und bei einem objektiv für das Verbrechen unem-

pfänglichen Gegenſtande fehlt es an dem Thatbeſtande eines Verbrechens.

Es kann alſo auch von einem Anfange der Ausführung (von einem

Verſuche) nicht die Rede ſein, und diejenigen, welche hier dennoch eine

ſtrafbare Verſuchshandlung annehmen, werden inkonſequent, wenn ſie

nicht auch eine Strafe für den böſen Gedanken und für jede bloß prä-

paratoriſche Handlung zulaſſen wollen. Eine an ſich nicht ſtrafbare

Handlung, wie das Schießen auf eine Puppe, kann nicht dadurch, daß

der Schießende etwas Böſes dabei im Sinne gehabt hat, zum Verbre-

cher werden. Das Strafgeſetz beſtraft denjenigen, welcher vorſätzlich

einen Menſchen tödtet, als Mörder oder Todtſchläger. Unter dieſes

Geſetz fällt alſo weder der, welcher gegen eine Puppe eine ſolche Hand-

lung verübt, die einen Menſchen zu tödten geeignet wäre, noch der, wel-

cher gegen einen Menſchen eine ſolche Handlung verübt, die ſchlechthin

nicht tödten kann. Schweigt nun das Geſetz gänzlich über alle hier

einſchlagenden Fragen, ſo wird zugleich die Schwierigkeit vermieden, die

abſolut untauglichen Mittel zu charakteriſiren, und es bleibt dem Rich-

ter überlaſſen, im konkreten Falle ſtrafend anzuerkennen, wo der Verſuch

mit relativ untauglichen Mitteln ſich als ein wahrer Anfang der Aus-

führung des Verbrechens darſtellt. Enthält das Geſetz gar keine Be-

ſtimmungen hierüber, ſo wird ſich die Strafloſigkeit des ſ. g. Verſuchs

mit abſolut untauglichen Mitteln und an untauglichen Objekten ebenſo

von ſelbſt verſtehen, wie die Strafloſigkeit der böſen Gedanken. Daß

hierüber aus dem Mangel einer geſetzlichen Beſtimmung keine Zweifel

entſtehen werden, dafür bürgt die jetzige Praxis des Preußiſchen wie

des Franzöſiſchen Rechts, welche in dieſer Beziehung keine Kontroverſen

hat.“ — Das Allgemeine Landrecht mache nur eine Ausnahme im ſpe-

ziellen Falle des Th. II. Tit. 20. §. 866., wenn jemanden unſchädliche

Sachen in der Abſicht zu tödten, beigebracht worden; ſchon die Karo-

lina (ſ. oben Note o) erkläre den Verſuch mit untauglichen Mitteln

nicht für ſtrafbar.

Im Allgemeinen wird alſo zu unterſcheiden ſein, ob die Mittel ab-

ſolut untauglich oder relativ untauglich (unzulänglich) ſind, und ob die

Beſchaffenheit des Gegenſtandes von der Art iſt, daß der Thatbeſtand

eines Verbrechens oder Vergehens dadurch ausgeſchloſſen wird (Tödtung

einer Puppe), oder ob die Handlung nur aus beſonderen Gründen nicht

an demſelben verübt werden konnte (Verſuch, einen mit einem undurch-

dringlichen Panzer geſchützten Menſchen zu erſtechen), in welch' letzterem

Falle denn wieder die bloße Unzulänglichkeit des gewählten Mittels ſich

herausſtellen wird.

[145/0155]

§. 31. Der ſtrafbare Verſuch.

III. Es iſt bisher gezeigt worden, mit welchen Handlungen der

ſtrafbare Verſuch ſeinen Anfang nimmt, und aus welchen Gründen er

aufhört, ſtrafbar zu ſein. Es bleibt nun noch die Frage zu erwägen,

wann der Verſuch als beendigt anzuſehen iſt, ſo daß über ihn hinaus

der Begriff des vollendeten Verbrechens wirkſam wird. Dieß letztere iſt

aber dann vorhanden, wenn Alles geſchehen und bewirkt iſt, was

zum Begriff des Verbrechens oder Vergehens gehört, ſo daß der geſetz-

liche Thatbeſtand deſſelben erfüllt iſt. Mit dieſer allgemeinen Regel

muß man ſich aber begnügen, wenn feſtgeſtellt werden ſoll, wo der Ver-

ſuch und das vollendete Verbrechen (delictum consummatum) ſich ſchei-

den; genauere Beſtimmungen laſſen ſich nur bei den einzelnen Verbre-

chen und Vergehen nach ihrer beſonderen Beſchaffenheit, d. h. in Erwä-

gung des geſetzlichen Thatbeſtandes geben. Darnach entſcheidet es ſich

auch, ob das vollendete Verbrechen erſt dann vorliegt, wenn eine dauernde

Einwirkung auf die Außenwelt hervorgebracht iſt, z. B. die Tödtung

eines Menſchen, oder ob eine beſtimmte Handlung an ſich ſchon den

Begriff des Verbrechens darſtellt, wie bei der Ehrverletzung, dem Dieb-

ſtahl. Die Eintheilung der Verbrechen in ſ. g. formelle und materielle

hat daher keine innere, tiefer liegende Bedeutung. Fehlt noch etwas

am Thatbeſtande, ſei es rückſichtlich der Handlung oder des Erfolgs, ſo

liegt nur ein Verſuch vor; derſelbe iſt beendigt, wenn von Seiten des

Thäters Alles geſchehen iſt, was nöthig war, um von ſeiner Seite die

Vollendung herbeizuführen, wenn er alſo z. B. auf den Gegner, dem er

in mörderiſcher Abſicht auflauerte, ſein Gewehr abgeſchoſſen hat. Hat

er ihn verfehlt oder nur leicht verwundet, ſo liegt der Thatbeſtand des

Mordes nicht vor; es iſt ein Verſuch des Mordes geblieben, aber als

ſolcher iſt er beendigt. t)

Dieſen beendigten Verſuch, der ohne beabſichtigten Erfolg ge-

blieben iſt, pflegt man delictum perfectum zu nennen, — inſofern eine

ungeeignete Bezeichnung, als es dadurch den Anſchein gewinnt, als ob

kein Verſuch, ſondern ein, wenn auch nur unvollkommen vollendetes

Verbrechen vorliegt. Die Franzöſiſche Jurisprudenz hat dafür den Aus-

druck délit manqué, mißlungenes Verbrechen, gebildet. Dieſes rechnen

nun ausgezeichnete Franzöſiſche Juriſten nicht mehr zum Verſuch, und

zwar aus dem Grunde, weil der Thäter nicht mehr die Möglichkeit des

freiwilligen Rücktritts habe. u) Das Letztere iſt

auch ganz richtig, aber

t) Vgl. Entwurf von 1843. §. 58. Dieſer Paragraph iſt ſpäter aufgegeben

worden, weil er nur einen Strafzumeſſungsgrund enthielt, und das richterliche Er-

meſſen in unangemeſſener Weiſe einſchränkte; ſ. Reviſion von 1845. I. S. 136. ff.

u) Chauveau et Hélie Faustin I. c. p. 147-149.

Beſeler Kommentar. 10

[146/0156]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. II. Von d. Verſuche.

es rechtfertigt nicht den daraus hergeleiteten Schluß. Die Möglichkeit

des freiwilligen Rücktritts wird dadurch ausgeſchloſſen, daß der Verſuch

beendigt iſt, keine Verſuchshandlung mehr übrig bleibt; aber der Begriff

des Verſuchs wird dadurch nicht aufgehoben. Daß dieß hat behauptet

werden können, beruht auf einer Verwechslung zwiſchen den weſentlichen

Merkmalen des Verſuchs, und den Gründen, welche ihn wegen freiwil-

ligen Rücktritts ſtraflos machen. Die Unterſcheidung des beendigten

Verſuchs (delictum perfectum, délit manqué) iſt alſo nicht deswegen

von Bedeutung, weil dadurch eine beſondere Art der verbrecheriſchen

Thätigkeit, welche zwiſchen Verſuch und vollendetem Verbrechen in der

Mitte ſteht, bezeichnet wird, ſondern deswegen, weil dadurch für die

Strafzumeſſung ein feſter Anhaltspunkt gewonnen wird.

§. 32.

Der Verſuch eines Verbrechens wird wie das Verbrechen ſelbſt beſtraft.

Dem Richter bleibt jedoch überlaſſen, bei Feſtſetzung des Strafmaaßes inner-

halb der dafür vorgeſchriebenen Grenzen darauf Rückſicht zu nehmen, daß das

Verbrechen nicht vollendet worden iſt.

Iſt das Verbrechen mit der Todesſtrafe oder mit lebenslänglicher Zuchthaus-

ſtrafe bedroht, ſo tritt ſtatt derſelben zeitige Zuchthausſtrafe von mindeſtens

zehn Jahren nebſt Stellung unter Polizei-Aufſicht ein.

Inſoweit bei dem vollendeten Verbrechen unter Umſtänden eine der Art oder

dem Maaße nach mildere Strafe eintritt, ſoll dieſelbe auch bei dem Verſuche

zur Anwendung kommen.

Nachdem die Frage, wann der Verſuch ſtrafbar iſt, erörtert worden,

bleibt noch zu unterſuchen übrig, wie derſelbe geſtraft werden ſoll. In

dieſer Beziehung haben ſich zwei Syſteme geltend gemacht: nach dem

gemeinen Deutſchen Kriminalrecht, welchem die neueren Deutſchen Straf-

geſetzbücher gefolgt ſind, wird der Verſuch milder beſtraft als das voll-

endete Verbrechen, und auch aus Gründen der Kriminalpolitik wird dieß

allgemein vertheidigt, indem nur über die Beſtrafung des delictum per-

fectum Zweifel beſtehen. Dem entgegen hat der Code pénal (ſ. oben

Note d) das Princip aufgeſtellt, daß der Verſuch eines Verbrechens, ſo-

weit er überhaupt ſtrafbar iſt, dem Verbrechen gleich geſtraft werden ſoll,

was auch im Allgemeinen für den Verſuch des Vergehens gilt, nur daß

ein ſolcher erſt durch beſondere geſetzliche Verfügung in einzelnen Fällen

ſtrafbar wird. Dieſe letztere Unterſcheidung hat unſer Strafgeſetzbuch ſich

angeeignet, ſo daß der §. 32. nur von dem Verſuch eines Verbrechens

handelt. Die Strafe deſſelben ſteht der des vollendeten Verbrechens

nicht gleich; doch iſt das Verhältniß zwiſchen beiden anders beſtimmt,

als in den andern Deutſchen Geſetzgebungen.

[147/0157]

§. 32. Strafe des Verſuchs eines Verbrechens.

I. Wenn man bei der verbrecheriſchen Thätigkeit zwei Seiten un-

terſcheiden muß, die ſubjektive und die objektive, die Handlung und den

Erfolg, und bei der Strafzumeſſung auf Beides die gebührende Rück-

ſicht nimmt, ſo kann im Allgemeinen die volle geſetzliche Strafe nur auf

das vollendete Verbrechen geſetzt werden, und die mindere Strafbarkeit

des Verſuchs ſtellt ſich als eine Anforderung der Gerechtigkeit dar.

Selbſt in Frankreich hat man die ſtarre Satzung des Strafgeſetzbuchs

nicht aufrecht erhalten können; aber anſtatt eine Aenderung deſſelben

vorzunehmen, hat man ſich begnügt, die Löſung des Problems, für den

Verſuch des Verbrechens ein gerechtes Strafmaaß zu finden, dem Wahr-

ſpruch der Geſchworenen zuzuweiſen, und es ihnen überlaſſen, indem ſie

das Vorhandenſein mildernder Umſtände feſtſtellen, auch den Verſuch

darunter zu begreifen und die Strafe deſſelben im einzelnen Fall her-

unterzuſetzen, eine Befugniß, welche bei den Vergehen ſchon vor dem

Geſetz vom 28. April 1832. die Gerichtshöfe nach Art. 463. des Code

pénal, wenn auch nur in beſchränkter Weiſe ausübten. Was ſich ge-

gen dieſes Auskunftsmittel, die Berückſichtigung mildernder Umſtände

allgemein zuzulaſſen, überhaupt ſagen läßt, findet auch auf dieſen Fall

ſeine Anwendung. v)

II. Der Entwurf des Strafgeſetzbuchs von 1850. hatte ſich, was

die Strafe des Verſuchs des Verbrechens betrifft, im Weſentlichen dem

Code pénal angeſchloſſen, und nur für die abſoluten Strafen eine Her-

unterſetzung auf zeitige Zuchthausſtrafe und Stellung unter Polizeiauf-

ſicht ausgeſprochen. In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde

hiergegen vom Standpunkt der Deutſchen Rechtsanſchauung und im Ge-

genſatz zu dem nivellirenden Formalismus des Romaniſchen Rechts Wi-

derſpruch erhoben, und der Vorſchlag gemacht, die Strafe des Verſuchs

im Allgemeinen niedriger zu ſtellen, als die des vollendeten Verbrechens.

Dagegen wurde namentlich geltend gemacht, daß es bei der Beurthei-

lung der Strafbarkeit einer Handlung weniger auf den Erfolg als auf

den böſen Willen ankomme; daß nach dem Strafgeſetzbuch die Fälle der

ſtrafbaren Verſuchshandlungen ſehr beſchränkt würden; daß der weite

Spielraum, welcher dem richterlichen Ermeſſen für die Strafzumeſſung

überhaupt eingeräumt worden, auch den Unterſchied zwiſchen Verſuch

und vollendetem Verbrechen berückſichtigen laſſe; daß beſtimmte Grade

des Verſuchs nicht anzunehmen ſeien und zur Entſcheidung der Ge-

ſchworenen nicht formulirt werden könnten; daß endlich die Abwägung

der Strafe des Verſuchs gegen die des vollendeten Verbrechens, wenn

ſie überhaupt unter das geſetzliche Maaß der letzteren heruntergeſetzt wer-

v) S. oben Einleitung §. VII.

10*

[148/0158]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. II. Von d. Verſuche.

den ſolle, ſich in allgemeinen Regeln kaum feſtſtellen laſſe. Die Ver-

handlung führte endlich dazu, daß der Antrag auf eine principielle Aen-

derung der Geſetzesvorſchrift verworfen, aber doch beſchloſſen wurde, den

zweiten Satz im erſten Abſatz und den dritten Abſatz des §. 32. hinzu-

zufügen. In dieſer Faſſung iſt der Paragraph in das Geſetzbuch über-

gegangen, nachdem auch die Kommiſſion der erſten Kammer ſich damit

einverſtanden erklärt hatte. w)

a. Der Verſuch des Verbrechens wird wie das Verbrechen ſelbſt

beſtraft. Dieſe Regel erhält ihre Beſchränkung dadurch, daß innerhalb

des geſetzlichen Strafmaaßes der Richter darauf Rückſicht nehmen kann,

daß das Verbrechen nicht vollendet worden. Der Verſuch wird alſo

unter ſonſt gleichen Umſtänden niedriger zu beſtrafen ſein, als das voll-

endete Verbrechen, aber nicht unter dem Minimum der geſetzlichen Strafe.

Auf dieſem Standpunkte ſtand auch ſchon im Weſentlichen der Entwurf

von 1847. und der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß. In jenem Entwurf

nämlich war beſtimmt:

§. 41. „Die auf das vollendete Verbrechen angedrohte Strafe

des Verluſtes der gewerblichen und der Ehrenrechte, der Landes-

verweiſung und der Stellung unter beſondere Polizeiaufſicht ſoll

auch dann ausgeſprochen werden, wenn das Verbrechen nur als

ein verſuchtes zu beſtrafen iſt.“

Dieſe Beſtimmung wurde von dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß

nicht nur angenommen, ſondern es wurde auch noch dem Antrag ein-

ſtimmig beigetreten,

daß die Strafe des Verſuchs mit der Strafart des vollendeten

Verbrechens korreſpondire.“ x)

Wendet man dieſe beiden Regeln auf die Beſtrafung der Verbrechen an,

ſo findet ſich, daß ſie im Weſentlichen mit dem in §. 32. Abſ. 1. auf-

geſtellten Grundſatz zuſammen treffen. Zwar iſt in dem Entwurfe von

1847. §. 40. Abſatz 3. noch vorgeſchrieben, daß bei Verbrechen, welche

höchſtens eine zeitige Freiheitsſtrafe oder eine Geldbuße nach ſich ziehen,

die Strafe des Verſuchs niemals zwei Drittheile der höchſten geſetzlichen

Strafe überſteigen ſoll. Aber das höchſte Strafmaaß iſt es nicht, was

die Beſtimmung des §. 32. hart macht, ſondern der Umſtand, daß die

Strafart und das Minimum bei dem Verſuch und dem vollendeten Ver-

brechen gleich geſtellt ſind. Auch iſt zu beachten, daß der Entwurf von

1847. noch gleiche Vorſchriften über den Verſuch des Verbrechens und

des Vergehens enthält, während der letztere nach §. 33. jetzt nur aus-

w) Protokolle der Kommiſſion der zweiten Kammer, Sitzung vom

15. Jan. 1851. — Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 32.

x) Verhandlungen I. S. 206. — II. S. 364.

[149/0159]

§. 33. Strafe des Verſuchs eines Vergehens.

nahmsweiſe beſtraft wird; daß das Strafgeſetzbuch nur ausnahmsweiſe

bei der Zuchthausſtrafe ein anderes Minimum als das geſetzliche von

zwei Jahren aufſtellt, und daß bei dem Verſuch auch die mildernden

Umſtände berückſichtigt werden. — Eine ganz gleiche Strafe wird für

den Verſuch und das vollendete Verbrechen nur dann beſtehen, wenn

für beide der niedrigſte Grad der Strafbarkeit ſich herausſtellt; dann

wird aber auch wohl meiſtens ein Fall vorliegen, wo es überhaupt

ſchwer iſt, die Grenzen zwiſchen der bloß vorbereitenden Handlung und

dem ſtrafbaren Verſuch ſicher zu ziehen.

b. Auf Todesſtrafe und lebenslängliches Zuchthaus ſollwegen

Verſuchs eines Verbrechens niemals erkannt werden. Wenn das Ver-

brechen ſelbſt mit einer dieſer Strafen bedroht iſt, ſo tritt ſtatt derſelben

bei dem Verſuch eine zeitige Zuchthausſtrafe von mindeſtens zehn Jah-

ren und Stellung unter Polizei-Aufſicht ein.

c. Allgemein gilt die Regel, daß, wenn bei dem Verbrechen die

Feſtſtellung des Vorhandenſeins mildernder Umſtände eine Herunterſetzung

der Strafe ihrer Art oder ihrem Maaße nach mit ſich führt, dieß auch

für den Verſuch gilt. Dieſe Beſtimmung konnte für die Vorſchriften

des erſten Abſatzes wohl als ſich von ſelbſt verſtehend angeſehen wer-

den; aber bei der dispoſitiven Faſſung des zweiten Abſatzes erſchien die

ausdrückliche Hinzufügung nothwendig.

III. Der ſtrafbare Verſuch läßt ſich nicht nach beſtimmten Gra-

den zerlegen; die beiden einzigen feſt zu beſtimmenden Punkte ſind ſein

Anfang und ſein Ende. Zwiſchen dieſen beiden Punkten, von dem aus,

wo die Strafbarkeit anfängt, bis zu dem hin, wo der Verſuch in das voll-

endete Verbrechen übertritt, bewegen ſich die Verſuchshandlungen im all-

mählichen Fortſchreiten. Daraus läßt ſich für die Strafzumeſſung die

allgemeine Regel ableiten, daß der Verſuch um ſo ſtrafbarer iſt, je mehr

er ſich dem vollendeten Verbrechen nähert, und daß der beendigte Ver-

ſuch, das delictum perfectum alſo den höchſten Grad der Strafbarkeit

darſtellt. Dabei iſt aber nicht zu überſehen, daß das Verhältniß, in wel-

chem ſich der Verſuch dem vollendeten Verbrechen nähert, nicht der ein-

zige Maaßſtab für die Strafbarkeit der Verſuchshandlungen iſt; die

übrigen ſubjektiven und objektiven Zumeſſungsgründe behalten daneben

ihre allgemeine Bedeutung.

§. 33.

Der Verſuch eines Vergehens wird nur in den Fällen beſtraft, in welchen

die Geſetze dies ausdrücklich beſtimmen. Der Verſuch wird alsdann wie das

Vergehen ſelbſt nach den im §. 32. aufgeſtellten Grundſätzen beſtraft.

Ueber den Verſuch eines Vergehens gelten die allgemeinen Grund-

[150/0160]

Th. I. Beſtrafung d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. II. Von d. Verſuche.

ſätze, welche in den beiden vorhergehenden Paragraphen aufgeſtellt ſind,

ſowohl in Beziehung auf die Frage, wann der ſtrafbare Verſuch an-

fängt oder aufhört ſtrafbar zu ſein, oder als beendigt anzuſehen iſt, als

auch in Beziehung auf die Beſtrafung ſelbſt, nur daß natürlich der

zweite Abſatz des §. 32. hier bedeutungslos iſt. Dagegen kommt hier

die tiefeingreifende Regel zur Anwendung, daß der Verſuch eines Ver-

gehens nur in den Fällen beſtraft wird, in welchen die Geſetze dieß

ausdrücklich beſtimmen. Die Vergehen bilden hier alſo einen Ueber-

gangspunkt zu den Uebertretungen, bei denen der Verſuch niemals be-

ſtraft wird (§. 336.).

Daß bei Vergehen der Verſuch nur in Folge ausdrücklicher geſetz-

licher Vorſchrift beſtraft werden ſoll, iſt übrigens eine Beſtimmung, welche

der Code pénal (art. 3.), dem ſie entlehnt worden, nicht erfunden hat,

wenn auch bei der Abfaſſung deſſelben die Gründe der Zweckmäßigkeit,

welche dafür ſprechen, beſonders hervorgehoben worden ſind und eine

weitere Berückſichtigung, als in der früheren Doktrin gefunden haben. y)

Gerade auf dem Gebiet, welches die Vergehen einnehmen, begegnen ſich

die Strafgerechtigkeit und diejenige Strafgewalt, welche die aus Rückſichten

der Polizei erlaſſenen Gebote und Verbote zur Anerkennung bringt; der

letzte Grund für die Beſtrafung des Verſuchs, der böſe Wille des Thä-

ters, darf hier nicht immer oder doch nicht in ſolcher Stärke angenom-

men werden, daß auch ohne Rückſicht auf den Erfolg ſtets eine Strafe

zu vollziehen iſt. Schon die ältere gemeinrechtliche Doktrin unterſchied

daher in dieſer Hinſicht zwiſchen delicta atrociora und leviora, und

auch die Halsgerichtsordnung Karls V. handelt nur von den „peinlichen“

Strafen des böſen Willens bei unterſtandener Miſſethat.

Die Vergehen nun, bei denen der Verſuch nach dem Geſetzbuch ge-

ſtraft werden ſoll, ſind folgende:

in Beziehung auf die Ausübung ſtaatsbürgerlicher Rechte (§. 84.),

Zwang gegen Behörden (§. 90.),

Befreiung von Gefangenen (§. 94.),

Meuterei in Strafanſtalten (§. 96.),

Verleitung zum Deſertiren (§. 111.),

Drohung mit Verbrechen (§. 212.),

Diebſtahl (§. 216.),

Unterſchlagung (§. 227.),

Erpreſſung (§. 234.),

y) Ueber die Motive der Franzöſiſchen Geſetzgebung und namentlich über die

Verhandlungen des Napoleoniſchen Staatsraths f. Chauveau et Hélie Fau-

stin I. c. p. 155-157. — Napoleon ließ ſich die Gründe der Beſtimmung ge-

nau auseinander ſetzen.

[151/0161]

§. 34. Begriff und Arten der Theilnahme.

Betrug (§. 242.),

rechtswidrige Wegnahme eigner Sachen (§. 271.),

Beſtechung (§. 311.),

Unterſchlagung durch Beamte (§. 324.),

Erhebung rechtswidriger Gebühren (§. 326.),

Verleitung zu Amtsvergehen durch Amtsvorgeſetzte (§. 330.)

Dritter Titel.

Von der Theilnahme an einem Verbrechen oder Vergehen.

§. 34.

Als Theilnehmer eines Verbrechens oder Vergehens wird

beſtraft:

1) wer den Thäter durch Geſchenke oder Verſprechen, durch Drohungen,

Mißbrauch des Anſehens oder der Gewalt, durch abſichtliche Herbeifüh-

rung oder Beförderung eines Irrthums oder durch andere Mittel zur

Begehung des Verbrechens oder Vergehens angereizt, verleitet oder be-

ſtimmt hat;

2) wer dem Thäter zur Begehung des Verbrechens oder Vergehens Anlei-

tung gegeben hat, ingleichen wer Waffen, Werkzeuge oder andere Mittel,

welche zu der That gedient haben, wiſſend, daß ſie dazu dienen ſollten,

verſchafft hat, oder wer in den Handlungen, welche die That vorbe-

reitet, erleichtert oder vollendet haben, dem Thäter wiſſentlich Hülfe

geleiſtet hat.

Die beiden erſten Paragraphen dieſes Titels handeln von den Theil-

nehmern eines Verbrechens oder Vergehens und von deren Beſtrafung;

im §. 36. wird über eine beſondere Art der Anſtiftung verfügt; es fol-

gen dann noch Beſtimmungen über die Begünſtigung der That (§. 37.

38.) und über die unterlaſſene Anzeige eines beabſichtigten Verbrechens

(§. 39.). Der §. 34. des Entwurfs von 1850., welcher von der Heh-

lerei handelte, iſt hier ausgefallen und in einen beſonderen Titel, den

zwanzigſten des zweiten Theils verwieſen worden: — Der vorliegende

dritte Titel nimmt daher die Theilnahme in dem weiteren Sinne, und

befaßt darunter auch die Beihülfe nach der That und die ſ. g. negative

Beihülfe; doch ſind die principiellen Beſtimmungen in den beiden erſten

Paragraphen enthalten, an welche ſich die folgenden nur erweiternd und

ergänzend anſchließen.

Indem aber zuerſt die Theilnehmer eines Verbrechens oder Ver-

[152/0162]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

gehens näher bezeichnet werden, ſieht man ſie mit dem Thäter zuſam-

mengeſtellt, ohne daß dieſer Begriff irgend eine Beſtimmung gefunden

hat. Er iſt vielmehr als bekannt vorausgeſetzt, weil dabei an den

gewöhnlichen Fall gedacht wird, daß eine Perſon als ſich ſelbſt beſtim-

mendes Subjekt ein Verbrechen oder Vergehen gewollt und die Ausübung

deſſelben vollbracht hat. Der Thäter iſt alſo der intellektuelle und phy-

ſiſche Urheber der That. Dieſer Begriff bedarf allerdings an ſich keiner

näheren Beſtimmung im Strafgeſetzbuch; aber es tritt doch häufig der

Fall ein, daß nicht ein Einzelner der Urheber eines Verbrechens iſt, daß

auch die neben ihm thätigen Perſonen ſich nicht in dem Verhältniß von

bloßen Gehülfen befinden, ſondern daß mehrere eine gleiche verbreche-

riſche Thätigkeit entwickeln, und als Miturheber zu betrachten ſind.

Ueber dieß Verhältniß der Miturheber zu einander und über die ver-

ſchiedenen dabei möglichen Formen ihrer verbrecheriſchen Thätigkeit hat

die Doktrin des gemeinen Deutſchen Strafrechts allgemeine Regeln ent-

wickelt, welche auch in manchen neueren Strafgeſetzbüchern Aufnahme

gefunden haben.

In Beziehung auf die Frage, wie die Miturheber dem Grade der

Verſchuldung nach zu ſtehen kommen, wie die Thätigkeit des Einzelnen

abzumeſſen, wie es ſich mit dem Verſuch, dem freiwilligen Rücktritt

u. ſ. w. verhält, wird ein Geſetzbuch keine allgemeine Regeln aufſtellen

können, ohne in eine bedenkliche Kaſuiſtik zu verfallen, und der Juris-

prudenz einen Theil ihrer Aufgabe zu entziehen. Aber es giebt beſtimmte

Formen der Miturheberſchaft, welche ſich wegen ihrer beſonderen recht-

lichen Natur zu einer ſelbſtändigen legislativen Behandlung zu empfehlen

ſcheinen, und in den neueren Deutſchen Strafgeſetzbüchern dieſe auch

meiſtens in dem Allgemeinen Theile gefunden haben: nämlich das

Komplott und die Bande. Auch bei der Reviſion des Preußiſchen

Strafrechts hat man dieſen beiden Begriffen ſeine Aufmerkſamkeit zuge-

wandt. Das Allgemeine Landrecht bot dafür freilich nur einen geringen

Anhalt. Ohne den Ausdruck Komplott zu gebrauchen, handelt es

nur von den Fällen, wenn mehrere ſich „zur Begehung von Verbrechen

verbunden haben“ (Th. II. Tit. 20. §. 66.) oder wenn mehrere ſich

„zu einem gemeinſchaftlich auszuführenden Verbrechen verbunden haben“

(a. a. O. §. 73.). An der erſten Stelle wird in einem ſolchen Fall

eine Erhöhung der Strafe vorgeſchrieben, an der zweiten die Verhaftung

wegen ſämmtlicher verabredeter Handlungen ausgeſprochen. Ueber die

Bande kommen keine allgemeine Beſtimmungen vor, indem nur von

Diebſtahl und Raub in Banden gehandelt wird (a. a. O. §. 1209

-1217.).

Schon bei der erſten Reviſion wurden dieſe Begriffe weiter ausge-

[153/0163]

§. 34. Begriff und Arten der Theilnahme.

bildet, und in Uebereinſtimmung mit anderen Deutſchen Geſetzgebungen z)

ein Komplott dann angenommen, wenn zwei oder mehrere die gemein-

ſchaftliche Verübung eines beſtimmten Verbrechens verabredet haben, bei

der Bande aber das weſentliche Merkmal darein geſetzt, daß die Verab-

redung zur Verübung mehrerer, einzeln noch unbeſtimmter Verbrechen

eingegangen werde. Es knüpften ſich daran Beſtimmungen über die

ſolidariſche Verhaftung der ſo verbundenen Miturheber, über die größere

Strafbarkeit der durch ſie begangenen Verbrechen, ohne daß jedoch ein

genaueres kaſuiſtiſches Eingehen auf die Fälle des Verſuchs, des Rück-

tritts, der Nichtbetheiligung vermieden werden konnte. a) Gerade dieſer

letztere Umſtand führte aber im weiteren Gange der Reviſion zu der

Frage, ob es denn überhaupt nöthig ſei, allgemeine Vorſchriften über

dieſe Fälle der Miturheberſchaft aufzuſtellen, und ob es nicht richtiger

ſei, nur bei einzelnen Verbrechen das Erforderliche anzuordnen. b) Auch

entſchloß man ſich bald, die Ausdrücke: Komplott und Bande im Ge-

ſetzbuch zu vermeiden, und die Beſtimmungen, welche wegen dieſer be-

ſonderen Arten der Miturheberſchaft eine Straferhöhung feſtſetzten, nur

für einzelne Verbrechen beizubehalten. Dagegen hielt man länger an

der allgemeinen Vorſchrift feſt, daß ſchon die Verabredung mehrerer zur

Begehung eines gemeinſchaftlichen Verbrechens als ſtrafbarer Verſuch

angeſehen werden ſolle; zuletzt ließ man aber auch dieſe Beſtimmung,

welche mit den allgemeinen Grundſätzen des Strafgeſetzbuchs über den

Verſuch unvereinbar war, wegfallen, ſo daß ſie ſich in dem Entwurf

von 1847. nicht mehr findet. c) Es fehlen daher gegenwärtig alle

allgemeinen Vorſchriften über die Miturheberſchaft ſowohl, als auch

über Komplott und Bande; nur bei dem Hochverrath iſt das Erſtere

unter Strafe geſtellt (§. 63.), und Diebſtahl und Raub, in Banden

verübt, werden als beſonders ausgezeichnet mit erhöhter Strafe bedroht

(§. 218. Nr. 8. — §. 232. Nr. 2.). — Auch andere Strafrechte, das

Engliſche und Franzöſiſche ſo gut wie einzelne Deutſche Geſetzbücher

z) Württemb. Strafgeſetzb. Art. 78-83. — Hannov. Criminal-

geſetzb. Art. 57-65. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 74-82. — Badiſches

Strafgeſetzb. §. 125-27.

a) Entwurf von 1830. §. 61-63. — Entwurf von 1836. §. 62-67.

— Entwurf von 1843. §. 65-69.

b) Dieſe Anſicht iſt mit beſonderem Nachdruck zuerſt vertreten von Ruppenthal

in den Bemerkungen über den Entwurf des Preuß. Strafgeſetzbuchs S. 90-95.,

außerdem aber noch von vielen anderen Monenten. S. Reviſion von 1845. I.

S. 159. Note 2.

c) Reviſion von 1845. I. S. 159-63. — Entwurf von 1845. §. 48.

— Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 41. 42.

[154/0164]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

haben dieſe beſonderen Formen der Miturheberſchaft nicht allgemein

ausgebildet. d)

Der §. 34. des Geſetzbuchs bezeichnet alſo die Theilnehmer eines

Verbrechens oder Vergehens im Gegenſatz zu dem Thäter. Dabei wird

aber jede Definition vermieden, und die nöthige Beſtimmtheit durch die

Aufzählung der einzelnen Fälle zu erreichen geſucht. In der That führt

das auch zu größerer Anſchaulichkeit, wie ein Vergleich mit der Faſſung

des Entwurfs von 1847. zeigt.

§. 43. „Die für ein Verbrechen angeordnete Strafe iſt nicht

nur auf denjenigen anzuwenden, welcher die mit Strafe bedrohte

That, allein oder in Gemeinſchaft mit Andern ausführt, ſondern

auch auf den, welcher einen Anderen zur Ausführung derſelben

anſtiftet, es möge dies durch Geſchenke, Drohungen, Befehl oder

durch andere auf den Willen einwirkende Mittel geſchehen.“

Die jetzige Faſſung des Geſetzbuchs iſt im Weſentlichen der des

Code pénal nachgebildet, nur daß dieſer die Aufzählung im reſtriktiven

Sinne giebt, ſo daß außer den genannten Fällen keine anderen vorbe-

halten bleiben, während in §. 34. Nr. 1. durch den Zuſatz: „oder durch

andere Mittel“ die Aufzählung nur die Bedeutung einer demonſtrativen

erhalten hat. e) In dieſer Hinſicht ſcheint die Faſſung des Code pénal,

die man ja, wenn es nöthig ſchien, vervollſtändigen konnte, vorzüglicher

zu ſein, — namentlich mit Rückſicht auf die Stellung der Fragen an

die Geſchworenen.

d) Code pénal. Art. 59. 60. — Sächſiſches Criminalgeſetzbuch.

Art. 33-41. — Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 41-54. — Thüring.

Strafgeſetzb. Art. 31-40. — Ueber das Engliſche Recht ſ. Blackstone,

commentaries on the laws of England. book IV. chap. 3. — H. J. Ste-

phen, Handbuch des Engliſchen Strafrechts und Strafverfahrens. Deutſch von E.

Mühry. (Göttingen, 1843.) S. 13-22.

e) Code pénal. Art. 60. Seront punis comme complices d'une

action qualifiée crime ou délit, ceux qui par dons, promesses, menaces,

abus d'autorité ou de pouvoir, machinations ou artifices coupables, auront

provoqué à cette action, ou donné des instructions pour la commettre; —

Ceux qui auront procuré des armes, des instrumens, ou tout autre moyen

qui aura servi à l'action, sachant qu'ils devaient y servir; — Ceux qui

auront, avec connaissance, aidé ou assisté l'auteur ou les auteurs de

l'action, dans les faits qui l'auront préparée ou facilitée, ou dans ceux qui

l'auront consommée; sans préjudice des peines qui seront ſpécialement

portées par le présent Code contre les auteurs de complots ou de provo-

cations attentatoires à la sûreté intérieure ou extérieure de l'État, même

dans le cas où le crime qui était l'objet des conspirateurs ou des provo-

cateurs n'aurait pas été commis. cf. Chauveau et Hélie Faustin.

I. c. I. chap. VI. p. 172.

[155/0165]

§. 34. Begriff und Arten der Theilnahme.

Bei der Aufzählung der einzelnen Fälle der Theilnahme werden

aber zwei Arten derſelben unterſchieden, indem unter der erſten Nummer

die Anſtifter, unter der zweiten die Gehülfen bezeichnet werden. Dieſe

Unterſcheidung iſt hier feſtzuhalten.

A. Die Anſtifter.

Anſtifter oder intellektueller Urheber iſt derjenige, welcher die Ver-

übung eines Verbrechens oder Vergehens durch einen Anderen veranlaßt,

ohne ſich ſelbſt unmittelbar dabei zu betheiligen. Er unterſcheidet ſich

alſo von dem Thäter dadurch, daß er wie dieſer die That will und ſie

bewirkt, aber nicht durch ſeine eigenen Handlungen, ſondern durch die

eines Anderen, den er zu ſeinen Zwecken benutzt.

I. Nothwendige Vorausſetzung für dieſe Art der Theilnahme iſt

der Dolus, wie dieß in dem Worte: „anſtiften“ deutlich ausgedrückt iſt.

In der gegenwärtigen Faſſung des Paragraphen iſt dieſer Ausdruck

vermieden und dafür: „anreizen, verleiten oder beſtimmen“ geſagt. Da-

durch iſt allerdings auch der Fall unter die Vorſchrift des Paragraphen

gebracht worden, wenn derjenige, durch welchen die That vollzogen

werden ſoll, an ſich ſchon zu deren Vollbringung geneigt war, und nur

durch den Dritten zu dem entſcheidenden Entſchluß gebracht worden iſt.

Irgend ein beſtimmender Einfluß muß aber von dieſem ausgeübt wor-

den ſein, ſonſt kann er nur als Mitwiſſer angeſehen werden. — Unter

Dolus des Anſtifters iſt hier alſo die Abſicht zu verſtehen, eine als

Verbrechen oder Vergehen ſtrafbare Handlung durch einen Anderen ver-

üben zu laſſen. Auch bei kulpoſen Vergehen iſt freilich eine Verhaf-

tung wegen Theilnahme möglich, aber keine Anſtiftung im Sinne

des §. 34.

II. Der Dolus desjenigen, durch welchen die That vollführt wor-

den, iſt für die Verſchuldung des Anſtifters ohne Einfluß. Es kann

jemand zu einer Handlung beſtimmt werden, durch welche der Anſtifter

ein Verbrechen verüben läßt, die aber derjenige, welcher ſie vornimmt,

für eine ganz argloſe anſieht, und die ihm gar nicht oder nur als

Fahrläſſigkeit anzurechnen iſt. Ja der Anſtifter kann ſich einer unzu-

rechnungsfähigen Perſon zur Ausführung ſeiner verbrecheriſchen Abſicht

bedienen, ſo wie jedes anderen willenloſen Werkzeuges.

III. Auf die Mittel, welche angewandt werden, um einen Anderen

zur Verübung der That zu beſtimmen, kommt es nach der im Geſetzbuch

gewählten Faſſung nicht an; es heißt allgemein: „oder durch andere

Mittel.“ Es braucht nur ein ſolches Mittel gewählt zu ſein, durch

welches die Abſicht des Anſtifters, den Anderen zu dem beſtimmten ver-

brecheriſchen Zweck zu benutzen, erreicht worden iſt. Unter Umſtänden

wird nun gerade aus der Wahl und der Anwendung der Mittel dieſe

[156/0166]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d.

Theilnahme.

Abſicht ſelbſt mit Sicherheit zu entnehmen ſein; je ſchlauer aber der

Anſtifter iſt, deſto unverfänglichere Mittel wird er anzuwenden und deſto

mehr ihren Gebrauch zu verdecken ſuchen, — vielleicht hat er mehr ſei-

nen Wunſch nur errathen laſſen, als ſelbſt ausgeſprochen, und das un-

befangene Urtheil ſchwankt, ob ihm eine bloß moraliſche oder auch eine

rechtliche Verſchuldung beizumeſſen iſt. Nur die umſichtige Erwägung

aller, in den Thatſachen und Perſönlichkeiten liegenden Momente kann

in ſolchen zweifelhaften Fällen zur letzten Entſcheidung führen, ob das

Verbrechen auf die Perſon des Angeſchuldigten als auf die beſtimmende

Urſache deſſelben zurückgeführt werden muß.

IV. Wenn die Anſtiftung für ſtrafbar gelten ſoll, ſo muß ſie

einen gewiſſen Erfolg gehabt haben. Das vergebliche Bemühen, einen

Anderen zur Verübung eines Verbrechens oder Vergehens zu verleiten,

iſt nicht mit Strafe bedroht. Das folgt einmal aus dem allgemeinen

Grundſatz des Geſetzbuchs, daß der ſtrafbare Verſuch einen Anfang der

Ausführung enthalten muß, und ſich nicht in bloß vorbereitenden Hand-

lungen darſtellt. Außerdem ſind aber noch folgende entſcheidende Gründe

für jene Annahme anzuführen.

a. Das Strafgeſetzbuch ſagt: Theilnehmer iſt, wer „den Thäter“

durch Geſchenke u. ſ. w. angereizt, verleitet oder beſtimmt hat. Thäter

iſt aber nur derjenige, welcher die verbrecheriſche Handlung bereits ge-

than hat. Dabei iſt freilich nicht allein an das vollendete Verbrechen

zu denken; auch der ſtrafbare Verſuch iſt eine verbrecheriſche That, und

wenn die Anſtiftung auch nur dieſen Erfolg gehabt hat, ſo iſt ihr Er-

folg und demnach auch ihre Strafbarkeit nicht zu bezweifeln. Aber wer

den Verſucher nicht gehört, ihn mit ſeinem Anliegen zurückgewieſen hat,

der kann nicht als Thäter bezeichnet werden.

b. Es giebt mehrere Fälle, in denen die Aufforderung, Anreizung

oder Verleitung für ſtrafbar erklärt ſind, auch wenn ſie ohne Erfolg ge-

blieben. So gleich §. 36., wenn die Aufforderung öffentlich geſchah,

ferner beim Hochverrath, bei der Verleitung zum Deſertiren, bei dem

Meineide. — Folgende Stellen des Geſetzbuchs handeln von ſolchen

Fällen:

§§. 36. 63. 65. 88. 100. 111. 114. 118. Nr. 2. 130.

164. 311.

Hier liegt es entweder ſchon in der geſetzlichen Bezeichnung der

Handlung ſelbſt, z. B. bei der Herausforderung zum Zweikampf (§. 164.),

bei dem Verſuch der Beſtechung (§. 311.), daß es auf den Erfolg der

Anſtiftung nicht ankommen ſoll, oder es iſt dieß ausdrücklich vorge-

ſchrieben. Jedenfalls beſtätigen dieſe Ausnahmen das Entgegengeſetzte

als Regel.

[157/0167]

§. 34. Begriff und Arten der Theilnahme.

V. So lange ein durch einen Dritten zu vollziehendes Verbrechen

oder Vergehen noch in den Grenzen bloßer Verſuchshandlungen geblie-

ben iſt, kann durch den freiwilligen Rücktritt Strafloſigkeit erlangt wer-

den. Es genügt aber zu dieſem Behuf für den Anſtifter nicht, daß er

ſeinen Willen ändere; er muß auch dafür Sorge tragen, daß nicht in

Folge ſeines Auftrags ſtrafbare Handlungen begangen werden. Die

Regeln über den Widerruf des civilrechtlichen Mandats reichen für das

Strafrecht nicht aus. Selbſt für Exceſſe, welche bei der Verübung des

Verbrechens begangen wurden, iſt der Anſtifter verantwortlich, wenn er

auch nur die Möglichkeit dieſes Ausgangs vorher ſehen konnte. — Mit-

telsperſonen zwiſchen dem Anſtifter und demjenigen, deſſen er ſich zur

Verübung der That bedient, ſind als Gehülfen zu betrachten.

B. Die Gehülfen.

Die zweite Klaſſe der Theilnehmer, von denen der §. 34. Nr. 2.

handelt, ſind die Gehülfen. Als ſolche werden bezeichnet

wer dem Thäter zur Begehung des Verbrechens oder Vergehens

Anleitung gegeben,

wer Waffen, Werkzeuge oder andere Mittel, welche zu der

That gedient haben, wiſſend, daß ſie dazu dienen ſollten, ver-

ſchafft oder

wer in den Handlungen, welche die That vorbereitet, erleichtert

oder vollendet haben, dem Thäter wiſſentlich Hülfe geleiſtet hat.

In dem erſten Fall iſt die ſ. g. intellektuelle Beihülfe gemeint, die ſich

in der Form des Rathes geltend macht, aber nicht des Rathes ſchlecht-

hin, ſondern der „Anleitung.“ Mit dieſer glücklich gewählten Bezeich-

nung wird ausgedrückt, daß derjenige, welcher den Rath gegeben, die

Abſicht hatte, auf die Verübung des Verbrechens fördernd einzuwirken,

und daß der Thäter den Rath auch wirklich benutzt hat. f) In den

andern Fällen der Beihülfe wird es dagegen ausdrücklich hervorgehoben,

daß der Gehülfe mit Wiſſenſchaft gehandelt habe. Die hergegebenen

Waffen, Werkzeuge oder anderen Mittel, z. B. das Gift zu einer Ver-

giftung, müſſen nicht blos zu der That gedient haben, ſondern der

Gehülfe muß auch gewußt haben, daß ſie dazu beſtimmt waren. Auch

f) Der Code pénal art. 60. ſtellt die instructions pour commettre l'action

neben der intellectuellen Urheberſchaft; das Engliſche Recht, welches für die Beur-

theilung der Theilnahme das Hauptgewicht auf die Anweſenheit bei der That legt,

rechnet umgekehrt den intellectuellen Urheber, welcher bei der Verübung nicht zugegen

war, nicht zu den principals, ſondern nur zu den accessaries. — Die im Text

gegebene Erklärung des Wortes „Anleitung“, daß es nämlich den Dolus bezeichne,

wurde in der Kommiſſion der zweiten Kammer von dem Kommiſſar des Juſtizminiſters

beſonders hervorgehoben, und deswegen auch die Hinzufügung der Worte: „abſichtlich

und wiſſentlich“ nicht für nöthig erachtet.

[158/0168]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

bei den die That ſelbſt unterſtützenden Handlungen muß die Beihülfe

wiſſentlich, d. h. in dem Bewußtſein, wozu ſie dienen ſoll, geleiſtet

worden ſein. — Ein ſtrafbarer Verſuch der Beihülfe läßt ſich nicht wohl

denken, ſchon weil ſie nicht als Anfang der Ausführung vorkommen

wird; nur muß man ſich hüten, damit die Theilnahme an dem ſtraf-

baren Verſuch eines Verbrechens oder Vergehens zu verwechſeln.

I. Das Strafgeſetzbuch handelt an dieſer Stelle nur von den

Fällen der Beihülfe, welche vor oder bei Verübung der That geleiſtet

wird. Dagegen iſt die der That nachfolgende Beihülfe als Begün-

ſtigung ausgeſchieden, und zum Gegenſtande beſonderer Beſtimmungen

gemacht worden (§. 37. 38.). Ebenſo verhält es ſich mit der ſ. g. ne-

gativen Beihülfe vermittelſt nicht geſchehener Anzeige eines beabſichtig-

ten Verbrechens (§. 39.).

II. Auch die ſonſt gebräuchlichen Eintheilungen der Beihülfe in

die vorhergehende und gleichzeitige, die verabredete und nicht verabre-

dete u. ſ. w. haben keine Erwähnung gefunden, und die Berückſichtigung

der beſonders ausgezeichneten Arten für die Strafzumeſſung iſt der Er-

wägung des einzelnen Falles überlaſſen. Nur der Gegenſatz der weſent-

lichen und nicht weſentlichen Beihülfe iſt von beſonderer Wichtigkeit für

das Strafgeſetzbuch, weil im folgenden Paragraphen darauf eine Straf-

beſtimmung begründet wird. In den früheren Entwürfen ſuchte man

den Begriff der weſentlichen Beihülfe durch die Auszeichnung des Haupt-

gehülfen feſtzuſtellen; namentlich beſtimmte der Entwurf von 1843.

§. 63. „Mit der auf das Verbrechen im Geſetze angedrohten

Strafe werden belegt: — — 3) jeder, der zur Ausführung des

Verbrechens und um dieſe zu befördern, eine ſolche Hülfe ge-

leiſtet hat, ohne welche unter den vorhandenen Umſtänden das

Verbrechen nicht hätte begangen werden können (Hauptgehülfe).“

Später begnügte man ſich, ſtatt eine Definition aufzuſtellen, den Richter

auf den wichtigen Unterſchied zwiſchen der weſentlichen und nicht we-

ſentlichen Beihülfe hinzuweiſen, und ihm für den einzelnen Fall die

Entſcheidung zu überlaſſen, ob die Eine oder die Andere anzunehmen

ſei. Für den Fall der nicht weſentlichen Beihülfe wurde dann eine

Strafermäßigung vorgeſchrieben. g) Darauf beruht die Faſſung des

revidirten Entwurfs von 1845.

§. 47. „Wenn die zu einem Verbrechen wiſſentlich geleiſtete

Hülfe nicht weſentlich zur Begehung deſſelben beigetragen hat,

ſo ſollen bei der Anwendung des Strafgeſetzes auf den Gehülfen

folgende Einſchränkungen eintreten“ u. ſ. w.

g) Reviſion von 1845. I. S. 151-56.

[159/0169]

§. 34. Begriff und Arten der Theilnahme.

In den weiteren Verhandlungen ſchlug aber der Miniſter für die

Geſetzes-Reviſion, v. Savigny, ſelbſt vor, dieſe Unterſcheidung im

Geſetzbuch fallen zu laſſen. „Im revidirten Entwurf, äußerte er, h) ſei

zwiſchen weſentlicher und nicht weſentlicher Hülfsleitung unterſchieden;

es ſei dieſe Diſtinktion angenommen, weil die Unterſcheidung des frühe-

ren Entwurfs zwiſchen Haupt- und Nebengehülfen zu vielfachem Tadel

Anlaß gegeben habe. Indeſſen laſſe ſich nicht läugnen, daß auch die

Grenze zwiſchen weſentlicher und nicht weſentlicher Hülfsleiſtung ſehr

ſchwankend ſei. Es beruhe doch zuletzt Alles in dem Arbitrium des

Richters. Man könne daher nicht behaupten, daß, wenn man von

dieſer Diſtinktion Abſtand nehme, dem Richter eine größere Willkühr

eingeräumt werde, als ihm ſchon in der gegenwärtigen Geſetzgebung

gegeben ſei.“

In dem Entwurfe von 1847. §. 44. begnügte man ſich daher mit

der Beſtimmung, daß eine Strafermäßigung eintreten könne, „wenn der

Richter in der beſonderen Beſchaffenheit der geleiſteten Hülfe Grund zu

einem ſolchen gelinderen Urtheile finde.“ — Die neueren Deutſchen Straf-

geſetzbücher, welche über die Theilnahme meiſtens ſehr ausführliche Vor-

ſchriften enthalten, haben die weſentliche Beihülfe doch nicht immer be-

ſonders ausgezeichnet; wo es geſchehen iſt, da trifft der Begriff im

Allgemeinen mit dem im Entwurf von 1843. §. 63. aufgeſtellten zu-

ſammen, wenn auch die Bezeichnung weſentliche Beihülfe, Hauptgehülfe

u. dgl. vermieden iſt. So im Württembergiſchen und Badiſchen Straf-

geſetzbuch. i)

Man darf daher annehmen, daß die Bedeutung der weſentlichen

Beihülfe an ſich nicht zweifelhaft iſt; es iſt diejenige Beihülfe, ohne

welche das Verbrechen oder Vergehen unter den vorhandenen Umſtänden

nicht hätte vollbracht werden können. Daß die Beihülfe durch Theil-

nahme an der Haupthandlung geleiſtet worden, wie das Badiſche Geſetz-

h) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion v. 1846. S. 35. 36.

i) Württemberg. Strafgeſetzb. Art. 75. „Wer, in der Abſicht, die von

dem Andern beſchloſſene That zu befördern, bei deren Vollbringung ſelbſt einen ſolchen

Beiſtand geleiſtet hat, ohne welchen das Verbrechen unter den vorhandenen

Umſtänden nicht hätte vollbracht werden können, iſt als Thäter (Mit-

urheber) zu beſtrafen.“ — Art. 85. „Hat der Gehülfe, außer dem Fall des Art. 75.,

bei Vollbringung der That ſelbſt Beiſtand geleiſtet, oder dem Thäter vor der Aus-

führung eine ſolche Hülfe gewährt, ohne welche das Verbrechen unter den

vorhandenen Umſtänden nicht hätte vollbracht werden können, ſo ſoll

derſelbe nach dem Maaßſtabe — des beendigten Verſuchs — beſtraft werden.“ —

Badiſch. Strafgeſetzb. §. 139. „Hat der Gehilfe durch Theilnahme an der

Haupthandlung bei Ausführung des Verbrechens wiſſentlich einen ſolchen Beiſtand

geleiſtet, ohne welchen der Andere das Verbrechen nicht hätte vollbrin-

gen können, ſo kann gegen ihn die volle Strafe des begangenen Verbrechens

erkannt werden.“

[160/0170]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

buch noch verlangt, erſcheint im Allgemeinen nicht begründet. Die Feſt-

ſtellung des Begriffs für den einzelnen Fall wird aber freilich oft

ſchwierig ſein. Denn ſo lange die Möglichkeit übrig bleibt, daß das

Verbrechen auch ohne die von dem Angeſchuldigten geleiſtete Beihülfe

hätte verübt werden können, ſei es, weil ſie überhaupt nicht nöthig

war oder auch durch eine andere Perſon hätte geleiſtet werden können, —

ſo lange wird keine weſentliche Beihülfe anzunehmen ſein.

§. 35.

Auf den Theilnehmer an einem Verbrechen oder Vergehen oder an einem

ſtrafbaren Verſuche eines Verbrechens oder Vergehens iſt daſſelbe Strafgeſetz

anzuwenden, welches auf den Thäter Anwendung findet. Wird feſtgeſtellt, daß

im Falle des §. 34. Nr. 2. die Theilnahme keine weſentliche war, ſo tritt

ſtatt der Todesſtrafe oder lebenslänglichen Zuchthausſtrafe zeitige Zuchthaus-

ſtrafe und, wenn außerdem feſtgeſtellt wird, daß mildernde Umſtände vorhanden

ſind, Gefängniß von zwei bis zu zehn Jahren ein.

In dem Entwurf von 1850. war dieſer Paragraph ſo gefaßt:

„Der Theilnehmer an einem Verbrechen oder Vergehen oder an

einem ſtrafbaren Verſuche eines Verbrechens oder Vergehens wird mit

derſelben geſetzlichen Strafe, wie der Thäter beſtraft.“

Die Motive rechtfertigen dieſe, dem Code pénal (art. 59.) entlehnte

Beſtimmung in folgender Weiſe. Nachdem bemerkt iſt, daß die herge-

brachten Unterſcheidungen unter den verſchiedenen Arten der Beihülfe

im §. 34. keine Berückſichtigung gefunden haben, heißt es weiter:

„Ein Bedürfniß zu einer ſolchen in der praktiſchen Ausführung

nur gefährlichen Diſtinktion iſt auch nicht durch die Nothwendigkeit einer

derartigen Unterſcheidung bei der Beſtrafung der Theilnahme begründet.

Denn wer einen Andern zur Begehung eines Verbrechens oder Ver-

gehens anſtiftet, wer ihm zu deſſen Ausführung Anleitung giebt, wer

ihm hiebei wiſſentlich Hülfe leiſtet, der hat eben ſo, wie der Thäter

ſelbſt, das Verbrechen gewollt, den rechtswidrigen Erfolg bezweckt, er

ſteht dem Thäter gleich und muß, wie dieſer, alle Folgen der Handlung

vertreten. Hieraus folgt von ſelbſt, daß der Theilnehmer an einem

Verbrechen oder Vergehen oder an einem ſtrafbaren Verſuche eines Ver-

brechens oder Vergehens ebenſo zu beſtrafen iſt, wie der Thäter ſelbſt.

Damit iſt aber nicht eine Gleichheit der Art gemeint, daß in dem kon-

kreten Fall jeden Gehülfen das nämliche Strafmaaß treffen müſſe, wie

den Thäter, vielmehr hat auch hier der Richter die Strafe für jeden

Betheiligten nach dem Grade ſeiner Schuld abzumeſſen und es iſt ihm

[161/0171]

§. 35. Strafe der Theilnehmer.

hierzu, inſoweit es ſich um relative Strafen handelt, durch die Straf-

beſtimmungen des Geſetzes freier Spielraum gewährt.“

Eine abſolute Gleichförmigkeit der Strafe war alſo nicht beabſich-

tigt, wie ſie auch in Frankreich nicht durchgeführt wird. Denn die

Vorſchrift: Les complices d'un crime ou d'un délit seront punis de

la même peine que les auteurs — wird dort ſo verſtanden, daß

nur die Strafart dieſelbe ſein müſſe; auch kommt nach dem Geſetze vom

28. April 1832. für die Theilnahme an einem Verbrechen oder Vergehen

der Einfluß der mildernden Umſtände in Betracht. k) — In der Kom-

miſſion der zweiten Kammer hielt man dafür, daß das über die Beſtrafung

des Verſuchs aufgeſtellte Princip auch auf die Beſtrafung der Theil-

nehmer Anwendung finden müſſe, und daß alſo nach den zu §. 32. ge-

faßten Beſchlüſſen auch die in der Regierungsvorlage enthaltene Vor-

ſchrift im Allgemeinen anzuerkennen ſei. Dagegen war man der Anſicht,

daß die auch in den Motiven ausgeſprochene Abſicht des Paragraphen:

die Beſtrafung der Theilnehmer nicht genau nach der Strafe des Thäters,

ſondern nur innerhalb des auf das Verbrechen oder Vergehen geſetzten

geſetzlichen Strafmaaßes zu beſtimmen, — deutlicher ausgedrückt werden

müſſe. Deswegen wurde die gegenwärtige Faſſung des Geſetzbuchs ge-

wählt: „auf den Theilnehmer — iſt daſſelbe Strafgeſetz anzuwenden,

welches auf den Thäter Anwendung findet.“

I. So wie der Richter bei der Abmeſſung der Strafe des Ver-

ſuchs innerhalb des geſetzlichen Strafmaaßes darauf Rückſicht nehmen

kann, daß das Verbrechen oder Vergehen noch nicht vollendet war, ſo

kann auch bei der Beſtrafung der Theilnehmer der Umſtand, daß jemand

nicht der eigentliche Thäter geweſen iſt, bei der Strafzumeſſung in An-

ſchlag gebracht werden. Doch wird dieß regelmäßig nur den Gehülfen

zu Statten kommen, denn die gleiche Verſchuldung des Anſtifters wie

des Thäters wird in der Deutſchen Jurisprudenz allgemein angenommen.

II. Wenn bei einem Verbrechen oder Vergehen auf das Vorhan-

denſein mildernder Umſtände Rückſicht genommen werden kann, ſo gilt

dieß auch zum Beſten der Theilnehmer. Denn eine ſolche Beſtimmung

iſt Theil des Strafgeſetzes, welches auf ſie zur Anwendung kommt. Eine

ausdrückliche Vorſchrift hierüber, wie ſie §. 32. a. E. für die Beſtrafung

des Verſuchs aufgeſtellt worden, ſchien daher hier nicht nöthig.

k) Chauveau et Hélie Faustin I. c. p. 177. — Das ältere Deutſche

Recht hat freilich verſchiedene Arten der Theilnahme auch hinſichtlich der Beſtrafung

unterſchieden, f. Wilda, das Strafrecht der Germanen, S. 609-637.; aber für

Eins der wichtigſten Verbrechen, nämlich den Diebſtahl, galt die Regel, daß der

Theilnehmer gleich dem Thäter beſtraft werden ſollte. Vgl. Cropp in den crimi-

naliſtiſchen Beiträgen, herausgegeben von Hudtwalder und Trummer, Band II.

Heft 2. S. 348-52.

Beſeler Kommentar. 11

[162/0172]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

III. Ein jeder ſoll nur die Strafe ſeiner Verſchuldung erleiden;

fremde Schuld wird niemandem angerechnet. Wenn daher durch be-

ſondere Eigenſchaften der betheiligten Perſonen oder durch beſondere

Umſtände, unter welchen die Handlung begangen worden, dieſelbe über-

haupt erſt ſtrafbar gemacht oder in ihrer Strafbarkeit erhöht wird; ſo

kommt es für jeden einzelnen Theilnehmer darauf an, in wiefern dieſe

beſonderen Gründe der Strafbarkeit oder der Straferhöhung bei ihm eine

Anwendung finden. Der qualificirte Dolus des Einen verändert den

einfachen Dolus des Andern nicht. Die Anwendung der in §. 44.

aufgeſtellten Grundſätze auf die Theilnehmer kann keinem Bedenken

unterliegen; es liegt hier derſelbe Grund der Anwendung vor, der z. B.

bei der Hehlerei (§. 137. 138.) im Geſetzbuch eine ausdrückliche An-

erkennung gefunden hat. Auf denjenigen alſo, welcher Hülfe leiſtet bei

einem Morde, ohne zu wiſſen, daß es Verwandtenmord iſt, kann nur

das Strafgeſetz zur Anwendung gebracht werden, welches, über den ein-

fachen Mord verfügt. I)

IV. Die Regel, daß auf den Theilnehmer nicht nothwendig die

Strafe des Thäters, ſondern nur das für den Thäter beſtimmte Straf-

geſetz zur Anwendung kommen ſoll, verliert ihre Bedeutung bei den ab-

ſoluten Strafen, nämlich der Todesſtrafe und dem lebenslänglichen

Zuchthaus. Um nun hier nach dem Vorgange des §. 32. eine Aus-

gleichung herzuſtellen, wurde es in der Kommiſſion der zweiten Kammer

für nöthig gehalten, die abſoluten Strafen im Fall der Theilnahme zu

ermäßigen. Bei näherer Erwägung aber fand ſich, daß man eine ſolche

Beſtimmung nicht wie bei dem Verſuch allgemein faſſen könne; für den

Anſtifter ſchien überhaupt kein Grund der größeren Milde zu beſtehen,

und in Beziehung auf die Beihülfe entſchloß man ſich, zu der Unter-

ſcheidung zwiſchen der weſentlichen und nicht weſentlichen Beihülfe zu-

rück zu greifen. Demnach ward folgender Zuſatz angenommen: m)

„Iſt die geleiſtete Beihülfe keine weſentliche geweſen, ſo iſt an-

ſtatt der Todesſtrafe und lebenswierigen Freiheitsſtrafe auf zeitige

Freiheitsſtrafe zu erkennen.“

Bei der in der Kommiſſion vorgenommenen Schlußredaktion machten

ſich aber gegen dieſe Faſſung mehrere Bedenken geltend. Abgeſehen näm-

lich von einer leicht zu erledigenden Formfrage (daß beſſer nicht von Bei-

I) Wenn §. 44. im Strafgeſetzbuch fehlte, könnte die Sache allerdings zweifelhaft

erſcheinen, obgleich man nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen doch zu demſelben Reſultate

kommen müßte. In Frankreich hat der Kaſſationshof in wörtlicher Auslegung des

Code pénal. Art. 59. die entgegengeſetzte Praxis begründet. S. hierüber Chauveau

et Hélie Faustin I. c. p. 176-79.

m) Protokolle der Kommiſſion der zweiten Kammer. Sitzung

v. 16. Jan. 1851.

[163/0173]

§. 35. Strafe der Theilnehmer.

hülfe, ſondern von Theilnahme im Falle des §. 34. Nr. 2. geſprochen

werde), wurde bemerkt, daß man hier im Begriff ſei, von dem im Geſetzbuch

durchgeführten Strafſyſteme in einem weſentlichen Punkte abzuweichen.

Nach der beſchloſſenen Aenderung nämlich werde es Sache des Richters ſein

zu entſcheiden, welche Freiheitsſtrafe ſtatt der abſoluten Strafe eintreten

ſolle: das Geſetzbuch aber halte in allen übrigen Fällen die Regel feſt,

daß die Umwandlung einer Freiheitsſtrafe in eine andere nur dann ſtatt

finde, wenn das Vorhandenſein mildernder Umſtände durch die Ge-

ſchworenen feſtgeſtellt worden, während bei den Vergehen eine ſolche

Strafverwandlung gar nicht vorkomme. Wolle man daher konſequent ver-

fahren, ſo müſſe, wenn die Geſchworenen feſtgeſtellt hätten, daß die Beihülfe

keine weſentliche war, zeitige Zuchthausſtrafe eintreten, und erſt, wenn weiter

feſtgeſtellt worden, daß noch beſondere mildernde Umſtände vorlägen, eine

andere Freiheitsſtrafe, etwa Gefängniß von zwei bis zu zehn Jahren.

Die Kommiſſion ging auf dieſe Ausführung ein, und in Folge

deſſen iſt der zweite Satz des §. 35.: Wird feſtgeſtellt u. ſ. w. in das

Geſetzbuch gekommen. n) In dem Bericht der Kommiſſion finden ſich in

Beziehung auf dieſe Beſtimmung zwei Irrthümer, vielleicht die einzigen,

in welche der umſichtige Berichterſtatter verfallen iſt. Nachdem nämlich

die Umänderung des erſten Satzes des Paragraphen in dem oben an-

gegebenen Sinn motivirt worden, heißt es:

„Sodann glaubt ſie (die Kommiſſion), daß der Theilnehmer, ſo-

fern er nicht Anſtifter iſt, niemals zur Todesſtrafe oder zu

lebenslänglicher Zuchthausſtrafe verurtheilt werden dürfe.“

Dieß iſt nicht richtig, weil nicht bloß für den Anſtifter, ſondern auch

bei der weſentlichen Beihülfe die Strafermäßigung ausgeſchloſſen iſt.

Und ferner:

„Endlich ſchlägt ſie noch vor, für den Fall, daß dem Theil-

nehmer mildernde Umſtände zu ſtatten kommen, ebenſo wie bei

dem Verſuche überhaupt eine der Art oder dem Maaße nach

mildere Strafe, als die dem Thäter angedrohte, zuzulaſſen.“

Allein bei dem Verſuch tritt nach §. 32. Abſ. 3. eine Strafermä-

ßigung wegen mildernder Umſtände nur dann ein, wenn dieſelben auch

bei dem vollendeten Verbrechen zu berückſichtigen ſind; und der erſte

Satz des §. 35. in ſeiner jetzigen Faſſung enthält, wie oben gezeigt

worden, denſelben Grundſatz für die Theilnahme. Auch iſt es, wie der

vorher erzählte Hergang der Verhandlungen ergiebt, nicht die Abſicht

der Kommiſſion geweſen, eine ſolche Berückſichtigung der mildernden

n) Ebendaſ. Sitzung vom 17. Febr. 1851. — Das Protokoll dieſer Sitzung

enthält übrigens nur den Beſchluß; die Motivirung deſſelben giebt der Verfaſſer nach

eigener Erinnerung der Verhandlungen.

11*

[164/0174]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

Umſtände, wie ſie am Schluß des Paragraphen hervorgehoben worden,

anders als bei der Herunterſetzung der abſoluten Strafen im Fall der

nicht weſentlichen Beihülfe gelten zu laſſen. Es würde das ja auch

die Folge haben, daß bei allen Vergehen, deren niedrigſtes Strafmaaß

geringer, als zweijähriges Gefängniß iſt, das Vorhandenſein mildernder

Umſtände gar nicht beachtet werden könnte, ja ſtreng genommen eine

Straferhöhung zur Folge haben müßte.

Auf der andern Seite iſt es nicht in Abrede zu ſtellen, daß die

Wortfaſſung des Paragraphen die Auslegung zuläßt, daß bei der nicht

weſentlichen Beihülfe, ohne Rückſicht auf die Strafgeſetze über die ein-

zelnen Verbrechen und Vergehen, mildernde Umſtände ſtets ſollen in

Betracht gezogen werden. Auch muß zugegeben werden, daß die Aus-

legung der Worte in dem Sinne, welchen die Kommiſſion der zweiten

Kammer damit verbunden hat, gleichfalls zu nicht geringen Uebelſtänden

führt. Es iſt nämlich inkonſequent, wenn nur bei den ſchwerſten Ver-

brechen die nicht weſentliche Theilnahme beſonders milde beſtraft werden

ſoll. Hier wird einmal die abſolute Strafe ermäßigt, und dann ſoll

die zeitige Zuchthausſtrafe wegen mildernder Umſtände wieder in Ge-

fängniß verwandelt werden können. Letzteres könnte doch auch für die

Fälle gelten, wo die geſetzliche Strafe nur zeitiges Zuchthaus iſt; und

warum ſoll im Fall der nicht weſentlichen Beihülfe nicht auch bei Ver-

gehen eine Berückſichtigung mildernder Umſtände eintreten? — Ein Bei-

ſpiel möge dieß deutlich machen. Der Landesverrath wird bald mit der

Todesſtrafe, bald mit zeitiger Zuchthausſtrafe bedroht. Fälle der erſteren

Art ſind §. 69., Fälle der zweiten Art §. 71. aufgeführt; auf mildernde

Umſtände wird weder das Eine noch das andere Mal Rückſicht genom-

men. Wer nun einem Landesverräther der ſchlimmſten Art, der mit

dem Tode beſtraft werden ſoll, eine nicht weſentliche Beihülfe leiſtet,

der kann wegen mildernder Umſtände zu einer zeitigen Gefängnißſtrafe

verurtheilt werden. Iſt aber die Beihülfe unter ganz gleichen Verhält-

niſſen einem minder ſtrafbaren Verbrecher derſelben Art geleiſtet worden,

ſo iſt die niedrigſte Strafe des Theilnehmers fünfjähriges Zuchthaus.

Aehnliche Fälle können vorkommen bei der Vergiftung (§. 197.), der

Brandſtiftung (§. 285.), der Ueberſchwemmung (§. 290. 291.).

Dieſen Gründen, welche gegen die Faſſung des Geſetzbuchs ſprechen,

laſſen ſich freilich andere für dieſelbe entgegenſtellen. Es kommen dabei

folgende Geſichtspunkte in Betracht. o)

o) Ich benutze bei dieſer Ausführung hauptſächlich eine briefliche Mittheilung,

welche ich hierüber von einem mit der Oekonomie des Strafgeſetzbuchs vorzugsweiſe

vertrauten Manne empfangen habe. Meine Bedenken ſind dadurch freilich nicht ganz

gehoben.

[165/0175]

§. 36. Oeffentliche Aufforderung.

Nach Wort und Abſicht beſchränkt ſich die Modifikation überhaupt

nur auf die ſchweren Verbrechen, welche mit dem Tode. oder lebens-

länglicher Zuchthausſtrafe bedroht ſind. Dieſe Beſchränkung hat die

ſyſtematiſche Konſequenz gegen ſich; allein ſie iſt aus praktiſchen Gründen

unabweislich. Wollte man jene Milderung bei allen Verbrechen und

Vergehen eintreten laſſen (natürlich noch unter weiterer Herabſetzung

des Minimums von zwei Jahren Gefängniß) oder auch nur bei allen

Verbrechen, ſo würde nicht nur das Geſetzbuch ſehr abgeſchwächt worden

ſein, wie in allen Geſetzgebungen, welche das Syſtem der mildernden

Umſtände allgemein aufgeſtellt haben, geſchehen iſt; ſondern es würden

auch die Gerichtsverhandlungen im hohen Grade verweitläufigt werden,

indem von den Defenſoren fortwährend Fragen wegen des Vorhanden-

ſeins mildernder Umſtände würden geſtellt worden ſein. Die Beſchrän-

kung auf die Kapitalverbrechen, analog mit §. 32., iſt alſo gerechtfertigt,

da ſich auch nur bei dieſen ſchweren abſoluten Strafen ein eigentliches

Bedürfniß ergiebt. — Vielleicht iſt aber die Kommiſſion in der Herab-

ſetzung bis auf zwei Jahr Gefängniß zu weit gegangen, weil die außer-

ordentlichen Fälle geringer Strafbarkeit, die man vor Augen gehabt hat,

nur im Begnadigungswege ihre Erledigung finden können. Indeſſen

läßt ſich doch für die Beſtimmung anführen, daß die Milderung nur

bei ſolchen Verbrechen der gedachten Kategorie, wenn auch nicht nach

den Worten, ſo doch nach der Abſicht des Geſetzgebers eintreten ſoll,

bei welchen, wie beim Todtſchlage, nach der Natur des Verbrechens

überhaupt mildernde Umſtände anzunehmen ſind; bei der vorſätzlichen

Brandſtiftung oder Ueberſchwemmung u. ſ. w. wird man, ohne dem Ge-

ſetze Gewalt anzuthun, ſie nicht annehmen können. — Gegen die frag-

liche Beſtimmung des §. 35. läßt ſich im Weſentlichen daſſelbe einwen-

den, was gegen §. 32. angeführt wird, nämlich daß die ſchwerſten Fälle

principiell inſofern am mildeſten behandelt ſind, daß bei ihnen aus-

ſchließlich die lareren Grundſätze des gemeinen Deutſchen Kriminalrechts

und des Allg. Landrechts beibehalten worden ſind. Allein für die Praxis

iſt dieſe Beſchränkung unentbehrlich und die Erfahrung wird, namentlich

bei dem weiten Spielraum, welcher dem richterlichen Ermeſſen bei den

relativen Strafen gegeben iſt, die Vorſchriften des Geſetzbuchs recht-

fertigen.

§.36.

Wer durch Reden an öffentlichen Orten oder bei öffentlichen Zuſammen-

künften, oder durch Schriften, Abbildungen oder andere Darſtellungen, welche

verkauft, vertheilt oder umhergetragen, oder öffentlich ausgeſtellt oder ange-

ſchlagen werden, zu einer Handlung auffordert, anreizt, verleitet oder zu be-

[166/0176]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergeh. im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

ſtimmen ſucht, welche ein Verbrechen oder Vergehen darſtellt, ſoll als Theil-

nehmer betrachtet und beſtraft werden, wenn die Aufforderung das Verbrechen

oder Vergehen, oder einen ſtrafbaren Verſuch zur Folge gehabt hat.

Iſt die Aufforderung ohne Erfolg geblieben, ſo tritt Gefängniß bis zu

Einem Jahre ein, ſofern nicht bei einzelnen Verbrechen etwas Anderes be-

ſtimmt iſt.

Es wird hier von einer beſonderen Art der Theilnahme, und zwar

der Anſtiftung, gehandelt, welche durch öffentliche Aufforderungen in

Reden und Schriften bethätigt wird, und wenn ſie auch nicht gerade

ein beſonderes Delikt bildet, p) doch in eigenthümlicher Weiſe normirt iſt.

I. Zu dem Begriff der Anſtiftung gehört auch in dieſem Fall,

daß zu einer beſtimmten Handlung, welche ſich als ein Verbrechen oder

Vergehen darſtellt, aufgefordert, angereizt u. ſ. w. wird. Es findet ſich

hier die Regel aufgeſtellt, von welcher eine beſondere Anwendung bei

dem Hochverrath gemacht worden iſt, und gerade an der Stelle, wo es

geſchehen, hat das Geſetzbuch eine ſehr beſtimmte und genaue Faſſung.

§. 65. heißt es: „Wer öffentlich durch Rede oder Schrift zur Ausfüh-

rung einer Handlung auffordert, welche nach §. 62. als ein hochver-

rätheriſches Unternehmen zu beſtrafen wäre, ſoll“ u. ſ. w. Die Hand-

lung, zu der aufgefordert worden, muß, wenn ſie vollzogen iſt, den

Thatbeſtand eines Verbrechens oder Vergehens enthalten, und auf den,

welcher nach §. 36. beſtraft werden ſoll, als auf den geiſtigen Urheber

zurückgeführt werden können. Den Gegenſatz hierzu bildet die allgemeine

Aufforderung zum Ungehorſam gegen Geſetz und Obrigkeit, ſo wie die

Anpreiſung verbotener Handlungen durch öffentliche Rechtfertigung (§. 87.),

wobei es auf die Anreizung zu einer beſtimmten Handlung nicht abge-

ſehen iſt.

II. Als die Mittel, deren ſich der Anſtifter bedient, ſind hier ſolche

bezeichnet, durch deren Anwendung auf das Publikum oder einen grö-

ßeren Theil deſſelben eingewirkt wird: Reden an öffentlichen Orten oder

bei öffentlichen Zuſammenkünften, ſo wie Schriften, Abbildungen oder

andere Darſtellungen. Daß auch Abbildungen und andere Darſtellungen

genannt ſind, erklärt ſich wohl nur aus der Quelle dieſer Vorſchrift,

der Preßverordnung von 1849., welche überhaupt den Erzeugniſſen der

Preſſe auch die der bildenden Kunſt gleichſtellte. Es wird ſich ſonſt

wohl nicht leicht ein Fall denken laſſen, daß der Thatbeſtand einer ſtraf-

baren Anſtiftung der angeführten Art durch eine bloße Abbildung her-

geſtellt werden kann.

p) Gegen dieſe in den Motiven von 1850. aufgeſtellte Anſicht ſ. Abegg, der

Entwurf des Strafgeſetzbuchs von 1850. S. 33. ff.

[167/0177]

§. 36. Oeffentliche Aufforderung.

Da es übrigens nach §. 34. Nr. 1. nicht darauf ankommen ſoll,

mit welchen Mitteln die Anſtiftung bewirkt iſt, ſo hat die Aufzählung

derſelben hier nur inſoweit eine Bedeutung, als es ſich um ſinguläre

Strafbeſtimmungen handelt, namentlich für den Fall, daß die Anſtiftung

ohne Erfolg geblieben iſt. Inſoweit aber ſind die Beſtimmungen des

Paragraphen reſtriktiv auszulegen, ſo daß eine analoge Ausdehnung

unzuläſſig iſt. Mündliche Aufforderungen, welche nicht durch Reden

an öffentlichen Orten oder bei öffentlichen Zuſammenkünften, ſondern in

Privatverſammlungen gemacht und erfolglos geblieben ſind, fallen daher

nicht unter die Vorſchrift des zweiten Abſatzes. Das werden nicht bloß

Vertheidiger geltend machen und Geſchworene anerkennen, wie Abegg

(a. a. O. S. 35. und 36.) meint, ſondern vor Allem die rechtsverſtän-

digen Richter. Wenn Abegg namentlich ſagt, geheime oder heimliche

Verſammlungen „zu ſolchen Zwecken“ ſeien unter allen Umſtänden ver-

boten und zu ahnden, ſo wird er das wenigſtens aus §. 36. des Straf-

geſetzbuchs nicht darthun können.

III. Daß zu den §. 34. Nr. 1. gebrauchten Bezeichnungen: an-

reizen, verleiten, beſtimmen — hier noch die „Aufforderung“ hinzuge-

kommen, iſt für den Fall, daß die Anſtiftung Erfolg gehabt hat, ohne

Bedeutung. Nur wenn der Erfolg ausgeblieben, iſt inſofern auf jenen

Ausdruck Gewicht zu legen, als die Thatſache der Aufforderung, wenn

ſie in der näher bezeichneten Weiſe geſchehen iſt, an ſich ſchon ſtrafbar

ſein ſoll.

IV. Liegt eine ſtrafbare Anſtiftung vor, ſo iſt daſſelbe Strafgeſetz

anzuwenden, welches auf den Thäter Anwendung findet. Das kann

aber nach dem oben entwickelten Princip nur dann geſchehen, wenn die An-

ſtiftung wenigſtens einen ſtrafbaren Verſuch zur Folge gehabt hat; blieb

ſie ganz erfolglos, ſo fehlt ein Merkmal der ſtrafbaren Theilnahme.

Der zweite Abſatz des Paragraphen enthält daher eine Ausnahme von

der geſetzlichen Regel, die aber auch in mehreren anderen Fällen gemacht

worden iſt. q) Was hier nur beſonders auffallend erſcheint, iſt der Um-

ſtand, daß die Strafe nur in Gefängniß beſtehen ſoll, ohne Rückſicht

auf die Vergehen, welche mit Geldbuße oder alternativ mit Geldbuße

oder Gefängniß bedroht ſind. Es kann alſo der Fall eintreten, daß die

erfolglos gebliebene Aufforderung härter beſtraft werden muß, als die-

jenige, welche einen Erfolg hatte. Die Verordnung vom 30. Juni 1849.

§. 13. 14. hatte hierauf Rückſicht genommen; daß das Strafgeſetzbuch

das Minimum der Gefängnißſtrafe weggelaſſen hat, kann dafür keinen

entſprechenden Erſatz gewähren.

q) S. oben den Kommentar zu §. 34. unter A. IV.

[168/0178]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

§. 37.

Wer nach Verübung eines Verbrechens oder Vergehens dem Thäter wiſ-

ſentlich Beiſtand leiſtet, um denſelben der Beſtrafung zu entziehen, oder ihm

die Vortheile des Verbrechens oder Vergehens zu ſichern, iſt als Begünſtiger

mit Geldbuße bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu Einem

Jahre zu beſtrafen.

Dieſe Strafe tritt nicht ein, wenn die Begünſtigung dem Thäter, um ihn

der Beſtrafung zu entziehen, von leiblichen Verwandten in auf- oder abſtei-

gender Linie, von Geſchwiſtern oder von dem Ehegatten gewährt worden iſt.

§. 38.

Der Begünſtiger ſoll gleich demjenigen, welcher Hülfe leiſtet, beſtraft wer-

den, wenn die Begünſtigung in Folge einer vor der That genommenen Abrede

gewährt worden iſt.

Dieſe Vorſchrift iſt auch dann anzuwenden, wenn der Begünſtiger zu den

Angehörigen des Thäters gehört.

Zu der Theilnahme an einem Verbrechen oder Vergehen im wei-

teren Sinne gehört auch der Fall, wenn nach der Verübung der ſtraf-

baren Handlung dem Thäter wiſſentlich Vorſchub geleiſtet wird. Das

Strafgeſetzbuch hat jedoch dieſe Art der Theilnahme in Uebereinſtimmung

mit den neueren Deutſchen Geſetzgebungen r) als ein ſelbſtändiges Delikt

ausgeſchieden, und die Begünſtigung unter beſondere Strafbeſtim-

mungen geſtellt.

Inſoweit dieſe Beſtimmungen allgemeiner Natur ſind, und auf alle

Verbrechen und Vergehen angewandt werden können, haben ſie hier ihre

Stelle gefunden. Dieſelben konnten hier aber kurz und einfach gefaßt

werden, da die wichtigſte Art der Begünſtigung, die Hehlerei, im fol-

genden Theil Tit. 20. ihre beſondere Behandlung gefunden hat, und

auch die Befreiung von Gefangenen, die wenigſtens nach einigen Rech-

ten, z. B. dem Engliſchen, nur als Art der Begünſtigung betrachtet

wird, von dem allgemeinen Vergehen ausgeſchieden worden iſt (§. 94. 95.).

Dazu kommt, daß der Begriff der Begünſtigung dadurch eine ſehr

weſentliche Beſchränkung erfahren hat, daß das Strafgeſetzbuch die

einfache Theilnahme an den Vortheilen eines Verbrechens mit keiner

Strafe bedroht. Das Allgemeine Landrecht hatte hierüber eine ſehr

harte Beſtimmung:

Th. II. Tit. 20. §. 83. „Hat Jemand an den Vortheilen eines

Verbrechens, nach deſſen Ausführung, wiſſentlich und freiwillig Theil

r) Württemb. Strafgeſetzb. Art. 89-92. — Hannov. Criminal-

geſetzb. Art. 74-76. — Heſſiſch. Strafgeſetzb. Art. 87-93. — Badiſch.

Strafgeſetzbuch. §. 142-45. — Thüringiſches Strafgeſetzb. Art. 36. 37.

[169/0179]

§. 37. 38. Begünſtigung.

genommen: ſo trifft ihn eine ſolche Ahndung, die der ordentlichen Strafe

desjenigen Verbrechens, von welchem er Nutzen gezogen hat, am nächſten

kommt.“ Vgl. ebendaſ. §. 1218.

Von Anfang an fühlte man bei der Reviſion das Bedürfniß, ſowohl

wegen der Härte als auch wegen der Unbeſtimmtheit der Strafvorſchrift

eine Aenderung eintreten zu laſſen; s) doch hielt man den Grundgedanken

des Landrechts feſt, und gelangte in dem Entwurf von 1843. zu fol-

gender Faſſung:

§. 72. „Wer Kenntniß von einem verübten Verbrechen hat, und

dennoch an den Vortheilen deſſelben Theil nimmt, oder, in Beziehung

auf das bereits vollendete Verbrechen, den Urheber oder deſſen Mit-

ſchuldige auf irgend eine Weiſe aus eignem Intereſſe begünſtigt, hat,

wenn nicht durch beſondere Vorſchriften eine härtere Strafe angeordnet

worden iſt, Geldbuße, Gefängnißſtrafe oder Strafarbeit bis zu fünf

Jahren verwirkt. Bei der Zumeſſung dieſer Strafe iſt auf die Größe

und Schwere des begangenen Verbrechens, ſoweit der Theilnehmer oder

Begünſtiger dieſelbe gekannt hat, Rückſicht zu nehmen.“

Die gegen dieſe Beſtimmung erhobenen Bedenken veranlaßten aber

bei der Reviſion des Jahres 1845. eine wiederholte Prüfung, welche

dahin führte, die einfache Theilnahme an den Vortheilen eines Verbre-

chens nicht mit Strafe zu bedrohen. Die Gründe dieſer Entſchließung

waren folgende: t)

„Die Beſtrafung der bloßen Theilnahme an den Vortheilen eines

verübten Verbrechens iſt in der That bisher ohne eigentliche Diskuſſion

auf die Autorität des Allgem. Landrechts (II. 20. §. 83. und 1218.)

gleichſam durch Tradition übernommen worden. Andere Geſetzbücher

haben eine ſolche Abſtraktion nicht in ſich aufgenommen, ſelbſt nicht der

ſonſt ſo ſtrenge Code pénal. (Er ſpricht nur vom

recéler, art. 62. ff.,

nicht vom Mitgenießen, und zwar ſogar beim Diebſtahl). Prüft man

näher, was hier eigentlich beſtraft werden ſoll, ſo iſt es lediglich eine

Unſittlichkeit, die ausnahmsweiſe einer Kriminalſtrafe unterworfen wird.

Das Mitgenießen der Vortheile, die ſich ein Dritter durch Verbrechen

verſchafft hat, iſt allerdings eine Sache der Unzartheit. Aber an Rechts-

gründen zur Beſtrafung fehlt es durchaus, und politiſche Gründe führen

auch nicht dahin. Diejenigen Fälle, in welchen hier eine wirkliche

Strafbarkeit anzunehmen iſt, werden immer den Begriff einer wahren

Begünſtigung, oder ſogar einer intellektuellen oder reellen Beihülfe in

ſich ſchließen, insbeſondere, wenn vorher eine Verabredung oder Anrei-

s) Motive zu dem erſten Entwurf. I. S. 136-40.

t) Reviſion von 1845. I. S. 164-68.

[170/0180]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

zung ſtatt gefunden hat. Ueberdieß ſind im Entwurf ſelbſt Ehegatten,

Aeltern und Kinder der Verbrecher, bei denen in der Wirklichkeit die

Theilnahme an den Vortheilen eines verübten Verbrechens hauptſächlich,

ja faſt ausſchließlich vorkommt, nicht von der Strafe ausgeſchloſſen,

obgleich gerade bei ihnen alle Veranlaſſung dazu vorhanden wäre. —

Aus dem revidirten Entwurf iſt deshalb die Rückſicht auf die Theil-

nahme an den Vortheilen eines Verbrechens ausgeſchieden.“

Die Staatsraths-Kommiſſion erklärte ſich mit dieſer Ausführung

einverſtanden,

u) und demgemäß wurde der Entwurf von 1847. §. 45.

bis 48. redigirt, deſſen Beſtimmungen das Strafgeſetzbuch im Weſent-

lichen beibehalten hat.

I. Die Strafe der Begünſtigung iſt Geldbuße bis zu zweihundert

Thalern oder Gefängniß bis zu Einem Jahre. Aus dieſer Beſtimmung

ſchon ergiebt ſich, daß hier ein, von den übrigen Arten der Theilnahme

verſchiedenes, ſelbſtändiges Vergehen vorliegt; denn wenn die Beſchaf-

fenheit des Verbrechens oder Vergehens, deſſen Thäter Vorſchub geleiſtet

worden, auch auf die Zumeſſung der Strafe von Einfluß ſein wird, ſo

ſteht dieſelbe doch nicht in einem beſtimmten Verhältniß zu der Strafe,

welche den Thäter trifft. v)

II. Eine Begünſtigung liegt vor, wenn dem Thäter wiſſentlich

Beiſtand geleiſtet wird,

a. um denſelben der Beſtrafung zu entziehen. In dieſer allge-

meinen Faſſung unterſcheidet ſich das Strafgeſetzbuch namentlich von

der entſprechenden Vorſchrift des Code pénal, der außer den Hehlern

nur diejenigen beſtraft, welche das verbrecheriſche Betragen der Uebel-

thäter kennen, und ihnen gewöhnlich Aufenthalt, einen Zufluchts- oder

Verſammlungsort gewähren. w)

Eine Begünſtigung der angeführten Art ſoll aber nicht beſtraft

werden, wenn ſie dem Thäter von leiblichen Verwandten in auf- und

abſteigender Linie, von Geſchwiſtern oder von dem Ehegatten gewährt

worden iſt (§. 37. Abſ. 2.). In dem Entwurf von 1850. war dieſe

u) Verhandlungen der Kommiſſion des Staatsraths von 1846.

S. 38.

v) Principiell verſchieden iſt daher die Auffaſſung im Sächſ. Criminal-

geſetzbuch, Art. 46. „Gegen diejenigen, welche ſich der Begünſtigung eines Ver-

brechens ſchuldig machen, iſt höchſtens auf ein Drittel der geſetzlichen Strafe, bei le-

benslänglicher Zuchthaus- oder Todesſtrafe höchſtens auf zehnjährige Zuchthausſtrafe

erſten Grades zu erkennen.“

w) Code pénal. Art. 61. Ceux qui connaissant la conduite crimi-

nelle des malfaiteurs exerçant des brigandages ou des violences contre la

sûreté de l'État, la paix publique, les personnes ou les propriétés, leur

fournissent habituellement logement, lieu de retraite ou de réunion, seront

punis comme leurs complices.

[171/0181]

§§. 37. 38. Begünſtigung.

Ausnahme noch allgemein für jede Begünſtigung gemacht worden; in

der Kommiſſion der zweiten Kammer hielt man ſie aber nur dann für

begründet, wenn die Sorge für den Thäter, um ihn nämlich der Strafe

zu entziehen, die Hülfsleiſtung veranlaßt hat. x) Bei den Verwandten,

welche genannt worden ſind, kommt es aber nicht darauf an, ob die

Verwandtſchaft eine eheliche oder uneheliche iſt, ſo wenig wie namentlich

bei den Geſchwiſtern, ob es vollbürtige oder halbbürtige ſind. Die

Bezeichnung iſt dem Wortverſtande nach ganz allgemein zu nehmen,

und erſtreckt ſich alſo auch auf Aſcendenten und Deſcendenten jeden

Grades. Für Stiefeltern und Schwiegereltern, ſo wie für Stiefkinder

und Schwiegerkinder gilt die Beſtimmung aber nicht, weil dieſe nicht

zu den leiblichen Verwandten gehören.

b. Wenn die Begünſtigung gewährt wird, um dem Thäter die

Vortheile des Verbrechens oder Vergehens zu ſichern.

III. Iſt die Begünſtigung in Folge einer vor der That genom-

menen Abrede gewährt worden, ſo ſoll nach §. 38. der Begünſtiger

gleich demjenigen, welcher Hülfe leiſtet, beſtraft werden. Es kommen

in einem ſolchen Fall alſo die allgemeinen Grundſätze über die Beſtra-

fung der Theilnahme an einem Verbrechen oder Vergehen, welche in

§. 35. aufgeſtellt ſind, zur Anwendung, und zwar unbedingt, auch auf

die Angehörigen des Thäters, welche ihn durch ihren Beiſtand der

Strafe zu entziehen ſuchen.

§. 39.

Wer von dem Vorhaben eines Hochverraths, eines Landesverraths, einer

Münzfälſchung, eines Mordes, eines Raubes, eines Menſchenraubes oder eines

das Leben von Menſchen gefährdenden gemeingefährlichen Verbrechens zu einer

Zeit, zu welcher die Verhütung dieſer Verbrechen möglich iſt, glaubhafte

Kenntniß erhält und es unterläßt, davon der Behörde oder der durch das

Verbrechen bedrohten Perſon zur rechten Zeit Anzeige zu machen, ſoll, wenn

das Verbrechen wirklich begangen oder zu begehen verſucht wird, mit Gefäng-

niß bis zu fünf Jahren beſtraft werden.

Das Allgemeine Landrecht Th. II. Tit. 26. §. 80-82. enthält

Vorſchriften über den Fall, wenn jemand von einem Verbrechen, durch

welches die Sicherheit des Staates, oder Leben, Geſundheit, Ehre oder

Vermögen eines Menſchen einer erheblichen Gefahr ausgeſetzt werden,

vor deſſen Ausführung Wiſſenſchaft erhält. Er ſoll dann der Obrigkeit

oder der bedrohten Perſon Anzeige machen, oder wenn er dieß nicht

x) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 35. (37.).

[172/0182]

Th. I. Beſtraf. d. Verbr. u. Vergehen im Allg. Tit. III. V. d. Theilnahme.

vermag, das Verbrechen zu hintertreiben ſuchen, ſoweit es ohne ſeine

eigene oder eines Dritten beträchtliche Gefahr geſchehen kann. Hat er

dieß unterlaſſen und iſt er einer zuverläſſigen Wiſſenſchaft des beab-

ſichtigten Verbrechens überführt worden, ſo iſt er zum Schadenerſatz

verpflichtet und ſoll außerdem nach Verhältniß ſeiner Bosheit oder Fahr-

läſſigkeit beſtraft werden.

Dieſe allerdings ſehr wenig beſtimmten Vorſchriften ſuchte man bei

der Reviſion ſchärfer zu faſſen und auf das richtige Maaß zurückzufüh-

ren, verwickelte ſich aber dabei in eine Kaſuiſtik, welche der angemeſſe-

nen Behandlung des Gegenſtandes entſchieden Abbruch that. Na-

mentlich ſtellte man für das Verhalten der Eltern und anderer Reſpekts-

perſonen beſondere Regeln auf, unterſchied zwiſchen Vorſatz und Fahr-

läſſigkeit, und nahm von der allgemeinen Verpflichtung zur Anzeige

wieder die näheren Verwandten und die Ehegatten aus. y)

Das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion faßte bei wiederholter

Prüfung dieſes Gegenſtandes die weitläuftigen Beſtimmungen der frü-

heren Entwürfe in wenigen einfachen Vorſchriften zuſammen, indem es

dabei dem Code pénal, der nur bei den eigentlichen Staatsverbrechen

eine Pflicht zur Anzeige kennt, und den neueren Deutſchen Geſetzgebun-

gen folgte. z) Die Verpflichtung, ſelbſtändig und mit eigener Kraft

einem beabſichtigten Verbrechen entgegenzutreten, wurde als eine dem

Gebiet der Sittlichkeit angehörende ganz bei Seite gelaſſen; die Pflicht

zur Anzeige nur auf gewiſſe ſchwere Verbrechen beſchränkt, und nur un-

ter ſolchen Vorausſetzungen geboten, unter denen die Erfüllung nach

Billigkeit verlangt werden kann. Die Strafe endlich ward, um dem

Richter die Berückſichtigung der ſehr verſchiedenartigen Verhältniſſe mög-

lich zu machen, ohne ein Minimum bis zu fünf Jahren Gefängniß oder

Strafarbeit feſtgeſetzt. a)

Die Staatsraths-Kommiſſion ſchloß ſich mit einer unerheblichen

Aenderung dieſen Vorſchlägen an, b) welche in den Entwurf von 1847.

§. 49. aufgenommen wurden und von da in das Strafgeſetzbuch über-

gegangen ſind.

y) Motive zum erſten Entwurf I. S. 132-36. — Entwurf von

1830. §. 64. 65. — Entwurf von 1836. §. 74. 75. — Entwurf von 1843.

§. 75. 76.

z) Code pénal. Art. 103-108. — Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 39.

— Württemb. Strafgeſetzbuch Art. 93. — Hannov. Criminalgeſetzb.

Art. 67. Nr. 4. 5. Art. 68. Nr. 4. — Braunſchweig. Criminalgeſetzbuch

§. 48. — Heſſiſch. Strafgeſetzbuch Art. 92. — Badiſch. Strafgeſetzb.

§. 146. 147. — Thüringiſch. Strafgeſetzbuch Art. 38-40.

a) Revidirter Entwurf von 1845. §. 56. — Reviſion von 1845. I.

S. 168-73.

b) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 39.

[173/0183]

§. 39. Unterlaſſene Anzeige.

I. Die Pflicht der Anzeige eines verbrecheriſchen Vorhabens be-

zieht ſich nur auf einzelne beſtimmte Verbrechen. Unter der Münzfäl-

ſchung iſt namentlich nur das Münzverbrechen verſtanden, nicht aber das

in §. 123. behandelte Münzvergehen. Ebenſo ſind von den, Th. II.

Tit. 27. aufgeführten gemeingefährlichen Verbrechen nur ſolche gemeint,

welche das Leben eines Menſchen gefährden, alſo die Brandſtiftung, die

Ueberſchwemmung und andere verwandte Verbrechen nur in ihren ſchwer-

ſten Erſcheinungen. Die Vorſchrift des Geſetzes wird daher z. B. auf

die §. 206. aufgeführten Fälle der Brandſtiftung nur ſelten Anwendung

finden, und auf gemeingefährliche Vergehen niemals.

II. Das verbrecheriſche Vorhaben muß demjenigen, welcher zur

Anzeige verpflichtet ſein ſoll, zu einer Zeit bekannt geworden ſein, wo

die Verhütung des Verbrechens noch möglich war. Er muß aber auch

„glaubhafte“ Kenntniß von dem Vorhaben haben. Anfangs hatte man

dafür nach dem Vorgange des Allg. Landrechts den Ausdruck: „zuver-

läſſige“ Kenntniß gewählt, zog aber jene Bezeichnung vor, weil ſie die

Sache weniger objektiv hinſtelle. Glaubhaft ſei, was nicht auf leeren

Gerüchten beruhe, ſondern von verſtändigen Menſchen geglaubt zu wer-

den pflege. c) Im Einzelnen kommt freilich Alles wieder auf die Beur-

theilung der Perſönlichkeiten und der Umſtände an.

III. Die Anzeige muß zur rechten Zeit geſchehen, was nur ſo zu

verſtehen iſt, daß in Folge der Anzeige das Verbrechen noch verhindert

werden kann. Iſt dieß demjenigen, der die glaubhafte Kenntniß von

dem Vorhaben erhalten hat, nicht mehr möglich geweſen, ſo iſt er ent-

ſchuldigt. Denn er iſt ja überhaupt nur zur Anzeige verpflichtet, wenn

die Verhütung des Verbrechens noch möglich iſt; um ſo mehr hat er

ſeine Schuldigkeit gethan, wenn er die Anzeige machte, es aber nicht

rechtzeitig thun konnte. — Auch kann derſelbe wählen, ob er die An-

zeige der Behörde oder der Perſon machen will, welche durch das Ver-

brechen bedroht iſt. Letzterer ſetz aber natürlich voraus, daß es ſich um

ein verbrecheriſches Vorhaben handelt, welches zunächſt gegen beſtimmte

Perſonen gerichtet iſt. Unter der Behörde, welche hier genannt iſt, kann

nur eine ſolche zu verſtehen ſein, deren Aufgabe die Verhütung und

Verfolgung der Verbrechen iſt, oder die wenigſtens die Verpflichtung

hat, den Einzelnen gegen verbrecheriſche Angriffe zu ſchützen. Es wird

daher bei der Polizeibehörde, der Staatsanwaltſchaft, unter Umſtänden

bei der Militairwache die Anzeige zu machen ſein.

IV. Die Strafe der unterlaſſenen Anzeige tritt jedenfalls nur dann

c) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion I. S. 87.

— Reviſion von 1845. I. S. 171.

[174/0184]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

ein, wenn das Verbrechen wirklich begangen oder zu begehen verſucht

wird. Mit der letzteren Bezeichnung kann nur der Fall des ſtrafbaren

Verſuchs gemeint ſein; ſo lange Verſuchshandlungen nicht unter dieſen

Begriff fallen, kommen ſie für den Thäter, und alſo auch für den

Theilnehmer, Begünſtiger und für den zur Anzeige Verpflichteten nicht

in Betracht.

Vierter Titel.

Von den Gründen, welche die Strafe ausſchließen oder

mildern.

§. 40.

Ein Verbrechen oder Vergehen iſt nicht vorhanden, wenn der Thäter zur

Zeit der That wahnſinnig oder blödſinnig, oder die freie Willensbeſtimmung

deſſelben durch Gewalt oder durch Drohungen ausgeſchloſſen war.

Die Ueberſchrift dieſes Titels ſcheint auf einen weiteren Inhalt

deſſelben hinzuweiſen, als er wirklich hat. Wenn namentlich zu den

Gründen, welche die Strafe ausſchließen, auch diejenigen gerechnet wer-

den ſollen, welche die Vollſtreckung der rechtskräftig erkannten Strafe

verhindern, ſo gehört auch die landesherrliche Begnadigung und, von

den Geldbußen abgeſehen, der Tod des Verbrechers hierher. Außerdem

aber wird die Strafe ausgeſchloſſen durch ein freiſprechendes richterliches

Erkenntniß, und wenn eine Verurtheilung ſtatt gefunden hat, durch die

Abbüßung der erkannten Strafe. In den älteren Entwürfen, nament-

lich in dem vom Jahre 1836. waren dieſe Thatſachen auch wirklich

neben anderen als Gründe, welche die Strafbarkeit aufheben, in einer

gewiſſen ſyſtematiſchen Vollſtändigkeit aufgeführt; d) man erkannte aber

ſpäter, daß es auf eine ſolche Aufzählung im Geſetzbuch nicht ankomme,

und beſchränkte ſchon in dem Entwurf von 1847. den Titel im Weſent-

lichen auf ſeinen gegenwärtigen Inhalt. e) — Hätte man dagegen über

die im Entwurf von 1850. vorkommenden mildernden Umſtände eine

allgemeine Beſtimmung für nöthig gehalten, ſo würde hier die rechte

Stelle dafür geweſen ſein. Da aber bei jedem einzelnen Verbrechen und

Vergehen, wo die mildernden Umſtände berückſichtigt werden können,

dieß ausdrücklich angeführt und für den Fall, daß ihr Vorhandenſein

d) Entwurf von 1836. §. 76-100. — Entwurf von 1843. §. 78-105.

e) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion I.

S. 109 ff. — Reviſion von 1845. I. S. 206. 226.

[175/0185]

§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.

feſtgeſtellt worden, die Wirkung derſelben genau angegeben wird, ſo hat

man eine allgemeine Normirung dieſes Gegenſtandes entbehren zu kön-

nen geglaubt.

Auch in ſeinem gegenwärtigen Umfange befaßt dieſer Titel indeſſen

noch immer eine Reihe geſetzlicher Beſtimmungen, die nur loſe mit ein-

ander verbunden ſind, und mehr ihrer Wirkung, als ihrer inneren Natur

nach zuſammen gehören. Auf die Ausſchließung der Zurechnungsfä-

higkeit wegen Geiſteskrankheit oder Zwang (§. 40.) folgt die Nothwehr

(§. 41.), dann die Einwirkung des jugendlichen Alters auf die Straf-

barkeit (§. 42. 43.). In dem §. 44. iſt eine Vorſchrift über den Irr-

thum in Thatſachen eingeſchoben; dann kommt die Verjährung (§. 45

-49.) und an dieſe ſchließen ſich allgemeine Beſtimmungen über den

Fall an, wenn bei Verbrechen und Vergehen, deren Beſtrafung nur auf

den Antrag einer Privatperſon erfolgen kann, dieſer Antrag rechtzeitig

nicht geſtellt oder wieder zurückgenommen wird (§. 50-54.). Gewöhnlich

wird der Grund der Strafloſigkeit in dieſem Fall als „Verzeihung“

bezeichnet; aber da die Wirkung des nicht geſtellten Antrags als die

Folge einer Friſtverſäumung erſcheint, ſo iſt dieſe der eigentliche Grund

der Strafausſchließung, und gewiſſermaßen eine beſondere Art der Ver-

jährung, der ſie wenigſtens ſehr nahe ſteht.

In den neueren Deutſchen Strafgeſetzbüchern findet ſich eine ähn-

liche Zuſammenſtellung der Materien, wie in dem vorſtehenden Titel,

wenn auch kleine Abweichungen vorkommen, z. B. hinſichtlich der Stel-

lung der Nothwehr im Braunſchweigiſchen und der Verjährung im

Württembergiſchen und Hannoverſchen Geſetzbuch. Auch das Franzö-

ſiſche Recht hat die Nothwehr bei der Tödtung und Körperverletzung

abgehandelt, und außerdem die Verjährung von dem materiellen Straf-

recht ganz ausgeſchloſſen, und in die Strafproceßordnung verwieſen.

In der Jurisprudenz iſt aber eine Unterſcheidung ausgebildet worden,

auf welche ein beſonderes Gewicht gelegt wird. Abgeſehen nämlich von

den mildernden Umſtänden im Allgemeinen, welche wegen ihrer zufäl-

ligen Stellung im Code pénal zu den im zweiten Buch behandelten

Gegenſtänden nicht gerechnet werden, hat man die geſetzlichen Entſchul-

digungsgründe (excuses légales) in die excuses im engeren Sinne

und in die Rechtfertigungsgründe (faits justificatifs) eingetheilt. Erſtere,

zu denen namentlich das jugendliche Alter gehört, ſollen die Strafe nur

mildern, letztere aber ſie ganz ausſchließen. f)

Wenn dieſer Eintheilung aber auch ein richtiger Gedanke zum

f) Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. I. chap.

XII. p. 186.

[176/0186]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

Grunde liegt, ſo iſt die Nachahmung derſelben, ſobald damit eine be-

ſtimmte techniſche Bedeutung verbunden ſein ſoll, doch nicht zu empfeh-

len. Wie wenig zutreffend ſie iſt, ergiebt ſich ſchon daraus, daß das

jugendliche Alter, je nachdem ein Unterſcheidungsvermögen angenommen

wird oder nicht, bald zu der Einen, bald zu der andern Kategorie zu

rechnen iſt; aber auch die Folgen dieſer Eintheilung für die Rechts-

anwendung ſind nicht unbedenklich, ſobald man ihr ein Gewicht beilegt,

welches über den beſtimmten Ausſpruch des Geſetzes hinaus wirkſam

ſein ſoll. Die Folgerungen aus dieſer Eintheilung führen zu der An-

nahme einer verminderten Zurechnungsfähigkeit, bei deren Anerkennung,

wie ſpäter gezeigt werden ſoll, mit großer Vorſicht zu verfahren iſt.

Die einzelnen Gegenſtände nun, welche in dieſem Titel abgehandelt

ſind, werden bei den einzelnen Paragraphen zur Erwägung kommen.

Zunächſt iſt bei §. 40. von der Unzurechnungsfähigkeit zu handeln.

Die Beantwortung der Frage, ob jemand eines Verbrechens oder

Vergehens ſich ſchuldig gemacht hat, hängt zunächſt davon ab, ob der

geſetzliche Thatbeſtand vollſtändig vorliegt, und namentlich ob die mit

Strafe bedrohte Handlung vorſätzlich oder beziehungsweiſe aus Fahr-

läſſigkeit verübt worden iſt. Bevor aber noch davon die Rede ſein kann,

ob die rechtswidrige Willensbeſtimmung, wie das Geſetz ſie bei der

Strafandrohung vorausſetzt, vorhanden geweſen iſt oder nicht, muß es

feſtſtehen, daß überhaupt eine freie Willensbeſtimmung von Seiten des

Thäters da war; denn wenn dieſe fehlt, wenn er nur eine unfreiwillige

Thätigkeit nach außen hin entwickelt hat, ſo liegt gar keine Handlung

im eigentlichen Sinne vor und alſo auch keine ſtrafbare Handlung. Die

Unfreiwilligkeit ſchließt jede Zurechnung aus. So gut nun das Geſetz-

buch ſich davon entbunden hat, über Vorſatz und Fahrläſſigkeit allge-

meine Regeln aufzuſtellen, ſo gut hätte es von der Unzurechnungsfä-

higkeit ſchweigen können, womit denn recht wohl vereinbar geweſen

wäre, daß über einzelne Gründe, welche die Strafe ausſchließen, z. B.

über die Zurechnungsloſigkeit wegen Nothwehr, über jugendliches Alter,

Verjährung, Beſtimmungen gegeben wurden, welche nur das poſitive

Recht zur Geltung bringen kann. Auf dieſe Art der Behandlung weiſt

auch die noch geltende Verordnung vom 3. Jan. 1849. (G.-S. S. 32.)

hin, indem ſie verfügt:

§. 103. „Wegen der Thatſachen, welche die Verhängung einer

Strafe ausſchließen oder die Anwendung einer milderen Strafe

nach ausdrücklicher geſetzlicher Vorſchrift begründen, iſt geeigneten

Falles eine beſondere Frage zu ſtellen.“

[177/0187]

§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.

„Die Frage über die Zurechnungsfähigkeit wird von

den Geſchworenen bei dem Ausſpruche über das Schul-

dig entſchieden.“

Wie der §. 40. jetzt gefaßt iſt, kann man wohl ſagen, daß er

eigentlich zu viel oder zu wenig enthält. Zuviel, wenn die Frage über

die Zurechnungsfähigkeit als ein Theil der Schuldfrage überhaupt dem

Ermeſſen des erkennenden Richters überwieſen werden ſoll; denn ſchon

die gebrauchten Bezeichnungen: „wahnſinnig oder blödſinnig“ können,

weil ſie techniſch ſind, zu Schwierigkeiten führen, denen der erkennende

Richter ohne ihre Anführung im Geſetzbuch enthoben wäre. Zu we-

nig, wenn es die Abſicht iſt, dieſem Ermeſſen eine beſtimmte geſetzliche

Schranke zu ſetzen oder demſelben doch einen ſicheren Anhalt für die

Entſcheidung zu geben. Denn daß, wie die Motive zum Entwurf von

1850. es anzudeuten ſcheinen, mit den im Paragraphen bezeichneten Fäl-

len die ganze Reihe der thatſächlichen Zuſtände abgeſchloſſen iſt, welche

die Unzurechnungsfähigkeit begründen; daß alſo der Betrunkene, der

Nachtwandler, der verwahrloſte Taubſtumme unter allen Umſtänden als

zurechnungsfähig anzuſehen iſt, — eine ſolche Auffaſſung wird in der

Deutſchen Jurisprudenz und vor den Deutſchen Gerichtshöfen keine Bil-

ligung finden.

Die Beſtimmungen dieſes Paragraphen ſind namentlich in der Kom-

miſſion der erſten Kammer einer gründlichen Erörterung unterzogen wor-

den. In dem Bericht heißt es darüber:

„Die in §. 40. gegebene Aufzählung der Fälle der Unzurechnungs-

fähigkeit wurde von mehreren Seiten als nicht ausreichend angefochten.

Man machte geltend, daß die Begriffe des Wahn- und Blödſinnes kei-

nesweges alle hierher gehörenden Seelenkrankheiten umfaßten, und daß

außer der Gewalt und der Drohung noch andere äußere Einwirkungen

denkbar ſeien, welche die Willensfreiheit ausſchlöſſen oder lähmten. Es

wurde daher eine allgemeinere Faſſung dieſer Geſetzesſtelle, etwa in der

Weiſe des §. 16. Tit. 20. Th. II. des A. L. R. gewünſcht und wur-

den zu dieſem Zweck folgende Verbeſſerungs-Vorſchläge gemacht:

1)Statt der Worte des Entwurfs: „wenn der Thäter zur Zeit der

That wahnſinnig oder blödſinnig oder die freie Willensbeſtim-

mung deſſelben durch Gewalt oder Drohung ausgeſchloſſen war“,

die Worte zu ſetzen:

wenn bei dem Thäter zur Zeit der That der freie Gebrauch

der Vernunft aufgehoben war;

2) ſtatt derſelben Worte des Entwurfs zu ſagen:

Beſeler Kommentar. 12

[178/0188]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

wenn zur Zeit der That die freie Willensbeſtimmung des

Thäters gänzlich ausgeſchloſſen war;

3) die Worte des Entwurfs: „durch Gewalt oder Drohung“ zu

ſtreichen.“

Betrachten wir einmal, ehe in der Mittheilung des Berichts fortge-

fahren wird, dieſe Anträge. Sie beziehen ſich auf die angeführte Stelle

des Allg. Landrechts, welche alſo lautet:

§. 16. „Wer frei zu handeln unvermögend iſt, bei dem findet

kein Verbrechen, alſo auch keine Strafe ſtatt.“

Das Unſichere und Mangelhafte dieſer Beſtimmung iſt bereits von dem

Verfaſſer des erſten Entwurfs des Strafgeſetzbuchs dargethan worden; g)

er ſchlug folgende Faſſung vor:

Entwurf von 1827. §. 111. „Nur demjenigen kann ein

Verbrechen zugerechnet und die Strafe deſſelben auferlegt werden,

der mit Willkühr zu handeln, und die Unrechtmäßigkeit

ſeiner Handlung einzuſehen dabei fähig war. h) “

In dem Entwurf von 1830. iſt dieſer Paragraph aber weggeblieben; er

kommt erſt in den Entwürfen von 1833. und 1836. wieder vor, und

zwar in der wenig gelungenen Faſſung:

§. 76. (73.) „Nur demjenigen kann eine Handlung als Verbre-

chen zugerechnet werden, welcher die Rechtswidrigkeit derſelben

einzuſehen und die Handlung zu unterlaſſen im Stande war.“

Der Entwurf von 1843. §. 78. machte daran nur eine unbedeutende

Aenderung; dagegen lautet die Beſtimmung im Entwurf von 1847.:

§. 50. „Eine an ſich ſtrafbare Handlung kann denjenigen Per-

ſonen nicht zugerechnet werden, in welchen durch jugendliches Al-

ter oder durch einen beſonderen Geiſteszuſtand der freie Gebrauch

der Vernunft ausgeſchloſſen war.“

§. 54. „Eine im Geſetz mit Strafe bedrohte Handlung kann

demjenigen nicht zugerechnet werden, deſſen freie Willensbeſtim-

mung durch Gewaltthätigkeiten oder Drohungen ausgeſchloſſen

war.“

g) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 147.

h) Vgl. Badiſches Strafgeſetzbuch §. 71. „Die Zurechnung iſt ausge-

ſchloſſen durch jeden Zuſtand, in welchem das Bewußtſein der Strafbarkeit der

Handlung oder die Willkühr des Handelnden fehlt.“ — Das Badiſche Strafgeſetz-

buch iſt übrigens unter den neueren Geſetzgebungen das Einzige, welches über den

Mangel an Zurechnungsfähigkeit ein allgemeines Princip aufſtellt; die anderen geben

nur einzelne Regeln. Auch das Hannov. Criminalgeſetzbuch hat freilich eine

allgemeine Beſtimmung: Art. 82. „Eine geſetzwidrige Handlung oder Unterlaſſung,

welche der Perſon weder aus dem Grunde eines rechtswidrigen Vorſatzes noch einer

mit Strafe bedrohten Fahrläſſigkeit zugerechnet werden kann, iſt ſtraflos.“ Allein ſo

vereinzelt hingeſtellt, hat dieſer Satz keine rechte Bedeutung.

[179/0189]

§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.

Gegen dieſe Formulirung des §. 50. ließ ſich nun freilich Manches ſa-

gen, wie auch in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß geſchehen iſt. i)

Jedenfalls ging der Paragraph nicht in den Entwurf von 1850. über,

und auch in der Kommiſſion der erſten Kammer wurden die, in derſel-

ben Richtung eingebrachten Abänderungsvorſchläge nicht günſtig auf-

genommen. Der Bericht fährt nämlich alſo fort:

„Der dieſen Vorſchlägen zum Grunde liegenden Kritik des Ent-

wurfs wurde jedoch von anderer Seite entgegengetreten. Auf wiſſen-

ſchaftliche Vollſtändigkeit bei Aufzählung der möglichen Seelenkrankhei-

ten könne und dürfe das Geſetz nicht Anſpruch machen. Seine prak-

tiſche Zweckmäßigkeit müſſe nach dem Strafverfahren beurtheilt werden,

und der gegenwärtige Entwurf ſetze ein Verfahren voraus, bei welchem

der erkennende Richter nicht durch poſitive Beweisregeln geleitet und

beſchränkt, ſondern verpflichtet und durch das mündliche Verfahren befä-

higt ſei, die Schuld des Thäters, mithin auch den Vorſatz, den Willen

und alſo auch die Willensfreiheit zu prüfen, und ihn nur dann zu ver-

urtheilen, wenn er dieſe nothwendigen Bedingungen der Strafbarkeit

begründet finde. Er werde daher, ohne daß es dazu einer geſetzlichen

Vorſchrift bedürfe, in den geeigneten Fällen durch Anhörung von Sach-

verſtändigen die pſychiſche Medizin zu Rathe ziehen, und die Gründe,

welche die freie Selbſtbeſtimmung des Thäters beeinträchtigten, berück-

ſichtigen. Die vorliegende Geſetzesſtelle bezwecke daher auch nicht, dem

erkennenden Richter Verhaltungsregeln zu geben, ſondern vielmehr

die Fälle zu bezeichnen, wo es ſeiner Beurtheilung nicht bedürfe, wo

vielmehr die Richtexiſtenz eines Verbrechens oder Vergehens ſo klar vor-

liege, daß die Verfolgung entweder gar nicht einzuleiten oder vor der

mündlichen Verhandlung einzuſtellen ſei. Daß eine ſolche Ausſchließung

der gründlicheren, dem erkennenden Richter möglichen Prüfung nur in

den Fällen augenſcheinlicher und unzweifelhafter Unfreiheit erfolgen dürfe,

liege in dem Zwecke der Strafjuſtiz, und ſei daher die oben gerügte, an-

ſcheinende Unvollſtändigkeit des Geſetzes keinesweges vorhanden, daſſelbe

vielmehr dem praktiſchen Bedürfniſſe ſehr wohl entſprechend.“

Mit dieſer feinen Ausführung ſtimmt auch die Auslegung, welche

der Code pénal, art. 64., die Quelle des §. 40., in der Franzöſiſchen

Praxis gefunden hat, inſofern überein, als angenommen wird, daß, wenn

der Wahnſinn des Thäters feſtgeſtellt worden iſt, von einem weiteren

Verfahren nicht mehr die Rede ſein kann. Im Uebrigen faßt man die

Beſtimmungen des Art. 64. doch nicht bloß als Norm für die Raths-

i) Verhandlungen II. S. 378 ff.

12 *

[180/0190]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

kammer und die Anklagekammer auf. k) Jedenfalls ſteht ſo viel feſt,

daß, wenn auch nur aus den, §. 40. aufgeführten Gründen eine an ſich

ſtrafbare Handlung den Charakter eines Verbrechens oder Vergehens

nothwendig und unbedingt verliert, dadurch die Berückſichtigung anderer

Gründe, welche die Zurechnungsfähigkeit unter Umſtänden aufheben, nicht

ausgeſchloſſen iſt. In dieſem Sinne kann man dem Bericht der Kom-

miſſion der erſten Kammer unbedenklich beipflichten.

I. Die Frage, wer als wahnſinnig oder blödſinnig zu betrachten

iſt, bewegt ſich auf dem Gebiete der Thatſachen, und läßt ſich nicht

durch eine Begriffsbeſtimmung beantworten, ſondern nur nach den Re-

geln der Kunſt und nach der Erfahrung. Der Richter hat ſich hier

alſo, ſoweit es zur Feſtſtellung ſeines Urtheils erforderlich iſt, des Ra-

thes der Sachverſtändigen zu bedienen. Der Definiton des Allg. Land-

rechts kann für die Strafrechtspflege keine Bedeutung mehr beigelegt

werden. l) — Daß die Frage, ob die freie Willensbeſtimmung des Thä-

ters durch Gewalt oder durch Drohungen ausgeſchloſſen war, eine rein

thatſächliche iſt, verſteht ſich von ſelbſt. Die erregte Furcht namentlich

muß hinreichend begründet geweſen ſein, um, wie das Engliſche Recht

verlangt, einen Menſchen von ſtandhaftem Gemüth (of firm mind —

der constans vir der Römer) zu beſtimmen.

II. Die Günde, welche nach §. 40. die Zurechnungsfähigkeit aus-

ſchließen, müſſen vorhanden geweſen ſein zur Zeit der That. Wenn

dieß einerſeits zu einer Beſchränkung ihrer Geltung führt, und z. B. der

Beweis, daß der Thäter früher wahnſinnig geweſen, nicht nothwendig

zu der Annahme führt, daß er es auch zur Zeit der That geweſen; ſo

iſt doch andrerſeits in dieſer Vorſchrift eine Veranlaſſung geboten, bei

der Berückſichtigung des Wahnſinns auch diejenige Form deſſelben in

Anſchlag zu bringen, welche nicht ununterbrochen und allgemein den

Kranken erfaßt. Es ſoll mit dieſer Bemerkung nicht die Anſicht derer

vertheidigt werden, welche geneigt ſind, den verbrecheriſchen Willen als

eine Art Geiſteskrankheit aufzufaſſen, und von unwiderſtehlichen Trieben

k) Chauveau l. c. p. 216. 217. — Das Engliſche Recht, welches Blödſinnige

(idiots) und Wahnſinnige (insanes) unterſcheidet, läßt zwar die Frage: ob compos

(sc. mentis) oder nicht? von der Jury entſcheiden; Perſonen aber, von denen es

feſt ſteht, daß ſie geiſteskrank ſind, werden nicht vor Gericht geſtellt, ſondern höchſtens

bis zu weiterer Verfügung des Königs (till His Majesty's pleasure be known)

in Verwahrſam genommen. S. H. J. Stephen, Handbuch des Engliſchen Straf-

rechts. Deutſch von Mühry. S. 8-10.

l) A. L. R. Th. I. Tit. 1. §. 27. „Raſende und Wahnſinnige heißen diejenigen,

welche des Gebrauchs ihrer Vernunft gänzlich beraubt ſind. §. 28. Menſchen, welchen

das Vermögen, die Folgen ihrer Handlungen zu überlegen, ermangelt, werden blöd-

ſinnig genannt.“ Vgl. Caſper, der Entwurf des Strafgeſetzbuchs vom ärztlichen

Standpunkte erläutert. Berlin 1843. S. 10. 14 ff.

[181/0191]

§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.

ſprechen, da doch gerade die Beherrſchung der Triebe der Vorzug des ver-

nünftigen Weſens iſt. Aber der Widerſpruch gegen die Uebertreibung darf

nicht zur Einſeitigkeit führen; auch der partielle Wahnſinn kann einer

Handlung den Charakter des Verbrechens oder Vergehens nehmen. m)

III. In den früheren Entwürfen waren außer den Geiſteskrank-

heiten und dem Zwange noch andere Gründe aufgeführt, welche unter

gewiſſen Umſtänden die Zurechnungsfähigkeit ausſchließen ſollten, und

auch die anderen Deutſchen Strafgeſetzbücher haben ähnliche Beſtim-

mungen. Unter dieſer Kategorie werden namentlich aufgeführt:

a. Die Taubſtummen, deren Unterſcheidungsvermögen nicht

ausgebildet worden iſt. n)

b. Perſonen, welche ſich zur Zeit der That im Zuſtande völliger

Bewußtloſigkeit befunden haben; o) wobei denn noch, namentlich

mit Beziehung auf die Trunkenheit, die beſondere Beſtimmung hinzuge-

fügt wird, daß die abſichtliche Verſetzung in einen ſolchen Zuſtand, um

ein Verbrechen zu begehen, daſſelbe zu einem vorſätzlichen mache, wenn

es in dem Zuſtande wirklich begangen worden, daß aber auch die fahr-

läſſige Verſetzung in denſelben ſtrafbar werden könne. p)

c. Wenn jemand im Nothſtande, um ſein eigenes Leben oder

das einer anderen Perſon aus einer gegenwärtigen dringenden Gefahr

m) Chauveau l. c. p. 207-10. Hier wird auch ein Urtheil des Pariſer

Caſſationshofs angeführt, welcher einen Angeſchuldigten, der in einem Anfall der

Epilepſie einen Todtſchlag begangen hatte, frei ſprach.

n) Entwurf von 1843. §. 79. Nr. 2. — Sächſ. Criminalgeſetzb.

Art. 67. — Braunſchweigſch. Criminalgeſetzb. §. 30. — Hannov. Cri-

minalgeſetzb. Art. 83. — Heſſiſches Strafgeſetzb. Art. 37. — Badiſches

Strafgeſetzb. Art. 77. — Thüringſch. Strafgeſetzb. Art. 62.

o) Entwurf von 1843. §. 79. Nr. 4.

p) Ebendaſ. §. 80. 81. Vgl. Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 67. — Würt-

temb. Strafgeſetzb. Art. 97. — Braunſchweigſch. Criminalgeſetzb. §. 30.

— Hannov. Kriminalgeſetzb. Art. 84. — Heſſiſches Strafgeſetzb. Art. 38.

— Badiſches Strafgeſetzb. §. 76. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 62. —

Das Mangelhafte ſolcher Beſtimmungen über die abſichtliche Verſetzung in den Zuſtand

der Trunkenheit hat v. Savigny in dem vereinigten ſtänd. Ausſchuß treffend entwickelt,

ſ. Verhandlungen II. S. 378. „Wenn man annimmt, daß Jemand ein Verbrechen

beabſichtigt und ſich durch Trunk in einen völlig bewußtloſen unzurechnungsfähigen

Zuſtand verſetzt, um dann ein Verbrechen zu begehen, ſo iſt dies offenbar ein Wider-

ſpruch. Hat er völlig das Bewußtſein verloren, iſt er völlig unzurechnungsfähig, ſo

kann er auch nicht mehr die früher beabſichtigte Handlung in Folge des früheren

Entſchluſſes vollziehen, welches vorausgeſetzt werden müßte. Iſt er aber nicht in

dieſem Zuſtand völliger Bewußtloſigkeit, ſondern nur im Zuſtande der Aufregung, ſo

wird er der Zurechnung nicht entgehen, und dann iſt keine beſondere Ausnahme noth-

wendig, dann wird er vom Richter beſtraft.“ — Der Entwurf von 1847. enthielt

übrigens über den Zuſtand der Bewußtloſigkeit als Grund der Unzurechnungsfähigkeit

ſchon deswegen keine Beſtimmung, weil die allgemeine Faſſung des §. 50. es unnöthig

machte. — Nach Engliſchem Recht ſind Perſonen, welche ſich freiwillig betrunken haben,

für alle in dieſem Zuſtande begangenen Verbrechen verantwortlich. Jedoch entſchuldigt

Wahnſinn, auch wenn er durch Trunkſucht verurſacht iſt.

[182/0192]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

zu retten, eine an ſich ſtrafbare Handlung begeht. q) Dieſe Beſtimmung,

welche die allgemeine Anwendung eines früher nur bei Entwendungen

anerkannten Rechtsſatzes enthält, ward ſpäter auf die Fälle der Ver-

letzung fremden Eigenthums beſchränkt, weil man fand, daß das Princip,

allgemein anerkannt, zu weit führe, und in den ſeltenen Fällen, wo es

mit Fug noch weiter zur Anwendung gebracht werden könnte, z. B. beim

Schiffbruch, auf dem Wege der Begnadigung geltend gemacht werden

müſſe. r) Andere Geſetzgebungen haben zum Theil wieder andere Be-

ſchränkungen, z. B. daß das eigene Leben oder das naher Angehöriger

bedroht ſein muß. s)

d. Wenn eine Handlung auf Befehl einer vorgeſetzten Dienſt-

behörde begangen worden iſt. Das Allg. Landrecht beſtimmt:

Th. I. Tit. 6. §. 47. „Wer vermöge ſeines Standes oder Amtes

die Befehle ſeiner Vorgeſetzten ohne Einſchränkung zu befolgen ver-

pflichtet iſt, von dem kann nicht gefordert werden, daß er einen in

Dienſtgeſchäften ihm geſchehenen Auftrag ſeiner Obern prüfe.“

Damit läßt ſich eine andere Vorſchrift nicht wohl vereinigen, welche

lautet:

A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 69. „Wegen dieſes Verhältniſſes

des Thäters gegen ſeinen Obern (einen Vorgeſetzten oder eine Reſpekts-

perſon) kann die Strafe des Erſteren zwar gemindert, aber nicht erlaſſen

werden.“

Bei der Reviſion ſuchte man eine angemeſſene Faſſung, t) und ge-

langte in dem Entwurf von 1843. zu folgenden Beſtimmungen:

§. 92. „Die Strafbarkeit des Verbrechens wird dadurch nicht auf-

gehoben, daß es in Folge eines Befehls begangen iſt. — Wenn jedoch

ein öffentlicher Beamter dem ihm untergebenen Beamten eine Handlung

befohlen hat, welche zu befehlen er an ſich befugt war, ſo iſt der Un-

tergebene dafür nicht verantwortlich, wenn auch die Handlung unter den

obwaltenden Umſtänden eine Ueberſchreitung der Amtsbefugniſſe enthält.“ u)

§. 115. „Die Strafe kann nach Befinden der Umſtände bis auf

das in §. 55. beſtimmte Maaß (es iſt die Strafe des Verſuchs gemeint)

q) Entwurf von 1843. §. 91.

r) Entwurf von 1847. §. 59. — Reviſion von 1845. I. S. 203. 204.

s) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 72. — Württemb. Strafgeſetzb.

Art. 106. — Braunſchw. Criminalgeſetzb. §. 34. — Hannov. Criminal-

geſetzb. Art. 84. — Heſſiſches Strafgeſetzb. Art. 45. — Badiſches Straf-

geſetzb. §. 81. 83. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 65.

t) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 160-162. — Berathungs-

Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. I. S. 107-109.

u) Vgl. Code pénal. Art. 114. 115. 190. — Hannov. Criminalge-

ſetzb. Art 85. — Heſſiſches Strafgeſetzb. Art. 40.

[183/0193]

§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.

gemildert werden, wenn der Verbrecher bei der That auf Befehl oder

im Auftrag einer Perſon gehandelt hat, welcher er im Allgemeinen

Gehorſam oder beſondere Ehrerbietung ſchuldig war.“

Gegen dieſe Beſtimmungen wurde ſpäter von Seiten des Miniſte-

riums für die Geſetz-Reviſion bemerkt:

„Die eigentliche Dispoſition des §. 92. liegt in dem zweiten Ab-

ſatz deſſelben. Dieſer greift aber in Verhältniſſe hinüber, die das Straf-

geſetzbuch nicht zu ordnen hat. Wie weit die Amtsbefugniſſe gehen,

läßt ſich nur nach ſtaatsrechtlichen Grundſätzen entſcheiden. Im Straf-

geſetzbuch iſt aber zu einer ſolchen Beſtimmung um ſo weniger ein prak-

tiſches Bedürfniß vorhanden, als dieſelbe ſich hier nur im Kreiſe bewegt.

Denn zu welchem Befehle der Vorgeſetzte „an ſich“ befugt war, das iſt

ja ganz eigentlich die zweifelhafte Frage, die in jedem einzelnen Fall

„nach den obwaltenden Umſtänden“ zu entſcheiden bleibt. Der zweite

Abſatz des §. 92. bezieht ſich nämlich offenbar nur auf Amtsverbrechen,

nicht auf gemeine Verbrechen. — — Es verſteht ſich Alles, was an

dem §. 92. richtig und wahr iſt, eben ſo ſehr von ſelbſt, wie die Straf-

loſigkeit des hinrichtenden Scharfrichters. — Erſcheint hiernach der §. 92.

in ſich entbehrlich, ſo iſt auch gegen den §. 115. einzuwenden, daß Ge-

horſam und Ehrerbietung nicht weiter gehen dürfen, als das Recht dar-

auf, und daß die Rückſicht auf den Einfluß einer imponirenden Auto-

rität, auf deren Geheiß Jemand ein Verbrechen begangen hat, zunächſt

nur bei der Strafzumeſſung wirkſam ſein kann.“ v)

Aus dieſen Gründen wurde die Fortlaſſung der beiden angeführten

Paragraphen beſchloſſen. w) Eine von der eben gegebenen Erörterung

unabhängige Frage bleibt es natürlich, ob ein Vorgeſetzter zu der §. 40.

des Strafgeſetzbuchs erwähnten Ausſchließung der freien Willensbeſtim-

mung durch Zwang oder Drohungen die Veranlaſſung gegeben hat.

IV. Gleich bei der erſten Reviſion des Strafrechts wurde der

Grundſatz aufgeſtellt, daß es keine verminderte Zurechnungsfähigkeit,

keine Grade der Zurechnung giebt.

„Die Frage, ob jemand in Bezug auf eine beſtimmte Handlung

oder überhaupt zurechnungsfähig ſei, ob ihm ſein Thun und Laſſen auf

die Rechnung geſetzt werden könne? iſt ſtets präjudiciell, und geſtattet

nur eine beſtimmte, entweder bejahende oder verneinende Antwort. Ein

Mittelding iſt nicht denkbar; wer nicht unfrei iſt, der iſt frei, mag dieſe

Freiheit auch noch ſo ſehr vermindert ſein; die Zurechnung kann daher

durchaus keine Grade haben.“

x)

v) Reviſion von 1845. I. S. 204. 205.

w) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 147.

x) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 144. — Ob die Vorſchrift des

[184/0194]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

Dieſe Anſicht wurde auch feſtgehalten bis zur Reviſion von 1845.,

welche mit Berufung auf die Doktrin des gemeinen Deutſchen Kriminal-

rechts und auf andere Deutſche Geſetzgebungen in der verminderten Zu-

rechnungsfähigkeit einen Milderungsgrund aufſtellte, und eine beſtimmte

Strafermäßigung vorſchrieb, „wenn bei einer an ſich ſtrafbaren Hand-

lung durch einen beſonderen Geiſteszuſtand des Thäters der freie Ver-

nunftgebrauch zwar nicht völlig aufgehoben, wohl aber weſentlich ver-

mindert war.“ Es wurde für eine ſolche Neuerung beſonders geltend

gemacht, daß die Exiſtenz von Mittelſtufen zwiſchen dem ganz aufge-

hobenen und dem völlig vorhandenen Bewußtſein nicht hinweg zu leugnen

ſei, und daß auch Gründe der Kriminalpolitik eine ſolche Vorſchrift

rathſam machen, indem aus dem Mangel derſelben unvermeidlich viele

unrichtige Freiſprechungen hervorgehen würden, weil die unbedingte An-

wendung des Strafgeſetzes zu hart erſcheine. y)

Gegen dieſen Vorſchlag wurde aber bei der Verhandlung über den

revidirten Entwurf von 1845. mehrfacher Widerſpruch erhoben. Der

Richter habe die ſchwere Pflicht, ſich die Frage vorzulegen, ob der An-

geſchuldigte zurechnungsfähig ſei oder nicht. Hiervon dispenſire der

§. 61. den Richter auf indirekte Weiſe, indem er ihm die Möglichkeit

gewähre, zweifelhafte Fälle unter die mildere Strafe dieſes Paragraphen

zu ſubſumiren. In der Anwendung führe dies auf der einen Seite zu

ſehr milden Entſcheidungen, auf der andern Seite aber zu großen Härten,

da der Richter überhaupt nicht ſchon auf Strafe erkennen dürfe, wenn

er ſich ſagen müſſe, daß es nach dem Geiſteszuſtande des Angeſchuldigten

überhaupt ſehr bedenklich ſei, eine Strafe auszuſprechen. Die Frage

könne immer nur die ſein, ob überhaupt Zurechnungsfähigkeit vorhanden

ſei. Müſſe dieſe Frage bejaht werden, dann müſſe auch die geſetzliche

Strafe eintreten. Wo das richterliche Ermeſſen bei den abſoluten Strafen

für die Fälle geringer Verſchuldung zu ſehr beengt ſei, da ſei wie in ſo

vielen Fällen die Ausgleichung auf dem Wege der Gnade zu ſuchen.

Der §. 61. führe dahin, daß der Richter in allen Fällen, wo der An-

x)

y) Revidirter Entwurf von 1845. §. 61. — Reviſion von 1845. I.

S. 187-92. Vgl. Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 64. — Württemb. Straf-

geſetzb. Art. 98. — Braunſchw. Criminalgeſetzb. §. 60. — Heſſiſches

Strafgeſetzb. Art. 114. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 58. 59. — Ba-

diſches Strafgeſetzb. §. 152-54. Ihrem Umfange und ihrer Motivirung nach

ſind die Beſtimmungen dieſer Geſetzbücher freilich ſehr verſchieden; nicht völlig aus-

gebildeter Blödſinn und entſchuldbarer Affekt werden beſonders berückſichtigt.

x) Allg. Landrechts Th. II. Tit. 20. §. 18. „Alles, was das Vermögen eines Men-

ſchen, mit Freiheit und Ueberlegung zu handeln, mehrt oder mindert, das mehrt oder

mindert auch den Grad der Strafbarkeit “, — als Milderungs- oder bloßer Zumeſſungs-

grund gelten ſollte, läßt ſich nicht mit Beſtimmtheit entſcheiden. Vgl. Motive

a. a. O. S. 193.

[185/0195]

§. 41. Die Nothwehr.

geſchuldigte im Affekt gehandelt habe, die Strafe in ungemeſſener Weiſe

ermäßigen könne. Endlich ſei zu erwähnen, daß in der Rheinprovinz

mit Rückſicht auf die dort eintretende Mitwirkung der Geſchworenen die

Beſtimmung ganz unausführbar ſei. z)

Dieſe Gründe ſiegten in der Staatsraths-Kommiſſion, und die vor-

geſchlagene Beſtimmung wurde aus dem Geſetzentwurf wieder entfernt, ſo

daß gegenwärtig nur im Fall der mildernden Umſtände und bei der

Tödtung und der Körperverletzung namentlich wegen Anreizung zur

That eine Ermäßigung der geſetzlichen Strafe eintritt (§. 177. 196.) —

Ueber das jugendliche Alter ſ. unten §. 42. 43.

§. 41.

Ein Verbrechen oder Vergehen iſt nicht vorhanden, wenn die That durch

die Nothwehr geboten war. Nothwehr iſt diejenige Vertheidigung, welche

erforderlich iſt, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von ſich ſelbſt

oder Anderen abzuwenden. Der Nothwehr iſt gleich zu achten, wenn der

Thäter nur aus Beſtürzung, Furcht oder Schrecken über die Grenzen der

Vertheidigung hinausgegangen iſt.

In der Doktrin des gemeinen Deutſchen Kriminalrechts iſt die Lehre

von der Nothwehr der Sitz vieler Streitfragen geworden, während die

poſitiven Quellen durchaus vernünftige Beſtimmungen darüber enthalten.

Die Juriſten trugen Bedenken, den einfachen Satz des Römiſchen Rechts:

adversus periculum naturalis ratio permittit se defendere, a) nach

ſeinem natürlichen Sinn zur Geltung zu bringen, und auch die ſehr

genau und umſichtig ausgearbeiteten Vorſchriften der Peinlichen Gerichts-

ordnung Karl V., die ſich ausdrücklich als ein abſolut gültiges Recht

ankündigen, b) vermochten nicht ſie von der Aufſtellung willkührlicher Be-

ſchränkungen zurückzuhalten. Man ſieht es der gemeinrechtlichen Doktrin

an, daß ſie in einer Zeit der überwiegenden Polizeilichkeit ihre Aus-

bildung erhalten hat. Erſt in neuerer Zeit iſt man zu einer unbefan-

genen, quellenmäßigen Behandlung der Lehre gelangt. c)

Auch das Allgemeine Landrecht, welches die Nothwehr ganz un-

geeigneter Weiſe bei den Privatverbrechen abhandelt, d) iſt von den

Einwirkungen der zur Zeit der Abfaſſung geltenden Theorie nicht frei

z) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 42-44.

a) L. 4. pr. D. ad legem Aquil.

b) P. G. O. Art. 139-145. 150.

c) Vgl. im Allgemeinen Heffter, Lehrbuch des gemeinen Deutſchen Kriminal-

rechts §. 41-45., und über die Kontroverſen Wächter, Lehrbuch I. §. 50.

d) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 517-24.

[186/0196]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

geblieben. Schon bei der erſten Reviſion waren die Referenten der

Juſtizkollegien, welche ſich über dieſe Materie geäußert hatten, faſt alle

einſtimmig der Meinung, daß dieſer Abſchnitt unſerer Geſetzgebung einer

ſorgfältigen Durchſicht bedürfe, und daß namentlich das Recht der Noth-

wehr bedeutend erweitert werden müſſe. e) Dieſen Geſichtspunkt haben

denn auch ſämmtliche Entwürfe und zwar die ſpäteren mit erhöhter

Konſequenz feſtgehalten, indem namentlich die Beſchränkungen beſeitigt

wurden, welche in den Vorſchriften des Landrechts enthalten ſind, daß

die Nothwehr nur wegen drohender Gefahr einer unrechtmäßigen Be-

ſchädigung zuläſſig, daß ſie nur gegen eigenmächtige Gewalt und auch

gegen dieſe nur alsdann geſtattet ſei, wenn die obrigkeitliche Hülfe die

Beleidigung weder abwenden, noch den vorigen Zuſtand wieder herſtellen

könne. Auch das Maaß der erlaubten Nothwehr wurde gerechter be-

ſtimmt, als es das Landrecht ohne die gehörige Rückſicht auf die natür-

liche Aufregung des Angegriffenen gethan hatte. Zugleich brachte man

aber mit Beziehung auf die allgemeinen Vorſchriften, welche das Land-

recht über das Verbot der Selbſthülfe aufſtellt, f) dieſe letztere in den

Kreis der Beſtimmungen über die Nothwehr, und gefährdete durch dieſe

Vermiſchung die Beſtimmtheit der Begriffe. In dem Entwurf von 1847.

finden ſich folgende Beſtimmungen über dieſen Gegenſtand:

§. 55. „Eine im Geſetze mit Strafe bedrohte Handlung, welche zur

Abwendung eines rechtswidrigen Angriffs gegen die Perſon oder gegen

das Vermögen, es ſei von dem Angegriffenen ſelbſt, oder zu deſſen

Vertheidigung von einem Andern begangen wird, ſoll, ſoweit ſie für

den Zweck der Vertheidigung erforderlich war, als eine in rechter Noth-

wehr begangene Handlung erachtet und nicht als ein Verbrechen ange-

ſehen werden.“

„Daſſelbe gilt von ſolchen Handlungen, welche vorgenommen

werden, um denjenigen zu vertreiben, welcher in eines Anderen Beſitz-

thum mit Gewalt eindringt, oder darin wider den Willen des Beſitzers

verbleibt.“

§. 56. „Wer in rechter Nothwehr aus Beſtürzung, Schreck oder

Furcht das Maaß erlaubter Vertheidigung überſchreitet, dem iſt dieſe

Ueberſchreitung nicht zuzurechnen.“

§. 57. „Wer in Nothwehr einen Menſchen tödtet oder erheblich

verwundet, iſt, bei Vermeidung einer Geldbuße bis zu zweihundert

e) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 162.

f) A. L. R. Einleitung §. 78. „Die Selbſthülfe kann nur in dem Falle

entſchuldigt werden, wenn die Hülfe des Staats zur Abwendung eines unwiederbring-

lichen Schadens zu ſpät kommen würde.“ Th. I. Tit. 7. §. 142. „Er (der Beſitzer

oder Inhaber) iſt berechtigt, Gewalt mit Gewalt abzuwehren, wenn die Hülfe des

Staats zu ſpät kommen würde, einen unerſetzlichen Verluſt abzuwenden.“

[187/0197]

§. 41. Die Nothwehr.

Thalern, oder einer Gefängnißſtrafe bis zu drei Monaten, verpflichtet,

den Vorfall ungeſäumt der Obrigkeit anzuzeigen.“

§. 58. „Gegen den, welcher Sachen gewaltſam oder heimlich an

ſich gebracht hat, iſt der Verletzte befugt, ſowohl auf friſcher That als

auch dann, wenn die Hülfe der Obrigkeit wahrſcheinlich zu ſpät kom-

men würde, Gewalt anzuwenden, ſoweit ſolche erforderlich iſt, um dem-

ſelben die Sachen wieder abzunehmen. Ebenſo iſt es erlaubt, Gewalt

anzuwenden, um einen entfliehenden Verbrecher feſtzunehmen. Jedoch

werden lebensgefährliche Verletzungen durch dieſe Zwecke nicht ſtraflos.“

Dieſe Beſtimmungen wurden von dem vereinigten ſtändiſchen Aus-

ſchuß gebilligt; auch ſtimmen ſie mit dem Inhalte des §. 41. des

Strafgeſetzbuchs, welcher dem Entwurf von 1850. unverändert entnom-

men iſt, im Weſentlichen überein. Nur der zweite Abſatz des §. 55.

und §. 58. ſind weggelaſſen worden, weil das Strafgeſetzbuch von dem

Grundſatze ausgeht, daß die Selbſthülfe, wenn ſie nicht in ein be-

ſtimmtes Verbrechen oder Vergehen übergeht, und nicht die Form der

Gewalt, der Beſchädigung fremden Eigenthums, der Verletzung des

Hausrechts, oder eines anderen Delikts annimmt, ſeine ſtrafrechtlichen,

ſondern nur civilrechtliche Folgen hat, und weil bei der Nothwehr nicht der

rechte Ort zu ſein ſchien, die Grenzen der erlaubten Selbſthülfe zu beſtim-

men. Es wird ſpäter an geeigneter Stelle hierüber gehandelt werden. g)

Von dem Code pénal, deſſen Faſſung bei der Begriffsbeſtimmung

der Nothwehr übrigens benutzt worden iſt, h) unterſcheidet ſich das Straf-

geſetzbuch bei der Behandlung dieſes Gegenſtandes namentlich dadurch,

daß es ihn im erſten Theil unter den allgemeinen Rechtsgrundſätzen

abhandelt, und nicht bloß als eine Rechtfertigung von Tödtung, Ver-

wundungen und Schlägen oder Stößen. Auch kann ja in der That

die Nothwehr noch in anderer Weiſe ausgeübt werden, z. B. durch

Einſperren oder Feſſeln.

I. Die Nothwehr iſt nach der Beſtimmung des Geſetzbuchs nicht

als Entſchuldigungsgrund wegen einer ſtrafbaren Handlung anzuſehen,

ſondern ſie ſchließt das Vorhandenſein eines Verbrechens oder Vergehens

aus, und ſtellt ſich alſo als eine an ſich rechtmäßige Handlung dar.

Dieſe Unterſcheidung iſt nicht ohne Bedeutung für die Beurtheilung des

g) Vgl. Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Th. II.

Tit. 6. a. E. — Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 41.

h) Code pénal. Art. 328. Il n'y a ni crime ni délit, lorsque l'ho-

micide, les blessures et les coups étaient commandés par la necessité

actuelle de la légitime defense de soi-même ou d'autrui. — Eine andere Be-

ſtimmung des Code hat man nicht für nöthig gehalten zu wiederholen. Art. 327.

Il n'y a ni crime ni délit, lorsque l'homicide, les blessures es les coups

étaient ordonnés par la loi et commandés par l'autorité légitime.

[188/0198]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

bei der Nothwehr beobachteten Maaßes; für das gerichtliche Verfahren

iſt ſie in der Regel von geringerer Wichtigkeit, da beſonders auch mit

Rückſicht auf den ſtattgefundenen Angriff, ein Urtheil des erkennenden

Gerichts in dieſem Fall nicht leicht entbehrlich ſein wird.

II. Der Angriff, durch welchen die Nothwehr hervorgerufen wird,

muß ein gegenwärtigerund rechtswidriger ſein. Letzteres iſt

namentlich auch von Bedeutung in Beziehung auf die amtlichen Hand-

lungen öffentlicher Behörden, welche gegen Jemandes Perſon oder Ver-

mögen gerichtet ſind; über die Beſtrafung des Widerſtandes gegen ſolche

Handlungen verfügt §. 89. Was aber die Vorausſetzung der rechten

Nothwehr betrifft, daß der Angriff ein gegenwärtiger geweſen ſein muß,

ſo iſt dieß nicht gerade ſo zu verſtehen, daß ſchon eine Verletzung ſtatt-

gefunden hat (die laesio inchoata der älteren Kriminaliſten), ſondern

es genügt die begründete Ueberzeugung des Bedrohten, daß ohne die

Nothwehr die Verletzung nicht ausbleiben wird. Ohne gewiſſe, wenig-

ſtens vorbereitende Angriffshandlungen, z. B. das Anſchlagen des Ge-

wehrs, das Zücken des Dolchs, wird aber die Furcht vor dem Angriff

in der Regel nicht die Abwehr im Umfange der vollen Nothwehr recht-

fertigen. Doch laſſen ſich auch Fälle denken, wo nur das Zuvorkommen

die Vertheidigung möglich macht. i)

III. Zweck der Nothwehr iſt, „einen Angriff von ſich ſelbſt oder

Anderen abzuwenden.“ Dieſe Ausdrücke enthalten keine Beſchränkung

in Beziehung auf das bedrohte Recht, — ob daſſelbe unerſetzlich iſt

oder nicht, ob es die Perſon oder das Vermögen betrifft. Angriffe

gegen Freiheit, Keuſchheit und Ehre ſind hier ſo gut gemeint, wie die

gegen das Leben oder die Geſundheit gerichteten; k) und auch das Ver-

mögen darf man bis aufs Aeußerſte vertheidigen. In dieſem letzten

Punkt ſtimmen alle neueren Deutſchen Strafgeſetzbücher überein; l) auch

hat ſchon das Landrecht (II. 20. §. 525-32.) die Nothwehr auf die

i) P. G. O. Art. 140. Item ſo eyner jemant mit eynem tödtlichen waffen

oder weer überlaufft, anſicht oder ſchlecht, und der benöttigt kan füglich on ferlichkeit

oder verletzung ſeins leibs, lebens, ehr und guten leumunts nicht entweichen, der mag

ſein leib und leben on alle ſtraff durch eyn rechte gegenweer retten. Und ſo er alſo

den benötiger entleibt, er iſt darumb nichts ſchuldig, iſt auch mit ſeiner gegenweer,

biß er geſchlagen wirdt zu warten nit ſchuldig, unangeſehen ob es geſchriben rechten

unnd gewonheiten entgegen wer.

k) Reviſion von 1845. I. S. 199.

l) P. G. O. Art. 150. Item ſo eyner zur rettung eynes andern leib, leben

oder gut jemandt erſchlecht. — Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 70. 71. —

Württemb. Strafgeſetzb. Art. 102-5. — Braunſchw. Criminalgeſetzb.

§. 166-68. — Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 78-81. — Heſſ. Straf-

geſetzb. Art. 46-53. — Badiſches Strafgeſetzbuch. §. 84-92. — Thü-

ringſch. Strafgeſetzbuch. Art. 66. 67. — Vgl. Bericht der Kommiſſion

der zweiten Kammer zu §. 41.

[189/0199]

§§. 42. 43. Das jugendliche Alter.

Vertheidigung des Hausrechts bezogen. — Daß aber die Nothwehr

auch bei der einem Anderen geleiſteten Hülfe anerkannt worden, iſt

nur eine Rückkehr zu einem ſchon in der Karolina ausgeſprochenen geſun-

den Rechtsgrundſatze.

IV. Die Nothwehr darf nicht den Charakter der Rache annehmen;

ſie ſoll ſich auf die Vertheidigung und Abwehr beſchränken. Aber da

ſie, unter den allgemeinen geſetzlichen Vorausſetzungen, nicht bloß zu

entſchuldigen, ſondern an und für ſich rechtmäßig iſt, ſo kann eine

Ueberſchreitung der Vertheidigung, wenn keine böſe Abſicht dabei vorlag

und die etwaige Fahrläſſigkeit durch Beſtürzung, Furcht oder Schrecken

entſchuldigt iſt, dem Thäter nicht angerechnet werden. In dieſem Sinn

muß das ſ. g. moderamen deculpatae tutelae nach der Faſſung des

letzten Satzes in §. 41. verſtanden werden. Namentlich kommt es nicht

darauf an, ob möglicherweiſe die Abwehr auch durch die Behörden hätte

erfolgen, ob man durch Flucht der Gefahr hätte entgehen können. So

wie aber der Angegriffene ſelbſt zum Angreifer wird und Handlungen

begeht, welche nicht bloß ein Uebermaaß in der Vertheidigung darſtellen,

ſondern einen außerhalb derſelben liegenden Zweck verfolgen, ſo wird,

wenn ſie an ſich ſtrafbar ſind, auch die Strafe nicht ausbleiben dür-

fen. m) Dabei iſt zu bemerken, daß das Geſetzbuch auch in dieſem Fall

nur die volle Strafe oder Strafloſigkeit ſetzt, eine Strafermäßigung we-

gen Exceß in der Nothwehr aber nicht kennt.

V. Die rein polizeiliche Vorſchrift im Entwurf von 1847. §. 57.

konnte wohl um ſo eher aus dem Strafgeſetzbuch weggelaſſen werden,

da die Anzeige einer Tödtung oder erheblichen Verwundung des An-

greifers durch den, welcher ſich in der Nothwehr befand, ſchon in deſſen

eigenem Intereſſe liegt.

§. 42.

Wenn ein Angeſchuldigter noch nicht das ſechszehnte Lebensjahr vollendet

hat, und feſtgeſtellt wird, daß er ohne Unterſcheidungsvermögen gehandelt hat,

ſo ſoll er freigeſprochen, und in dem Urtheile beſtimmt werden, ob er ſeiner

Familie überwieſen oder in eine Beſſerungsanſtalt gebracht werden ſoll.

In der Beſſerungsanſtalt iſt derſelbe ſo lange zu behalten, als die der

Strafanſtalt vorgeſetzte Verwaltungsbehörde ſolches für erforderlich erachtet,

jedoch nicht über das zurückgelegte zwanzigſte Lebensjahr hinaus.

m) Ein Dieb wird verſcheucht und entflicht; der Beſtohlene, um ihn zu fangen

oder um das Gut wieder zu bekommen, was er mitnimmt, oder aus Rache, ſchießt

hinter ihm drein und tödtet ihn.

[190/0200]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

§. 43.

Wird feſtgeſtellt, daß ein Angeſchuldigter, welcher noch nicht das ſechszehnte

Lebensjahr vollendet hat, ein Verbrechen oder Vergehen mit Unterſcheidungs-

vermögen begangen hat, ſo kommen in Bezug auf denſelben folgende Beſtim-

mungen zur Anwendung:

1) auf Todesſtrafe und Zuchthaus, auf Verluſt der bürgerlichen Ehre und

zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte, inglei-

chen auf Stellung unter Polizei-Aufſicht ſoll nicht erkannt, und an

Stelle der Zuchthausſtrafe Gefängnißſtrafe ausgeſprochen werden;

2) iſt das Verbrechen mit der Todesſtrafe oder mit lebenslänglichem Zucht-

haus bedroht, ſo wird auf Gefängniß von drei bis zu funfzehn Jahren

erkannt;

3) in den übrigen Fällen ſoll der Richter ermächtigt ſein, unter das nie-

drigſte Maaß der geſetzlichen Strafe herabzugehen; die Hälfte des

höchſten geſetzlichen Strafmaaßes darf niemals überſchritten werden;

4) die Gefängnißſtrafe ſoll entweder in ausſchließlich für jugendliche Per-

ſonen beſtimmten Gefangenanſtalten, oder zwar in der ordentlichen Ge-

fangenanſtalt, jedoch in abgeſonderten Räumen vollſtreckt werden.

Eine Berückſichtigung des jugendlichen Alters bei der Beſtrafung

von Verbrechen oder Vergehen kann in dreifacher Weiſe ſtatt finden.

Entweder es wird überhaupt nur als geſetzlicher Milderungsgrund be-

trachtet, oder es ſchließt die Zurechnungsfähigkeit ganz aus, oder es

hängt vom Richter ab, ob er die eine oder die andere Wirkung eintreten

laſſen will.

Das erſte Princip iſt in der Peinlichen Gerichtsordnung Karl V.

durchgeführt, n) und auch das Allgemeine Landrecht hat daſſelbe noch

bewahrt, indem es beſtimmt:

Th. II. Tit. 20. §. 17. „Unmündige und ſchwachſinnige Per-

ſonen können zwar, zur Verhütung fernerer Vergehungen, gezüchtigt,

niemals aber nach der Strenge der Geſetze beſtraft werden.“

Dabei iſt zu bemerken, daß nach Th. I. Tit. 1. §. 25. unter Un-

mündigen diejenigen Perſonen zu verſtehen ſind, welche das vierzehnte

Jahr noch nicht zurückgelegt haben.

Als ein Grund, die Zurechnungsfähigkeit auszuſchließen, wird das

jugendliche Alter in den neueren Deutſchen Strafgeſetzbüchern behandelt.

Bis zum vollendeten zehnten oder zwölften Jahre ſollen Kinder über-

haupt nicht beſtraft werden, und nur die Ergreifung von Maaßregeln

der beſſeren Zucht und Aufſicht iſt zuläſſig. o) Doch begnügen ſich die

n) P. G. O. Art. 164. 179.

o) Sächſ.Criminalgeſetzb. Art. 66. — Württemberg. Strafgeſetzb.

Art. 95. — Braunſchweig. Criminalgeſetzb. Art. 30. — Hannov. Cri-

minalgeſetzb. Art. 83. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 37. — Badiſch. Straf-

geſetzb. Art. 78. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 61.

[191/0201]

§§. 42. 43. Das jugendliche Alter.

Geſetzgebungen nicht damit, dieſe Regel aufzuſtellen; ſie nehmen vielmehr

noch einen weiteren Termin an, der gewöhnlich bis zum vollendeten

ſechszehnten oder achtzehnten Lebensjahr geſetzt iſt, und bis zu deſſen

Eintritt das jugendliche Alter als Milderungsgrund betrachtet wird,

entweder unbedingt oder mit der Maaßgabe, daß einerſeits der Richter

auch noch in dieſem Fall die Unzurechnungsfähigkeit annehmen, ande-

rerſeits aber nach der Regel: die Bosheit erfüllt das Alter, — auf die

volle Strafe erkennen kann. p) Eine ähnliche Auffaſſung iſt im Eng-

liſchen Recht durchgeführt. q)

Das Franzöſiſche Recht, welches das Dritte der oben bezeichneten

Syſteme vertritt, hat nur Eine Zeitbeſtimmung, für welche das jugend-

liche Alter entſchuldigt; ſie geht bis zum vollendeten ſechszehnten Le-

bensjahre. Die Wirkung dieſes Entſchuldigungsgrundes iſt aber ver-

ſchieden: iſt feſtgeſtellt worden, daß der Angeſchuldigte ohne Unter-

ſcheidungsvermögen (sans discernement) gehandelt hat, ſo tritt volle

Strafloſigkeit ein, und er kann nur bis zum vollendeten zwanzigſten

Lebensjahre in eine Beſſerungsanſtalt gebracht werden. Iſt aber feſtgeſtellt

worden, daß er mit Unterſcheidungsvermögen gehandelt hat, ſo findet

eine Verurtheilung ſtatt, und es tritt nur ſtatt der entehrenden Strafen

der Verbrechen eine Strafverwandlung ein. r) Dabei iſt jedoch zu be-

p) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 62. — Württemb. Strafgeſetzb.

Art. 96. — Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 99. 100. — Thüring. Straf-

geſetzb. Art. 58. — Das Braunſchweigiſche Criminalgeſetzbuch §. 60.

dehnt den Termin ſogar bis zum vollendeten einundzwanzigſten Lebensjahre aus, und

das Badiſche §. 79. 80. unterſcheidet drei Stufen bis zum vollendeten zwölften,

ſechszehnten und achtzehnten Lebensjahre.

q) Minderjährige (infants) unter ſieben Jahren machen ſich keiner felony ſchul-

dig; vom ſiebenten bis zum vierzehnten Jahre ſind ſie prima facie doli incapaces,

doch mit der Beſchränkung: malitia supplet aetatem; von da bis zur Großjährig-

keit, welche mit dem zurückgelegten einundzwanzigſten Jahre eintritt, werden nur ein-

zelne Arten von misdemeanors nachgeſehen, die in einer Unterlaſſungrechtlicher

Verpflichtungen (nonfeazance) beſtehen. S. Stephen, Handbuch. S. 7. 8.

r) Code pénal. Art. 66. Lorsque l'accusé aura moins de seize

ans, s'il est décidé qu'il a agi sans discernement, il sera acquité; mais

il sera, selon les circonstances, remis à ses parens, ou conduit dans une

maison de correction, pour y être élevé et détenu pendant tel nombre

d'années que le jugement déterminera, et qui toutefois ne pourra excéder

l'époque où il aura accompli sa vingtième année. — Art. 67. S'il est dé-

cidé qu'il a agi avec discernement, les peines seront prononcées ainsi

qu'il suit. — S'il a encouru la peine de mort, des travaux forcés à perpé-

tuité, ou de la déportation, il sera condamné à la peine de dix á vingt

ans d'emprisonnement dans une maison de correction; — S'il a encourn

la peine des travaux forcés à temps, ou de la reclusion, il sera condamné

à être renfermé dans une maison de correction pour un temps égal au

tiers au moins et à la moitié au plus de celui auquel il aurait pu être

condamné à l'une de ces peines. — Dans tous ces cas il pourra être mis,

par l'arrêt ou le jugement, ſous la surveillance de la haute police, pendant

cinq ans au moins et dix ans au plus. — S'il a encouru la peine du car-

[192/0202]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

merken, daß Franzöſiſche Juriſten, ohne in dem Geſetz hierfür einen

Anhalt zu haben, der Friſtbeſtimmung wegen der Beſtrafung jugend-

licher Verbrecher nur die Bedeutung einer geſetzlichen Vermuthung bei-

legen, ſo daß ſie annehmen, der Richter könne auch dann freiſprechen,

wenn er finde, daß der Angeſchuldigte, welcher bereits das ſechszehnte

Lebensjahr zurückgelegt, ohne Unterſcheidungsvermögen gehandelt hat. s)

Bei der Reviſion des Strafrechts entſchied man ſich für dasjenige

Syſtem, welches die anderen Deutſchen Geſetzgebungen angenommen

haben. Im Staatsrath wurde namentlich nach einer ausführlichen Ver-

handlung beſchloſſen: daß zwei feſte Termine in Beziehung auf die Kri-

minalmündigkeit beſtimmt werden ſollten; daß der erſte Termin, bis zu

welchem eine völlige Unzurechnungsfähigkeit ſtattfindet, auf das voll-

endete zwölfte Lebensjahr, der zweite, mit welchem die volle Zurechnungs-

fähigkeit eintritt, auf das vollendete ſechszehnte Lebensjahr feſtgeſetzt

werden ſollte. t)

Nach dieſen Beſchlüſſen wurde der Entwurf von 1843. §. 79. 112.

113. redigirt, deſſen Inhalt ſich im Weſentlichen im Entwurf von 1847.

wieder findet.

§. 51. „Wegen jugendlichen Alters ſind Perſonen, welche das

zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ohne Ausnahme für zu-

rechnungsunfähig zu achten. Bei Perſonen, welche das zwölfte, aber

noch nicht das ſechszehnte Lebensjahr vollendet haben, iſt in jedem ein-

zelnen Falle beſonders zu ermeſſen, ob dieſelben bereits für zurechnungs-

fähig zu achten ſind oder nicht.“

§. 52. „Die wegen jugendlichen Alters für zurechnungsunfähig

geachteten Perſonen (§. 51.) ſind der häuslichen oder vormundſchaft-

lichen Zucht zu überlaſſen, oder in einer Beſſerungsanſtalt unterzubrin-

r)

s) Chauveau et Hélie Faustin, I. c. chap. XII. p. 189. 190. — A la

vérité, les présomptions établies par la loi, relativement à l'àge de l'ac-

cusé, n'enlèvent point aux juges le droit de proclamer que l'accusé a agi

sans discernement, et de l'absoudre quel que soit son âge; mais il faut

reconnaître que l'opinion du législateur exerce une grave influence sur

l'esprit des juges et des jurés. Ils seront naturellement portés à appliquer

à l'accusé qui a depassé seize ans la présomption défavorable établie par

la loi; ils seront moins disposés à faire une appréciation particulière du

discernement qui a guidé l'action de l'accusé.

t) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 10. Jan. 1840.

r) can ou du banissement, il sera condamné à être enfermé, d'un an à cinq

ans, dans une maison de correction. — Art. 68. Dans aucun des cas pré-

vus par l'article précédent, le condamné ne subira l'exposition publique.

— Art. 69. handelt von den Strafen der Vergehen.

[193/0203]

§§. 42. 43. Das jugendliche Alter.

gen. Der Richter hat das hierzu Nöthige nach Befinden der Umſtände

anzuordnen. In der Beſſerungsanſtalt ſind dieſelben ſo lange zu be-

halten, als die der Anſtalt vorgeſetzte Verwaltungsbehörde ſolches für

erforderlich achtet, jedoch niemals über das zurückgelegte zwanzigſte Le-

bensjahr hinaus.“

§. 53. „Gegen Perſonen, welche das zwölfte, aber noch nicht das

ſechszehnte Lebensjahr vollendet haben, und zugleich für zurechnungs-

fähig geachtet werden (§. 51.), ſollen die geſetzlichen Strafen mit fol-

genden Einſchränkungen eintreten:

1) Anſtatt der Todesſtrafe oder der lebenswierigen Freiheitsſtrafe iſt

höchſtens auf funfzehnjährige und mindeſtens auf dreijährige

Strafarbeit zu erkennen.

2) Bei einem mit zeitiger Freiheitsſtrafe oder mit Geldbuße bedroh-

ten Verbrechen ſoll die Hälfte der höchſten geſetzlichen Strafe

nicht überſchritten werden.

3) Auf Zuchthausſtrafe oder auf Verluſt der Ehrenrechte darf nie-

mals erkannt werden.

4) Die gegen jugendliche Verbrecher erkannten Freiheitsſtrafen ſind

entweder in eigens für ſolche Perſonen beſtimmten Strafanſtal-

ten, oder zwar in den ordentlichen Strafanſtalten, jedoch in ab-

geſonderten Räumen, zu vollſtrecken.“

Der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß gab dieſen Vorſchriften ſeine

Zuſtimmung, und ſetzte nur in dem zweiten Satz des §. 51. ſtatt des

vollendeten ſechszehnten, das vollendete achtzehnte Lebensjahr. u) Dieſer

Vorſchlag war ſchon früher von dem Miniſterium für die Geſetz-Reviſion

gemacht, von der Staatsraths-Kommiſſion aber verworfen worden. v)

In dem Entwurf von 1850. iſt nun der frühere Gang, den die

Reviſion bei dieſem Gegenſtande eingehalten hatte, verlaſſen worden, in-

dem man ſich im Weſentlichen dem Syſteme des Code pénal ange-

ſchloſſen hat, was denn auch im Geſetzbuch beibehalten worden iſt. Für

Beides laſſen ſich Gründe anführen, doch möchten die für das Deutſche

Syſtem überwiegen. Daſſelbe hat nämlich darin einen Vorzug, daß es

nicht dazu nöthigt, offenbar unzurechnungsfähige Kinder vor Gericht zu

ſtellen. Fürchtete man, daß das dahin führen werde, ausnahmsweiſe

einmal ein frühreifes Sonntagskind mit der verdienten Strafe verſcho-

nen zu müſſen, ſo iſt doch dieſer Uebelſtand nicht ſo groß, der ſich auch

u) Verhandlungen. II. S. 399.

v) Rev. Entwurf von 1845. §. 58. — Reviſion von 1845. I. S. 183.

— Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 39. 40.

— Fernere Verhandlungen von 1847. S. 38. 39.

Beſeler Kommentar. 13

[194/0204]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

mit einer Herunterſetzung des erſten Termins etwa auf das vollendete

zehnte Lebensjahr ziemlich ſicher vermeiden ließe. Auch das wäre zu

wünſchen geweſen, daß man den Endtermin des jugendlichen Alters bis

zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre hinausgerückt hätte. Der Grund

wenigſtens, der in den Motiven dagegen angeführt wird, daß die Mi-

litairdienſtpflicht ſchon mit dem zurückgelegten ſiebzehnten Lebensjahre

beginnt, iſt ſchon in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß zurückgewieſen

worden. w)

Wenn übrigens das Geſetzbuch dem Syſteme des Code

pénal ge-

folgt iſt, ſo hat es doch im Einzelnen, namentlich in Beziehung auf

die Strafverwandlung, wenn das Unterſcheidungsvermögen angenommen

worden, erhebliche Verbeſſerungen angebracht. x)

I. Die Frage, ob der Angeſchuldigte noch nicht das ſechszehnte

Lebensjahr zurückgelegt hat, iſt von dem erkennenden Richter nach dem

zu ſeiner Kenntniß gekommenen Material zu entſcheiden; an ein be-

ſtimmtes Beweismittel, z. B. den Geburtsſchein, iſt der Richter bei

dieſer Entſcheidung nicht gebunden; y) ja in zweifelhaften Fällen wird

die dem Angeſchuldigten günſtige Annahme den Vorzug verdienen, ſo-

weit überhaupt die milde Regel: In dubiis pro reo! eine Geltung hat.

Von einer Beweisführung durch den Angeſchuldigten im techniſchen Sinn

kann hier keine Rede mehr ſein; die Berückſichtigung des jugendlichen

Alters bei der Beſtrafung iſt auch nicht bloß der einzelnen Perſonen

wegen, ſondern aus allgemeinen Gründen der Strafgerechtigkeit vorge-

ſchrieben.

II. Wo noch keine Beſſerungsanſtalten eingerichtet ſind, da wird

der wegen jugendlichen Alters für unzurechnungsfähig erklärte Ange-

ſchuldigte ſeiner Familie zu überweiſen ſein. Eine Freiheitsſtrafe darf

dafür nicht eintreten, weil überhaupt die Unterbringung in einer Beſſe-

rungsanſtalt nicht als Strafe gilt, z) und der Zweck der Maaßregel im

Gefängniß nicht erreicht werden würde.

III. Das hohe Alter wird nach dem Strafgeſetzbuch bei der Ver-

urtheilung in die geſetzliche Strafe nicht berückſichtigt. Die Nachahmung

w) Verhandlungen. II. S. 398. Fürſt Wilhelm Radziwill. „Nach

den jetzigen Aushebungsgeſetzen iſt ſowohl für den Frieden als den Krieg das zwan-

zigſte Lebensjahr als das Jahr beſtimmt, wo die Militairpflichtigkeit eintritt. Bei

denen, die mit dem ſiebzehnten Jahr ſchon freiwillig in die Armee eintreten, alſo

freiwillig dem Stande der Zurechnungsfähigkeit ſich unterwerfen, würde eine geſetzliche

Ausnahme zu machen wohl nicht nöthig ſein.“

x) Ueber einzelne, in der Kommiſſion der zweiten Kammer vorgenommene Ab-

änderungen bei der Strafverwandlung ſ. d. Bericht zu §. 41. (43.).

y) In Frankreich hat eine ſehr einſeitige Entſcheidung des Kaſſationshofs dieſe

Frage verwirrt; ſ. Chauveau I. c. p. 197.

z) Vgl. Chauveau I. c. p. 198.

[195/0205]

§. 44. Irrthum in Thatſachen.

der Vorſchriften des Code pénal (Art. 70-72.) war um ſo weniger

nöthig, da die Rekluſion, welche daſelbſt bei ſiebenzigjährigen Verbrechern

an die Stelle der härteren Freiheitsſtrafen geſetzt iſt, im Weſentlichen

der Zuchthausſtrafe des Strafgeſetzbuchs gleichſteht.

§. 44.

Wenn die Strafbarkeit einer Handlung abhängig iſt, entweder von beſon-

deren Eigenſchaften in der Perſon des Thäters oder desjenigen, auf welchen

ſich die That bezog, oder von den beſonderen Umſtänden, unter welchen die

Handlung begangen wurde, ſo iſt eine ſolche Handlung demjenigen als Ver-

brechen oder Vergehen nicht zuzurechnen, welchem jene Verhältniſſe oder Um-

ſtände zur Zeit der That unbekannt waren.

Wenn durch ſolche beſondere, dem Thäter unbekannt gebliebene Verhältniſſe

oder Umſtände die Strafbarkeit der von ihm begangenen Handlung erhöht

wird, ſo ſollen ihm dieſe erſchwerenden Umſtände der That nicht zugerechnet

werden.

Bereits in dem Entwurf von 1843. §. 82. war eine ähnliche Be-

ſtimmung, wie ſie jetzt in §. 44. aufgenommen iſt, enthalten, und wurde

auch bei der ſpäteren Reviſion gegen die Angriffe vieler Monenten ver-

theidigt. Zwar könne man durch ſtrenge Folgerungen aus dem Begriffe

des Vorſatzes auf daſſelbe Reſultat kommen, wenn man die objektive

und die ſubjektive Seite des Verbrechens ſcharf ſondere. Allein es frage

ſich: wie weit ſoll der Vorſatz angerechnet werden? und darauf ergebe

ſich als Antwort: ſoweit derſelbe mit dem Bewußtſein zuſammen hängt.

Nun ließen ſich aber die in dieſem Titel anzuerkennenden Strafaus-

ſchließungsgründe nicht bloß auf eine abnorme Beſchaffenheit des Subjekts

zurückführen (Zurechnungsunfähigkeit), ſondern unter Anderem auch auf ein

abnormes Verhältniß des ſubjektiven Bewußtſeins zu den thatſächlichen

Umſtänden. Und auf dieſes Letztere beziehe ſich eben der Paragraph,

der alſo, nach dem praktiſch ganz befriedigenden Vorgange anderer neuer

Geſetzbücher, a) hier ſeinen Platz wohl behaupten könne. b)

In Folge dieſer Ausführung ward die Beſtimmung in ihrer jetzigen

Faſſung auch als §. 60. in dem Entwurf von 1847. aufrecht erhalten;

der Entwurf von 1850. hatte ſie weggelaſſen, aber die Kommiſſion der

zweiten Kammer ſtellte ſie wieder her. Ueber die Bedeutung, welche

a) Sächſiſches Criminalgeſetzbuch. Art. 68. — Württemb. Straf-

geſetzb. Art. 100. — Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 32. — Heſſiſch.

Strafgeſetzb. Art. 42. 43. — Badiſch. Strafgeſetzb. §. 72. — Thüring.

Strafgeſetzb. Art. 63. — Ueber die ſ. g. Wahnverbrechen vergl. noch Braun-

ſchweig. Strafgeſetzb. §. 31. — Bad. Strafgeſetzb. §. 74.

b) Reviſion von 1845. I. S. 193.

13*

[196/0206]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

dabei dem Paragraphen beigelegt wurde, iſt ſchon oben bei der Erörte-

rung über den Vorſatz gehandelt worden. c) — Eine andere Beſtim-

mung der früheren Entwürfe über den Rechtsirrthum d) glaubte man

aber nicht wiederholen zu brauchen. Es kam namentlich in der Kom-

miſſion der erſten Kammer zur Frage, ob es nöthig ſei, die Berückſich-

tigung einer aus dem Irrthume über das Strafgeſetz hergeleiteten Ent-

ſchuldigung ausdrücklich auszuſchließen. Man war jedoch einverſtanden,

daß es einer ſolchen ausdrücklichen Beſtimmung nicht bedürfe, da die

Unwirkſamkeit des Rechtsirrthums ſchon gemeinen Rechtens ſei, auch

aus den neueren über die Publikation der Geſetze erlaſſenen Verord-

nungen (Geſetz vom 3. April 1846. §. 3. G.-S. S. 151.) hervorgehe,

daß die Geſetzeskraft nicht von der Wiſſenſchaft Einzelner, ſondern von

der Friſt abhänge, welche nach der gehörigen Publikation verlaufen ſei. e)

§. 45.

Nach Ablauf der Verjährungszeit findet die Verfolgung und Beſtrafung

eines Verbrechens oder Vergehens nicht ſtatt.

§. 46.

Verbrechen, welche mit Todesſtrafe bedroht ſind, verjähren in dreißig Jah-

ren; Verbrechen, welche im höchſten Strafmaaße mit einer Freiheitsſtrafe von

einer längeren als zehnjährigen Dauer bedroht ſind, verjähren in zwanzig

Jahren; Verbrechen, welche mit einer milderen Freiheitsſtrafe bedroht ſind,

verjähren in zehn Jahren.

Vergehen, die im höchſten Strafmaaße mit einer höheren als dreimonat-

lichen Gefängnißſtrafe bedroht ſind, verjähren in fünf Jahren, andere Vergehen

in drei Jahren.

Der Lauf der Verjährung beginnt mit dem Tage des begangenen Verbre-

chens oder Vergehens.

§. 47.

Wenn die Verjährung unterbrochen wird, die Unterſuchung aber nicht zur

rechtskräftigen Verurtheilung führt, ſo beginnt eine neue Verjährung nach der

letzten gerichtlichen Handlung.

Dieſe neue Verjährung kommt jedoch demjenigen nicht zu Statten, welcher

ſich der gegen ihn eingeleiteten Unterſuchung durch die Flucht entzogen hat.

§. 48.

Jeder Antrag und jede ſonſtige Handlung der Staatsanwaltſchaft, ſowie

c) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 41 a. (44.);

vgl. oben Einleitung. §. VIII. S. 42. 43.

d) Entwurf von 1830. §. 5. — Entwurf von 1843. §. 5. — Entwurf

von 1847. §. 61. Vgl. Württemb. Strafgeſetzb. Art. 99. — Braunſchw.

Criminalgeſetzb. §. 31. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 41. — Hannov. Cri-

minalgeſetzb. Art. 84. — Bad. Strafgeſetzb. §. 73.

e) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 44.

[197/0207]

§. 45-49. Die Verjährung.

jeder Beſchluß und jede ſonſtige Handlung des Richters, welche die Eröffnung,

Fortſetzung oder die Beendigung der Unterſuchung oder die Verhaftung des

Angeſchuldigten betrifft, unterbricht die Verjährung.

§. 49.

Gegen rechtskräftig erkannte Strafen iſt keine Verjährung zuläſſig.

Die neueren Deutſchen Geſetzgebungen behandeln die Verjährung

als einen Theil des materiellen Strafrechts, während in der Preußiſchen

ſowohl als in der Franzöſiſchen Strafgerichtsordnung die Beſtimmungen

über dieſelbe ſich unter den prozeſſualiſchen Vorſchriften finden. f) Daß

man bei der Entwerfung des Strafgeſetzbuchs jenen neueren Geſetzge-

bungen gefolgt iſt, beruht auf der Erwägung, daß nach den mit der

Verjährung verbundenen Wirkungen der Gegenſtand mehr das materielle

als das formelle Recht betrifft. g) Auf eine nähere Erörterung dieſer

ſtreitigen Frage einzugehen, iſt hier nicht der Ort.

Von beſonderer Wichtigkeit iſt nun bei dieſer ganzen Lehre die

Frage, ob nur eine Verjährung der Verbrechen und Vergehen, h) oder

daneben auch eine Verjährung der erkannten Strafen ſtatt finden ſoll.

Die neueren Geſetzgebungen ſind in ihrer großen Mehrzahl für die Zu-

laſſung auch der zweiten Art, wenn ſie auch für dieſelbe beſondere

Vorſchriften, namentlich in Beziehung auf die Dauer der Friſten, auf-

zuſtellen pflegen. Die Staatsraths-Kommiſſion erklärte ſich jedoch gegen

dieſe Auffaſſung, welche auch in dem gemeinen Deutſchen Kriminalrecht

und in einigen Deutſchen Geſetzgebungen keine Anerkennung gefunden

hat. i) Zur Erläuterung dieſer Frage wurde bemerkt, daß die Verjäh-

rung in Strafſachen möglicher Weiſe nur darauf beruhen könne,

1) daß die Ausmittelung der Schuld oder Unſchuld durch den Zeit-

verlauf unmöglich gemacht oder doch ſehr erſchwert werde;

2) der Zweck einer Abſchreckung größtentheils wegfalle, wenn die

Strafe ſo ſpät eintrete, und

3) es als wahrſcheinlich anzunehmen ſei, daß der Verbrecher ſich

gebeſſert habe.

f) Criminal-Ordnung. §. 597-603. — Code d'instruction

crim. Art. 635-43.

g) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 185. 186. — Berathungs-

Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion I. S. 119.

h) Ueber die Verjährung der Uebertretungen, welche ſich übrigens nur durch

kürzere Friſten von der der Verbrechen und Vergehen unterſcheiden, ſ. unten §. 339.

i) Hannov. Criminalgeſetzbuch. Art. 88. — Heſſ. Strafgeſetzbuch.

Art. 128. — Ueber das gemeine Deutſche Kriminalrecht vergl. Heffter, Lehrbuch.

§. 189. Note 10.

[198/0208]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

Der erſtgedachte Grund ſpreche nur für die Verjährung der Ver-

brechen, die beiden anderen Gründe auch für die Verjährung erkannter

Strafen; es hänge alſo die Beantwortung der vorgedachten Frage haupt-

ſächlich davon ab, welches dieſer Motive man als maaßgebend betrachten

wolle. Dabei erſchien aber die Erwägung als entſcheidend, daß es nicht

die Abſicht ſein könne, den Verbrecher durch die Verjährung zu begün-

ſtigen, dieſelbe vielmehr ſich nur darauf gründe, daß nach dem Ablauf

einer Reihe von Jahren ſelten ein voller Beweis der That und aller

die Strafbarkeit beſtimmenden Umſtände erlangt werden könne, beſonders

aber der Defenſionalbeweis durch den Zeitablauf unmöglich gemacht oder

erſchwert werde. k)

Die Staatsraths-Kommiſſion entſchied ſich daher gegen die Zulaſ-

ſung einer Verjährung erkannter Strafen, und der Staatsrath trat dieſer

Anſicht einſtimmig bei; l) ſie iſt auch in den verſchiedenen Entwürfen

konſequent feſtgehalten worden und in das Strafgeſetzbuch (§. 49.)

übergegangen.

I. In den früheren Entwürfen, mit Ausnahme des von 1827.,

war die Verjährung bei ſolchen Verbrechen, die mit der Todesſtrafe be-

droht ſind, ausgeſchloſſen. Man war dabei hauptſächlich von der Be-

trachtung ausgegangen, daß das Verabſcheuungswürdige ſolcher Ver-

brechen ſie lange im Andenken des Volkes erhalte, und ihre Strafloſigkeit

auch nach einem größeren Zeitraume das Gerechtigkeitsgefühl verletzen

müſſe. m) Die Einwendungen gegen dieſe Auffaſſung ergaben ſich freilich

aus dem Princip, auf welches man die Verjährung im Strafrecht über-

haupt gegründet hatte; denn die Verdunkelung der Thatſachen und die

Erſchwerung der Vertheidigung kommen hier wenigſtens eben ſo ſehr

wie bei jedem anderen Verbrechen in Betracht. Daher hatte ſich auch

der Verfaſſer des erſten Entwurfs n) ſo wie die Majorität der Staats-

raths-Kommiſſion o) und das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion p) gegen

die Ausnahme der todeswürdigen Verbrechen von der Verjährung erklärt;

aber im Staatsrathe und bei der wiederholten Berathung in der Staats-

raths-Kommiſſion gewann die entgegenſtehende Anſicht den Sieg, q) und

k) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 119. 120., vgl. Reviſion von

1845. I. S. 215. 216.

l) Protokolle des Staatsraths, Sitzung v. 22. Jan. 1840.

m) Berathungs-Protokolle a. a. D. S. 122. — Protokolle des

Staatsraths, a. a. O. — Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſ-

ſion von 1846. S. 48. — Vgl. Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 80. — Han-

nov. Criminalgeſetzb. Art. 90. — Thüring. Strafgeſetzbuch Art. 76.

n) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 189. 190.

o) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 122.

p) Reviſion von 1845. I. S. 112-14.

q) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 48.

[199/0209]

§§. 45-49. Die Verjährung.

der Entwurf von 1847. §. 65. wiederholte daher die frühere Beſtim-

mung. In dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß wurde dieſe freilich

nicht verworfen, aber man ſchlug doch einen Mittelweg ein, indem be-

ſchloſſen ward, daß ein todeswürdiges Verbrechen höchſtens mit zwan-

zigjähriger Freiheitsſtrafe zu belegen ſei, wenn ſeit der That ein Zeitraum

von zwanzig Jahren verfloſſen. r) In dem Entwurf von 1850. war

dieſer Beſchluß nicht weiter berückſichtigt; die Kommiſſion der zweiten

Kammer aber entſchied ſich für die Zulaſſung der Verjährung auch bei

todeswürdigen Verbrechen, ſetzte aber dafür einen längeren Zeitraum —

von dreißig Jahren — feſt, s) und dieſe Beſtimmung iſt in das Straf-

geſetzbuch §. 46. übergegangen.

II. Die Friſten der Verjährung ſind berechnet nach dem höchſten

Maaße der geſetzlichen Strafe. Dabei iſt aber nur auf die Hauptſtrafen

Rückſicht genommen, nicht auf die Nebenſtrafen, welche hier ſo wenig

wie bei der Dreitheilung (§. 1.) in Betracht kommen. Ausdrücklich

genannt ſind außer der Todesſtrafe nur die Freiheitsſtrafen. Was die

Geldbuße betrifft, ſo erledigt ſich der Fall, wenn Geldbuße und Frei-

heitsſtrafe alternativ auferlegt werden können, ſehr leicht, da erſtere

immer die mildere Strafe iſt (§. 18.), das höchſte Maaß ſich alſo nach

der Freiheitsſtrafe richtet. Vergehen aber, die nur mit Geldbuße ge-

ahndet werden, gehören nach §. 46. Abſ. 2. zu denjenigen, welche in

drei Jahren verjähren.

III. Der Lauf der Verjährung beginnt nach §. 46. Abſ. 3. mit

dem Tage des begangenen Verbrechens oder Vergehens. Dieſe Beſtim-

mung könnte etwa nur Bedenken erregen bei den ſ. g. fortgeſetzten Ver-

brechen, z. B. der Bigamie, für welche die Kriminalordnung §. 601.

auch eine beſondere Beſtimmung enthält. Es wird aber immer auf den

Tag ankommen, an welchem das Verbrechen vollendet oder die letzte

ſtrafbare Verſuchshandlung vorgenommen worden iſt; die Bigamie wird

alſo nach §. 139. von dem Tage an verjähren, an welchem der Ehegatte

die zweite Ehe eingegangen iſt.

IV. Von beſonderer Wichtigkeit iſt es, zu beſtimmen, wann die

Verjährung unterbrochen wird. Der Entwurf von 1843. enthielt dar-

über folgende Vorſchrift:

§. 98. „Bei Verbrechen, welche mit Todesſtrafe bedroht ſind,

findet eine Verjährung nicht ſtatt.“

r) Verhandlungen. II. S. 428. 429. Aehnliche Beſtimmungen finden ſich:

Braunſchweig. Strafgeſetzb. §. 73. — Bad. Strafgeſetzb. §. 196. Statt

der Todesſtrafe iſt hier lebenslängliche Freiheitsſtrafe vorgeſchrieben.

s) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 43. (46.).

[200/0210]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

§. 99. „Bei allen andern Verbrechen wird die Strafbarkeit durch

Verjährung aufgehoben, wenn

1) keine amtliche Unterſuchung wider den Verbrecher eingeleitet, oder

2) die Fortſetzung der gegen ihn eingeleiteten Unterſuchung aufge-

geben oder auf Freiſprechung von der Inſtanz erkannt wor-

den iſt,

und in dem Falle unter 1. ſeit der Verübung des Verbrechens, und in

den Fällen unter 2. ſeit der letzten amtlichen Handlung die im §. 101.

beſtimmten Zeiträume verfloſſen ſind.“

Gegen dieſe Faſſung war beſonders monirt worden, daß durch die

Verjährung nicht die Strafbarkeit, ſondern die Strafe aufgehoben werde,

daß der Ausdruck „amtliche Unterſuchung“ ungenau und ungenügend

ſei, weil es hier auf einen beſtimmten gerichtlichen Akt ankomme, und

daß die Bezugnahme auf die Freiſprechung von der Inſtanz nicht recht

angemeſſen erſcheine. In dem Miniſterium für die Geſetz-Reviſion wurden

dieſe Erinnerungen für begründet erachtet, und über die Unterbrechung

der Verjährung folgende Beſtimmung vorgeſchlagen:

Revid. Entwurf von 1845. §. 70. „Die Strafe eines ſolchen

Verbrechens wird ausgeſchloſſen durch die Verjährung, deren Anfang

von der Zeit des begangenen Verbrechens zu rechnen iſt. “

„Die Verjährung wird unterbrochen, wenn ein gerichtliches Ver-

fahren gegen den Angeſchuldigten eingeleitet und demſelben bekannt ge-

macht iſt.“

Es wurde bemerkt, daß durch dieſe Faſſung dem von den Schle-

ſichen Ständen ausgegangenen Antrage entſprochen werde, eine Beſtim-

mung darüber in das Geſetz aufzunehmen, daß die Unterſuchung erſt

durch das beſondere Dekret als eingeleitet angeſehen werden ſolle, wel-

ches erklärt, daß und wegen welches Verbrechens der Angeklagte zur

Unterſuchung gezogen werde. t)

In der Staatsraths-Kommiſſion wurde der vorgeſchlagene §. 70.

genehmigt, jedoch beſchloſſen, daß ſtatt „gerichtliches Verfahren“ geſagt

werden ſolle: „gerichtliche Unterſuchung“ und ſtatt „eingeleitet“ „er-

öffnet“, daß ferner die Worte: „und demſelben bekannt gemacht iſt“

wegfallen ſollen. u) Deſſen ungeachtet hat der Entwurf von 1847. §. 63.

die Beſtimmung nicht in der beſchloſſenen Faſſung, ſondern genau ſo,

wie ſie ſich jetzt im Strafgeſetzbuch §. 48. findet. Die Einführung der

Staatsanwaltſchaft wird dieſe Abänderung herbeigeführt haben; die Ma-

terialien geben jedoch darüber keine nähere Aufklärung, und die Motive

t) Reviſion von 1845. I. S. 216. 217.

u) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 47.

[201/0211]

§. 45-49. Die Verjährung.

zum Entwurf von 1847. §. 62. 63. wiederholen bloß die in der Re-

viſionsſchrift aufgeſtellten Argumente. Daraus ergiebt ſich aber jeden-

falls ſo viel, daß nach der Abſicht des Geſetzgebers die Unterſuchung,

von der §. 48. die Rede iſt, gegen den Angeſchuldigten gerichtet

geweſen ſein muß, um deſſen Verfolgung und Beſtrafung es ſich gerade

handelt. Darauf weiſen auch, wenn man auf die Faſſung des §. 47.

Abſ. 2. kein beſonderes Gewicht legen will, die Worte hin: „oder die

Verhaftung des Angeſchuldigten“, denn es läßt ſich nicht einſehen, war-

um nur die auf die Verhaftung des Angeſchuldigten gerichteten Hand-

lungen der Staatsanwaltſchaft und des Richters die Verjährung unter-

brechen ſollten, wenn es gar nicht darauf ankäme, ob die Unterſuchung

gegen ihn oder gegen irgend einen Andern eröffnet, fortgeſetzt oder been-

digt wäre. Wollte man dieß allgemein verſtehen, ohne beſtimmte Be-

ziehung auf die Perſon, welche die Verjährung für ſich in Anſpruch

nimmt, ſo würde dieſe erſte Verjährung, im Gegenſatz zu der neuen,

welche nach der vergeblichen Unterſuchung beginnt, faſt niemals von

irgend einer Wirkſamkeit ſein.

Dieſe Anſicht, daß die Unterſuchung gegen den Angeſchuldigten

ſelbſt hat eröffnet werden müſſen, um die Verjährung zu unterbrechen,

liegt auch den Vorſchriften der Kriminalordnung zum Grunde, v) ſie

gilt nach dem gemeinen Deutſchen Kriminalrecht, w) und iſt von allen

neueren Deutſchen Geſetzgebungen anerkannt worden. x) Nach dem

Rheiniſchen Recht gilt freilich der entgegengeſetzte Grundſatz, y) doch

kommt keine Andeutung vor, daß der Entwurf von 1847. ſich demſelben

in dieſer Lehre hat anſchließen wollen, die Motive weiſen vielmehr be-

ſtimmt auf das Gegentheil hin.

Die Verjährung wird alſo unterbrochen

v) Kriminalordnung. §. 598. „Iſt dem Richter das Verbrechen ſchon früher

bekannt geworden, der Thäter aber erſt nach Verlauf eines zwanzigjährigen Zeitraums

ſeit der Verübung deſſelben ausgemittelt: ſo ſoll derſelbe“ u. ſ. w.

w) Heffter, Lehrbuch. §. 189.

x) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 79. — Württemb. Strafgeſetzb.

Art. 132. — Braunſchw. Strafgeſetzb. §. 72. — Hannov. Criminalge-

ſetzb. Art. 88. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 126. — Bad. Strafgeſetzb. §. 192.

— Thüring. Strafgeſetzb. Art. 71.

y) Code d'instr. crim. Art. 637. L'action publique et l'action civile

résultant d'un crime de nature à entraîner la peine de mort ou des peines

aftlictives perpétuelles, ou de tout autre crime emportant peine aftlictive

ou infamante, se prescriront après dix années révolues, à compter du jour

où le crime aura été commis, si dans cette intervalle il n'a été fait aucun

acte d'instruction ni de poursuite. — S'il a été fait, dans cette intervalle,

des actes d'instruction ou de poursuite non suivis de jugement, l'action

publique et l'action civile ne se prescriront qu'après dix années révolues,

à compter du dernier acte, à l'égard même des personnes qui ne seraient

pas impliquées dans cet acte d'instruction ou de poursuite.

[202/0212]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

durch jeden Antrag und jede ſonſtige Handlung der Staatsan-

waltſchaft, ſo wie durch jeden Beſchluß und jede ſonſtige Hand-

lung des Richters, welche entweder die Eröffnung, Fortſetzung

oder Beendigung der gegen den Angeſchuldigten gerichteten Un-

terſuchung oder die Verhaftung deſſelben betrifft.

V. Trotz dieſer Unterbrechung kann aber die Verjährung ſtatt fin-

den, wenn nämlich die Unterſuchung nicht zu einer rechtskräftigen Ver-

urtheilung geführt hat. Es beginnt dann aber eine neue Verjährung,

und zwar nach der letzten gerichtlichen Handlung (§. 47.).

a. Die Handlungen, welche auf die Verhaftung des Angeſchul-

digten gerichtet ſind, werden hier nicht beſonders erwähnt. Wenn ſie

keinen Erfolg gehabt haben, ſo iſt dieß entweder der Fall geweſen, weil

der Angeſchuldigte entflohen iſt, und dann kommt §. 47. Abſ. 2. zur

Anwendung; oder weil die Unterſuchung aufgegeben iſt, von der die

Verhaftung nur ein einzelner Akt war.

b. Die neue Verjährung hat dieſelben Friſten, wie die erſte, ſo

daß die Beſtimmungen des §. 46. auch hier zur Anwendung kommen.

c. Die neue Verjährung kommt demjenigen nicht zu Statten,

welcher ſich der gegen ihn eingeleiteten Unterſuchung durch die Flucht

entzogen hat. Dieſe aus der Kriminalordnung §. 599. herübergenom-

mene Beſtimmung z) findet ſich unter allen neueren Geſetzgebungen nur

noch im Hannoverſchen Kriminalgeſetzbuch Art. 88; ſie entſpricht auch

nicht dem Princip, welches der Verjährung zum Grunde liegt, daß nach

Ablauf einer beſtimmten Zeit eine Verfolgung nicht mehr ſtatt finden ſoll.

Auch wird ſich die Schwierigkeit der Ermittelung von Thatſachen hier ſo gut

wie in allen andern Fällen geltend machen. Ein in der Kommiſſion der

zweiten Kammer geſtellter Antrag, den Abſatz des §. 47. zu ſtreichen,

ward aber abgelehnt, und zwar aus dem Grunde, weil die Verjährung

dem nicht zu Gute kommen dürfe, welcher es durch ſeine Flucht ſelbſt

der Staatsgewalt unmöglich gemacht habe, ihn zur Unterſuchung zu

ziehen. a)

VI. Ueber das Verhältniß der Verjährung zum Rückfall wird unten

zu §. 60. gehandelt werden.

z) Die Kriminalordnung geht jedoch noch weiter, indem ſie auch durch die Flucht

vor eingeleiteter Unterſuchung die Verjährung ausſchließen läßt. Vgl. Reviſion

von 1845. I. S. 217.

a) Protokolle der Kommiſſion der zweiten Kammer, Sitzung vom

17. Jan. 1851.

[203/0213]

§. 50-54. Strafanträge von Privatperſonen.

§. 50.

Ein Verbrechen oder Vergehen, deſſen Beſtrafung nur auf den Antrag

einer Privatperſon erfolgen kann, ſoll ſtraflos bleiben, wenn die zum Antrage

berechtigte Perſon den Antrag binnen drei Monaten zu machen unterläßt.

Dieſe Friſt beginnt mit der Zeit, zu welcher der zum Antrage Berechtigte

von dem gegen ihn begangenen Verbrechen oder Vergehen und von der Perſon

des Thäters Kenntniß erhalten hat.

§. 51.

Wenn bei einem Verbrechen oder Vergehen mehreren Perſonen das Recht

zuſteht, daß nur auf ihren Antrag die Beſtrafung erfolgen kann, ſo wird da-

durch, daß eine derſelben die dreimonatliche Friſt verſäumt, das Recht der

Uebrigen zum Antrage auf Beſtrafung nicht ausgeſchloſſen.

§. 52.

Der Antrag auf Beſtrafung kann nicht getheilt werden. Das gerichtliche

Verfahren findet gegen ſämmtliche Theilnehmer an dem Verbrechen oder Ver-

gehen ſtatt, auch wenn nur gegen Einen derſelben auf Beſtrafung angetragen

worden iſt.

§. 53.

Nach Eröffnung der gerichtlichen Unterſuchung kann der Antrag auf Be-

ſtrafung nicht wieder zurückgenommen werden, ſo weit nicht in einzelnen Fällen

ausdrücklich ein Anderes beſtimmt iſt.

§. 54.

Der Verletzte, welcher bereits das ſechszehnte Lebensjahr zurückgelegt hat,

iſt ſelbſtſtändig zu dem Antrage auf Beſtrafung berechtigt.

So lange jedoch der Verletzte minderjährig iſt, hat auch der Vater oder

Vormund deſſelben, unabhängig von der eigenen Befugniß des Verletzten, das

Recht, auf Beſtrafung anzutragen.

Ueber die Bedeutung, welche dem Antrag des Verletzten auf die

Beſtrafung des Thäters einzuräumen iſt, haben die verſchiedenen Ent-

würfe des Strafgeſetzbuchs ſehr geſchwankt; am Weiteſten ging in dieſer

Hinſicht der revidirte Entwurf von 1845., welcher von dem Miniſterium

für die Geſetz-Reviſion vorgelegt war. Später machte ſich, namentlich

vom Standpunkte des Rheiniſchen Rechts aus, gegen dieſe Auffaſſung

ein Widerſpruch geltend, der auch allmählig zu einer Beſchränkung der

Privatſtrafanträge im Geſetzbuch geführt hat; b) doch ſind ſie für daſſelbe

noch immer nicht ohne Bedeutung.

Auch über die rechtlichen Wirkungen dieſer Strafanträge haben die

Anſichten während der Reviſion vielfach geſchwankt. Anfangs begnügte

b) Fernere Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von

1847. S. 54. — Verhandlungen des vereinigten ſtänd. Ausſchuſſes. II.

S. 429-50.

[204/0214]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

man ſich, die Vorſchrift der Kriminalordnung §. 602. in einer etwas

beſtimmteren Faſſung zu wiederholen. c) Erſt der Entwurf von 1836.

§. 96. gab ausführlichere Beſtimmungen, welche die Veranlaſſung weit-

läuftiger Erörterungen und einer umfaſſenderen Behandlung des Gegen-

ſtandes in den ſpäteren Entwürfen wurden. d) Der Entwurf von 1850.

hatte dagegen gar keine allgemeinen Beſtimmungen über die Privat-

ſtrafanträge; ſie wurden aber von der Kommiſſion der zweiten Kammer

nach dem Vorbilde des Entwurfs von 1847. hinzugefügt, was uner-

läßlich erſchien, nachdem man für die Beſtrafung der Ehrverletzungen

wieder zu dem Princip der Privatſtrafanträge zurückgekehrt war. e)

I. Im Allgemeinen iſt zu bemerken, daß es ſich hier von dem

Fall handelt, wenn ein Verbrechen oder Vergehen nur auf den Antrag

einer Privatperſon beſtraft wird. Es gehört alſo, genau genommen, der

Fall nicht hierher, wenn nicht der Antrag auf Beſtrafung, ſondern um-

gekehrt der auf Nichtbeſtrafung von einer Privatperſon ausgehen muß,

wie beim Ehebruch (§. 140.). Auch auf die Strafanträge auswärtiger

Regierungen und Geſandten (§. 81.), welche doch nicht zu den Privat-

perſonen gerechnet werden können, ſind die oben angeführten Beſtim-

mungen nicht zu beziehen, und eben ſo wenig auf die, §. 102. und 103.

behandelten Ehrverletzungen, bei denen ein Verfahren von Amtswegen

die Regel bildet. Es kommen hier vielmehr nur folgende Stellen in

Betracht:

§. 149. 160. 161. 162. 189. 198. 209. 229. 271. 343.

II. Die Friſt für die Anbringung der Privatſtrafanträge beträgt drei

Monate, welche von der Zeit an berechnet werden, zu welcher der zum

Antrag Berechtigte Kenntniß von der That und der Perſon des Thäters

erhalten hat (§. 50.). Nur bei den wechſelſeitigen Ehrverletzungen findet

unter Umſtänden eine Verlängerung der Friſt ſtatt (§. 161.). — In

den früheren Entwürfen war noch ausdrücklich beſtimmt, daß jedenfalls

Strafloſigkeit eintrete, wenn nach den allgemeinen Grundſätzen des Straf-

geſetzbuchs die Verjährung bereits abgelaufen ſei; allein dieſe Beſtim-

mung konnte füglich weggelaſſen werden, da die Unterlaſſung des Straf-

antrags nicht an die Stelle der Verjährung getreten iſt, ſondern neben

dieſer beſteht. Andere Deutſche Strafgeſetzbücher haben für die Ver-

c) Entwurf von 1827. §. 135. — Entw. von 1830. §. 92. — Entw.

von 1833. §. 93. — Motive zum erſten Entwurf. I. S. 191.

d) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion I.

S. 115-118. — Staatsraths-Protokolle, Sitzung vom 22. Jan. 1840.

und 19. Juni 1841. — Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion

von 1846. S. 49. 50. — Entw. v. 1843. §. 102-104. Entw. v. 1847.

§. 66-70.

e) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 46a-46e.

(§. 50-54.)

[205/0215]

§. 50-54. Strafanträge von Privatperſonen.

brechen und Vergehen, welche nicht von Amtswegen unterſucht werden,

neben den Folgen der nicht zeitig angebrachten Strafanträge eine kürzere

Verjährung als die gewöhnliche eingeführt. f)

Iſt vor Ablauf der geſetzlichen Friſt der Strafantrag nicht geſtellt

worden, ſo bleibt die Handlung ſtraflos, mag nun der Grund der Un-

terlaſſung der Verzicht des Verletzten (die Verzeihung) oder ein Ver-

ſäumniß ſein. In den Entwürfen von 1843. §. 102. und von 1847.

§. 66. war außerdem noch die Verzeihung, ohne Rückſicht auf die Ein-

bringung des Strafantrags, als Grund aufgeführt worden, die Straf-

loſigkeit zu bewirken. g) Darüber aber bedurfte es bei den ſtrafbaren

Handlungen dieſer Art keiner beſonderen Vorſchrift; es genügte die Be-

ſtimmung, wie lange der Antrag auf Beſtrafung wieder zurückgenommen

werden kann. Eine ſolche iſt §. 53. gegeben, und zwar dahien, daß nach

Eröffnung der gerichtlichen Unterſuchung die Zurücknahme des Antrags

nicht mehr zuläſſig ſein ſoll. Es iſt dieſer Zeitpunkt als der entſchei-

dende gewählt worden, damit nicht die Thätigkeit der einmal in Anſpruch

genommenen Behörden von der vielleicht wechſelnden Laune der Privatper-

ſonen abhängig gemacht werde. h) Doch ſind Ausnahmen von dieſer Regel

des Geſetzes vorbehalten und auch ſpäter gemacht worden (§. 160. Abſ. 2.).

III. Wenn mehrere Verletzte aus derſelben Handlung und gegen

dieſelbe Perſon zum Strafantrag berechtigt ſind, ſo beſtehen ihre Rechte

unabhängig neben einander; i) für jeden läuft eine beſondere Friſt vom

Tage ſeiner Kenntniß an, und durch die Verſäumung des Einen, der etwa

früher Kenntniß erhalten hat als die Andern, werden deren Anſprüche nicht

ausgeſchloſſen (§. 51.). Dieß gilt denn auch für den Fall, wenn außer

dem Minderjährigen, welcher das ſechszehnte Lebensjahr zurückgelegt hat,

deſſen Vater oder Vormund das Recht des Strafantrags hat (§. 54.).

Doch iſt hierbei zu bemerken, daß der Vormund in dieſem Fall nur als

f) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 77. 78. — Braunſchweig. Criminal-

geſetzb. §. 71. 72. — Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 89. — Bad. Straf-

geſetzb. §. 190.

g) Das Heſſiſche Strafgeſetzb. Art. 54-56. handelt allgemein von dem

Verzichte des zur Privatklage Berechtigten:

h) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 53. Hier heißt

es: „Man war dabei einverſtanden, daß der in §. 53. enthaltene Ausdruck: „Eröff-

nung der gerichtlichen Unterſuchung“ den Moment, bis zu welchem die Zurücknahme

des Antrags erfolgen könne, mit Rückſicht auf §. 39. der Verordnung vom 3. Januar

1849., genau und richtig bezeichne, ſo daß eine ſolche Zurücknahme nur während

der Informations-Verhandlungen des Staatsanwalts, nicht aber, nachdem das

Gericht bereits darüber beſchloſſen, erfolgen könne.“ — Uebrigens wird es ſich

doch auch fragen, inwieweit der §. 47. der angeführten Verordnung in Betracht

zu ziehen iſt.

i) Vgl. Thüringiſches Strafgeſetzbuch. Art. 70.

[206/0216]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. IV. Ausſchließung oder Milderung d. Strafe.

Vertreter ſeines Mündels handelt und keine ſ. g. mittelbare Ehrver-

letzung, wie der Gatte oder Hausvater nach §. 162. zur Rüge brin-

gen kann.

IV. Der Antrag auf Beſtrafung iſt untheilbar; er kann nur ge-

gen ſämmtliche Theilnehmer verfolgt oder aufgegeben werden. Haupt-

ſächlich über dieſen Grundſatz hat man lange nicht zu einem feſten Ent-

ſchluß gelangen können; doch blieb ſeit 1836. die Beſtimmung in den

Entwürfen, daß der Strafantrag theilbar ſei und gegen einzelne Theil-

nehmer verfolgt, gegen andere unterlaſſen werden könne, obgleich die

Staatsraths-Kommiſſion und ſpäter noch ein beſonderes Gutachten des

Juſtizminiſters v. Savigny ſich im entgegengeſetzten Sinn ausgeſpro-

chen hatten. k) Der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß entſchied ſich für die

Untheilbarkeit des Strafantrags, l) und dieſer Grundſatz iſt auch in das

Strafgeſetzbuch übergegangen (§. 52.). Es werden dadurch auch in der

That manche Härten, ſo wie große Erſchwerungen und Verwicklungen

der Kriminalunterſuchung vermieden, beſonders in dem Fall des §. 229.

bei dem Diebſtahl unter nahen Verwandten; bei Ehrverletzungen wäre

aber doch wohl eine Ausnahme von der Regel gerechtfertigt geweſen.

V. Ueberhaupt hat das Strafgeſetzbuch die Strafanträge von

Privatperſonen nicht im Sinne der germaniſchen Rechtsanſchauung,

welche auch im Strafrecht eine gewiſſe Berückſichtigung der individua-

len Berechtigung fordert, behandelt. Das zeigt ſich namentlich bei den

Ehrverletzungen und den leichteren Mißhandlungen und Körperver-

letzungen (den Realinjurien), bei welchen das Deutſche Recht das größte

Gewicht auf die verletzte Privatehre legt, während das Franzöſiſche

mehr das vom Staate zu fühnende Unrecht hervorhebt. Wollte man

bei den Ehrverletzungen die reine Privatklage nicht als die Regel durch-

führen, ſo konnte doch auch bei den Strafanträgen der Wille des Ver-

letzten in einem weiteren Maaße, als es geſchehen iſt, berückſichtigt

werden, und namentlich brauchte die Zurücknahme des Strafantrags

nicht auf die engen Grenzen des §. 53. beſchränkt zu werden. Denkt

doch niemand daran, daß im Civilprozeß das richterliche Anſehen durch

die Zurückziehung der Klage beeinträchtigt wird, und wenn die Staats-

anwaltſchaft einmal das Recht des Verletzten vertreten ſoll, ſo möge

ſie auch den Verzicht deſſelben ſich gefallen laſſen. — Es iſt zu hoffen,

k) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion I. S. 117.

— Gutachten des Juſtizminiſters v. Savigny vom 16. Juni 1846., abge-

druckt als Anlage zu den Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 222-25.

l) Verhandlungen I. S. 212. — II. S. 443. Vgl. Heſſiſches Geſetz-

buch Art. 56.

[207/0217]

§§. 55. 56. 57. Zuſammentreffen mehrerer Verbrechen oder Vergehen.

daß die Strafprozeßordnung in dieſer Beziehung dem Deutſchen Rechte

ſich mehr nähern, und daß der Titel 28. des veröffentlichten Entwurfs

eine gründliche Umarbeitung erfahren wird.

Fünfter Titel.

Vom Zuſammentreffen mehrerer Verbrechen und vom

Rückfalle.

§. 55.

Wenn eine und dieſelbe Handlung die Merkmale mehrerer Verbrechen oder

Vergehen in ſich vereinigt, ſo kommt das Strafgeſetz zur Anwendung, welches

die ſchwerſte Strafe androht.

§. 56.

Gegen denjenigen, welcher durch verſchiedene ſelbſtändige Handlungen meh-

rere Verbrechen oder Vergehen begangen hat, iſt auf ſämmtliche dadurch be-

gründete Strafen vereinigt zu erkennen.

§. 57.

Dieſe Vorſchrift (§. 56.) wird durch folgende Beſtimmungen beſchränkt:

1) iſt auf mehrere zeitige Freiheitsſtrafen vereinigt zu erkennen, ſo darf in

dieſer Vereinigung niemals die Dauer von zwanzig Jahren und, ſofern

nur Vergehen vorliegen, niemals die Dauer von zehn Jahren über-

ſchritten werden;

2) ſind die in Vereinigung zu erkennenden Strafen von verſchiedener Art,

ſo iſt, unter Verkürzung ihrer Geſammtdauer (§. 16.), auf die ſchwerſte

dieſer Strafarten zu erkennen;

3) die Gefängnißſtrafe kann in dieſem Falle die Dauer von fünf Jahren,

jedoch niemals die Dauer von zehn Jahren überſteigen.

Der fünfte Titel handelt von dem Zuſammentreffen mehrerer Ver-

brechen oder Vergehen und vom Rückfalle. Beide Fälle haben nämlich

das mit einander gemein, daß dieſelbe Perſon ſich mehrerer ſtrafbaren

Handlungen ſchuldig gemacht hat; aber weiter geht auch die Aehnlich-

keit nicht. Die mehreren zuſammen treffenden Verbrechen und Vergehen

bilden den Gegenſtand Eines Strafverfahrens und Eines Erkenntniſſes,

während beim Rückfall die frühere ſtrafbare Handlung ſchon abgeurtheilt

iſt und nur noch inſofern in Betracht kommt, als daraus bei der Be-

[208/0218]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. V. Zuſammentreffen d. Verbrechen. Rückfall.

ſtrafung des neuen Verbrechens ein Schärfungsgrund entnommen wer-

den kann. Beide Fälle ſind daher ſowohl ihrer begriffsmäßigen als

ihrer rechtlichen Bedeutung nach verſchieden und auch in der folgenden

Darſtellung auseinander zu halten.

Zuerſt iſt von dem Zuſammentreffen mehrerer Verbrechen oder Ver-

gehen (concursus delictorum) zu handeln. Die Doktrin des gemeinen

Deutſchen Kriminalrechts hat dieſe Lehre mit beſonderer Vorliebe behan-

delt, und in der Entwicklung ſeiner Unterſcheidungen einen großen

Scharfſinn aufgewandt. Sie hat es aber doch nicht zu einer feſten,

allgemein anerkannten Terminologie und zu ſicheren Rechtsregeln über

die Beſtrafung bringen können. m) Auch das Allgemeine Landrecht bie-

tet in ſeinen allgemeinen Beſtimmungen über dieſen Gegenſtand, deren

konſequente Durchführung in Beziehung auf die einzelnen Verbrechen

häufig vermißt wird, n) für die legislative Behandlung nur einen ſchwa-

chen Anhalt, und das im Rheiniſchen Recht ergriffene Auskunftsmittel,

die Schwierigkeiten durch Aufſtellung der prozeſſualiſchen Regel: Poena

major abſorbet minorem, — zu beſeitigen, o) kann in ſeiner allgemeinen

Anwendung die Anforderungen der Gerechtigkeit nicht befriedigen. Bei

der Reviſion des Strafrechts iſt daher eine ſelbſtändige Behandlung

dieſer Lehre verſucht worden, die ſich jedoch allmählich immer mehr ver-

einfacht, und zuletzt auf die Aufſtellung einiger allgemeinen Grundſätze

beſchränkt hat, welche ihrem weſentlichen Inhalte nach in der gemeinrecht-

lichen Doktrin und den neueren Deutſchen Strafgeſetzbüchern ſich wieder

finden.

I. Eine und dieſelbe Handlung vereinigt die Merkmale mehrerer

Verbrechen oder Vergehen in ſich (ſ. g. ideale oder formale Konkurrenz,

concursus delictorum simultaneus). Für dieſen Fall erkennt das

Strafgeſetz die Regel an: Poena major absorbet minorem; es kommt

nur dasjenige Strafgeſetz zur Anwendung, welches die ſchwerſte Strafe

androht (§. 55.). Inwiefern in einem ſolchen Zuſammentreffen ein

Grund vorliegt, bei der Strafzumeſſung darauf Rückſicht zu nehmen,

bleibt dem richterlichen Ermeſſen überlaſſen. Das Geſetzbuch hat, ab-

m) Vgl. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen peinlichen Rechts, herausgegeben

von Mittermaier, §. 126-32. — Wächter, Lehrbuch des Römiſch-Teutſchen

Strafrechts I. §. 122-24. — Heffter, Lehrbuch des gemeinen Deutſchen Crimi-

nalrechts, §. 163-66.

n) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 52-57. Vergl. Motive zum erſten Ent-

wurf, I. S. 219-21. 237.

o) Code d'instruet. crim. Art. 365. — — En cas de conviction de

plusieurs crimes ou délits, la peine la plus forte sera seule prononcée.

[209/0219]

§§. 55. 56. 57. Zuſammentreffen mehrerer Verbrechen oder Vergehen.

weichend von den anderen Deutſchen Geſetzgebungen, hier ſo wenig wie

in anderen Fällen darauf ausdrücklich verwieſen.

So einfach nun aber auch das Verhältniß zu ſein ſcheint, um

welches es ſich hier handelt, ſo verſchiedenartig und verwickelt ſtellt es

ſich dar, wenn man kaſuiſtiſch auf die einzelnen Fälle eingeht, welche

ſich durch die Kombinirung des vollendeten Verbrechens, der Verſuchs-

handlungen und der verſchiedenen Arten der Theilnahme als möglich

erweiſen, und wenn man dann insbeſondere die einzelnen Aeußerungen

einer verbrecheriſchen Thätigkeit mit Rückſicht auf die Frage erwägt, ob

man es dabei nur mit Einem Verbrechen oder Vergehen oder mit einer

Mehrheit von ſtrafbaren Handlungen zu thun hat. Die juriſtiſche Kunſt

kann ſich bei der ſicheren Löſung ſolcher ſchwierigen Fälle in ihrer Mei-

ſterſchaft zeigen; ſie wird, indem ſie die Handlung in ihre Beſtandtheile

auflöſt, entweder die innere Einheit derſelben zur Anſchauung bringen

oder die ſelbſtändige Bedeutung der einzelnen verbrecheriſchen Aeußerun-

gen darthun. Je ſicherer dieſe Operation vor ſich geht, je mehr ſich die

ſchärfſte Begriffsbeſtimmung an die unbefangene Anſchauung thatſäch-

licher Beziehungen anſchließt, um ſo häufiger wird ſie zu einem Ergeb-

niß führen, welches mit der Totalanſchauung des unbefangenen Beob-

achters übereinſtimmt.

Die gemeinrechtliche Doktrin hat nun dieſer juriſtiſchen Operation

zu Hülfe zu kommen geſucht, indem ſie bei der ſ. g. idealen Konkurrenz

beſondere Kategorien machte, und namentlich das fortgeſetzte Verbrechen

als eine ſolche unterſchied. Dem ſind die meiſten neueren Strafgeſetz-

bücher gefolgt, p) und auch bei der Reviſion des Preußiſchen Strafrechts

ging man Anfangs darauf ein. Der Entwurf von 1827. beſtimmte:

§. 149. „Wenn mehrere auf einander folgende ſtrafbare Hand-

lungen derſelben Art nur als fortſchreitende Ausführung deſſel-

ben verbrecheriſchen Entſchluſſes, anzuſehen, oder in Beziehung

auf daſſelbe dauernde Verhältniß begangen, oder nur als Theile

und Stufen einer und derſelben That zu betrachten ſind, ſo ſollen

zwar alle dieſe Handlungen zuſammen als ein fortgeſetztes

Verbrechen angeſehen, jedoch als beſonderer Schärfungsgrund bei

Zumeſſung der Strafe (§. 137.) berückſichtigt werden.“

Später beſchränkte man ſich darauf, ſtatt jener, dem Hannoverſchen

Entwurf nachgebildeten Vorſchrift nur allgemein auf das fortgeſetzte Ver-

p) Hannov. Criminalgeſetzbuch Art. 106. — Braunſchw. Criminal-

geſetzb. §. 56. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 111. 112. — Bad. Strafgeſetzb.

§. 180. 181. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 51.

Beſeler Kommentar. 14

[210/0220]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. V. Zuſammentreffen d. Verbrechen. Rückfall.

brechen hinzuweiſen, ohne eine Begriffsbeſtimmung hinzuzufügen (Entw.

von 1843. §. 118.); und endlich wurde mit Rückſicht auf die Unbe-

ſtimmtheit dieſer doktrinellen Kategorie jede Bezugnahme auf dieſelbe im

Geſetzbuch aufgegeben. q)

II. Jemand hat durch verſchiedene ſelbſtändige Handlungen meh-

rere Verbrechen oder Vergehen begangen (ſ. g. reale oder materiale Kon-

kurrenz, concursus delictorum successivus). In dieſem Fall iſt auf

ſämmtliche, dadurch begründete Strafen zu erkennen (§. 56.), und alſo

der Grundſatz des Rheiniſchen Rechts, daß nur die ſchwerſte Strafe zur

Anwendung gebracht werden ſoll, zurückgewieſen. Der Entwurf von

1850. hatte denſelben zwar angenommen; die Kommiſſion der zweiten

Kammer kehrte aber zu der Vorſchrift zurück, welchen die früheren Ent-

würfe in Uebereinſtimmung mit ſämmtlichen neueren Deutſchen Straf-

geſetzbüchern aufgeſtellt hatten. Man verkannte nicht die Schwierigkei-

ten, welche für das Verfahren, namentlich vor den Schwurgerichtshöfen,

damit verbunden ſind; aber theils glaubte man denſelben ein als gerecht

erkanntes Princip nicht opfern zu dürfen; theils vermißte man in der

Aufſtellung des entgegenſtehenden Grundſatzes die Konſequenz, da der-

ſelbe nicht zur Anwendung kommen ſoll, wenn nach der Fällung des

Strafurtheils über die Eine ſtrafbare Handlung eine andere derſelben

Perſon bekannt wird; theils glaubte man endlich die formellen Schwie-

rigkeiten durch angemeſſene prozeſſualiſche Beſtimmungen, wenn auch

nicht ganz beſeitigen, doch vermindern zu können. r) Zu dieſem Behuf

wurde vorläufig ſchon in das Einführungsgeſetz eine entſprechende Vor-

ſchrift aufgenommen. s)

III. Die Strafen der verſchiedenen Verbrechen und Vergehen kön-

nen natürlich nur dann neben einander zur Anwendung kommen, wenn

ſie mit einander vereinbar (compatibel) ſind. Iſt dieß nicht der Fall,

ſo bedarf es einer Strafverwandlung, und über dieſe hat das Geſetzbuch

§. 57. in Beziehung auf die Freiheitsſtrafe einige Beſtimmungen gege-

ben. Die allgemeinen Regeln über die Strafverwandlung (§. 16. 17.)

behalten dabei ihre Geltung, und ergänzen jene Beſtimmungen. Die

Todesſtrafe ſchließt natürlich jede Freiheitsſtrafe aus; Geldbußen aber

bleiben neben ihr beſtehen, was unter Umſtänden allerdings kleinlich er-

ſcheinen kann. Indeſſen wird doch auch in dieſer Beziehung die oben

erwähnte Vorſchrift des Einführungsgeſetzes in der Regel ſich wirkſam

erweiſen.

q) Reviſion von 1845. I. S. 234. 335.

r) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 48. (56.)

s) Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. XXIII.

[211/0221]

§§. 58. 59. 60. Vom Rückfall.

§. 58.

Wer, nachdem er wegen eines Verbrechens oder Vergehens von einem Preu-

ßiſchen Gerichtshofe rechtskräftig verurtheilt worden iſt, daſſelbe Verbrechen

oder Vergehen, ſei es mit oder ohne erſchwerende Umſtände, begeht, befindet

ſich im Rückfalle.

Inſofern das Geſetz keine beſondere Rückfallsſtrafen beſtimmt, kann wegen

Rückfalls die Strafe über das geſetzliche Maaß hinaus erhöht werden, jedoch

nicht mehr, als um die Hälfte des höchſten geſetzlichen Strafmaaßes.

Die Dauer der Gefängnißſtrafe kann im Rückfalle die Zeit von fünf Jah-

ren überſteigen.

Bei Verbrechen, welche mit zeitiger Freiheitsſtrafe bedroht ſind, darf die

Dauer von zwanzig Jahren ſelbſt im Rückfall nicht überſchritten werden.

§. 59.

Der Rückfall iſt auch dann vorhanden, wenn die That in dem früheren

oder ſpäteren Falle, oder in beiden Fällen die Theilnahme an einem Verbre-

chen oder Vergehen, oder den Verſuch eines Verbrechens oder Vergehens

darſtellt.

§. 60.

Die Straferhöhung wegen Rückfalls tritt nicht ein, wenn ſeit dem Zeit-

punkte, in welchem die Freiheitsſtrafe oder Geldbuße des zuletzt begangenen

früheren Verbrechens oder Vergehens abgebüßt oder erlaſſen worden iſt, zehn

Jahre verfloſſen ſind.

Auch bei der Behandlung des Rückfalls konnte ſich der Geſetzgeber

in voller Freiheit bewegen, da die Wahl zwiſchen den verſchiedenen hier

zur Anwendung gebrachten Syſtemen nur nach Gründen der Zweck-

mäßigkeit zu treffen war, und auch für eine eigenthümliche Behandlung

der Sache noch immer Raum übrig blieb.

Für die Beſtrafung des Rückfalls ſind nämlich folgende Rechts-

grundſätze maaßgebend geworden:

1) Nach dem Code pénal, welcher jedoch gerade in Beziehung auf

die Rückfallsſtrafen durch das Geſetz vom 28. Apr. 1832. we-

ſentlich verändert worden iſt, hat die Thatſache, daß ein Ange-

ſchuldigter ſchon früher wegen eines Verbrechens oder Vergehens

verurtheilt worden, auf ſeine gegenwärtige Beſtrafung einen ſehr

bedeutenden Einfluß. Ohne Rückſicht darauf, von welcher Art

das frühere Verbrechen oder Vergehen war, ſoll der Rückfall ſtets

eine erhebliche Straferhöhung nach ſich ziehen. t)

t) Code pénal Art. 56-58. Die Lehre vom Rückfall iſt eine der verwickelt-

ſten und ſchwierigſten des Franzöſiſchen Strafrechts; vgl. Chauveau et Hélie

Faustin, Théorie du Code pénal I. chap. IX.

14*

[212/0222]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. V. Zuſammentreffen d. Verbrechen. Rückfall.

2) Das gemeine Deutſche Kriminalrecht kennt den Rückfall nicht als

allgemeinen Strafverſchärfungsgrund; nur bei gewiſſen Verbre-

chen, namentlich dem Diebſtahl iſt demſelben dieſe Wirkung bei-

gelegt.

3) Die neueren Deutſchen Strafgeſetzbücher ſchreiben nur dann eine

Straferhöhung wegen Rückfalls vor, wenn das früher und das

ſpäter begangene Verbrechen gleichartig ſind. u) Dabei pflegt

denn näher beſtimmt zu werden, welche Verbrechen für gleich-

artig gelten ſollen, und einzelne Geſetzbücher ſchließen für andere

als die aufgeführten Arten der Verbrechen die Rückfallsſtrafe

überhaupt aus. v)

4) Das Allgemeine Landrecht w) enthält über den Rückfall folgende

Beſtimmung:

§. 52. „Die Wiederholung gleicher Verbrechen wirkt allemal

Verſchärfung der für das einfache Verbrechen beſtimmten

Strafe.“

§. 53. „Bei dieſer Verſchärfung der Strafe iſt beſonders auf

den Hang des Verbrechers zu dieſer Art von Vergehungen,

und auf die dem Staate daraus bevorſtehende Gefahr Rück-

ſicht zu nehmen.“

Dieſe Vorſchrift des Landrechts hat das Eigenthümliche, daß ſie

die Anwendung der Rückfallsſtrafe nicht nur auf gleichartige, ſondern

auf gleiche Verbrechen beſchränkt; denn die Bezeichnung in §. 53.: „zu

dieſer Art von Vergehungen“ kann nicht als ausdehnende Erklärung

des Ausdrucks: „Wiederholung gleicher Verbrechen“ in dem vorherge-

henden Paragraphen verſtanden werden.

Bei der Reviſion des Strafrechts wurde noch in dem Entwurf von

1847. §. 75. 76. daran feſtgehalten, daß die Gleichartigkeit des Ver-

brechens die Rückfallsſtrafe begründe; doch war ſchon früher das Un-

ſichere und Schwankende dieſes Begriffs hervorgehoben worden, x) und

es kann als eine entſchiedene Verbeſſerung angeſehen werden, daß der

u) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 58. 59. — Württemb. Strafgeſetzb.

Art. 124. — Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 58. 59. — Hannov.

Criminalgeſetzb. Art. III. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 46. 47.

v) Heſſiſches Strafgeſetzb. Art. 94. 97. — Bad. Strafgeſetzb.

§. 183.

w) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 52. 53. — Es kann freilich gezweifelt wer-

den, ob dieſe Vorſchriften auf das Zuſammentreffen mehrer Verbrechen oder auf den

Rückfall ſich beziehen; aber überwiegende Gründe ſprechen doch für die letztere An-

nahme; vgl. Motive zum erſten Entwurf I. S. 220. — Daß aber nur über-

haupt ein ſolcher Zweifel aufkommen konnte, iſt für die Mangelhaftigkeit der land-

rechtlichen Beſtimmungen bezeichnend.

x) Reviſion von 1845. I. S. 245.

[213/0223]

§§. 58. 59. 60. Vom Rückfall.

Entwurf von 1850. dieſe Kategorie aufgegeben hat, und daß in Folge

deſſen das Geſetzbuch nach dem Vorgange des Landrechts nur, wenn

daſſelbe Verbrechen oder Vergehen wiederholt verübt worden iſt, die

Rückfallsſtrafe eintreten läßt. y)

I. Dem vollendeten Verbrechen oder Vergehen ſtehen die Theil-

nahme und der Verſuch gleich, und zwar ſowohl für den früheren oder

ſpäteren Fall als auch für beide Fälle (§. 59.). Dieß würde wohl

ohne ausdrückliche Beſtimmung ſchon aus dem Princip, welches das

Strafgeſetzbuch über den Verſuch und die Theilnahme aufgeſtellt hat,

abzuleiten ſein; im Uebrigen iſt die Vorſchrift des §. 58. Abſ. 1. ſtreng

auszulegen. Wenn alſo dieſelbe Handlung das eine Mal vorſätzlich und

ein anderes Mal aus Verſehen begangen worden iſt, ſo liegt ein Rückfall

im techniſchen Sinne nicht vor, z) und ebenſowenig würde es ohne eine

beſondere geſetzliche Beſtimmung der Fall ſein, wenn eine Handlung, die

je nach den Umſtänden bald als Verbrechen, bald als Vergehen beſtraft

wird, nicht in derſelben, ſondern in verſchiedener Weiſe wiederholt wor-

den iſt. Einer ſolchen Auslegung iſt aber das Geſetzbuch entgegengetreten

durch den Zuſatz: „ſei es mit oder ohne erſchwerende

Umſtände.“

II. Die bloße Wiederholung eines Verbrechens oder Vergehens

genügt aber nicht, um die Rückfallsſtrafe zu begründen; es muß eine

rechtskräftige Verurtheilung vorhergegangen ſein, und zwar durch einen

Preußiſchen Gerichtshof. Von dieſer Beſtimmung weichen die ande-

ren Deutſchen Geſetzgebungen meiſtens ab, und zwar in zwiefacher

Hinſicht.

a. Gewöhnlich wird vorgeſchrieben, daß zu der Verurtheilung noch

die wenigſtens theilweiſe Abbüßung der früher zuerkannten Strafe hinzu

gekommen ſein muß. a) Der Grund iſt, weil nur unter dieſer Voraus-

ſetzung eine Abſchreckung angenommen werden könne, welche die Rück-

fallsſtrafe rechtfertigt. Aber bei der Reviſion des Preußiſchen Strafrechts

iſt konſequent an der Anſicht feſtgehalten worden, daß die Verurtheilung

y) Bei Uebertretungen findet wegen Rückfalls eine Erhöhung der Strafe über

das höchſte Maaß nicht ſtatt, was aber die Berückſichtigung deſſelben bei der Zu-

meſſung nicht ausſchließt; ſ. unten §. 336.

z) Einige Strafgeſetzbücher haben dieß ausdrücklich ausgeſprochen; ſ. Sächſ.

Criminalgeſetzb. Art. 59. — Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 111.

a) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 58. — Hannov. Criminalgeſetzb.

Art. 111. — Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 58. — Heſſ. Straf-

geſetzb. Art. 95. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 46. — Mit dem Preu-

ßiſchen Geſetzbuch ſtimmen überein: Code pénal. Art. 56. — Württemberg.

Strafgeſetzb. Art. 124. — Das Badiſche Strafgeſetzbuch §. 184. fordert

zu der Verurtheilung noch die Verkündigung des Urtheils, ohne jedoch zu beſtimmen,

daß dieſelbe dem Angeſchuldigten geſchehen oder ihm bekannt geworden ſein muß.

[214/0224]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. V. Zuſammentreffen d. Verbrechen. Rückfall.

ſchon eine genügende Admonition ſei, um bei der wiederholten Verübung

des Verbrechens eine Strafſchärfung zu begründen. b)

b. Es wird in den meiſten Strafgeſetzbüchern keine Rückſicht darauf

genommen, ob das erſte Urtheil von einem inländiſchen oder ausländi-

ſchen Gerichtshofe geſprochen worden iſt. c) Auch in den früheren Ent-

würfen findet ſich dieſe Unterſcheidung noch nicht; allein ſie wurde für

nothwendig erachtet, weil durch die Gleichſtellung der ausländiſchen und

inländiſchen Erkenntniſſe den fremden Geſetzen und Behörden eine zu

ausgedehnte Macht eingeräumt werde. Der ausländiſche Richter könne

ſeinen Spruch auf ganz anderen Grundlagen des Rechts baſirt haben.

Man müſſe alſo konſequenter Weiſe dem inländiſchen Richter, der wegen

Rückfalls ſchärfen ſolle, wenigſtens die Befugniß einräumen, das frühere

ausländiſche Erkenntniß abermals zu prüfen. Eine ſolche Prüfung

dürfte aber weder leicht ausführbar ſein, noch immer zu ſicheren Reſul-

taten führen. d)

III. Bei dem Rückfall wird im Allgemeinen keine Rückſicht darauf

genommen, wie oft ein ſolcher ſtattgefunden hat; nur bei der Strafzu-

meſſung wird auch dieſer Umſtand zu erwägen ſein. Bei einzelnen

Verbrechen und Vergehen, namentlich dem Diebſtahl, dem Raube und

der Hehlerei iſt jedoch durch ausdrückliche Vorſchrift der zweite Rückfall

unter beſondere Strafen geſtellt. e)

IV. Inſofern der Rückfall eine vorhergegangene Verurtheilung

vorausſetzt, unterſcheidet er ſich nicht bloß von dem wiederholten Ver-

brechen, ſondern auch von der gewohnheitsmäßigen und gewerbsmäßigen

Verübung der Verbrechen, worin zuweilen die allgemeine Voraus-

ſetzung der Strafbarkeit, zuweilen ein ſelbſtſtändiger Schärfungsgrund

liegt. f)

b) Motive zum erſten Entwurf. I. S. 232. — Berathungs-Proto-

kolle der Staatsraths-Kommiſſion. I. S. 150. — Reviſion von 1845.

I. S. 246-48. — Mit Recht bemerkt übrigens Abegg (der Entwurf des Straf-

geſetzbuchs von 1850. S. 42.), daß bei der Strafzumeſſung darauf Rückſicht genommen

werden könne, ob die erſte Strafe verbüßt war oder nicht.

c) Doch ſtimmt das Württemberg. Strafgetzb. Art. 124. mit dem Preu-

ßiſchen überein, indem es nur ausnahmsweiſe, gegen ausländiſche Landſtreicher, durch

die Straferkenntniſſe ausländiſcher Gerichte die Rückfallsſtrafe begründen läßt. — Das

Heſſiſche Geſetzbuch Art. 96. hebt durch die Ausnahmen die aufgeſtellte Regel

für die meiſten Fälle wieder auf.

d) Reviſion von 1845. I. S. 249. — Das Badiſche Strafgeſetzbuch

§. 186. hat in der That dem über die Rückfallsſtrafe erkennenden Gericht das Recht

einer ſolchen Prüfung beigelegt, und zwar ohne Unterſchied ob das erſte Erkenntniß

von einem ausländiſchen oder inländiſchen Gericht gefällt iſt.

e) S. §. 118. 219. 240. 267. — Allgemeine Beſtimmungen dieſer Art haben

das Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 58. — Hannov. Criminalgeſetzb.

Art. 114. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 100. 101. — Bad. Strafgeſetzb.

§. 188.

f) S. §. 146. 147. 148. 239. 243. Nr. 4. 263. 264. 266. 276.

[215/0225]

§§. 58. 59. 60. Vom Rückfall.

V. In Folge des Rückfalls kann die Strafe über das geſetzliche

Maaß hinaus erhöht werden; es iſt darin alſo ein allgemeiner Schär-

fungsgrund gegeben, wie in dem jugendlichen Alter ein allgemeiner

Milderungsgrund.

a. Die Straferhöhung bezieht ſich, ſofern das Geſetz keine beſon-

deren Rückfallsſtrafen beſtimmt (ſ. oben Note e und §. 202.), nicht

auf die Strafart; dieſe bleibt dieſelbe, und wird nur ihrem

Maaße nach verſtärkt.

b. Sie kann nur um die Hälfte des geſetzlichen Maaßes erhöht

werden, und die zeitigen Freiheitsſtrafen ſollen auch in dieſem

Fall die Dauer von zwanzig Jahren nicht überſchreiten. g)

VI. Die Straferhöhung wegen Rückfalls ſoll nicht eintreten, wenn

ſeit dem Zeitpunkte, an welchem die Freiheitsſtrafe oder Geldbuße des

zuletzt begangenen Verbrechens oder Vergehens abgebüßt oder erlaſſen

worden iſt, zehn Jahre verfloſſen ſind h) (§. 60.). Hier iſt alſo aus

Nützlichkeitsgründen von dem Princip abgegangen, daß der Rückfall die

vorhergegangene Verurtheilung und nicht die Abbüßung der Strafe zu

ſeiner Vorausſetzung hat. Daß aber für die Ausſchließung der Rück-

fallsſtrafe eine beſondere Friſt und nicht die für die Verjährung der

Verbrechen und Vergehen aufgeſtellte vorgeſchrieben worden, rechtfertigt

ſich dadurch, daß für beide Fälle keine Gleichheit des Grundes vorliegt.

Die Verdunkelung der Thatſachen und die Erſchwerung der Vertheidi-

gung kommt bei der Berückſichtigung des früheren Straferkenntniſſes

nicht in Betracht, und nur die Annahme, daß die durch die erſte Ver-

urtheilung erfolgte Abſchreckung nach einem längeren Zeitablaufe bei der

Wiederholung deſſelben Verbrechens nicht mehr in Anſchlag zu bringen

ſei, iſt für die Ausſchließung der Rückfallsſtrafe maaßgebend. Wenn

nun die meiſten Deutſchen Geſetzgebungen auch die letztere durch den

Ablauf der Verjährungsfriſt ausſchließen laſſen, i) ſo iſt das für die

minder ſchweren Fälle zwar eine mildere Beſtimmung, als die des

Strafgeſetzbuchs; für die ſchweren aber iſt ſie härter. Im Allgemeinen

g) Das Preßgeſetz vom 12. Mai 1851. läßt die geſetzliche Strafe wegen

Rückfalls verdoppeln (§. 40. 42. 43. 45.); doch findet überhaupt keine Straferhö-

hung wegen Rückfalls ſtatt, wenn ſeit der letzten Verurtheilung fünf Jahre verſtrichen

ſind (§. 46.). Am Härteſten ſind die Beſtimmungen über die Entziehung des Ge-

werbebetriebs wegen Rückfalls (§. 54.), zumal bei Preßvergehen, die in der fahrläſ-

ſigen Verletzung formaler Preßvorſchriften beſtehen können, und bei einem ausgedehnten

Geſchäfte nicht leicht ganz zu vermeiden ſein werden.

h) Eine Ausnahme von dieſer Beſtimmung gilt für den Raub und die Erpreſ-

ſung; ſ. §. 233. Nr. 1.

i) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 76. — Württemb. Strafgeſetzb.

Art. 126. — Braunſchw. Criminalgeſetzb. §. 71. — Heſſ. Strafgeſetzb.

Art. 103. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 74.

[216/0226]

Th. I. Beſtrafung c. Tit. V. Zuſammentreffen d. Verbrechen. Rückfall.

aber iſt zu bemerken, daß es ſich hier nicht wie bei der Verjährung um

abſolut wirkſame Friſten handelt, ſondern nur um die Ausſchließung

eines Strafſchärfungsgrundes, deſſen Berückſichtigung im einzelnen Fall

dem richterlichen Ermeſſen überlaſſen iſt, wobei es ſich von ſelbſt ver-

ſteht, daß bei den abſoluten Strafen der Rückfall überhaupt keinen

Einfluß ausüben kann. k)

k) Auch das Badiſche Strafgeſetzbuch §. 200-202. hat für die Aus-

ſchließung der Rückfallsſtrafe beſondere Verjährungsfriſten, bei deren Feſtſetzung ſehr

kaſuiſtiſche Unterſcheidungen gemacht ſind. — Zu weit geht Abegg, a. a. O. S. 43.,

wenn er die Ausſchließung der Rücksfallsſtrafe als nothwendige Folge der Verjäh-

rung des erſten Verbrechens oder Vergehens darſtellt; Beides iſt poſitiven Rechtes

und beruht nicht auf demſelben Grunde. Das Franzöſiſche Recht, das Allgemeine

Landrecht, und ebenſo das Hannoverſche Criminalgeſetzbuch nehmen beim Rückfall auf

die Zwiſchenräume, welche zwiſchen den verſchiedenen ſtrafbaren Handlungen liegen,

gar keine Rückſicht. Auch für das Strafgeſetzbuch iſt die Beſtimmung des §. 60.

nicht ohne Widerſtreben angenommen worden; der Staatsrath verwarf noch einen

darauf gerichteten Vorſchlag: ſ. Protokolle, Sitzung vom 29. Jan. 1840.

[[217]/0227]

Zweiter Theil.

Von den einzelnen Verbrechen und Vergehen und deren

Beſtrafung.

Erſter Titel.

Hochverrath und Landesverrath.

§. 61.

Ein Unternehmen, welches darauf abzielt:

1) den König zu tödten, gefangen zu nehmen, in Feindes Gewalt zu lie-

fern, oder zur Regierung unfähig zu machen, oder

2) die Thronfolge oder die Staatsverfaſſung gewaltſam zu ändern, oder

3) das Gebiet des Preußiſchen Staats ganz oder theilweiſe einem fremden

Staate einzuverleiben, oder einen Theil des Gebiets vom Ganzen los-

zureißen,

iſt Hochverrath und ſoll mit dem Tode beſtraft werden.

Im Falle der Gefährdung des Lebens, der Geſundheit oder der Freiheit

des Königs (Nr. 1.) ſoll zugleich auf Verluſt der bürgerlichen Ehre erkannt

werden.

§. 62.

Als ein Unternehmen, durch welches das Verbrechen des Hochverraths voll-

endet wird, iſt eine ſolche Handlung anzuſehen, durch welche das verbrecheriſche

Vorhaben unmittelbar zur Ausführung gebracht werden ſoll.

Der weite Begriff, welchen das gemeine Recht mit dem Majeſtäts-

verbrechen (crimen majestatis) verbindet, und der ſich noch im Allg.

Landrecht in der Definition des Staatsverbrechens wieder findet, iſt in

dem Strafgeſetzbuch wie in faſt allen neueren Geſetzgebungen in ver-

ſchiedene ſelbſtändige Verbrechen aufgelöſt worden, welche ſowohl ihrem

Thatbeſtande nach als auch in Beziehung auf ihre Beſtrafung beſtimmt

auseinander gehalten werden. Als die wichtigſten dieſer Verbrechen

ſtellen ſich Hochverrath, Landesverrath und Majeſtätsbeleidigung dar.

Beſeler Kommentar. 15

[218/0228]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

Die letztere, eigentlich nur eine mit Rückſicht auf die beleidigte Perſon

erſchwerte Ehrverletzung, kommt hier vorläufig nicht in Betracht. Hoch-

verrath und Landesverrath aber ſtehen ſich ſo nahe, daß ſie füglich in

Einem Titel zuſammengeſtellt werden konnten. Im Allgemeinen freilich

liegt der Unterſchied darin, ob die verrätheriſche Handlung ſich unmit-

telbar gegen den Staat wendet oder ihn nur den auswärtigen Feinden

gegenüber gefährdet, und inſofern trifft dieſe Eintheilung mit der des

Rheiniſchen Rechts zuſammen, welches die Verbrechen gegen die innere

Sicherheit des Staates und die Verbrechen gegen die äußere Sicherheit

des Staates in beſonderen Abſchnitten behandelt. Allein für die Be-

griffsbeſtimmung erſchöpfend iſt jene Unterſcheidung doch nicht, und in

dem Fall, wo der Hochverrath darauf gerichtet iſt, das Preußiſche

Staatsgebiet ganz oder theilweiſe einem fremden Staate einzuverleiben,

trifft er ſeinem Gegenſtande nach mit dem Landesverrath zuſammen, und

bekommt nur durch die Verſchiedenheit der verbrecheriſchen Abſicht ſeinen

beſonderen Charakter. a)

Zuerſt wird nun in dieſem Titel von dem Begriff und der Beſtra-

fung des Hochverraths gehandelt (§. 61. 62.); dann folgen das Kom-

plott und andere auf ein hochverrätheriſches Unternehmen ſich beziehende

vorbereitende Handlungen, für welche das Strafgeſetzbuch ſinguläre Be-

ſtimmungen aufſtellt (§. 63-66.); daran ſchließt ſich der Landesverrath

an (§. 67-71.), und zum Schluß kommen einige für beide Verbrechen

gemeinſame Anordnungen (§. 72. 73.). Der Hochverrath im engeren

Sinne, als vollendetes Verbrechen gedacht, bildet daher den Gegenſtand

der hier folgenden Erörterung.

Dieſelbe zerfällt in drei Abtheilungen, indem zuerſt über den Be-

griff des Hochverraths, dann über die einzelnen Arten der verbrecheri-

ſchen Thätigkeit mit Rückſicht auf ihren Gegenſtand und zuletzt über die

Beſtrafung gehandelt wird.

A. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein Verbrechen, wel-

ches bezweckt, die Exiſtenz eines Staates oder die in demſelben beſtehende

Rechtsordnung aufzuheben, nicht dann erſt beſtraft werden kann, wenn

es nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen für vollendet zu halten iſt. Denn

der glückliche Erfolg des Unternehmens wird wenigſtens in vielen Fäl-

len die Strafloſigkeit derjenigen, welche ſich dabei betheiligt haben, her-

beiführen. Daher erklärt es ſich, daß wohl in allen Geſetzgebungen der

a) Die P. G. O. Art. 124. hat noch das Verbrechen der Verrätherei, welche

nicht bloß gegen den Staat (Land, Stadt, eigenen Herrn) gerichtet iſt, und ſich be-

ſonders durch die Art der Verübung von der Empörung (P. G. O. Art. 127.)

unterſcheidet. Auch das Engliſche Recht nimmt das Verbrechen des treason noch in

einem ſehr weiten Sinn.

[219/0229]

§§. 61. 62. Der vollendete Hochverrath.

Verſuch beim Hochverrath anders behandelt wird, wie bei den übrigen

Verbrechen; daß er nicht von dem vollendeten Verbrechen als die noch

unvollkommene Form der rechtswidrigen Thätigkeit getrennt und demſel-

ben gegenübergeſtellt wird, ſondern daß vielmehr der Thatbeſtand des

Hochverraths weit genug ausgedehnt worden iſt, um auch die Verſuchs-

handlungen darunter zu befaſſen. Dieß iſt namentlich auch nach dem

Vorgange des gemeinen Deutſchen Kriminalrechts im Allgemeinen Land-

recht geſchehen, b) indem auf die verſchiedenen Abſtufungen der Verſuchs-

handlungen keine Rückſicht genommen, und, worauf es hier beſonders

ankommt, der Hochverrath unbedingt mit der Todesſtrafe bedroht wird.

— Eine mildere Auffaſſung findet ſich ſchon im Code pénal. Hier

werden nicht alle Verſuchshandlungen unter den Begriff des Hochver-

raths geſtellt, ſondern nur diejenigen, welche nach allgemeinen Grund-

ſätzen ſchon ſtrafbar ſein würden, indem ſie einen Anfang der Ausfüh-

rung enthalten, oder welche ſich als eine Verſchwörung zur Verübung

des Hochverraths darſtellen. Darauf beruht die Beſtimmung des Code

pénal, daß der Hochverrath das Attentat und das Komplott umfaßt,

und in beiden Fällen mit der gleichen Strafe bedroht iſt. Ausgeſchloſſen

ſind hier alſo von dem Begriff des Verbrechens die entfernteren Ver-

ſuchshandlungen, inſofern ſie nicht als eine Verſchwörung aufgefaßt

werden können. c) Einen Schritt weiter iſt noch das Franzöſiſche Geſetz

vom 28. April 1832. gegangen, indem es auch das Komplott von dem

Begriff des Hauptverbrechens ausgeſchieden und unter eine mildere

Strafe geſtellt hat.

Die neueren Deutſchen Strafgeſetzbücher ſind nun im Weſentlichen

der Franzöſiſchen Geſetzgebung gefolgt, indem ſie theils den Standpunkt

des Code pénal feſtgehalten und das Komplott unter den Thatbeſtand

des Hochverraths aufgenommen, d) theils in Uebereinſtimmung mit dem

Geſetz vom 28. April 1832. daſſelbe abgeſondert behandelt und mit ei-

ner milderen Strafe bedroht haben. e) Zu dieſer letzteren Klaſſe gehört

auch das Strafgeſetzbuch, indem ſeit der Reviſion von 1845. das Kom-

plott von dem Begriff des vollendeten Hochverraths ausgeſchieden wor-

b) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 92. „Ein Unternehmen, welches auf eine ge-

waltſame Unnvälzung der Verfaſſung des Staats, oder gegen das Leben oder die

Freiheit ſeines Oberhaupts abzielt, iſt Hochverrath.“

c) Code pénal. Art. 86-89.

d) Württemberg. Strafgeſetzb. Art. 140. — Hannov. Criminal-

geſetzb. Art. 119. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 129.

e) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 81. 83. — Braunſchweig. Crimi-

nalgeſetzb. §. 81. 82. — Badiſch. Strafgeſetzb. §. 586. 592. — Thü-

ring. Strafgeſetzb. Art. 77-79.

15*

[220/0230]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

den iſt. f) In dem §. 61. wird der Hochverrath als ein Unternehmen

bezeichnet, welches auf die Erreichung des näher angegebenen Zwecks

abzielt, und in dem §. 62. wird die genauere Begriffsbeſtimmung des

vollendeten Verbrechens aufgeſtellt, indem nur eine ſolche Handlung

darunter befaßt wird, „durch welche das verbrecheriſche Vorhaben un-

mittelbar zur Ausführung gebracht werden ſoll.“ Mit dieſer Beſtim-

mung iſt daſſelbe ausgedrückt, was das Franzöſiſche Recht als ein At-

tentat bezeichnet. In der Kommiſſion der zweiten Kammer entſpann

ſich jedoch über dieſe Ausdrücke eine ausführliche Verhandlung, welche

für das richtige Verſtändniß des Geſetzbuchs von Wichtigkeit iſt.

„Indeß wurde in der Kommiſſion von Einer Seite bemerkt, daß

trotz dieſer beſchränkenden Beſtimmungen der Ausdruck „Unternehmen“ im-

mer noch zu vage und deswegen gefährlich ſei; daß durch denſelben die

zur Strafbarkeit nothwendige Form der Handlung, der Akt materieller

Gewaltſamkeit, der, wenn man willkührliche Auslegungen vermeiden

wolle, als das erſte Element des Hochverraths bezeichnet werden müſſe,

nicht deutlich genug charakteriſirt ſei; es wurde deshalb vorgeſchlagen,

ſtatt dieſes farbloſen Ausdrucks „Unternehmen“ die Bezeichnung „An-

griff“ zu wählen, und zur weiteren Begründung darauf hingewieſen,

daß in der Doktrin des Deutſchen Strafrechts faſt allgemein dieſer Aus-

druck adoptirt und von dort aus in mehrere neue Deutſche Strafgeſetz-

gebungen übergegangen ſei, und daß ſelbſt die dem gegenwärtigen Ent-

wurfe vorhergegangenen Entwürfe, insbeſondere der vom Jahre 1843.,

zwar auch des Ausdrucks „Unternehmen“ ſich bedienen, dabei aber in

der dem jetzigen §. 53. (62.) entſprechenden Beſtimmung das Unterneh-

men ausdrücklich als einen „Angriff“ definiren. g) Auch ſchließe ſich

dieſer Ausdruck „Angriff“ dem in der Rheiniſchen und Franzöſiſchen Ge-

ſetzgebung gebrauchten Worte attentat ſo enge wie möglich an.“

„Gegen dieſen Antrag wurde erwiedert, daß „Angriff“ keineswegs

dem für hochverrätheriſche Handlungen allerdings ſehr bezeichnenden Worte

attentat entſpreche, indem dies vielmehr mit dem im Deutſchen wenig

gebräuchlichen Worte „Anſchlag“ zu überſetzen ſei; — der Ausdruck

„Angriff“ ſei einmal keine übliche legale Bezeichnung, ſodann aber paſſe

er durchaus nicht zu vielen Handlungen, welche unzweifelhaft als hoch-

verrätheriſche zu beſtrafen ſeien, wie z. B. die Vergiftung des Königs;

f) Der Entwurf von 1843. §. 144. bedroht jedoch auch bei dem Komplott

nur die Anſtifter oder Rädelsführer mit der Todesſtrafe. Vgl. Reviſion von 1845.

II. S. 4. 5. und Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſ-

ſes, beſonders die Erklärung des Regierungs-Kommiſſars Biſchoff. III. S. 5. 6.

g) Der Ausdruck „Angriff“ findet ſich in dem Entwurf von 1830. §. 103.; im

Entwurf von 1833. §. 114. wurde dafür „Unternehmen“ geſetzt, und zwar ohne die

Beſchränkung, welche jetzt der §. 62. enthält.

[221/0231]

§§. 61. 62. Der vollendete Hochverrath.

das Requiſit der Gewaltſamkeit, ſoweit letztere überhaupt nothwendig,

ſei, ſtatt durch die allgemeine Bezeichnung der Handlung, vielmehr da-

durch auszudrücken, daß es bei den in den Nr. 1. 2. und 3. des Al. 1.

im §. 61. angegebenen Richtungen der Handlung mit aufgenommen

werde. Demgemäß wurde von der Kommiſſion dieſer Antrag abge-

lehnt.“ h)

Dieſe hier angedeutete Wiederholung der Bezeichnung des hochver-

rätheriſchen Unternehmens als eines gewaltſamen in den unter Nr. 1.

und 3. des §. 61. aufgeführten Fällen wurde ſpäter aber nicht für

nothwendig gehalten, weil die Fälle unter Nr. 1. wie die unter Nr. 3.

der Natur der Sache nach eine andere Art der Verübung als durch

Gewalt nicht wohl denken laſſen. i)

Ganz anders freilich würde es ſich verhalten, wenn die Faſſung

beibehalten worden wäre, welche ſich in dem Entwurf von 1836.

§. 144. findet; hier iſt nämlich unter Nr. 2. ſtatt des Ausdrucks „ge-

waltſam“ die viel weitere Bezeichnung „eigenmächtig“ gebraucht worden.

Dieſe Aenderung wurde jedoch ſchon in der Staatsraths-Kommiſſion

zurückgewieſen, indem dabei die folgenden Motive maaßgebend waren. k)

„Was den objektiven Thatbeſtand des Hochverraths und die Art

der Handlung, durch welche derſelbe verübt wird, betrifft, ſo wurde be-

merkt, daß das Beiwort „eigenmächtig“, welches der Entwurf in Nr. 2.

des §. 144. ſtatt des im Landrecht und in allen andern Geſetzgebungen

gebrauchten Ausdrucks „gewaltſam“ gewählt habe, das hier vorliegende

Verbrechen nicht gehörig bezeichne, indem es nur die Widerrechtlichkeit

des Zwecks oder den dolus des Thäters ausdrücke, während das Wort

„gewaltſam“ außerdem noch andeute, daß die Veränderung keine ruhig

und im organiſchen Wege vorgenommene, ſondern eine durch phyſiſche

oder moraliſche Gewalt erzwungene, das Beſtehende plötzlich umſtür-

zende geweſen ſein müſſe. Nothwendig ſei es, das Wort „gewaltſam“

beizubehalten, weil auch in dem Sinne des §. 92. (Th. II. Tit. 20.)

des Allg. Landrechts Hochverrath nur da anzunehmen ſei, wo das Un-

ternehmen des Thäters auf eine, wenigſtens im letzten Augenblick der

Entſcheidung durch Gewalt zu bewirkende Umwälzung der Staatsver-

faſſung abzwecke, nicht aber auch da, wo dieſe Umgeſtaltung durch bloß

geiſtige oder moraliſche Mittel bewirkt werden ſolle.“

h) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §§. 52. 53. (61.

62.). Vgl. auch Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion.

II. S. 4-6. 154. 155.

i) Kommiſſionsbericht a. a. O. — Rede des Abgeord. Bürgers in der

Sitzung der zweiten Kammer vom 27. März 1851.

k) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 3. 4.

[222/0232]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

Was endlich noch die bei dem Hochverrath betheiligten Perſonen

betrifft, ſo verſteht es ſich im Allgemeinen freilich von ſelbſt, daß das

Verbrechen ſeinem Begriffe nach nur von einem Preußen verübt werden

kann, denn nur ein ſolcher iſt zu der Treue verpflichtet, deren Bruch

gerade den Verrath begründet. Wenn deſſenungeachtet in den von dem

Hochverrath handelnden Paragraphen nicht bloß ein Preuße als das

Subjekt des Verbrechens bezeichnet wird, ſondern die Strafbeſtimmun-

gen allgemein gefaßt und auch auf Ausländer bezogen worden ſind, ſo

beruht das auf Gründen, welche oben §. 3. und 4. ihre allgemeine

Erörterung gefunden haben. Es iſt die Ausübung eines Noth- und

Vertheidigungsrechts des Staates gegen ſeine Feinde, gegründet auf

dem nach dem allgemeinen Völkerrecht jedem Staate zuſtehenden Recht

der Selbſterhaltung. I)

B. In dem Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer wird es

als ein weſentliches Merkmal des Hochverraths hervorgehoben, welches

denſelben namentlich von dem Landesverrath unterſcheide, daß das Ver-

brechen gegen die Exiſtenz des Staates gerichtet ſei, während die lan-

desverrätheriſche Handlung ſich darauf beſchränke, den Staat im Ver-

hältniß zu anderen Staaten zu gefährden. Inwiefern dieſer Gegenſatz

für die §. 61. Nr. 3. bezeichneten Fälle begründet iſt, wird ſogleich un-

terſucht werden; in der Allgemeinheit aber, in welcher jene Begriffs-

beſtimmung aufgeſtellt und namentlich in dem Bericht der Kommiſſion

der erſten Kammer zu §. 61. wiederholt worden iſt, läßt ſie ſich nicht

rechtfertigen. Wenn auch in der Erbmonarchie der Souverain als ſelbſt-

berechtigen Träger der höchſten Staatsgewalt erſcheint, und ein Angriff,

der ihn in dieſer Eigenſchaft trifft, als Hochverrath aufgefaßt werden

muß, ſo iſt doch ein ſolcher Angriff nicht nothwendig gegen die Exiſtenz

des Staates gerichtet. Ebenſo verhält es ſich mit den unter Nr. 2.

bezeichneten Handlungen; ſie können die Vernichtung des Staates be-

zwecken, aber nothwendig iſt es nicht, und es wird nicht einmal das

Gewöhnliche ſein, da die Aenderung der Staatsverfaſſung die Fortdauer

des Staates unter einer anderen Verfaſſung in ſich ſchließt. Ebenſo

ſind unter Nr. 3. ausdrücklich Handlungen bezeichnet, welche nur die

Integrität des Staatsgebiets gefährden. Es iſt überhaupt bedenklich,

bei einem Verbrechen, deſſen Begriff in ſeiner genaueren Beſtimmung

auf poſitiven Vorſchriften beruht, und deſſen Thatbeſtand in den ver-

ſchiedenen Geſetzgebungen in ſehr abweichender Weiſe feſtgeſtellt worden

iſt, ein weſentliches Merkmal anzugeben, welches nicht beſtimmt und

I) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 2. 3. — Reviſion von 1845.

II. S. 1. 2. — Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 66.

[223/0233]

§§. 61. 62. Der vollendete Hochverrath.

unzweideutig in dem Geſetzbuch ſelbſt ausgeſprochen iſt. Will man es

aber aus deſſen einzelnen Vorſchriften herleiten, ſo muß es doch auch

allgemein zutreffend ſein. — Nach dem Strafgeſetzbuch liegt in folgen-

den Fällen ein Hochverrath vor:

I. Das Unternehmen zielt darauf ab, den König zu tödten, ge-

fangen zu nehmen, in Feindes Gewalt zu liefern oder zur Regierung

unfähig zu machen. Es ſind dieß Alles Handlungen, welche gegen den

Souverain als den Träger der höchſten Staatsgewalt gerichtet ſind, und

einen Bruch der ihm ſchuldigen Treue enthalten. Wenn die Perſön-

lichkeit des Souverains in der Abſicht ihn zu beleidigen angegriffen

wird, nicht alſo ein Bruch der Treue, ſondern eine Verletzung der ihm

ſchuldigen Ehrfurcht ſtatt findet, ſo liegt nicht das Verbrechen des Hoch-

verraths, ſondern das der Majeſtätsbeleidigung vor. Zu dieſem letzteren

Verbrechen werden ſelbſt Thätlichkeiten gegen die Perſon des Königs

gezählt, wobei jedoch vorausgeſetzt werden muß, daß ſie nicht in der

Abſicht begangen worden ſind, als Mittel bei der Ausführung des vor-

her näher bezeichneten hochverrätheriſchen Unternehmens zu dienen. Un-

ter dieſer Vorausſetzung fällt daher die Verwundung des Königs, in

der Abſicht ihn zu beſchädigen, nicht unter die Vorſchrift des §. 61.,

ſondern unter die des §. 74., und hat neben der Todesſtrafe nicht den

Verluſt der bürgerlichen Ehre zur Folge. m)

Dieſer Unterſchied zwiſchen Hochverrath gegen die Perſon des Kö-

nigs und Majeſtätsbeleidigung bringt es auch mit ſich, daß bei dem

erſteren Verbrechen der Mitglieder des Königlichen Hauſes keine Erwäh-

nung geſchieht. Dagegen würde es ganz folgerichtig ſein, wenn im

Fall einer Regentſchaft Angriffe gegen den Regenten als Hochverrath

beſtraft würden. In der Staatsraths-Kommiſſion iſt dieß auch zur

Sprache gekommen; indeſſen wurde eine ſolche Beſtimmung nicht für er-

forderlich erachtet, da für den Fall der Regentſchaft doch immer beſon-

dere Anordnungen getroffen werden müßten, welche dann auch die hier

vorliegende Frage mit entſcheiden würden. n)

II. Das Unternehmen zielt darauf ab, die Thronfolge oder die

Staatsverfaſſung gewaltſam zu ändern. Die Bedeutung des Ausdrucks

„gewaltſam“ namentlich im Gegenſatz zu „eigenmächtig“ iſt ſchon oben

erörtert worden; es iſt die Revolution, um die es ſich hier handelt, die

aber, was nicht zu überſehen, nicht bloß von unten, ſondern auch von

oben her durch Angriffe gegen die Verfaſſung betrieben werden kann.

Welche einzelne Handlungen und inwiefern namentlich auch Mißbrauch

m) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 61.

n) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 6.

[224/0234]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

der Amtsgewalt hierher gehören, das läßt ſich nur bei genauer Erwä-

gung des einzelnen Falles feſtſtellen; es wird namentlich darauf ankom-

men, „ob das Unternehmen des Thäters auf eine, wenigſtens im letzten

Augenblick der Entſcheidung durch Gewalt zu bewirkende Umwälzung

abzweckt.“ Das allgemeine Merkmal der Gewaltſamkeit durfte in dem

Geſetzbuch aber nicht aufgegeben werden, wenn nicht insbeſondere bei

den, den Hochverrath vorbereitenden Handlungen in der Anwendung der

Strafgeſetze der Willkühr die Thore geöffnet werden ſollten. o)

Der Gegenſtand des Angriffs iſt die Staatsverfaſſung Preußens,

wie ſie in der Urkunde vom 31. Januar 1850. feſtgeſtellt worden.

Dieſe enthält auch Art. 53. eine ausdrückliche Vorſchrift über die Thron-

folge, ſo daß es nicht einmal nothwendig war, derſelben ausdrücklich zu

erwähnen. Auf den Umfang der bezweckten Aenderung der Verfaſſung

kommt es aber nach §. 61. nicht an.

III. Das Unternehmen zielt darauf ab, das Gebiet des Preußi-

ſchen Staats ganz oder theilweiſe einem fremden Staate einzuverleiben,

oder einen Theil des Gebiets vom Ganzen loszureißen. Vergleicht man

mit dieſer Beſtimmung die Vorſchriften über den Landesverrath, nament-

lich in §. 69., ſo ſtellt ſich zwiſchen dieſem und dem hier behandelten

Fall des Hochverraths folgender Unterſchied heraus. Bei dem letzteren

waltet die Abſicht vor, die Exiſtenz oder Integrität des Preußiſchen

Staates aufzuheben, das Verbrechen iſt unmittelbar darauf gerichtet;

der Landesverräher gefährdet auch ſein Vaterland, dem Feinde gegenüber;

er kann ſogar den Verrath begehen, indem er Feſtungen, Päſſe, beſetzte

Plätze in feindliche Gewalt bringt, und alſo dahin wirkt, einen Theil

des Gebiets, wenn auch nur vorübergehend, vom Ganzen loszureißen.

Aber darin liegt doch zunächſt nicht das ihn beſtimmende Motiv, der

Zweck ſeiner Handlung; er will der feindlichen Macht Vorſchub leiſten

und zu dieſem Behuf überliefert er ihr die Feſtung oder andere Verthei-

digungspoſten. Geht ſein Plan weiter, bezweckte er durch den Verrath

die Abreißung eines Gebietstheiles zu bewirken, dann liegt ein Hoch-

verrath vor. Es iſt daher eine ganz richtige Bemerkung, wenn der

Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer ſagt, mit dem veränder-

ten Zweck gehe die landesverrätheriſche Handlung in den Hochverrath

o) Zu weit geht in dieſer Beziehung Abegg, Der Entwurf des Strafgeſetzbuchs

von 1850. S. 47. 48. Gegen eigenmächtige Verfaſſungsänderungen, welche nicht

unter den Begriff des Hochverraths oder eines anderen beſtimmten Verbrechens oder

Vergehens fallen, muß das Geſetz über die Verantwortlichkeit der Miniſter die Straf-

beſtimmungen enthalten. — Auch ſcheint a. a. O. der Zweifel doch unbegründet, wenn

ein ſolcher überhaupt hat ausgedrückt werden ſollen, ob in der Aufhebung der Staats-

verfaſſung auch eine Aenderung im Sinne des §. 61. des Geſetzbuchs liege.

[225/0235]

§§. 63—66. Vorbereitung eines hochverrätheriſchen Unternehmens

über; nur iſt, wie oben gezeigt worden, bei dieſem letzteren Verbrechen

der Zweck nicht nothwendig gegen die Exiſtenz des Staates gerichtet.

Die unter Nr. 3. aufgeführten Fälle ſind übrigens in den neueren

Deutſchen Strafgeſetzbüchern ohne Ausnahme unter dem Hochverrath

und nicht unter dem Landesverrath befaßt worden. p)

C. Die Strafe des vollendeten Hochverraths iſt die Todesſtrafe;

auch ſoll im Fall der Gefährdung des Lebens, der Geſundheit oder der

Freiheit des Königs (Nr. 1.) zugleich auf Verluſt der bürgerlichen Ehre

erkannt werden. Schärfungen der Todesſtrafe, an denen das frühere

Recht für dieß Verbrechen ſo reich war, kommen auch hier nicht mehr vor.

§. 63.

Haben zwei oder mehrere Perſonen die Ausführung eines hochverrätheri-

ſchen Unternehmens verabredet, ohne daß es ſchon zum Beginn der im §. 62.

bezeichneten Handlung gekommen iſt, ſo ſoll ſie die Strafe von fünfjährigem

bis lebenslänglichem Zuchthaus treffen.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo tritt Einſchlie-

ßung nicht unter fünf Jahren ein.

Neben der Einſchließung ſoll das Urtheil zugleich den Verluſt oder die zei-

tige Unterſagung der Ausübung nachſtehender bürgerlichen Ehrenrechte aus-

ſprechen:

1) der Fähigkeit, öffentliche Aemter zu führen oder zu erlangen:

2) der Fähigkeit, Geſchworener zu ſein, in öffentlichen Angelegenheiten zu

ſtimmen, zu wählen oder gewählt zu werden, oder die aus öffentlichen

Wahlen hervorgegangenen Rechte auszuüben.

§. 64.

Gleiche Strafe (§. 63.) ſoll denjenigen treffen, welcher zur Vorbereitung

eines Hochverraths, entweder mit einer auswärtigen Regierung ſich einläßt,

oder die ihm vom Staate anvertraute Macht mißbraucht, oder Mannſchaften

anwirbt oder in den Waffen einübt.

§. 65.

Wer öffentlich durch Rede oder Schrift zur Ausführung einer Handlung

auffordert, welche nach §. 62. als ein hochverrätheriſches Unternehmen zu be-

ſtrafen wäre, ſoll mit zwei- bis zehnjährigem Zuchthaus, oder, wenn feſtgeſtellt

wird, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, mit Einſchließung von zwei bis

zu zehn Jahren beſtraft werden.

p) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 81. — Württemb. Strafgeſetzb.

Art. 140. — Braunſchw. Criminalgeſetzb. §. 81. — Hannov. Criminal-

geſetzb. Art. 119. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 129. — Badiſches Straf-

geſetzbuch. §. 588. — Thüringſch. Strafgeſetzbuch. Art. 78. — Im Allge-

meinen ſind zu vergleichen: Motive zum erſten Entwurf II. S. 7. — Verhand-

lungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 54. 55. — Ver-

handlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III. S. 15.

[226/0236]

Th. II. B. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

§. 66.

Jede andere, ein hochverrätheriſches Unternehmen vorbereitende Handlung

ſoll mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, oder, wenn feſtgeſtellt wird, daß mil-

dernde Umſtände vorhanden ſind, mit Einſchließung von Einem bis zu fünf

Jahren beſtraft werden.

An die Vorſchriften des Geſetzbuchs über den vollendeten Hochver-

rath ſchließen ſich andere an über ſolche Handlungen, welche nach all-

gemeinen Rechtsgrundſätzen nicht ſtrafbar ſein würden, bei dem Hoch-

verrath aber, wo der Thatbeſtand des Verbrechens ſchon den Verſuch

in ſich ſchließt, in den Kreis der Strafſatzungen mit hineingezogen ſind.

Dieſe Handlungen ſind: das Komplott (§. 63.); beſonders ſchwere Fälle

der Vorbereitung eines Hochverraths (§. 64.); die öffentliche Aufforde-

rung zu einem hochverrätheriſchen Unternehmen (§. 65.) und jede an-

dere, ein hochverrätheriſches Unternehmen vorbereitende Handlung (§.66.).

Die Abweichung von allgemeinen Rechtsgrundſätzen beſteht in den ange-

führten Fällen darin, daß bloß vorbereitende Handlungen, die keinen An-

fang der Ausführung enthalten, gegen die Regel des §.31. beſtraft wer-

den ſollen, und daß nach §. 65. die Aufforderung zu einem Verbre-

chen, ohne Rückſicht auf ihren Erfolg, mit einer andern Strafe bedroht

iſt als der des §. 36.

Doch hat, wie oben gezeigt worden iſt, das Strafgeſetzbuch ſich

darin von der älteren Geſetzgebung und Jurisprudenz getrennt, daß es

dieſe Fälle von dem Hochverrath ſelbſt ausgeſchieden und unter mildere

Strafen geſtellt hat. Auch ſind die ſtrafbaren Handlungen immer auf

den, §. 62. definirten Begriff des vollendeten Hochverraths bezogen, ſo

daß ſie auf ein beſtimmtes Unternehmen dieſer Art gerichtet ſein müſſen,

um unter die geſetzliche Strafe zu fallen, und allgemeine, vage hochver-

rätheriſche Pläne und Beſtrebungen nicht dazu gerechnet werden, wenn

ſie auch aus andern Gründen, z. B. weil ſie zu einer verbotenen Ver-

bindung geführt haben, ſtrafbar erſcheinen können. Dieſer Sinn der

betreffenden Beſtimmungen wurde in der Kommiſſion der zweiten Kam-

mer als der richtige anerkannt, und die Kommiſſion fand ſich dadurch

veranlaßt, den Inhalt der Paragraphen im Allgemeinen beſtehen zu

laſſen, und nur eine Faſſung zu wählen, in welcher die Abſicht des

Geſetzgebers beſtimmter ausgedrückt würde. q) Zu dieſem Behuf wurden

zwei Abänderungen in der Regierungsvorlage beſchloſſen.

q) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §§. 54-56.

(63-66.)

[227/0237]

§§. 63-66. Vorbereitung eines hochverrätheriſchen Unternehmens.

1) Der §. 65. lautete in dem Entwurf von 1850. §. 55. „der-

jenige, welcher öffentlich durch Rede oder Schrift zur Ausführung eines

hochverrätheriſchen Unternehmens auffordert.“ Die Kommiſſion wählte

dafür, in Uebereinſtimmung mit der Verordnung über die Preſſe vom

30. Juni 1849. §. 14. (G. S. S. 229.) den Ausdruck: „Wer öffent-

lich durch Rede oder Schrift zur Ausführung einer Handlung auffor-

dert, welche nach §.62. als ein hochverrätheriſches Unternehmen zu

beſtrafen wäre.“

2) Der Entwurf von 1850. §. 56. hatte die Bezeichnung: „Jede

andere, die Vorbereitung eines Hochverraths bezweckende Handlung;“

ſtatt deren wurde geſetzt §. 66.: „Jede andere, ein hochverrätheriſches

Unternehmen vorbereitende Handlung.“

Nach dieſer allgemeinen Erörterung über den Thatbeſtand der

§§. 63-66. behandelten Verbrechen ſind dieſelben einzeln einer näheren

Betrachtung zu unterziehen.

A. Das Komplott oder die Verſchwörung.

Der Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer äußert ſich hier-

über in folgender Weiſe:

„Der §. 54. (63.) hebt das hochverrätheriſche Komplott, wenn es

noch nicht zum Beginn der Handlung, durch welche das verbrecheriſche

Vorhaben unmittelbar ausgeführt werden ſoll, alſo noch nicht zu dem

eigentlichen Hochverrath gekommen iſt, als ein beſonderes, dem Hoch-

verrath naheſtehendes Verbrechen hervor. Zum Thatbeſtande wird ver-

langt, daß zwei oder mehrere Perſonen die Ausführung eines hochver-

rätheriſchen Unternehmens verabredet haben. Es wurde in der Kom-

miſſion anerkannt, daß die Faſſung des Paragraphen darüber keinen

Zweifel laſſe, daß die Verabredung auf Verübung einer Handlung ge-

richtet ſein müſſe, welche nach dem §. 52. (61.) ſich als Hochverrath

darſtelle; nur darüber entſpann ſich eine Diskuſſion, ob durch das Wort

„verabredet“ in der für die Materie ſo nothwendigen Beſtimmtheit aus-

geſprochen ſei, daß nicht die bloßen Berathungen zweier oder mehrerer

Perſonen, welche jede für ſich zu einem hochverrätheriſchen Unternehmen

geneigt oder entſchloſſen ſeien, das Verbrechen der Verſchwörung beginnt

(lies: begründen), ſondern als nothwendiges Requiſit des Verbrechens

die ſchließliche Einigung der Berathenden, der endliche Beſchluß, das

Unternehmen auszuführen, verlangt werde. Das Beſtreben, dieſes Re-

quiſit in der Faſſung deutlicher hervorzuheben, führte zu verſchiedenen

Anträgen. Die Majorität fand jedoch die Faſſung des Entwurfs völlig

entſprechend, und lehnte ſämmtliche Anträge ab.“

Darüber beſtand alſo in der Kommiſſion kein Zweifel, daß der

Thatbeſtand des Komplotts noch nicht durch ein bloßes Berathen und

[228/0238]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u.

Landesverrath.

Bereden hergeſtellt werde, daß es vielmehr dazu eines feſten Beſchluſſes

bedürfe; nur wünſchte man von einer Seite einen bezeichnenderen Aus-

druck für dieſen Gedanken, etwa nach dem Vorbilde des Rheiniſchen

Rechts: „verabredet und beſchloſſen.“ r) Aber die Majorität fand in

dem Worte „verabreden“ den Sinn des Geſetzes deutlich genug ausge-

ſprochen. Es kommt hierbei auf eine ähnliche Unterſcheidung an wie

im Civilrecht, wenn noch getrennt von dem beabſichtigten Vertrage eine

Vertragsberedung anzunehmen iſt, die aber ſchon alle weſentliche Mo-

mente des Hauptgeſchäfts in ſich ſchließen muß, wenn ſie nicht zu den

rechtlich bedeutungsloſen Traktaten gehören ſoll.

Was die Strafe des hochverrätheriſchen Komplotts betrifft, ſo hatte

noch der Entwurf von 1847. §. 82. für die Anſtifter und Rädelsführer

die Todesſtrafe angedroht, für die übrigen Theilnehmer aber zehnjährige

bis lebenslängliche Zuchthausſtrafe. An die Stelle dieſer letzteren ſetzte

der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß dreijährige bis lebenslängliche Straf-

arbeit mit fakultativer Entziehung der Ehrenrechte. s) Der Entwurf von

1850. hatte die Auszeichnung der Anſtifter und Rädelsführer ganz auf-

gegeben, und es dem richterlichen Ermeſſen überlaſſen, die verſchiedenen

Grade der Verſchuldung bei der Strafzumeſſung zu berückſichtigen; die

geſetzliche Strafe ſollte zehnjähriges bis lebenslängliches Zuchthaus

ſein.

Dieſe Strafe aber ward in der Kommiſſion der zweiten Kammer ſowohl

hinſichtlich der Art als auch der Dauer angefochten. t)

„Gegen die ausſchließliche Androhung der Zuchthausſtrafe wurde

zunächſt aus dem Entwurfe ſelbſt die Inkonſequenz geltend gemacht,

welche offenbar darin liege, daß einerſeits bei dem ſchwereren Verbrechen

des eigentlichen Hochverraths nur in Einem Falle der Verluſt der bür-

gerlichen Ehre nothwendig eintrete, andererſeits aber gegen das von

dem Entwurfe ſelbſt ſonſt milder behandelte Verbrechen der Verſchwö-

rung in allen Fällen die mit der Zuchthausſtrafe nothwendig verbundene

Ehrloſigkeit verhängt werde. Wenn ſchon zur Vermeidung dieſer In-

konſequenz dem Richter die Wahl zwiſchen entehrender und nicht enteh-

render Freiheitsſtrafe gelaſſen werden müſſe, ſo widerſpreche es auch —

wurde weiter bemerkt — hier noch mehr als beim Hochverrathe ſelbſt

der Natur der Sache, bei den Theilnehmern an einer Verſchwörung

abſolut und unbedingt eine ſolche Ehrloſigkeit anzunehmen, wie ſie doch

vorhanden ſein müſſe, wenn die Strafe des Verluſtes der bürgerlichen

r) Code pénal. Art. 89. II y a complot dès que la résolution d'agir

est concertée et arrètée entre deux conspirateurs ou un plus grand

nombre, quoiqu'il n'y ait pas eu d'attentat.

s) Verhandlungen. III. S. 59.

t) Bericht der Kommiſſion zu §. 54. (63.)

[229/0239]

§§. 63-66. Vorbereitung eines hochverrätheriſchen Unternehmens.

Ehre materiell gerechtfertigt und dem Rechtsgefühle des Volkes entſpre-

chend erſcheinen ſolle. Man unterließ nicht darauf hinzuweiſen, wie

häufig ſolche Fälle hochverrätheriſcher Verabredungen vorgekommen ſeien,

welche objektiv ſo wenig gefährlich geweſen, und ſubjektiv ſo ſehr nur

aus urſprünglich edlen, durch jugendlichen Eifer irre geleiteten Anſichten

hervorgegangen, daß eine bloße Freiheitsſtrafe vollſtändig hingereicht

habe, die Irregeleiteten von ihren Beſtrebungen abzubringen, während

eine entehrende Strafe der Natur der zu beſtrafenden Handlung wider-

ſprochen und eben deshalb auf die öffentliche Meinung einen ſchädlichen

Eindruck gemacht haben würde. Gerade bei den Ehrenſtrafen ſei es

aber, wenn ſie ihre Wirkung nicht verlieren ſollten, vor Allem noth-

wendig, daß ſie in dem einzelnen Falle der Anwendung im Einklange

mit der Ueberzeugung des Volkes ſtänden.“

Die Kommiſſion beſchloß daher faſt einſtimmig, im Fall des §. 63.

bei mildernden Umſtänden die Strafe der Einſchließung eintreten zu

laſſen. „Dabei war jedoch die Mehrheit der Anſicht, daß auch in den

Fällen, in welchen eine ehrloſe Geſinnung dem Komplott nicht zum

Grunde liege, und alſo der volle Verluſt der bürgerlichen Ehren nicht

eintreten dürfe, es doch gefährlich erſcheine, den Verſchwörern nach ab-

gebüßter Freiheitsſtrafe ſofort oder überhaupt eine Einwirkung auf die

Angelegenheiten des Staates, den ſie mit gewaltſamen Umſturz bedroht

hatten, zu geſtatten.“ — Aus dieſer Erwägung iſt die

Beſtimmung,

§. 63. Abſ. 3. über die Entziehung der politiſchen Rechte für immer

oder auf Zeit hervorgegangen. Endlich ward auch hinſichtlich der Dauer

der im Entwurf vorgeſchriebenen Strafe bemerkt, daß ein Minimum

von zehn Jahren mit Rückſicht auf die möglicher Weiſe geringe Ver-

ſchuldung der Theilnehmer als zu hoch erſcheine, und es ward daher

beſchloſſen, daſſelbe auf fünf Jahre herabzuſetzen.

B. Geſetzlich ausgezeichnete Vorbereitung eines Hoch-

verraths.

Mit derſelben Strafe, welche auf die hochverrätheriſche Verſchwö-

rung geſetzt iſt, ſollen gewiſſe, beſonders ſchwere Arten der Vorbereitung

eines Hochverraths belegt werden (§.64.). Dieſelben ſind zuerſt in der

Staatsraths-Kommiſſion aufgeſtellt worden, nachdem der Beſchluß gefaßt

war, die Vorbereitungen des Hochverraths nicht gleich dem vollendeten

Verbrechen zu ſtrafen. u)

Dieſe Beſtimmungen ſind gegen diejenigen

gerichtet, welche zur Vorbereitung eines hochverrätheriſchen Unter-

nehmens

u) Berathungs-Protokolle. II. S. 12.

[230/0240]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

1) mit einer auswärtigen Regierung ſich einlaſſen, oder

2) die ihnen vom Staate anvertraute Macht mißbrauchen, oder

3) Mannſchaften anwerben oder in den Waffen einüben.

Der Sinn dieſer Beſtimmungen iſt klar; nur darüber könnten etwa

Zweifel beſtehen, was unter dem Mißbrauch der vom Staate anver-

trauten Macht (Nr. 2.) zu verſtehen ſei — ob ſich dieß nur auf mili-

tairiſche Verhältniſſe oder auch auf Fälle des Civildienſtes beziehen ſoll.

In dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſe wurde dieſer Zweifel in der

That geäußert, und von dem Landtags-Kommiſſar darauf erwiedert,

das Geſetz habe wohl an ſolche Fälle gedacht, wo Civilbeamte eine

Anzahl Unterbeamte befehligen. Er erinnere z. B. an einen Oberförſter,

der ſeine Förſter zuſammenziehe, um ein ſolches Verbrechen zu begehen,

oder an einen Ober-Kontrolleur, der 40 bis 50. ſeiner Steuerbeamten

zu einem ſolchen Zwecke vereinige. v) Solche Fälle laſſen ſich nun ſehr

wohl denken; der Mißbrauch der bewaffneten Macht durch Militair-

befehlshaber fällt jedoch ohne Zweifel ebenfalls unter die Vorſchrift des

Geſetzes, und der Sinn, der in den Worten des Landtags-Kommiſſars

zu liegen ſcheint, daß dieß nicht beabſichtigt werde, wird nur auf einer

unvollkommenen Faſſung des Berichtes beruhen.

Mit der gleichen Strafe des §. 63. iſt für die in §. 64. begrif-

fenen Fälle übrigens auch die Möglichkeit gegeben, mildernde Umſtände

in derſelben Weiſe, wie dort zugelaſſen worden, zu berückſichtigen.

C. Oeffentliche Aufforderung zu einem hochverräthe-

riſchen Unternehmen.

Wenn die öffentliche Aufforderung zur Verübung eines Verbrechens die

Folge gehabt hat, daß das Verbrechen oder ein ſtrafbarer Verſuch des-

ſelben begangen worden iſt, ſo ſoll derjenige, welcher die Aufforderung

gemacht hat, als Theilnehmer betrachtet und beſtraft werden. Dieſe

Beſtimmung des §.36. Abſ. 1., welche der Verordnung vom 30. Juni

1849. §. 13. über die Preſſe entlehnt iſt, kommt auch bei dem Hoch-

verrath zur Anwendung. Der §. 65. hat zwar eine allgemeine Faſſung

und bezieht ſich nach einer bloß wörtlichen Auslegung auch auf den

Fall, wo die Aufforderung zum Hochverrath Erfolg gehabt hat. Aber

es liegt kein Grund vor, anzunehmen, daß die Anwendung der allge-

meinen Grundſätze über die Theilnahme an einem Verbrechen gerade

hier ausgeſchloſſen ſein ſollte; w) die gegenwärtige Feſtſtellung des Straf-

v) Verhandlungen. III. S. 60. 61.

w) Vgl. Code pénal. Art. 102. Seront punis comme coupables des

crimes et complots mentionnés dans la présente section, tous ceux qui,

soit par discours tenus dans les lieux ou réunions publics, soit par pla-

cards affichés, soit par des écrits imprimés, auront excité directement les

[231/0241]

§§. 63-66. Vorbereitung eines hochverrätheriſchen Unternehmens

maaßes iſt vielmehr mit beſtimmter Beziehung auf §. 14. der ange-

führten Verordnung nur für den Fall geſchehen, wo die Aufforderung

ohne Erfolg geblieben iſt.

In dem Entwurf von 1850. §. 55. war nämlich die öffentliche

Aufforderung zum Hochverrath mit den ſo eben unter B. aufgeführten

Fällen zuſammengefaßt und mit derſelben Strafe bedroht worden. In

der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde nun zuvörderſt eine Faſſung

gewählt, wodurch es außer Zweifel geſetzt ward, daß es ſich hier nur

von einer Aufforderung zu einem beſtimmten hochverrätheriſchen Angriff

handle; ſelbſt mit dieſer Beſchränkung fand man jedoch die Gleichſtel-

lung der Strafe mit der für die beſonders ausgezeichneten Fälle der

Vorbereitung angedrohten nicht gerechtfertigt. Der Kommiſſionsbericht

äußert ſich darüber in folgender Weiſe:

„Aber auch bei vollkommener Würdigung dieſer Beſchränkung des

Thatbeſtandes fand die Kommiſſion keinen Grund, für dieſes Verbrechen

eine ſchwerere Strafe eintreten zu laſſen, als das beſtehende Recht, die

Verordnung vom 30. Juni 1849. im §. 14., für das genau eben ſo

qualificirte Verbrechen androht, und welche in Zuchthausſtrafe von zwei

bis zehn Jahren, bei mildernden Umſtänden in Gefängniß von ſechs

Monaten bis zehn Jahren beſteht. Es wurde daher beſchloſſen, das

Strafmaaß auf Zuchthaus von zwei bis zehn Jahren herabzuſetzen, und

in konſequenter Anwendung des bei §. 54. (63.) gefaßten Beſchluſſes

bei mildernden Umſtänden ſtatt der Zuchthausſtrafe Einſchließung ein-

treten zu laſſen. Der fernere Beſchluß der Kommiſſion, die beiden in

Nr. 1. und 2. des §. 55. vorgeſehenen Handlungen wiederum, wie

früher, x) in zwei verſchiedenen Paragraphen zu behandeln, und den Fall

Nr. 1. wegen der geringeren Strafe der Reihenfolge nach als den letz-

teren einzufügen, rechtfertigt ſich hiernach von ſelbſt.“

Der §. 65. enthält daher nur eine Vorſchrift, welche der in §. 36.

Abſ. 2. gegebenen entſpricht, und der daſelbſt gemachte Vorbehalt: „ſo-

fern nicht bei anderen Verbrechen etwas Anderes beſtimmt iſt,“ findet

eben auf §. 65. ſeine Anwendung. Dabei iſt aber immer feſtzuhalten,

daß der letztere nur von der Aufforderung zu einem beſtimmten, in §. 62.

aufgeführten hochverrätheriſchen Unternehmen handelt; daß daher die

Aufforderung zu einer nur vorbereitenden Handlung und ſelbſt zur

Bildung eines Komplotts, die aber freilich nicht leicht öffentlich ge-

ſchehen wird, unter die Vorſchrift dieſes Paragraphen nicht fallen

w)

x) Vgl. Entwurf von 1847. §. 83. 84.

w) citoyens ou habitans à les commettre. — Néanmoins dans le cas où les

dites provocations n'auraient été ſuivies d'aucun effet, leurs auteurs seront

simplement punis du banissement.

[232/0242]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

würde. Der ſtrafbare Verſuch im Sinne der allgemeinen Grundſätze

des Geſetzbuchs iſt aber in dem Thatbeſtande des Hochverraths ſelbſt

mit enthalten, und kommt hier daher nicht beſonders zur Erwägung.

D. Andere Vorbereitungen.

Die Beſtimmungen des §. 66. (56.) riefen in der Kommiſſion der

zweiten Kammer eine umfaſſende Verhandlung hervor, über welche der

Kommiſſionsbericht folgende Mittheilungen enthält:

„Gegen den folgenden §. 56., welcher „jede die Vorbereitung eines

Hochverraths bezweckende Handlung“ unter Strafe ſtellt, wurde inner-

halb der Kommiſſion zunächſt geltend gemacht: es ſei gefährlich, von

der allgemeinen Theorie des Verſuchs, welche zur Strafbarkeit einer

Handlung verlange, daß ſie den Anfang der Ausführung des vollen-

deten Verbrechens darſtelle, hier beim Hochverrath ſo weit abzuweichen,

daß ohne alle nähere Charakteriſirung der Handlung jede Vorbereitung

des Hochverraths ſtrafbar erklärt und ſo der Willkühr voller Spielraum

gegeben werde. Es wurde dieſer Auffaſſung gemäß einerſeits der An-

trag geſtellt, den Paragraphen ganz zu ſtreichen, andererſeits verlangt,

auch hier ausdrücklich zu ſagen, daß nur die Vorbereitung eines „be-

ſtimmten“ hochverrätheriſchen Unternehmens Gegenſtand der Beſtra-

fung ſein ſolle; endlich wurde von einer dritten Seite vorgeſchlagen,

die genauere Präziſirung dadurch eintreten zu laſſen, daß man ſtatt der

Faſſung des Entwurfs die Faſſung wähle: „Jede andere ein hochver-

rätheriſches Unternehmen vorbereitende Handlung“ u. ſ. w.

„Nachdem der Antrag auf Streichung des ganzen Paragraphen

von der Kommiſſion mit Rückſicht auf die Gefahr der Handlung für

den Staat verworfen worden war, wurde unter den beiden zur ge-

naueren Beſtimmung vorgeſchlagenen Faſſungsänderungen der zuletzt

genannten als der entſprechenderen der Vorzug gegeben. — Hinſichtlich

der Beſtrafung war die Kommiſſion aus den bei §. 54. entwickelten

Gründen natürlich vollſtändig damit einverſtanden, daß der Entwurf

hier neben der Zuchthausſtrafe fakultativ Einſchließung eintreten laſſe;

und es wurde in dieſer Beziehung nach dem allgemeinen von dem Ver-

treter der Regierung vorgeſchlagenen Syſtem nur dieß geändert, daß die

Einſchließung eintrete, wenn feſtgeſtellt ſei, daß mildernde Umſtände vor-

liegen. Dagegen fand die Beſtimmung des Al. 2., daß auch im Falle

der Einſchließung der Schuldige nicht im Genuß der beſondern ſtaats-

bürgerlichen Ehrenrechte verbleiben ſolle, in der Kommiſſion lebhaften

Widerſpruch. Man hob hervor, daß dieſer Verluſt der beſondern Eh-

renrechte nicht bloß die Natur einer einfachen Ausſchließung von den

öffentlichen Aemtern und der Theilnahme an den öffentlichen Angele-

genheiten überhaupt habe, ſondern daß er eine eigentliche Ehrenſtrafe

[233/0243]

§§. 63-66. Vorbereitung eines hochverrätheriſchen Unternehmens.

ſei; — es gebe aber unter dieſen Handlungen der bloßen Vorbereitung

des Hochverraths unverkennbar auch ſolche, welche, hervorgegangen aus

einer augenblicklichen Aufregung, noch ſo weit von der eigentlichen Aus-

führung entfernt ſeien, daß noch keineswegs mit irgend einer Sicherheit

angenommen werden könne, der Handelnde würde im entſcheidenden

Augenblicke nicht vor einem wirklichen gewaltſamen Angriff gegen die

Staatsgewalt aus eigenem Rechtsgefühl zurückgeſchreckt ſein; es könne

deshalb bei dieſer Art von Handlungen nicht nur keine eigentlich ehr-

loſe Geſinnung, ſondern überhaupt keine der beſtehenden Staatsordnung

ſo feindliche Ueberzeugung vorausgeſetzt werden, welche es rechtfertige,

den Schuldigen auch nach verbüßter nicht entehrender Freiheitsſtrafe

dennoch an ſeinen ſtaatsbürgerlichen Rechten zu ſchmälern.“

Die Entziehung der politiſchen Rechte, im Fall mildernde Umſtände

angenommen werden, iſt daher auch im Geſetzbuch nicht vorgeſchrieben

oder auch nur freigelaſſen worden. Aber trotzdem, daß die Kommiſſion

den Thatbeſtand des in §. 66. vorgeſehenen Verbrechens näher beſtimmt

und beſchränkt, die Strafe aber weſentlich gemildert hat, iſt die Vor-

ſchrift des Geſetzes auch in ihrer gegenwärtigen Faſſung doch noch viel

zu allgemein und unbeſtimmt, und trägt noch die Spuren der Auffaſ-

ſung an ſich, welche in der früheren Doktrin und Geſetzgebung über

den Thatbeſtand des Hochverraths allgemein angenommen war. Von

den Handlungen, welche möglicher Weiſe unter die Strafandrohung des

§. 66. fallen, hat der Code pénal nur Eine beſonders unter Strafe

geſtellt, nämlich die erfolgloſe Aufforderung zur Bildung einer Ver-

ſchwörung; y) und mit welcher Vorſicht behandelt die Franzöſiſche Ju-

risprudenz ſchon dieſe Abweichung von den allgemeinen Grundſätzen

über den Verſuch! Roſſi ſtellte ſogar die Behauptung auf, daß eine

ſolche Aufforderung, wenn auch an ſich unſittlich, doch nicht mit einer

Strafe zu belegen ſei; und wenn Andere dem auch nicht beiſtimmten,

ſo ſuchte man doch allgemein durch eine ſcharfe Begrenzung des That-

beſtandes der Vorſchrift ihren gefährlichen Stachel zu nehmen.

z)

y) Code pénal. Art. 90. S'il n'y a pas eu de complot arrêté, mais

une proposition faite et non agrée d'en former un pour arriver au crime

mentionné dans l'article 86., celui qui aura fait une telle proposition, sera

puni de la reclusion. — L'auteur de toute proposition non agrée tendant

à l'un des crimes énoncés dans l'article 87., sera puni du banissement —

Das Geſetz vom 28. April 1832. ſchreibt ſtatt dieſer Strafbeſtimmungen allgemein

Gefängniß bis zu fünf Jahren und zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehren-

rechte vor.

z) Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal, I. chap.

XVII. §. 1. Nous pensons avec M. le professeur Haus (Observ. sur le

projet du Code belge, T. II. p. 27.) que cette opinion (de Rossi) est trop

exclusive. Sans doute il serait absurde de fonder une accusation sur des

paroles vagues ou légères, sur des désirs ou des menaces exprimés dans

Beſeler Kommentar. 16

[234/0244]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

Es iſt zu hoffen, daß eine weiſe Praxis den Mißbrauch dieſes

Paragraphen verhüten wird. Die allgemeinen Vorausſetzungen der

ſtrafrechtlichen Verſchuldung, inſofern ſie ſich nicht auf den Begriff des

ſtrafbaren Verſuchs beziehen, behalten auch hier ihre Geltung, und für

die Beachtung der Grenze, welche, auch wenn vorbereitende Handlungen

zur Strafe gezogen werden können, nicht zu überſchreiten iſt, bieten die

Grundſätze der frühern Doktrin über den entfernteren Verſuch (conatus

remotus) einen Anhalt. a)

§. 67.

Ein Preuße, welcher mit einer fremden Regierung in Verbindung tritt, um

dieſelbe zu einem Kriege gegen Preußen zu veranlaſſen, macht ſich des Lan-

desverraths ſchuldig, und wird mit Zuchthaus von zehn bis zu zwanzig Jah-

ren beſtraft.

Iſt der Krieg wirklich ausgebrochen, ſo ſoll der Thäter mit dem Tode und

dem Verluſte der bürgerlichen Ehre beſtraft werden.

§. 68.

Ein Preuße, welcher während eines gegen den Preußiſchen Staat ausge-

brochenen Krieges im feindlichen Heere Dienſte nimmt, und die Waffen gegen

Preußen oder deſſen Bundesgenoſſen trägt, wird als Landesverräther mit dem

Tode beſtraft.

Ein Preuße, welcher ſchon früher in fremden Kriegsdienſten ſtand, ſoll,

wenn er nach Ausbruch des Krieges in denſelben verbleibt und die Waffen

gegen Preußen oder deſſen Bundesgenoſſen trägt, mit Zuchthaus von drei bis

zu zehn Jahren beſtraft werden.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo tritt Ein-

ſchließung von drei bis zu zehn Jahren ein.

z)

a) Die neueren Deutſchen Strafgeſetzbücher haben in ihrer Mehrzahl über die

den Hochverrath vorbereitenden Handlungen ähnliche Beſtimmungen, wie das Preu-

ßiſche Geſetzbuch; vgl. Sächſiſches Criminalgeſetzbuch. Art. 84. — Würt-

temb. Strafgeſetzb. Art. 142. — Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 83.

— Heſſiſch. Strafgeſetzb. Art. 131. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 80.

— Nur das Hannov. Criminalgeſetzbuch führt die vorbereitenden Handlungen

nicht beſonders auf, und das Badiſche Strafgeſetzbuch, §. 594., unterſcheidet

Vorbereitungen zu einem hochverrätheriſchen Angriff gegen den Landesherrn und zu

andern hochverrätheriſchen Unternehmungen. Im letzteren Fall werden ſie einzeln

aufgeführt; durch das Geſetz vom 5. Febr. 1851. iſt noch als §. 594 a. die Auffor-

derung Anderer zu einem hochverrätheriſchen Unternehmen, wenn auch einzeln und im

Geheimen, mit Strafe bedroht worden.

z) la chaleur d'une discussion et qui même serieux ne seraient que l'expres-

sion d'une opinion, d'une pensée intime. Mais de là que suit-il? Que cette

incrimination doit être contenue dans de sages limites, definie avec préci-

sion, soumise à des conditions rigoureuses; il faut en un mot, qu'il

soit constaté que la proposition était l'expression d'un pro-

jet arrêté. Cela posé, les preuves d'une pareille proposition sont-elles

insaisissables dans tous les cas? etc.

[235/0245]

§§. 67-71. Landesverrath.

§. 69.

Ein Preuße, welcher während eines gegen Preußen ausgebrochenen Krieges

einer feindlichen Macht wiſſentlich Vorſchub leiſtet, oder den Truppen Preu-

ßens oder ſeiner Bundesgenoſſen wiſſentlich Nachtheil zufügt, wird mit Zucht-

haus bis zu zehn Jahren beſtraft.

Die Todesſtrafe tritt ein, wenn der Thäter:

1) Feſtungen, Päſſe, beſetzte Plätze oder andere Vertheidigungspoſten, in-

gleichen Preußiſche oder verbündete Truppen oder einzelne Offiziere oder

Soldaten in feindliche Gewalt bringt;

2) Feſtungswerke, Kriegsſchiffe, Kaſſen, Zeughäuſer, Magazine oder andere

Vorräthe von Waffen, Munition oder anderen Kriegsbedürfniſſen in

feindliche Gewalt bringt, zerſtört oder unbrauchbar macht;

3) dem Feinde Mannſchaften zuführt, oder Soldaten des Preußiſchen oder

verbündeten Heeres verleitet, zum Feinde überzugehen;

4) Operationspläne oder Pläne von Feſtungen oder feſten Stellungen dem

Feinde mittheilt;

5) dem Feinde als Spion dient, oder feindliche Spione aufnimmt, verbirgt

oder ihnen Beiſtand leiſtet, oder

6) einen Aufſtand unter den Preußiſchen oder verbündeten Truppen erregt.

§. 70.

Gegen Ausländer iſt wegen der in den §§. 67. und 69. erwähnten Hand-

lungen nach dem Kriegsgebrauche zu verfahren.

Begehen ſie aber ſolche Handlungen, während ſie unter dem Schutze Preu-

ßens in deſſen Gebiete ſich aufhalten, ſo kommen die in den §§. 67. und 69.

beſtimmten Strafen zur Anwendung.

§. 71.

Wer vorſätzlich:

1) Staatsgeheimniſſe, oder Feſtungspläne, oder ſolche Urkunden, Akten-

ſtücke oder Nachrichten, von denen er weiß, daß das Wohl des Staates

deren Geheimhaltung, einer fremden Regierung gegenüber, erfordert,

dieſer Regierung mittheilt oder öffentlich bekannt macht, oder

2) zur Gefährdung der Rechte des Staates im Verhältniß zu einer frem-

den Regierung die darüber ſprechenden Urkunden oder Beweismittel

vernichtet, verfälſcht oder unterdrückt, oder

3) ein ihm aufgetragenes Staatsgeſchäft mit einer fremden Regierung zum

Nachtheil Preußens führt, wird mit Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig

Jahren beſtraft.

Die Beſtimmungen des Geſetzbuchs über den Landesverrath zerfal

len in zwei Abtheilungen, je nachdem derſelbe ſich nämlich auf den Krieg

oder auf Verhältniſſe anderer Art bezieht.

A. Der Landesverrath in Beziehung auf den Krieg.

Hierüber wird in den §§. 67-70. gehandelt, in denen der That-

beſtand und die Beſtrafung des Verbrechens für die einzelnen Fälle näher

feſtgeſtellt ſind.

16*

[236/0246]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

I. Ein Preuße tritt mit einer fremden Regierung in Verbindung,

um dieſelbe zu einem Kriege mit Preußen zu veranlaſſen (§. 67.). Die

Strafe dieſes Verbrechens beſteht in Zuchthaus von zehn bis zu zwanzig

Jahren; iſt aber der Krieg wirklich ausgebrochen, ſo ſoll der Thäter

mit dem Tode und dem Verluſte der bürgerlichen Ehre beſtraft werden.

II. Ein Preuße trägt während eines gegen den Preußiſchen Staat

ausgebrochenen Krieges die Waffen gegen Preußen oder deſſen Bundes-

genoſſen. Hier werden zwei Fälle unterſchieden:

a. Der Thäter nimmt erſt während des Krieges Dienſte im feind-

lichen Heere. Dann wird er als Landesverräther mit dem Tode be-

ſtraft (§. 68. Abſ. 1.).

b. Der Thäter ſtand ſchon früher in fremden Kriegsdienſten und

verbleibt nach Ausbruch des Krieges in denſelben. Dann ſoll er mit

Zuchthaus von drei bis zu zehn Jahren, oder, wenn das Vorhanden-

ſein mildernder Umſtände feſtgeſtellt wird, mit Einſchließung von der-

ſelben Dauer beſtraft werden (§. 68. Abſ. 2. 3.). — Es leuchtet

übrigens ein, wie viel weniger ſtrafbar dieſer zweite Fall ſich darſtellt,

als der erſte, was auch in der Strafbeſtimmung des Geſetzbuchs berück-

ſichtigt worden iſt, und namentlich die Zulaſſung mildernder Umſtände,

welche ſonſt bei dem Landesverrath nicht anerkannt werden, herbeigeführt

hat. Aber auch abgeſehen von dem Strafmaaße, ſind zu verſchiedenen

Zeiten Bedenken gegen die wegen des zweiten Falls erlaſſenen Straf-

beſtimmungen erhoben worden, denen aber entgegengeſetzt wurde, daß

bei dem Ausbruch eines Kriegs öffentliche Avokatorien erlaſſen würden,

denen die in fremden Dienſten befindlichen Preußen Folge zu leiſten

hätten. Wer ſich bei ſeinem Eintritt in fremden Kriegsdienſt einer ſol-

chen Abberufung nicht ausſetzen wolle, der müſſe nach den Vorſchriften

des Geſetzes vom 31. December 1842. ſein Unterthanenverhältniß zum

Preußiſchen Staate löſen. b)

Für beide Fälle gemeinſam gilt aber die Bemerkung, daß immer

vorausgeſetzt wird, es ſei ein Krieg gegen Preußen ausgebrochen, und

in dieſem Kriege trage der Landesverräther die Waffen gegen Preußen

oder ſeine Bundesgenoſſen. Der im Abſ. 2. gebrauchte Ausdruck:

„nach Ausbruch des Krieges“ kann in dieſer Hinſicht nicht mißverſtan-

den werden, da er ſich offenbar nur auf die früher gebrauchte vollſtän-

digere Bezeichnung: „eines gegen den Preußiſchen Staat ausgebrochenen

Krieges“ — bezieht. Führt alſo ein Bundesgenoſſe Preußens einen

Krieg, an welchem Preußen ſelbſt keinen unmittelbaren Antheil nimmt,

b) Motive zum erſten Entwurf. II. S. 19. — Protokolle des

Staatsraths, Sitzung vom 24. Febr. 1841. — Verhandlungen des ver-

einigten ſtänd. Ausſchuſſes. III. S. 73 ff.

[237/0247]

§§. 67-71. Landesverrath.

ſo kommt die Vorſchrift des §. 68. nicht zur Anwendung, und, wie

ſich von ſelbſt verſteht, ebenſo wenig umgekehrt, wenn der Bundesge-

noſſe, gegen welchen der Preuße dient, nicht an dem Kriege Preußens

Theil nimmt. Wenn z. B. Oeſtreich der Bundesgenoſſe Preußens iſt,

und einen Krieg gegen die Türkei führt, an welchem Preußen nicht

Theil nimmt, ſo kann ein Preußiſcher Unterthan im Türkiſchen Heere

fortdienen; und dieß würde dadurch nicht verändert werden, wenn

Preußen gleichzeitig einen Krieg etwa gegen Rußland führte, an wel-

chem ſich wieder Oeſtreich nicht betheiligte. Der entſcheidende Punkt iſt,

daß ein Krieg gegen Preußen ausgebrochen iſt, und daß in dieſem

Kriege der Dienſt im feindlichen Heere Landesverrath begründet, —

einerlei ob die Waffen gegen die Preußiſchen Fahnen unmittelbar oder

gegen die der Bundesgenoſſen getragen werden.

III. Ein Preuße, welcher während eines gegen Preußen ausge-

brochenen Krieges einer feindlichen Macht wiſſentlich Vorſchub leiſtet,

oder den Truppen Preußens oder ſeiner Bundesgenoſſen, in dem ſo

eben entwickelten Sinn des Wortes, wiſſentlich Nachtheil zufügt, wird

mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren beſtraft (§. 69.). In beſonders

erſchwerten Fällen, welche a. a. O. einzeln aufgeführt ſind, tritt die

Todesſtrafe ein. Der Entwurf von 1847. §. 89. hatte noch den Fall

hinzugefügt, wenn dem Feinde Wege oder Fuhrten nachgewieſen werden;

derſelbe wurde aber mit Rückſicht auf den von feindlichen Heerführern

geübten Kriegsgebrauch, und auf die allgemeine Strafbeſtimmung des

Paragraphen, welche hier für den Fall des vorſätzlichen Landesverraths

ausreiche, weggelaſſen, und auch in der Kommiſſion der zweiten Kammer

fand ein Antrag auf die Wiederherſtellung keine Zuſtimmung. c)

IV. Nachdem der Landesverrath in Beziehung auf den Krieg in

ſeinen einzelnen Erſcheinungen behandelt worden, folgt noch eine allge-

meine Beſtimmung über den Fall, wenn eine ſolche Handlung von

einem Ausländer begangen worden iſt (§. 70.) Nach den Beſtimmun-

gen der §§. 3. und 4. würde ſich die Sache ſo verhalten, daß, wenn

das Verbrechen in Preußen begangen worden, die Vorſchriften des

Strafgeſetzbuchs unbedingt zur Anwendung kommen, während, wenn es

im Auslande begangen worden iſt, in Preußen keine Verfolgung und

Beſtrafung deſſelben ſtattfindet. Unter den in §. 4. aufgeführten Aus-

nahmefällen ſind nämlich wohl die hochverrätheriſchen, nicht aber die

landesverrätheriſchen Handlungen bezeichnet. Nach dieſen Grundſätzen

wird nun auch zu verfahren ſein, wenn der Landesverrath ſich nicht auf

c) Verhandlungen a. a. O. S. 84 ff. — Bericht der Kommiſſion

der zweiten Kammer zu §. 59. (69.)

[238/0248]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

einen Krieg bezieht, alſo in den §. 71. vorgeſehenen Fällen. Für den

Krieg aber beſtimmt der §. 70. allgemein, daß wegen der in den §§. 67.

und 69. erwähnten Handlungen (der §. 68. kann nur auf Preußiſche

Unterthanen bezogen werden) nach dem Kriegsgebrauch zu verfahren iſt.

Es kommt alſo nicht darauf an, ob der Ausländer die Handlung in

Preußen oder außerhalb deſſelben begangen hat; nur wenn dieß ge-

ſchehen iſt, während er ſich unter dem Schutze Preußens in deſſen

Gebiet aufgehalten hat, tritt die Regel des §. 3. als maaßgebend ein,

und die Vorſchrift des §. 70. Abſ. 2. enthält daher nur die Wieder-

herſtellung der Regel des §. 3. Der Kriegsgebrauch, auf den in §. 70.

Abſ. 1. hingewieſen wird, ſteht nun freilich zu dem allgemeinen Straf-

geſetzbuch in keiner unmittelbaren Beziehung; aber der Deutlichkeit we-

gen konnte derſelbe immerhin ſo, wie es geſchehen iſt, berückſichtigt

werden.

Was endlich die ſ. g. ſujets mixtes betrifft, welche ein Antrag in

der Kommiſſion der zweiten Kammer von der Beſtrafung ausnehmen

wollte, ſo wurde beſchloſſen, derſelben nicht beſonders zu erwähnen,

weil man mit den Motiven annahm, daß von einem ſolchen Preußen,

der gleichzeitig Angehöriger eines anderen Staates ſei, und als ſolcher

in deſſen Heere diene, überall nicht geſagt werden könne, daß er in

fremden Kriegsdienſten ſtehe.

d)

B. Andere Fälle des Landesverraths.

Ein nothwendiger Gegenſatz zwiſchen den Handlungen, welche in

§. 71. aufgeführt und mit Strafe bedroht werden, zu den vorher er-

wähnten findet eigentlich nicht ſtatt. Jene können auch in Kriegszeiten

begangen werden, und ſich auch mittelbar auf den Krieg beziehen, wenn

es ſich z. B. um die Auslieferung von Feſtungsplänen, um den Ver-

rath bei Verhandlungen über die Abſchließung eines Waffenſtillſtands

oder eines Friedens handelt. Ueber den Thatbeſtand und die Beſtra-

fung der hier aufgeführten Handlungen wird es keiner erläuternden

Bemerkungen bedürfen.

§. 72.

Gegen denjenigen, welcher wegen einer der in dieſem Titel gedachten Hand-

lungen zu zeitiger Zuchthausſtrafe verurtheilt wird, ſoll auf Stellung unter

Polizei-Aufſicht erkannt werden.

§. 73.

Wenn wegen Hochverraths oder Landesverraths in den Fällen der §§. 61.,

d) Motive zum Entwurf von 1850. §. 59. — Kommiſſionsbericht

a. a. O.

[239/0249]

§§. 72. 73. Gemeinſame Beſtimmungen.

63., 64., 67., 68., 69., 70. und 71. die Unterſuchung eröffnet wird, ſo iſt

das Vermögen, welches der Angeſchuldigte bereits beſitzt, oder welches ihm

ſpäter noch anfällt, mit Beſchlag zu belegen.

Der wegen Hochverraths oder Landesverraths zum Tode oder zu lebens-

länglichem Zuchthaus rechtskräftig Verurtheilte verliert die Fähigkeit, über ſein

Vermögen unter Lebenden und von Todeswegen zu verfügen.

Die früheren Entwürfe des Strafgeſetzbuchs enthielten gemeinſame

Beſtimmungen über den Hochverrath und Landesverrath in Betreff ſolcher

Handlungen, welche gegen den Deutſchen Bund verübt würden, und in

Betreff der Strafloſigkeit, welche ſich ein Theilnehmer durch Anzeige des

Unternehmens und der Mitſchuldigen ſollte verdienen können. Beide

Vorſchriften ſind aus dem Strafgeſetzbuch entfernt worden; die erſtere,

über welche in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß noch ſo lebhaft

verhandelt wurde, e) fehlt ſchon in dem Entwurf von 1850., die letztere

iſt aus Gründen der Rechtsſicherheit und der öffentlichen Moral von

der Kommiſſion der zweiten Kammer durch Verwerfung des §. 64. be-

ſeitigt worden. f) Es kommen alſo nur noch die gemeinſamen Anord-

nungen, welche in den §§. 72. und 73. enthalten ſind, in Betracht.

I. Gegen denjenigen, welcher wegen einer der in dieſem Titel,

alſo wegen Hochverraths oder Landesverraths, mit Strafe bedrohten

Handlungen zum Zuchthaus auf Zeit verurtheilt wird, ſoll auf Stel-

lung unter Polizei-Aufſicht erkannt werden (§. 72.). Der Entwurf

von 1850. §. 62. verband die Stellung unter Polizei-Aufſicht mit der

Verurtheilung in eine zeitige Freiheitsſtrafe; die Kommiſſion der zweiten

Kammer hielt dieß aber bei der Einſchließung nicht für gerechtfertigt,

und beſchloß demgemäß die entſprechende Aenderung.

II. Wenn wegen Hochverraths oder Landesverraths die Unter-

ſuchung eröffnet wird, ſo iſt das Vermögen, welches der Angeſchuldigte

bereits beſitzt, oder welches ihm ſpäter noch anfällt, mit Beſchlag zu

belegen. Doch gilt dieß nur für die Fälle der §§. 61. 63. 64. 67

68. 69. 70. 71., indem die in §. 65. und 66. vorgeſehenen Verbrechen

als die weniger ſchweren unter dieſer Maaßregel nicht befaßt ſind

(§. 73. Abſ. 1.).

In dem Entwurfe von 1843. §. 150. 151. 160. wurde dieſe Be-

ſchlagnahme als Kuratel bezeichnet, welche gegen den flüchtigen Ver-

brecher fortbeſtehen bleiben ſollte, auch wenn gegen ihn nur auf zeitige

e) Verhandlungen. III. S. 91-129.

f) S. den Kommiſſionsbericht zu §. 64. — Bericht der Kommiſſion

der erſten Kammer zu §. 67-73.

[240/0250]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergehen. Tit. I. Hoch- u. Landesverrath.

Zuchthausſtrafe erkannt worden war. g) Doch fand dieſe ganze Anord-

nung, welche von Seiten der Regierung als Sicherungsmaaßregel gegen

die gefährlichen Beſtrebungen der Angeſchuldigten vertheidigt wurde,

namentlich auf einigen Provinziallandtagen lebhaften Widerſpruch. Die

Weſtphäliſchen Stände hielten die Einleitung der Kuratel vor ergange-

nem Urtheil für unzuläſſig, die Preußiſchen Stände wünſchten, daß die

Einleitung der Kuratel von dem Ermeſſen des Unterſuchungsrichters

abhängen möge; der Rheiniſche Ausſchuß fand die Vorſchrift überhaupt

bedenklich und überflüſſig. h) Dieſelbe ward indeſſen in dem Entwurf

von 1847. §. 96. wiederholt, ſtatt der Anordnung einer Kuratel jedoch

die vorläufige Beſchlagnahme des Vermögens vorgeſchrieben; der ver-

einigte ſtändiſche Ausſchuß nahm dagegen den Antrag an, daß die Ku-

ratel vom Unterſuchungsrichter anzuordnen ſei, wenn er es für nöthig

erachte. i) Der Entwurf von 1850. §. 63. behielt aber die Beſchlag-

nahme als eine allgemeine und nothwendige Maaßregel bei, und auch

die Kommiſſion der zweiten Kammer erklärte ſich dafür, obgleich ein-

gewandt wurde, daß ſolche Anordnungen auf die Verhältniſſe der Ge-

genwart nicht mehr paßten, und nachdem die Strafe der Vermögens-

konfiskation weggefallen, auch ihren Hauptzweck, die Beſeitigung des zu

confiscirenden Vermögens zu verhindern, verloren hätten k)

a. Die Beſchlagnahme ſoll mit der Eröffnung der Unterſuchung

verhängt werden. Darüber, wann dieſer Zeitpunkt eintritt, haben die

oben zu §. 53. gemachten Bemerkungen auch hier ihre Geltung. Ein

Antrag, ſtatt „Eröffnung der Unterſuchung“ zu ſagen: „Verſetzung in

den Anklageſtand,“ erhielt in der Kommiſſion der zweiten Kammer nicht

die Mehrheit der Stimmen.

b. Wegen des weiteren Verfahrens, welches bei der Beſchlagnahme

beſonders auch mit Rückſicht auf die Vermögensverwaltung einzuleiten

iſt, kommen außer der Beſtimmung der Verordnung vom 3. Jan. 1849.

§. 7. (G.-S. S. 15.) für das Gebiet des Allgemeinen Landrechts die

Vorſchriften der Kriminalordnung §. 53. und 568. zur Anwendung,

womit noch die Beſtimmung wegen flüchtiger Verbrecher in §. 237. zu

vergleichen iſt. Von Seiten der zu den Berathungen der Staatsraths-

Kommiſſion hinzugezogenen Rheiniſchen Juriſten wurde jedoch in dieſer

Beziehung bemerkt:

„Nach der Rheiniſchen Geſetzgebung haben die Gerichte keine Art

der Verwaltung fremden Guts, dürfen ſie nicht haben. Es müſſen

g) Berathungs- Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 9.

h) Reviſion von 1845. II. S. 10-12.

i) Verhandlungen a. a. O. S. 491-95.

k) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 63. 73.).

[241/0251]

§§. 72. 73. Gemeinſame Beſtimmungen.

daher auch Beſchlagnahme des Vermögens und die in Folge derſelben

eintretende Verwaltung ihnen fern bleiben. Wo beide nothwendig wa-

ren, hat ſie bisher die Regierung in den geſetzlichen Formen ausgeführt,

resp. beantragt, wo Letzteres nach den Geſetzen erforderlich iſt

(cf. Verf.

des Juſtizminiſters vom 15. September 1826. und 16. Oktober 1827.

Lottner III. S. 65. 66. und 153.).“

Es wurde in dieſem Sinn die Aufnahme einer Beſtimmung in

das Einführungsgeſetz für die Rheinprovinz vorgeſchlagen, welche jedoch

die Staatsraths-Kommiſſion für entbehrlich erachtete, da es ſich von

ſelbſt ergebe, daß die Anordnungen, wie ſie für die vorläufige Beſchlag-

nahme des Vermögens mit Rückſicht auf die Organiſation der Rheini-

ſchen Gerichte gegenwärtig beſtänden, auch in der Folge fortdauerten,

wenn ſie nicht ausdrücklich aufgehoben würden. l)

c. Die Beſchlagnahme des Vermögens iſt keine Strafe, ſondern

nur eine vorläufige Sicherungsmaaßregel wie die Verhaftung. Sie hört

daher auf, wenn ein rechtskräftiges Erkenntniß über den Angeſchuldigten

ergangen iſt, und nur wenn derſelbe in die Zuchthausſtrafe verur-

theilt worden, treten die Beſtimmungen des §. 11. Abſ. 2. in Wirk-

ſamkeit. m)

III. Der wegen Hochverraths oder Landesverraths zum Tode

oder zu lebenslänglichem Zuchthaus rechtskräftig Verurtheilte verliert die

Fähigkeit, über ſein Vermögen unter Lebenden und von Todeswegen zu

verfügen.

In dem Entwurf von 1850. §. 63. war dieſe Beſchränkung der

Dispoſitionsfähigkeit des Verurtheilten auf dieſelben Fälle ausgedehnt,

in denen eine vorläufige Beſchlagnahme des Vermögens bei Eröffnung

der Unterſuchung ſtattfinden ſoll. Außerdem war daſelbſt noch folgender

Satz hinzugefügt:

„Zugleich werden durch ein ſolches Urtheil alle früher von ihm

errichteten letztwilligen Verordnungen, ſo wie die unter Lebenden

nach Eröffnung der Unterſuchung von ihm getroffenen Verfü-

gungen ungültig.“

Dieſer Zuſatz wurde jedoch in der Kommiſſion der zweiten Kammer

geſtrichen, indem man namentlich erwog, daß darin unter Umſtänden,

z. B. bei wechſelſeitigen Teſtamenten der Ehegatten, ein ungerechtfer-

tigter Eingriff in die erworbenen Eingriffe Dritter liegen könne. Aber

auch der erſte Satz wurde von verſchiedenen Seiten angefochten, indem

man ihn als einen Ueberreſt der c. 5. C. ad. Leg. Jul. Maj. bezeich-

l) Fernere Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von

1847. S. 40. — Vierte Beilage S. 5. 29.

m) Vgl. Reviſion von 1845. II. S. 12.

[242/0252]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergeh. Tit. II. Beleidig. d. Majeſtät c.

nete, und noch beſonders hervorhob, daß eine der Hauptwirkungen der

durch die Verfaſſung unterſagten Strafe des bürgerlichen Todes gerade

die Dispoſitionsunfähigkeit geweſen ſei, die hier alſo in unzuläſſiger

Weiſe zum Theil wieder hergeſtellt werde. Der Zweck der Vorſchrift

werde auch für die zur Zuchthausſtrafe Verurtheilten durch die allge-

meine Beſtimmung des §. 11. im Weſentlichen erreicht. Dagegen wurde

erwiedert, daß die Gefährlichkeit der Verbrecher, von denen hier die Rede

ſei, es nothwendig mache, daß der Staat ſie außer Stande ſetze, durch

Uebertragung ihres Vermögens auf Gleichgeſinnte die gegen ihn gerich-

teten Angriffe fortzuſetzen oder doch thätig zu unterſtützen.

Die Kommiſſion entſchied ſich dafür, einen Mittelweg einzuſchla-

gen, und nur denen die Dispoſitionsfähigkeit zu entziehen, welche wegen

Hochverraths oder Landesverraths zum Tode oder zu lebenslänglichem

Zuchthaus verurtheilt worden. n) Weiter war auch ein Antrag nicht

gegangen, welchen die Staatsregierung dem vereinigten ſtändiſchen Aus-

ſchuſſe nachträglich vorgelegt hatte, und welcher von dieſem angenommen

worden war. o)

Zweiter Titel.

Beleidigungen der Majeſtät und der Mitglieder des König-

lichen Hauſes.

§. 74.

Wer ſich einer Thätlichkeit gegen die Perſon des Königs ſchuldig macht,

wird mit dem Tode beſtraft.

In minder ſchweren Fällen iſt anſtatt der Todesſtrafe auf Zuchthaus von

zehn bis zu zwanzig Jahren zu erkennen.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo tritt Ein-

ſchließung von zehn bis zu zwanzig Jahren ein.

§. 75.

Wer durch Wort, Schrift, Druck, Zeichen, bildliche oder andere Darſtel-

lung die Ehrfurcht gegen den König verletzt, wird mit Gefängniß von zwei

Monaten bis zu fünf Jahren beſtraft.

Auch kann gegen denſelben zugleich auf zeitige Unterſagung der Ausübung

der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Zu §. 61. iſt bereits entwickelt worden, daß Angriffe gegen den

n) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 63.

o) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III.

S. 496-504.

[243/0253]

§§. 74. 75. Beleidigungen der Majeſtät.

König, welche nicht unter den Begriff eines hochverrätheriſchen Unter-

nehmens fallen, zu den Majeſtätsbeleidigungen zu rechnen ſind. Mit

Rückſicht auf den Thatbeſtand des letzteren Verbrechens iſt daher in der

Kommiſſion der erſten Kammer erinnert worden, daß in dieſem Titel

nicht allein „Beleidigungen“ der Majeſtät, ſondern auch Thätlichkeiten

und Körperverletzungen, welche dem Könige oder den Mitgliedern des

Königlichen Hauſes, auch ohne die Abſicht, zu beleidigen, zugefügt

worden, mit Strafen bedrohet ſind, daß alſo die gewählte Ueberſchrift

zu enge erſcheint und daß dieſelbe vollſtändiger wohl dahin zu faſſen

geweſen wäre: „Körperverletzung und Beleidigung“ u. ſ. w.

Im Schooße der Kommiſſion wurde dieſes Monitum als richtig

anerkannt, aber doch nicht für erheblich genug erachtet, um einen zu

Weiterungen führenden Abänderungsvorſchlag darauf zu gründen. p)

Die Sache hat jedenfalls, da der Inhalt der geſetzlichen Vorſchrif-

ten klar iſt, nur eine theoretiſche Bedeutung, es ließe ſich aber doch für

die Richtigkeit der Ueberſchrift des Titels, wenigſtens ſoweit derſelbe ſich

auf die Majeſtätsbeleidigung bezieht, anführen, daß gerade dieſer Aus-

druck und der Thatbeſtand des Verbrechens von jeher in einem weiteren

Sinne genommen worden iſt, als andere Ehrverletzungen. Die Vor-

ſchriften über die Beleidigungen der Mitglieder des Königlichen Hauſes

ſchließen ſich aber nur ergänzend an jenes Hauptverbrechen an.

Die Abſtufung, in welcher die Beleidigung der Majeſtät mit Strafe

bedroht wird, iſt nun folgende:

I. Thätlichkeit gegen die Perſon des Königs. Darauf iſt die To-

desſtrafe geſetzt; jedoch ſoll in minder ſchweren Fällen auf Zuchthaus

von zehn bis zu zwanzig Jahren und im Fall mildernder Umſtände

auf Einſchließung von derſelben Dauer erkannt werden (§. 74.)

II. Verletzung der Ehrfurcht gegen den König. Der Entwurf von

1847. §. 100-102. unterſchied hier Drohung einer Thätlichkeit, vor-

ſätzliche Ehrverletzung, Verletzung der gebührenden Ehrfurcht, und hatte

dafür verſchiedene Strafbeſtimmungen. Die einfachere Behandlung des

Vergehens in §. 75. mit dem geringen Minimum der Gefängnißſtrafe

von zwei Monaten iſt als eine Verbeſſerung anzuſehen.

Dagegen aber, daß es dem Richter freiſtehen ſoll, auch auf zeitige

Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen,

erhob ſich in der Kommiſſion der zweiten Kammer Widerſpruch, indem,

abgeſehen von den Gründen, welche gegen die allzuhäufige Anwendung

der Ehrenſtrafen ſprechen, beſonders Gewicht darauf gelegt wurde, daß

die Verordnung vom 30. Juni 1849. §. 20., welcher im Uebrigen die

p) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu dieſem Titel.

[244/0254]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergeh. Tit. II.

Beleidig. d. Majeſtät c.

Strafbeſtimmung entlehnt ſei, dieſe Nebenſtrafe nicht habe; daß es aber

auch im allgemeinen Intereſſe der Rechtspflege nicht wünſchenswerth

erſcheine, gerade bei dieſem Vergehen den Richter in die Lage zu brin-

gen, über die Auferlegung einer Ehrenſtrafe nach ſeinem Ermeſſen zu

erkennen. Die Kommiſſion lehnte aber den Antrag auf die Weglaſſung

der betreffenden Beſtimmung ab, indem ſie der Anſicht war, daß gerade

bei dieſem Vergehen Fälle einer ſo unzweifelhaft ehrloſen Geſinnung

vorkommen könnten, daß die Möglichkeit der zeitigen Entziehung der

Ehrenrechte beibehalten werden müſſe. q)

§. 76.

Wer ſich einer Thätlichkeit gegen die Perſon der Königin, des Thronfol-

gers oder eines anderen Mitgliedes des Königlichen Hauſes, oder des Regen-

ten des Preußiſchen Staates ſchuldig macht, wird mit Zuchthaus von fünf

bis zu zwanzig Jahren beſtraft.

In minder ſchweren Fällen iſt auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren zu er-

kennen.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo tritt Einſchlie-

ßung von Einem bis zu zehn Jahren ein.

§. 77.

Wer durch Wort, Schrift, Druck, Zeichen, bildliche oder andere Darſtellung

die Königin, den Thronfolger, ein anderes Mitglied des Königlichen

Hauſes,

oder den Regenten des Preußiſchen Staats beleidigt, wird mit Gefängniß von

Einem Monat bis zu drei Jahren beſtraft.

Auch kann gegen denſelben zugleich auf zeitige Unterſagung der Ausübung

der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Außer der Königin, dem Thronfolger und den andern Mitgliedern

des Königlichen Hauſes wird hier auch der Regent des Preußiſchen

Staates genannt, deſſen bei dem Hochverrath keine Erwähnung geſchieht:

ſ. oben §. 61. Note n. — Die einzelnen Vorſchriften entſprechenim

Weſentlichen den vorher über die Majeſtätsbeleidigung aufgeſtellten. Nur

ſind die Strafen heruntergeſetzt und in §. 77. wird nicht von der Ver-

letzung der Ehrfurcht, ſondern von Beleidigungen gehandelt. Daß auch

in dieſem Fall auf zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte ſolle

erkannt werden können, ward von der Kommiſſion der zweiten Kammer

aus dem ſo eben zu §. 75. angeführten Grunde beſchloſſen. — Die im

Entwurf von 1847. §. 105. enthaltene Vorſchrift über Verleumdungen

und Schmähungen verſtorbener Mitglieder des Königlichen Hauſes iſt

im Intereſſe der vaterländiſchen Geſchichtſchreibung weggelaſſen worden.

q) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer ebendaſ.

[245/0255]

§§. 78-81. Feindliche Handlungen gegen befr. Staaten.

Dritter Titel.

Feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten.

§. 78.

Ein Preuße, der im Inlande oder Auslande, oder ein

Ausländer, der

während ſeines Aufenthalts in Preußen gegen einen der Deutſchen Staaten

oder deſſen Regenten eine Handlung vornimmt, welche, wenn er ſie gegen den

König oder den Preußiſchen Staat verübt hätte, als eine hochverrätheriſche

anzuſehen ſein würde, iſt in den Fällen der §§. 61-65. mit Zuchthausſtrafe

von zwei bis zu zehn Jahren, oder wenn feſtgeſtellt wird, daß mildernde Um-

ſtände vorhanden ſind, mit Einſchließung von Einem bis zu zehn Jahren, in

dem Falle des §. 66. aber mit Einſchließung von ſechs Monaten bis zudrei

Jahren zu beſtrafen.

Dieſelbe Strafe tritt ein, wenn die Handlung gegen einen anderen Staat

gerichtet iſt, in welchem nach publizirten Verträgen oder Geſetzen die Gegen-

ſeitigkeit verbürgt iſt.

§. 79.

Wer durch Wort, Schrift, Druck, Zeichen, bildliche oder andere Darſtellung

das Oberhaupt eines Deutſchen Staates beleidigt, wird mit Gefängniß von

Einem Monate bis zu zwei Jahren beſtraft.

Dieſelbe Strafe tritt ein, wenn die Beleidigung gegen das Oberhaupteines

anderen Staates gerichtet iſt, in welchem nach publizirten Verträgen oder Ge-

ſetzen die Gegenſeitigkeit verbürgt iſt.

§. 80.

Wer durch Wort, Schrift, Druck, Zeichen, bildliche oder andere Darſtellung

einen bei dem Königlichen Hofe beglaubigten Geſandten oder Geſchäftsträger

beleidigt, wird mit Gefängniß von Einem Monate bis zu Einem Jahre

beſtraft.

§. 81.

In den Fällen der §§. 79. und 80. tritt die Verfolgung nur auf Antrag

der auswärtigen Regierung oder des beleidigten Geſandten ein.

Die in dieſem Titel zuſammengeſtellten Verbrechen und Vergehen

waren in dem Entwurf von 1847. §. 94. 108. und 109. in Verbin-

bindung mit dem Hochverrath und der Majeſtätsbeleidigung abgehan-

delt worden; die jetzige Anordnung verdiente aber ohne Zweifel den

Vorzug. — Mit Rückſicht auf den Thatbeſtand und die Beſtrafung iſt

dabei in folgender Weiſe zu unterſcheiden.

A. Handlungen gegen einen Deutſchen Staat oder deſſen Regenten,

welche, wenn ſie gegen den König oder den Preußiſchen Staat verübt

wären, als hochverrätheriſche anzuſehen ſein würden (§. 78.).

I. Sind ſolche Handlungen gegen einen nicht Deutſchen Staat

[246/0256]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergeh. Tit. III.

Feindl. Handlungen c.

begangen worden, ſo fallen ſie nur dann, wenn in demſelben nach pu-

blizirten Verträgen oder Geſetzen die Gegenſeitigkeit verbürgt iſt, unter

die Strafbeſtimmungen des Geſetzbuchs. Handlungen, gegen den Regen-

ten eines nicht Deutſchen Staates begangen, werden nach Preußiſchem

Recht überhaupt nicht als hochverrätheriſche beſtraft (§. 78. Abſ. 2.).

II. Wenn ein Preuße der Thäter iſt, ſo kommt es nicht darauf

an, ob die Handlung im Inlande oder Auslande vorgenommen wor-

den; ein Ausländer wird in dieſem Fall nur dann beſtraft, wenn er

während ſeines Aufenthalts in Preußen die Handlung vorgenommen hat.

III. Nicht bloß eine ſolche Handlung, welche, gegen Preußen ge-

richtet, nach §. 61. und 62. vollendeter Hochverrath ſein würde, iſt

unter Strafe geſtellt, ſondern auch die Vorbereitung zum Hochverrath.

Es kommen dabei folgende Vorſchriften in Betracht:

1) Iſt die Handlung eine ſolche, welche, gegen Preußen begangen,

nach den §§. 61-65. als Hochverrath, Verſchwörung, quali-

fizirte Vorbereitung oder öffentliche Aufforderung zu einem hoch-

verrätheriſchen Unternehmen ſich darſtellen würde, ſo tritt Zucht-

hausſtrafe von zwei bis zu zehn Jahren oder, im Fall mildern-

der Umſtände, Einſchließung von Einem bis zu zehn Jahren ein;

2) bei anderen, ein hochverrätheriſches Unternehmen vorbereitenden

Handlungen (§. 66.) Einſchließung von ſechs Monaten bis zu

drei Jahren.

B. Beleidigung fremder Regenten oder Geſandten.

I. Wenn das Oberhaupt eines Deutſchen Staates oder eines an-

deren Staates, in welchem nach publizirten Verträgen oder Geſetzen die

Gegenſeitigkeit verbürgt iſt, beleidigt worden iſt, ſo wird der Thäter mit

Gefängniß von Einem Monate bis zu zwei Jahren beſtraft (§. 79.).

II. Iſt die Beleidigung gegen einen bei dem Königlichen Hofe

beglaubigten Geſandten oder Geſchäftsträger begangen worden, ſo iſt

die Strafe Gefängniß von Einem Monate bis zu Einem Jahre (§. 80.).

III. In beiden Fällen tritt die Verfolgung nur auf Antrag der

auswärtigen Regierung oder des beleidigten Geſandten ein (§. 81.), —

eine Beſtimmung, welche in der Kommiſſion der zweiten Kammer auf

Antrag des Kommiſſars des Juſtizminiſters dem Entwurf von 1850.

hinzugefügt wurde. r)

IV. Sind ſolche Beleidigungen im Auslande oder durch Auslän-

der begangen worden, ſo kommen die allgemeinen Grundſätze (§. 3. 4.)

zur Anwendung.

r) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 70. 71. (79. 80.)

[247/0257]

§§. 82-86. Verbr. u. Verg. in Bezieh. a. d. Ausübung ſtaatsbürg. Rechte.

Vierter Titel.

Verbrechen und Vergehen in Beziehung auf die Ausübung

der ſtaatsbürgerlichen Rechte.

§. 82.

Wer es unternimmt, eine der beiden Kammern gewaltſam auseinander zu

ſprengen, zur Faſſung oder Unterlaſſung von Beſchlüſſen zu zwingen, oder

Mitglieder aus derſelben gewaltſam zu entfernen, wird mit Zuchthaus vonzehn

bis zu zwanzig Jahren beſtraft.

§. 83.

Wer ein Mitglied einer der beiden Kammern durch Gewalt oder durch Be-

drohung mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens gegen daſſelbe

verhindert, ſich an den Ort der Verſammlung zu begeben oder zu ſtimmen,

wird mit Zuchthaus bis zu acht Jahren beſtraft.

§. 84.

Wer auf die im §. 83. angegebene Weiſe Staatsangehörige verhindert oder

zu verhindern verſucht, in Ausübung ihrer ſtaatsbürgerlichen Rechte zu wählen

oder zu ſtimmen, ſoll mit Gefängniß nicht unter Einem Jahre beſtraft werden.

§. 85.

Wer, mit der Sammlung der Wahl- oder Stimmzettel oder Zeichen beauf-

tragt, vorſätzlich die rechtmäßige Anzahl derſelben vermehrt oder vermindert,

oder einen Zettel oder ein Zeichen verfälſcht, oder vertauſcht, oder auf die Zet-

tel derjenigen Perſonen, die nicht ſchreiben können, andere als die angegebe-

nen Namen ſchreibt, ingleichen wer, bei einer Wahlhandlung mit der Führung

des Protokolls beauftragt, andere als die angegebenen Namen

niederſchreibt,

wird mit Gefängniß von Einem bis zu drei Jahren beſtraft.

War der Thäter nicht mit der Sammlung der Zettel oder Zeichen oder mit

einer anderen Verrichtung bei dem Wahlgeſchäfte beauftragt, ſo iſt die Strafe

Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren.

In beiden Fällen iſt zugleich auf zeitige Unterſagung der Ausübung der

bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen.

§. 86.

Wer eine Wahlſtimme kauft oder verkauft, wird mit Gefängniß von drei

Monaten bis zu zwei Jahren beſtraft; auch kann gegen denſelben auf zeitige

Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Dieſe dem Code pénal (Art. 109-13.) nachgebildeten Beſtim-

mungen finden ſich erſt in dem Entwurf von 1850., und ſind durch die

ſeit der Berathung der früheren Entwürfe eingetretene Veränderung in der

Staatsverfaſſung hervorgerufen worden. Es werden dadurch Handlun-

[248/0258]

Th. II. V. d. einzeln. Verbr. u. Verg. Tit. IV. Verbr. u. Verg. i. Bezieh. c.

gen verſchiedener Art unter Strafe geſtellt, welche gegen die verfaſſungs-

mäßige Thätigkeit der Kammern oder einzelner Mitglieder derſelben ge-

richtet ſind, oder andere Staatsangehörige in der Ausübung ihrer ſtaats-

bürgerlichen Rechte zu wählen oder zu ſtimmen hindern, oder von

Staatsangehörigen bei der Ausübung des Wahl- oder Stimmrechts be-

gangen werden. Die Vorſchriften dieſes Titels laſſen ſich alſo in zwie-

facher Weiſe eintheilen. Man kann unterſcheiden, ob ſie ſich auf die

Thätigkeit der Kammern und der Kammermitglieder, oder auf die Aus-

übung des Wahlrechts beziehen; man kann den Theilungsgrund aber

auch darin ſuchen, ob ſie Handlungen betreffen, welche gegen die Aus-

übung ſtaatsbürgerlicher Rechte durch Andere gerichtet ſind, oder einen

Mißbrauch bei der Ausübung dieſer Rechte durch den Thäter ſelbſt dar-

ſtellen. Nach der erſten Eintheilung würden die §§. 82. und 83., und

die §§. 84-86., nach der zweiten die §§. 82-84., und die §§. 85.

und 86. zuſammen zu faſſen ſein. Bei der folgenden Darſtellung iſt

die zuerſt bezeichnete Eintheilung zum Grunde gelegt worden.

A. Handlungen gegen eine der beiden Kammern oder gegen ein

Mitglied einer der beiden Kammern. Hier werden folgende Fälle un-

terſchieden:

I. Jemand unternimmt es, eine der beiden Kammern gewaltſam

aus einander zu ſprengen, oder zur Faſſung oder Unterlaſſung von Be-

ſchlüſſen zu zwingen, oder Mitglieder aus derſelben gewaltſam zu ent-

fernen (§. 82.).

1) Die Handlung, welche hier unter Strafe geſtellt iſt, wird als

ein „Unternehmen“ bezeichnet, was deutlich auf das

allerdings ver-

wandte Verbrechen des Hochverraths (§. 61. 62.) hinweiſt. Es liegt

in dieſer Bezeichnung ausgeſprochen, daß es auf den Erfolg des ver-

brecheriſchen Vorhabens nicht ankommen ſoll, ſondern daß auch der Ver-

ſuch ſchon unter den Thatbeſtand des Verbrechens fällt. Weiter darf

man aber nicht gehen, und die anderen ſingulären Beſtimmungen über

den Verſuch bei dem Hochverrath, namentlich ſoweit ſie die Strafbarkeit

der bloßen Vorbereitungen betreffen, kommen hier nicht zur Anwendung.

Das würde die analoge Ausdehnung eines Strafgeſetzes ſein, wie ſie

nach §. 2. nicht gerechtfertigt werden kann.

2) Die Strafe eines ſolchen Unternehmens iſt Zuchthaus von zehn

bis zu zwanzig Jahren.

II. Jemand verhindert ein Mitglied einer der beiden Kammern

durch Gewalt oder durch Bedrohung mit der Verübung eines Verbre-

chens oder Vergehens gegen daſſelbe, ſich an den Ort der Verſammlung

zu begeben oder zu ſtimmen (§. 83.).

1) Unter dem Ort der Verſammlung iſt hier das Sitzungslokal

[249/0259]

§§. 82-86. Verbr. u. Verg. in Bezieh. a. d. Ausübung ſtaatsbürg. Rechte.

der Kammer zu verſtehen, wo dieſelbe ihre amtliche Thätigkeit ausübt.

— In der Kommiſſion der erſten Kammer kam es hierbei zur Sprache,

daß im §. 83. nur demjenigen Strafe angedroht iſt, welcher ein Mitglied

der Kammern verhindert, ſich an den Ort der Verſammlung hinzubege-

ben oder zu ſtimmen, während doch auch der Fall ins Auge zu faſſen

geweſen wäre, daß die Gewalt oder Drohung bei dem Hinweggehen

an den Kammermitgliedern, und zwar in der Abſicht ausgeführt werde,

ſie für künftige Fälle an der Ausführung ihres Berufs zu verhindern.

Die Mehrheit der Kommiſſion hat jedoch dieſes Bedenken für erheblich

nicht erachtet, vielmehr angenommen, daß Gewalt oder Drohung, welche

den Kammermitgliedern bei ihrer Entfernung von dem Verſammlungs-

orte zugefügt werden, den Thatbeſtand des im §. 83. gedachten Ver-

brechens nicht enthalten, ſondern je nach ihrem Zwecke oder ihrer Be-

ſchaffenheit den Injurien oder Körperverletzungen u. ſ. w. zuzuzählen ſein

würden. s) — Die Richtigkeit dieſer Bemerkung iſt klar; für Fälle die-

ſer Art enthalten namentlich die §§. 102. und 192. die entſprechenden

Beſtimmungen.

2) Die Strafe des in §. 83. vorgeſehenen Verbrechens iſt Zucht-

haus von zwei bis zu acht Jahren.

B. Strafbare Handlungen in Beziehung auf die Ausübung des

ſtaatsbürgerlichen Rechts zu wählen oder zu ſtimmen.

Der unmittelbare Zuſammenhang, in welchem §. 84. und folgende

zu den vorhergehenden Vorſchriften ſtehen, könnte zu der Annahme füh-

ren, daß es ſich hier nur um die Wahl von Kammermitgliedern handle,

nicht aber um die Wahl zu andern öffentlichen Funktionen, namentlich

in der Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialvertretung. Indeſſen

läßt die allgemeine Faſſung der §§. 84-86. eine ſolche Auslegung

nicht zu; auch würde ſie nicht der Beſtimmung des §. 12. Nr. 3. ent-

ſprechen, nach welcher der Verluſt der bürgerlichen Ehre allgemein die

Unfähigkeit umfaßt, in öffentlichen Angelegenheiten zu ſtimmen, zu

wählen und gewählt zu werden. Es handelt ja der Titel nach ſeiner

Ueberſchrift allgemein von den Verbrechen und Vergehen in Beziehung

auf die Ausübung der ſtaatsbürgerlichen Rechte.

I. Jemand verhindert in der, §. 83. angegebenen Weiſe Staats-

angehörige, in Ausübung ihrer ſtaatsbürgerlichen Rechte zu wählen oder

zu ſtimmen (§. 84.).

1) Der Gebrauch des Plurals „Staatsangehörige“ in der unbe-

ſtimmten Redeform iſt ohne Bedeutung; das Vergehen liegt ſchon vor,

s) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zum Titel IV.

Beſeler Kommentar. 17

[250/0260]

Th. II. V. d. einzeln. Verbr. u. Verg. Tit. IV. Verbr. u. Verg. i. Bezieh. c.

auch wenn es nur gegen einen einzelnen Staatsbürger verübt wor-

den iſt.

2) Mit den Worten „zu wählen oder zu ſtimmen“ ſind die ver-

ſchiedenen Arten der Thätigkeit bei der Ausübung ſtaatsbürgerlicher

Rechte bezeichnet worden, welche unter den beſonderen Schutz des Ge-

ſetzes geſtellt ſind. Wer alſo jemanden mit Gewalt verhindern würde,

eine Rede zu halten, könnte nicht nach den hier aufgeſtellten Beſtim-

mungen beſtraft werden.

3) Die Strafe des Vergehens, welche auch bei dem Verſuch zur

Anwendung kommt, iſt Gefängniß von Einem bis zu fünf Jahren.

II. Fälſchung oder Betrug bei der Sammlung von Wahl- oder

Stimmzetteln oder Zeichen, ſo wie bei der Führung des Wahlprotokolls

(§. 85.).

Die einzelnen Handlungen, welche unter die Strafbeſtimmung die-

ſes Paragraphen fallen, ſind im demſelben genau bezeichnet. Die

Strafe iſt Gefängniß und zeitige Unterſagung der Ausübung der bür-

gerlichen Ehrenrechte. Bei der Zumeſſung der Gefängnißſtrafe wird aber

unterſchieden, ob der Thäter mit der Sammlung der Zettel oder Zeichen

oder mit einer anderen Verrichtung bei dem Wahlgeſchäft beauftragt

war oder nicht. Im erſten Fall wird er mit Gefängniß von Einem

bis zu drei Jahren beſtraft; im zweiten Fall iſt die Dauer der Strafe

nur von drei Monaten bis zu zwei Jahren feſtgeſtellt. Die höhere

Strafe im erſten Fall rechtfertigt ſich dadurch, daß mit dem Vergehen

die Verletzung einer Amtspflicht oder eines beſonderen Vertrauens ver-

bunden iſt. t)

III. Jemand kauft oder verkauft eine Wahlſtimme (§. 86.) —

Hier iſt von einer dritten Art der ſtrafbaren Einwirkung auf die öffent-

lichen Wahlen die Rede; zu Gewalt, Fälſchung und Betrug kommt die

Beſtechung. Dieſes Verbrechen iſt aber nicht in dem weiteren Sinne

genommen, wie es §. 311-13. für andere Fällen aufgefaßt wor-

den; nur der Kauf oder Verkauf von Wahlſtimmen iſt unter

Strafe geſtellt. Es müſſen die allgemeinen geſetzlichen Bedingungen

des Kaufgeſchäftes vorliegen, wenn auf eine Strafe erkannt werden ſoll,

— ſogar eine beſtimmte Kaufſumme, da nicht einmal die weitere Faſſung

des Code pénal wiederholt worden iſt. u) In unzureichender Weiſe

kann wohl kaum durch die Strafgeſetzgebung den Wahlbeſtechungen, de-

nen freilich überhaupt ſchwer beizukommen iſt, entgegengewirkt werden,

t) Vgl. Code pénal. Art. 111. 112.

u) Code pénal. Art. 113. — à un prix quelconque —. cf. Chau-

veau et Hélie Faustin l. c. II. chap. XIX. p. 26.

[251/0261]

Widerſtand gegen die Staatsgewalt.

als durch dieſe Vorſchrift des §. 86. Die Strafe iſt übrigens ſowohl

für den Käufer wie für den Verkäufer der Stimme Gefängniß von drei

Monaten bis zu zwei Jahren; auch kann zugleich auf zeitige Unter-

ſagung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Fünfter Titel.

Widerſtand gegen die Staatsgewalt.

Dieſer Titel findet ſich erſt in dem Entwurf von 1850.; doch ſind

nicht alle Beſtimmungen deſſelben neu, ſie kommen in dem Entwurf von

1847. zum Theil im dritten Titel: Verbrechen gegen die öffentliche

Ordnung und das obrigkeitliche Anſehen vor. Bei der Anordnung der

einzelnen Vorſchriften iſt folgendes Syſtem inne gehalten worden. v)

Nachdem in den vorhergehenden Titeln des zweiten Theils diejeni-

gen Handlungen, welche gegen den Staat als ſolchen oder gegen die

höchſten Organe der Staatsgewalt gerichtet ſind, unter Strafe geſtellt

worden, beſchäftigt ſich der fünfte Titel mit den Verbrechen und Verge-

hen, welche einen Widerſtand gegen die Staatsgewalt zum Gegenſtand

haben, indem der Ausführung der Geſetze oder der obrigkeitlichen An-

ordnungen und Befehle Hinderniſſe bereitet werden. Der einfache Un-

gehorſam, ſelbſt der von Einzelnen gegen obrigkeitliche Befehle aus-

geübte Widerſtand, iſt, ſo lange er nicht eine Form annimmt, in welcher

er unter ein beſonderes Strafgeſetz fällt, noch keine ſtrafbare Handlung

und rechtfertigt nur die Anwendung von Maaßregeln zur Beſeitigung

dieſes Hinderniſſes. Das Gebiet der Strafbarkeit beginnt mit der Auf-

forderung zum Ungehorſam gegen die Geſetze oder die Anordnungen der

Obrigkeit (§§. 87. 88.); dann folgt die Widerſetzlichkeit gegen Beamte

(§. 89.); die Nöthigung einer Behörde oder eines Beamten zu Hand-

lungen oder Unterlaſſungen (§. 90.); der Aufruhr, wenn mehrere Per-

ſonen ſich öffentlich zuſammenrotten, um mit vereinten Kräften Abgeord-

neten der Obrigkeit Widerſtand zu leiſten oder gegen Behörden oder

Beamte Zwang zu üben (§. 91.); der Auflauf, wenn den Befehlen der

Obrigkeit zur Räumung des Platzes keine Folge geleiſtet wird (§. 92.);

das Tragen verbotener Fahnen, Verbindungszeichen u. ſ. w. (§. 93.);

v) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu dieſem Titel. —

Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer, ebendaſ.

17 *

[252/0262]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. V. Widerſtand gegen d. Staatsgewalt.

Befreiung von Gefangenen (§. 94. 95.); die Meuterei in Gefangen-

anſtalten (§. 96.).

§. 87.

Wer zum Ungehorſam gegen die Geſetze oder Verordnungen oder gegen die

Anordnungen der Obrigkeit öffentlich auffordert oder anreizt, oder wer Hand-

lungen, welche in den Geſetzen als Verbrechen oder Vergehen bezeichnet ſind,

durch öffentliche Rechtfertigung anpreiſet, wird mit Geldbuße bis zu zweihun-

dert Thalern oder mit Gefängniß von vier Wochen bis zu zwei Jahren beſtraft.

§. 88.

Wer eine Perſon des Soldatenſtandes, es ſei der Linie oder der Landwehr,

auffordert oder anreizt, dem Befehle des Oberen nicht Gehorſam zu leiſten,

wer insbeſondere eine Perſon, welche zum Beurlaubtenſtande gehört, dazu auf-

fordert oder anreizt, der Einberufungs-Ordre nicht zu folgen, wird mit Ge-

fängniß von ſechs Wochen bis zu zwei Jahren beſtraft.

Dieſe Beſtimmung findet Anwendung, die Aufforderung oder Anreizung mag

durch Wort oder Schrift oder durch irgend ein anderes Mittel geſchehen, ſie

mag von Erfolg geweſen ſein oder nicht.

§. 87. handelt allgemein von der Aufforderung zum Ungehorſam

gegen Geſetze oder obrigkeitliche Anordnungen; §. 88. enthält beſondere

Beſtimmungen in Beziehung auf den Soldatenſtand.

A. Oeffentliche Aufforderung zum Ungehorſam.

I. Die Aufforderung oder Anreizung muß, um ſtrafbar zu ſein,

öffentlich erfolgen, d. h. durch Reden an öffentlichen Orten oder bei

öffentlichen Zuſammenkünften, oder durch Schriften oder andere Dar-

ſtellungen, welche im Publikum verbreitet werden; vgl. §§. 36. 152.

II. Der Aufforderung zum Ungehorſam gegen die Geſetze oder

Verordnungen (vgl. Verfaſſungs-Urkunde Art. 106.) ſteht die zum Un-

gehorſam gegen die Anordnungen der Obrigkeit gleich. Die Verordnung

vom 30. Juni 1849. §. 16., welcher dieſe Vorſchrift entlehnt iſt, ent-

hielt noch den Zuſatz: der „zuſtändigen“ Obrigkeit, deſſen Wieder-

aufnahme in der Kommiſſion der zweiten Kammer vergeblich beantragt

wurde; ſ. unten §. 89.

III. Der Aufforderung zum Ungehorſam iſt es gleichgeſtellt, wenn

jemand Handlungen, welche in den Geſetzen als Verbrechen oder Ver-

gehen bezeichnet ſind, durch öffentliche Rechtfertigung anpreiſet. — In

der Regierungsvorlage hieß es ſtatt des letzten Wortes: „als erlaubt

darſtellt.“ Die Kommiſſion der zweiten Kammer, welche einen Antrag

auf Streichung des ganzen Satzes ablehnte, hielt jene Aenderung für

nothwendig; ſie wurde dabei durch folgende Erwägungen beſtimmt. w)

w) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 77. (87.).

[253/0263]

§§. 87. 88. Aufforderung zum Ungehorſam.

„Zunächſt würden durch die Faſſung des Entwurfs zwei Handlun-

gen unter Strafe geſtellt, welche durchaus nichts Strafbares enthalten,

und auch nach der Abſicht des Entwurfs nicht ſtrafbar ſein ſollten:

nämlich erſtens die juriſtiſche Unterſuchung über die Frage, ob eine ge-

wiſſe Handlung ſtrafbar ſei oder nicht, falls dieſe Unterſuchung des

Einzelnen in das Reſultat auslaufe, daß eine Handlung nach den Ge-

ſetzen erlaubt ſei, während etwa der Staatsanwalt oder der erkennende

Richter der entgegengeſetzten Anſicht ſeien. — Sodann zweitens jede

wiſſenſchaftliche Arbeit, welche etwa vom kriminalpolitiſchen, religiöſen,

nationalökonomiſchen oder ſozialen Standpunkte aus den Beweis zu

führen verſuche, daß dieſe oder jene, im Strafrecht unbeſtrittenermaaßen

verpönte Handlung, z. B. das Duell, der Wucher, nach richtigen Grund-

ſätzen nicht ſtrafbar, ſondern erlaubt ſein müßte.“

„Sobald eine ſolche kritiſche Unterſuchung die Wendung nehme, den

Staatsangehörigen anzurathen, jene Handlungen trotz dem, daß ſie durch

das poſitive Strafrecht verboten ſeien, dennoch zu verüben, alſo das

eigentliche Feld der Kritik verlaſſe, falle ſie in die Kategorie von Auf-

forderungen zum Ungehorſam gegen die Geſetze und ſei als ſolche ſtraf-

bar. Hierüber hinaus jede ſolche kritiſche Unterſuchung, welche ſich von

einer Aufforderung zur praktiſchen Anwendung der entwickelten Grund-

ſätze noch ſo ferne halte, unter Strafe zu ſtellen, ſei mit den Forderun-

gen freier Diskuſſion abſolut unvereinbar. — Nur das erkannte die

Kommiſſion mit Rückſicht namentlich auf die moderne ſozialiſtiſche Lite-

ratur an, daß zwiſchen der Aufforderung zum Ungehorſam gegen die

Geſetze und der rein theoretiſchen Kritik der durch ſtrafrechtliche Beſtim-

mungen geſchützten geſellſchaftlichen und ſtaatlichen Inſtitutionen noch

Etwas in der Mitte liege, welches dem öffentlichen Frieden hohe Ge-

fahr bringen könne. Es ſeien dieß jene Reden oder Schriften, welche

ohne bloß in verſtändiger Weiſe Kritik zu üben, und ohne auf der an-

dern Seite direkt zu ungeſetzlichen Handeln aufzufordern, ſich an das

Gefühl und die Leidenſchaften wenden, und in Formen, welche denen der

wiſſenſchaftlichen Unterſuchung durchaus fern liegen, Handlungen, die

das Strafrecht verpönt, nicht nur als erlaubt rechtfertigen, ſondern ge-

radezu durch Lobreden verherrlichen.“

„Ohne die freie Diskuſſion ungebührlich einengen zu wollen, müſſe

man doch dem im Staate geltenden poſitiven Strafrechte, ſelbſt in den

Punkten, wo es wirklich mit einer weiteren Entwicklung in Konflikt

komme, diejenige Achtung ſichern, mit welcher eine öffentliche Anpreiſung

der ſtrafbaren Handlungen nicht vereinbar ſei. Auf dieſes Verbot der

Lobrede und des Anpreiſens ſei daher der Entwurf um ſo mehr zu be-

ſchränken, als die vorigjährige zur Prüfung der Preßverordnung nieder-

[254/0264]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. V. Widerſtand gegen d. Staatsgewalt.

geſetzte Kommiſſion dieſer Kammer ihren Vorſchlag, den der Entwurf

adoptirt, aus den Franzöſiſchen Geſetzen entnommen habe, und dieſe

auch nur die „Apologie“ von Verbrechen oder Vergehen unter Strafe

ſtellen.“

Mit dieſer Ausführung erklärte ſich auch die Kommiſſion der erſten

Kammer (im Bericht zum Tit. V.) durchaus einverſtanden.

IV. Die Strafe der in §. 87. vorgeſehenen Vergehen iſt Geld-

buße bis zu zweihundert Thalern oder Gefängniß von vier Wochen bis

zu zwei Jahren. In der Regierungsvorlage war ein Minimum der

Geldbuße von zwanzig Thalern feſtgeſetzt; daſſelbe wurde aber in der

Kommiſſion der zweiten Kammer (ſ. den Bericht derſelben a. a. O.) mit

Rückſicht auf die möglichen ſehr leichten Fälle der Verſchuldung ge-

ſtrichen.

B. Aufforderung von Perſonen des Soldatenſtandes zum Unge-

horſam. Dieß Vergehen wird verübt, auch wenn die Aufforderung keine

öffentliche iſt, und mit Gefängniß von ſechs Wochen bis zu zwei Jah-

ren beſtraft. Die Beſtimmungen (§. 88.) ſind wörtlich dem Geſetze

vom 19. November 1849. (G.-S. S. 417.) entnommen.

§. 89.

Wer einen Beamten, welcher zur Vollſtreckung der Geſetze, oder der Be-

fehle und Verordnungen der Verwaltungsbehörden, oder der Urtheile und

Verordnungen der Gerichte berufen iſt, während der Vornahme einer Amts-

handlung angreift, oder demſelben durch Gewalt oder Drohung Widerſtand

leiſtet, wird mit Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu zwei Jahren beſtraft.

Dieſelbe Strafe tritt ein, wenn der Angriff oder die Widerſetzlichkeit gegen

Perſonen, welche zur Beihülfe des Beamten zugezogen waren, oder gegen

Mannſchaften des Militairs oder einer Gemeinde-, Schutz- oder Bürgerwehr

in Ausübung des Dienſtes erfolgt.

Die in dieſem Paragraphen enthaltene Vorſchrift lautete nach dem

Allg. Landrecht Th. II. Tit. 20. §. 166. „Wer ſich ſeiner Obrigkeit

in ihrer Amtsführung oder deren Abgeordneten in Vollziehung ihrer Be-

fehle, thätlich widerſetzt, der ſoll, nach Beſchaffenheit des Widerſtandes

und der dabei gebrauchten Gewalt, mit Gefängniß-, Zuchthaus- oder

Feſtungsſtrafe auf zwei Monate bis zwei Jahre belegt werden.“

In der Praxis knüpften ſich an dieſe Geſetzesſtelle viele Streitfra-

gen, deren Beſeitigung in den bei der erſten Reviſion ausgeſtellten Gut-

achten der Juſtizkollegien dringend verlangt wurde. Namentlich waren

Zweifel darüber erhoben, welcher Sinn den Worten des Geſetzes „ſeiner

Obrigkeit“ und „Abgeordnete der Obrigkeit“ beizulegen ſei; ferner über

die Bedeutung der thatſächlichen Widerſetzung. In letzterer Hinſicht

[255/0265]

§. 89. Widerſetzlichkeit gegen Beamte.

war eine Menge von Beiſpielen angeführt worden, bei denen in der

Praxis die Frage zweifelhaft geblieben. „Ein Exequendus ſetzt ſich auf

den Koffer, den der Exekutor öffnen will, um Sachen daraus abzupfän-

den; ein andrer nimmt von dem Wagen, auf dem die abgepfändeten Sa-

chen fortgeſchafft werden ſollen, ein Rad ab; ein dritter verrammelt die

Hausthür, durch welche der Beamte zu ihm gelangen will; ein vierter

entreißt demſelben das bereits in Beſchlag genommene Stück aus der

Hand, oder vernichtet daſſelbe vor ſeinen Augen; ein fünfter ſucht ſich

der perſönlichen Verhaftung dadurch zu entziehen oder ſie zu erſchweren,

daß er ſich zur Erde niederwirft oder einen Baum feſt umklammert.“ x)

Dazu kam denn noch die, durch die Berückſichtigung des Rheini-

ſchen Rechts angeregte Frage, inwiefern die Widerſetzlichkeit gegen Be-

amte im Dienſt eine Beleidigung derſelben enthalte und als ſolche zu

beſtrafen ſei. y)

Bei der Reviſion hielt man nun den Geſichtspunkt konſequent feſt,

daß der bloß paſſive Widerſtand ſtraflos ſei; im Uebrigen wurde in den

einzelnen Vorſchriften ſehr gewechſelt, und auf den „thätlichen“ Wider-

ſtand ein beſonderes Gewicht gelegt. Der Entwurf von 1847. erhielt

mit Rückſicht auf die inzwiſchen erhobenen Monita. z) folgende Faſſung:

§. 118. „Wer die Vollziehung obrigkeitlicher Anordnungen da-

durch zu verhindern ſucht, daß er ſich an den mit der Vollziehung be-

auftragten Perſonen oder an denjenigen, welche zu deren Beiſtande zu-

gezogen worden ſind, vergreift oder dieſelben mit Thätlichkeiten bedrohet,

ingleichen wer obrigkeitliche Perſonen durch Gewalt oder Drohungen zu

einer Amtshandlung zu nöthigen ſucht, ſoll mit Gefängniß nicht unter

Einem Monate oder mit Strafarbeit bis zu vier Jahren beſtraft werden.“

§. 119. „Wer die Vollziehung obrigkeitlicher Anordnungen durch

thätliche Widerſetzlichkeit, aber ohne Anwendung von Gewaltthätigkeiten

gegen Perſonen und ohne Drohung, zu verhindern ſucht, ſoll mit Ge-

fängnißſtrafe bis zu drei Monaten oder mit Geldbuße bis zu funfzig

Thalern beſtraft werden.“

§. 120. „Die Strafbeſtimmungen über den Widerſtand gegen die

Obrigkeit (§§. 118. 119.) finden auch Anwendung auf Widerſetzlichkeit

gegen Schildwachen und kommandirte Militairperſonen.“

Aus dieſen Beſtimmungen iſt, unter Ausſcheidung des in §. 90.

vorgeſehenen Falls, der §. 89. des Strafgeſetzbuchs hervorgegangen.

I. Es handelt ſich hier von der Widerſetzlichkeit gegen Beamte,

x) Motive zum erſten Entwurf. II. S. 76-80.

y) Code pénal. Art. 222-33. Reviſion von 1845. II. S. 51.

z) Reviſion a. a. O. S. 50-53. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 64.

[256/0266]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. V. Widerſtand gegen d. Staatsgewalt.

welche zur Vollſtreckung der Geſetze oder der Befehle und Verordnungen

der Verwaltungsbehörden, oder der Urtheile und Verordnungen der Ge-

richte berufen ſind. Dieſen ſind gleichgeſtellt Perſonen, welche zur Bei-

hülfe des Beamten zugezogen waren, ſo wie Mannſchaften des Mili-

tairs oder einer Gemeinde-, Schutz- oder Bürgerwehr in Ausübung des

Dienſtes. Auf andere „Abgeordnete der Obrigkeit“ bezieht ſich die

Strafbeſtimmung nicht.

II. In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurden zu dieſem

Paragraphen und zu §. 87. zwei Abänderungs-Anträge geſtellt, welche

beide auf demſelben Grundgedanken beruhten, von der Kommiſſion aber

abgelehnt wurden. „Sie knüpften ſich beide,“ heißt es in dem Bericht,

„an die vielfach ventilirte Frage, ob zu den Anordnungen und Befehlen

der Obrigkeit, gegen welche man nach §. 77. (87.) nicht zum Unge-

horſam auffordern und nach §. 79. (89.) keinen aktiven Widerſtand

üben dürfe, nicht nur die geſetzlichen, ſondern auch die ungeſetzlichen

gehören. Der Antragſteller ging davon aus, daß dieſe Frage nicht

abſolut zu Gunſten der individuellen oder politiſchen Freiheit zu bejahen,

aber ebenſowenig zu Gunſten der Ordnung abſolut zu verneinen ſei;

der kriminalrechtliche Schutz gegen Widerſtand gebühre der Autorität

der Behörde auch dann, wenn ſie materiell Ungeſetzliches verordne, es

gebühre der Behörde aber nicht mehr, wenn ſie ſich außerhalb der

Grenzen ihres geſetzlichen Wirkungskreiſes, ihrer Amtskompetenz begebe,

und auf einem ihr geſetzlich entzogenen Gebiete Anordnungen treffe,

indem ſie dann nicht mehr als Vertreterin der Staatsregierung, ſondern

nur als eine uſurpirte Gewalt auftrete, welcher zu gehorchen niemand

verpflichtet ſei.“

„Auf dieſe Begründung geſtützt, wurde zunächſt zu §. 77. (87.)

beantragt, in Uebereinſtimmung mit der Preßverordnung vom 30. Juni 1849.

(§. 16.), aus welcher der Paragraph entnommen iſt, von „Anordnungen

der zuſtändigen Obrigkeit“ ſtatt von „Anordnungen der Obrigkeit“ zu

ſprechen, und ferner das erſte Aliena des §. 79. (89.) in folgender

Weiſe zu faſſen:

Wer bei Vollſtreckung der Geſetze oder der von einer Verwal-

tungsbehörde innerhalb ihres Wirkungskreiſes erlaſſenen Befehle

und Verordnungen, oder der Urtheile und Verordnungen der

Gerichte, den zu dieſer Vollſtreckung geſetzlich berufenen Beamten

während der Vornahme einer Amtshandlung u. ſ. w.

Gegen beide Anträge gemeinſchaftlich wurde in der Kommiſſion

angeführt, daß auch bei inkompetenter Weiſe erlaſſenen Befehlen einer

Obrigkeit der geſetzliche Weg der Beſchwerde der ausreichende und einzig

zuläſſige ſei; daß die Geſtattung des aktiven Widerſtandes gegen Be-

[257/0267]

§. 89. Wiederſetzlichkeit gegen Beamte.

fehle, welche eine Behörde wirklich außerhalb ihrer Kompetenz erlaſſe,

nothwendig dazu führe, daß häufig auch gegen Befehle wirklich zuſtän-

diger Behörden Widerſtand geleiſtet werde, weil der Ungehorſame, durch

ſein Intereſſe Irregeleitete leicht geneigt ſei anzunehmen, daß die Be-

hörde ihre Befugniſſe überſchreite; und daß endlich durch ſolche Wider-

ſetzlichkeiten dem öffentlichen Wohle häufig großer und unwiederbring-

licher Nachtheil zugefügt werden würde.“

„Gegen den zweiten Antrag wurde noch beſonders geltend gemacht,

daß er das Princip, auf welchem er beruhe, ſelbſt verletze, indem er

Widerſtand gegen die Urtheile inkompetenter Gerichte nicht für ſtraflos

erkläre: ein Einwand, den die Vertheidiger des Antrags beſeitigen zu

können glaubten, indem ſie hervorhoben, daß es ſich hier davon handle,

den Schutz der Gerichte gegen die Vollſtreckung unzuſtändiger Weiſe

erlaſſener Anordnungen und Befehle aller Behörden eintreten zu laſſen.

Dieſer Schutz ſei gegen Urtheile unzuſtändiger Gerichte in der Gerichts-

Organiſation gegeben, und werde durch den Entwurf nicht gefährdet;

wohl aber gefährde nicht nur, ſondern nehme der Entwurf dieſen Schutz

gegen Uſurpationen der Verwaltungsbehörden, gegen dieſe aber ſei er

vor Allem nöthig, weil eben die Verwaltung, indem ſie praktiſche Zwecke

verfolge, viel eher Gefahr laufe, ihre Kompetenz zu überſchreiten, als

die Gerichte, welche lediglich die Anwendung der Geſetze zur Aufgabe

haben.“ a)

III. In Beziehung auf die Frage, von welcher Beſchaffenheit die

Handlungen ſein müſſen, in denen ſich eine ſtrafbare Widerſetzlichkeit

darſtellt, beſtimmt das Geſetzbuch, daß der Beamte während der Vor-

nahme einer Amtshandlung angegriffen oder demſelben durch Gewalt

oder Drohung Widerſtand geleiſtet ſein muß. Der ſehr weite und

unbeſtimmte Begriff der thätlichen Widerſetzlichkeit, welchen die Motive b)

ganz unzuläſſiger Weiſe in den Thatbeſtand des Vergehens wieder hin-

eingezogen haben, iſt alſo aufgegeben worden; es kommt im einzelnen

Fall, wenn nicht gerade ein Angriff vorliegt, darauf an, ob der bloß

paſſive Widerſtand ſo weit verlaſſen worden, daß es zu Handlungen

gekommen iſt, die als Gewalt oder Drohung ſich darſtellen. Was na-

mentlich die Drohung betrifft, ſo wird der Richter nach allgemeinen

Grundſätzen prüfen, ob dieſelbe wirklich geeignet war, einen Zwang

gegen die Obrigkeit zu üben; denn nur auf eine wirkliche gegenwärtige

a) Vgl. Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 105. — Hannov. Criminalgeſetzb.

Art. 106. — Braunſchw. Criminalgeſetzb. §. 107. — Heſſiſches Straf-

geſetzb. Art. 176. — Badiſches Strafgeſetzb. §. 617. — Thüring. Straf-

geſetzb. Art. 108.

b) Motive zum Entwurf von 1850. §§. 79. 80.

[258/0268]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. V. Widerſtand gegen d. Staatsgewalt.

Gefahr kommt es hier an, c) nicht aber auf Aeußerungen, die vielleicht

als ungeziemende zu betrachten ſind, und eine ſtrafbare Beleidigung

enthalten können, aber das Vergehen der Widerſetzlichkeit nicht be-

gründen.

Auch die Gewalt muß hier nach allgemeinen ſtrafrechtlichen Be-

griffen aufgefaßt werden, und es würde z. B. geradezu abſurd ſein, von

einer Perſon, die ſich bei der Verhaftung zur Erde wirft oder einen

Baum umklammert, im Allgemeinen zu behaupten, ſie hätte dem Voll-

ziehungs-Beamten Gewalt entgegengeſetzt. In der vorberathenden Ab-

theilung des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes wurde bemerkt, daß

indirekte thätliche Widerſetzlichkeiten faſt nur in die Kategorie des paſ-

ſiven Widerſtandes fielen, und daß es gewöhnlich nur unbedeutende

Schikanen ſeien, die man ignoriren oder durch polizeiliche Maaßregeln

beſeitigen könne, ohne mit Strafen entgegen zu treten. d) Dieſe Anſicht

erhielt damals freilich nicht die Mehrheit der Stimmen; dagegen aber

beſtätigt der Umſtand, daß ſtatt der Geldbuße von höchſtens funfzig

Thalern, welche der Entwurf von 1847. noch als die niedrigſte Strafe

aufgeſtellt hat, gegenwärtig nur auf Gefängniß, und zwar nicht unter

vierzehn Tagen ſoll erkannt werden können, — die Annahme, daß die

unbedeutenderen Fälle des Widerſtandes, in denen es nicht zu einem

Angriff oder zu Gewalt und Drohungen in dem vorher entwickelten

Sinn gekommen, der Strafbeſtimmung des §. 89. nicht unterliegen

ſollen.

IV. Beleidigungen, welche gegen die Vollziehungsbeamten began-

gen werden, gehören nicht hierher, ſondern ſind nach den Vorſchriften

des §. 102. zu beurtheilen.

V. Die Strafe iſt Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu zwei

Jahren: die hohe Strafe, welche der Entwurf von 1847. §. 118. auf-

ſtellte, erklärt ſich daraus, daß auch die Nöthigung von Behörden oder

Beamten unter die Strafbeſtimmung jenes Paragraphen fiel.

§. 90.

Wer eine Behörde oder einen Beamten durch Gewalt oder Drohungen

zwingt oder zu zwingen verſucht, eine Amtshandlung vorzunehmen oder zu

unterlaſſen, wird mit Gefängniß nicht unter drei Monaten beſtraft.

Die Vorſchrift dieſer Paragraphen war noch in dem Entwurf von

1843. §. 202. von der Widerſetzlichkeit getrennt gehalten, jedoch unter

c) Reviſion von 1845. II. S. 52.

d) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III.

S. 214.

[259/0269]

§§. 91. 92. Aufruhr; Auflauf.

dieſelbe Strafe geſtellt; der Entwurf von 1847. handelte ſie gemeinſam

ab. Es iſt aber richtiger, beide Vergehen ſelbſtändig hinzuſtellen und

mit verſchiedenen Strafen zu bedrohen, da ſie ſowohl dem Thatbeſtande

als dem Grade der Verſchuldung nach nicht von gleicher Beſchaffen-

heit ſind.

Es iſt hier nämlich von Handlungen die Rede, welche nicht bloß

eine Widerſetzlichkeit gegen Vollziehungsbeamte enthalten, ſondern darauf

gerichtet ſind, die amtliche Thätigkeit der Behörden oder Beamten durch

Zwang oder Drohung zu beherrſchen, und die alſo, wenn es auf die

Nöthigung zur Unterlaſſung einer Amtshandlung hinauskommt, einen

weit ſchwereren Charakter haben, als die in §. 89. vorgeſehenen Fälle.

Dieſe letzteren bilden eine Klaſſe für ſich, und es bedurfte daher auch

nicht des in der Kommiſſion der erſten Kammer beantragten Zuſatzes,

welcher darin beſtehen ſollte, hinter dem Worte „Wer“ hinzuzufügen:

„außer dem Falle des §. 89.“ — In dem Kommiſſionsbericht wird

dabei ganz richtig bemerkt, daß in dem Einen Falle der Beamte zu dem

Thäter komme, der ihm ſich widerſetze, in dem andern aber der Thäter

zu dem Beamten, um ihn zu zwingen. e)

Die Strafe iſt Gefängniß von drei Monaten bis zu fünf Jahren,

welche hier auch auf den Verſuch des Vergehens geſetzt iſt.

§. 91.

Wenn mehrere Perſonen öffentlich ſich zuſammenrotten und mit vereinten

Kräften die in den §§. 89. und 90. genannten Handlungen verüben, ſo wer-

den dieſelben wegen Aufruhrs mit Gefängniß nicht unter ſechs Monaten

beſtraft; auch kann gegen ſie auf Stellung unter Polizei-Aufſicht erkannt

werden.

Diejenigen Theilnehmer, welche Gewaltthätigkeiten gegen Perſonen oder

Sachen verüben, werden mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und Stellung

unter Polizei-Aufſicht beſtraft.

§. 92.

Wenn mehrere auf öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen verſammelte

Perſonen von den Beamten der gerichtlichen oder der Verwaltungs-Polizei,

oder von dem Befehlshaber der bewaffneten Macht aufgefordert werden, ſich

e) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 90. Vgl. Mo-

tive zum Entwurf von 1850. §. 79. 80. — Abegg (der Entwurf des Straf-

geſetzbuchs von 1850. S. 60. 61.) will die Strafbeſtimmung über den Aufruhr auch

noch auf den Fall angewandt wiſſen, wenn Beamte oder Behörden zu Handlungen

genöthigt werden, welche außerhalb ihrer Kompetenz liegen; er meint jedoch ſelbſt,

daß der Nachdruck nicht ſowohl auf der rechtlichen Natur der Amtshandlung ruht,

als auf dem ſtrafrechtlichen Moment des Zwanges.

[260/0270]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. V. Widerſtand gegen d. Staatsgewalt.

zu entfernen, ſo wird jede derſelben, welche nach der dritten Aufforderung ſich

nicht entfernt, mit Gefängniß bis zu drei Monaten beſtraft.

Wird bei einem Auflaufe gegen die Beamten der Polizei oder die bewaff-

nete Macht mit vereinten Kräften ein thätlicher Widerſtand geleiſtet, oder Ge-

walt verübt, ſo treten gegen diejenigen, welche ſich bei dieſen Handlungen be-

theiligt haben, die Strafen des Aufruhrs ein.

Die Vergehen der Widerſetzlichkeit gegen Vollziehungsbeamte und

der Nöthigung von Behörden und Beamten, welche in den beiden vor-

hergehenden Paragraphen normirt ſind, werden dadurch weſentlich er-

ſchwert, wenn ſie öffentlich von einer Mehrzahl von Perſonen mit ver-

einten Kräften verübt werden. Dann liegt das Vergehen des Aufruhrs

vor. Als Vorbereitung zu demſelben kann der Auflauf angeſehen wer-

den, wenn auch die Abſicht einer aufrühreriſchen Bewegung dabei nicht

vorzuliegen pflegt, und erſt der Ungehorſam gegen das obrigkeitliche

Gebot, ſich zu entfernen, die Strafbarkeit bedingt. f)

A. Der Aufruhr (§. 91.). Was zunächſt

I. den Thatbeſtand dieſes Vergehens betrifft, ſo gehört dazu,

1) daß mehrere Perſonen daran Theil nehmen. Das Erforderniß

einer beſtimmten Anzahl, welches nach der gelegentlichen Aeußerung

eines Römiſchen Juriſten über den Begriff der turba in neueren Geſetz-

büchern aufgeſtellt iſt, g) findet ſich hier nicht; doch zeigt eine Verglei-

chung mit anderen Geſetzesſtellen, welche von der Verübung eines Ver-

brechens oder Vergehens durch zwei oder mehrere Perſonen handeln, h)

daß eine größere Anzahl und jedenfalls mehr als zwei thätig geweſen

ſein müſſen, um einen Aufruhr zu begehen. Der Richter wird in dem

einzelnen Fall zu ermeſſen haben, ob die Anzahl der Theilnehmer ſo

groß war, daß nach den Umſtänden und namentlich mit Rückſicht auf

die Gefährlichkeit des Unternehmens die Erſchwerung der in den §§. 89.

und 90. vorgeſehenen Fälle begründet iſt.

2) Die Theilnehmer müſſen ſich öffentlich zuſammenrotten und

öffentlich die verpönten Handlungen verüben. In dem Entwurf von

1850. §. 81. war es zweifelhaft gelaſſen, ob auch die Verübung eine

öffentliche ſein müſſe; es hieß nämlich „ſich öffentlich zuſammenrotten“

f) Vgl. A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 167-75. 178. 179. — Code pénal.

Art. 209-21.

g) L. 4. §. 3. D. vi bon. rapt. — Vgl. Code pénal. Art. 210. —

Württemb. Strafgeſetzb. Art. 175. — Andere Geſetzbücher ſprechen von einer

Mehrheit oder einer größeren Menge; eine genauere Begriffsbeſtimmung giebt das

Badiſche Strafgeſetzbuch §. 622., indem es unterſcheidet, ob die ordent-

lichen Zwangskräfte der Obrigkeit zur Unterdrückung der Unordnungen ausreichen

oder nicht.

h) Vgl. §§. 218. Nr. 8. 232. Nr. 2. — 275.

[261/0271]

§§. 91. 92. Aufruhr; Auflauf.

u. ſ. w. Um dieſen Zweifel zu heben, iſt in der Kommiſſion der zweiten

Kammer eine Faſſungsänderung vorgenommen worden, indem in Ueber-

einſtimmung mit den früheren Entwürfen und unter Zuſtimmung des

Regierungskommiſſars geſagt wurde: i) „öffentlich ſich zuſammenrot-

ten“ u. ſ. w.

3) Die Verübung muß mit vereinten Kräften geſchehen, wovon

der Gegenſatz die nicht zuſammenhängende Thätigkeit Einzelner in ver-

einzelten Handlungen iſt.

Im Entwurf von 1847. §. 112. war übrigens der Begriff des

Aufruhrs ſo bezeichnet: „Wenn mehrere Perſonen ſich zuſammenrotten,

um öffentlich mit vereinten Kräften“ u. ſ. w., was den Abgeordneten

Camphauſen zu der Bemerkung veranlaßte, es ſei hier mehr der Ver-

ſuch als die That in den Vordergrund geſtellt. k) In der gegenwärtigen

Faſſung iſt dieſem Bedenken abgeholfen worden.

II. Die Strafe des Aufruhrs iſt Gefängniß von ſechs Monaten

bis zu fünf Jahren; auch kann auf Stellung unter Polizei-Aufſicht

erkannt werden. Dieſe Strafbeſtimmung gilt für alle Theilnehmer,

deren verſchiedene Verſchuldung bei der Strafzumeſſung zu berückſichtigen

iſt. Die Anſtifter, Rädelsführer und Anführer ſind nicht mehr, wie in

den früheren Entwürfen, beſonders ausgezeichnet.

III. Haben Theilnehmer am Aufruhr Gewaltthätigkeiten gegen

Perſonen oder Sachen verübt, ſo werden ſie mit Zuchthaus bis zu zehn

Jahren und Stellung unter Polizei-Aufſicht beſtraft. Das Verbrechen,

welches dann vorliegt, iſt nahe mit dem Landfriedensbruch (§. 284.)

verwandt; bei dieſem iſt jedoch die Gewalt zunächſt gegen Privatper-

ſonen und Sachen, im Aufruhr zunächſt gegen die Obrigkeit und deren

Anordnungen gerichtet. l)

IV. Iſt im Fall eines Aufruhrs dringende Gefahr für die öffent-

liche Sicherheit vorhanden, ſo kann der Belagerungszuſtand erklärt

werden. m)

B. Der Auflauf oder Tumult.

Der Auflauf, welcher durch die Anſammlung mehrerer Perſonen

auf öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen entſteht, iſt an und für

ſich kein Delikt; erſt wenn ein Beamter der Polizei oder der Befehls-

haber der bewaffneten Macht die Verſammelten aufgefordert hat, ſich zu

i) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 81. (91.)

k) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III.

S. 195. ff.

l) Reviſion von 1845. II. S. 53. 54.

m) Geſetz über den Belagerungszuſtand vom 4. Juni 1851. §. 2.

(G.-S. S. 451.)

[262/0272]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. V. Widerſtand gegen d. Staatsgewalt.

entfernen, ſo tritt für diejenigen, welche dieſem Befehle nicht nach-

kommen, eine Strafe ein, und zwar bis zu drei Monaten Gefängniß.

I. Der Entwurf von 1850. §. 82. belegte jede der verſammelten

Perſonen mit Strafe, welche nach der Aufforderung „den Platz nicht

verlaſſen hat.“ Die Kommiſſion der zweiten Kammer war aber der

Meinung, daß das Verlaſſen des Platzes häufig nicht in der Macht

der ohne irgend welche verbrecheriſche Abſicht verſammelten Perſonen

liegen könne; es wurde daher anſtatt jener Worte der Ausdruck gewählt:

„welche ſich nicht entfernt.“ n)

II. Die Aufforderung muß von einem der bezeichneten Beamten

dreimal wiederholt ſein, ehe diejenigen, welche ſich nicht entfernen, mit

Strafe belegt werden können. Ueber die Form der Aufforderung etwas

Weiteres zu ſagen, hielt die Kommiſſion der zweiten Kammer theils an

und für ſich nicht für praktiſch, theils glaubte ſie, daß jedenfalls ſolche

genauere Vorſchriften nicht in das Strafgeſetzbuch gehörten. Dieſe letz-

tere Anſicht kann man theilen; daß aber die Aufforderung in beſtimmter

Form, deren Bedeutung Allen bekannt iſt und vor Mißverſtändniſſen

ſichert (Verleſen der Aufruhrakte, Trommelſchlag u. dgl.), unpraktiſch ſei,

läßt ſich nicht behaupten. Die Erfahrungen in England lehren das

Gegentheil. Es bleibt aber freilich noch zu unterſcheiden, ob das un-

gehorſame Verbleiben am Orte des Tumults Strafe nach ſich zieht,

oder die bewaffnete Macht zum thätlichen Einſchreiten berechtigt.

III. Wird bei einem Auflauf gegen die Beamten der Polizei oder

die bewaffnete Macht mit vereinten Kräften ein thätlicher Widerſtand

geleiſtet, oder Gewalt verübt, ſo werden die Thäter mit den Strafen

des Aufruhrs belegt.

§. 93.

Mit Geldbuße bis zu zweihundert Thalern oder Gefängniß von vier Wo-

chen bis zu zwei Jahren wird beſtraft:

1) wer böswillig oder gegen das Verbot der Obrigkeit Fahnen, Zeichen

oder Symbole, welche geeignet ſind, den Geiſt des Aufruhrs zu ver-

breiten, oder den öffentlichen Frieden zu ſtören, an öffentlichen Orten

oder in öffentlichen Zuſammenkünften ausſtellt, oder ſie verkauft oder

ſonſt verbreitet;

2) wer äußere Verbindungs- oder Vereinigungszeichen, welche zur Auf-

rechthaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit von der Bezirks-Re-

gierung verboten ſind, an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Zu-

ſammenkünften trägt;

n) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 82. (92.)

[263/0273]

§§. 94-96. Befreiung eines Gefangenen.

3) wer in böswilliger Abſicht die öffentlichen Zeichen der Königlichen

Autorität wegnimmt, zerſtört oder beſchädigt.

Die Beſtimmungen dieſes Paragraphen ſind der Verordnung über

die Preſſe vom 30. Juni 1849. §. 15. entlehnt; nur in der erſten Nr.

ſind von der Kommiſſion der zweiten Kammer die Worte: „böswillig

oder gegen das Verbot der Obrigkeit“ hinzugefügt worden, um die böſe

Abſicht des Thäters hervorzuheben, und nicht möglicher Weiſe ganz

unſchuldige Handlungen unter Strafe zu ſtellen. Auf ein von dem

Abgeordneten Rohden erhobenes Bedenken erklärte der Juſtizminiſter

Simons in der zweiten Kammer, daß kirchliche Prozeſſionen, Wall-

fahrten und Bittgänge, welche in hergebrachter Weiſe von den mit

Korporationsrechten verſehenen Religionsgeſellſchaften angeſtellt würden,

nicht unter die Vorſchriften dieſes Paragraphen fielen. Auch der Be-

richterſtatter erklärte, daß die Kommiſſion ganz von derſelben Anſicht

geleitet geweſen ſei. o)

§. 94.

Wer vorſätzlich einen Gefangenen aus der Gefangenanſtalt oder aus der

Gewalt der bewaffneten Macht, oder aus der Gewalt des Beamten, unter

deſſen Aufſicht, Begleitung oder Bewachung er ſich befindet, befreit oder zu

befreien verſucht, wird mit Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu drei Jah-

ren beſtraft.

§. 95.

Wer vorſätzlich einen Gefangenen, deſſen Aufbewahrung, Begleitung oder

Bewachung ihm anvertraut iſt, entweichen läßt, oder deſſen Befreiung bewirkt

oder befördert, wird mit Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu drei Jahren

beſtraft.

Iſt die Entweichung nur durch Fahrläſſigkeit veranlaßt worden, ſo tritt

Gefängniß bis zu ſechs Monaten, oder in Fällen geringerer Verſchuldung

Geldbuße bis zu funfzig Thalern ein.

§. 96.

Wenn Gefangene in einer Gefangenanſtalt ſich zuſammenrotten und ent-

weder einen gewaltſamen Ausbruch ausführen oder auszuführen verſuchen, oder

gegen die Aufſeher ſich widerſetzen, oder dieſelben zu Handlungen oder Unter-

laſſungen zwingen oder zu zwingen verſuchen, ſo haben die Theilnehmer an

der Meuterei Gefängniß nicht unter ſechs Monaten verwirkt; auch kann gegen

ſie auf Stellung unter Polizei-Aufſicht erkannt werden.

Diejenigen Theilnehmer, welche Gewaltthätigkeiten gegen Perſonen oder

o) Sitzung der zweiten Kammer vom 27. März 1851.

[264/0274]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. V. Widerſtand gegen d. Staatsgewalt.

Sachen verüben, werden mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und Stellung

unter Polizei-Aufſicht beſtraft.

Die Strafe der Meuterei ſoll unabhängig von der Strafe des Verbrechens

oder Vergehens, wegen deſſen die Meuterer verhaftet ſind, ausgeſprochen und

unmittelbar nach dieſer Strafe vollſtreckt werden.

Die vorſtehenden Paragraphen handeln von der Befreiung eines

Gefangenen, wobei die Fälle beſonders ausgezeichnet werden, wenn die

Entweichung durch die Schuld desjenigen, unter deſſen Obhut der Ge-

fangene geſtellt war, geſchehen, oder eine Meuterei in einer Gefangen-

anſtalt ausgebrochen iſt. Die Selbſtbefreiung eines Gefangenen iſt

ſtraflos, vorausgeſetzt, wie ſich von ſelbſt verſteht, daß die Handlung

nicht aus andern Gründen unter ein Strafgeſetz fällt; vgl. §. 96.

A. Jemand befreit vorſätzlich einen Gefangenen aus der Gefan-

genanſtalt oder aus der Gewalt der bewaffneten Macht oder des Be-

amten, unter deſſen Aufſicht, Begleitung oder Bewachung derſelbe ſich

befindet. Darauf ſteht Gefängnißſtrafe von vierzehn Tagen bis zu drei

Jahren, die auch im Fall des Verſuchs eintritt (§. 94.).

B. Dieſelbe Strafe tritt ein, wenn derjenige, dem die Aufbewah-

rung, Begleitung oder Bewachung eines Gefangenen anvertraut war,

denſelben entweichen läßt oder deſſen Befreiung bewirkt oder befördert.

In dieſem Fall ſoll aber auch dann, wenn die Entweichung nur durch

Fahrläſſigkeit veranlaßt worden iſt, auf Geldbuße bis zu funfzig Tha-

lern oder Gefängniß bis zu ſechs Monaten erkannt werden (§. 95.).

Die Vorſchrift des Paragraphen bezieht ſich aber nur auf ſolche Per-

ſonen, denen die Bewachung von Gefangenen anvertraut worden und

die nicht Beamte ſind; über dieſe verfügt §. 322. p)

C. Gefangene rotten ſich in einer Gefangenanſtalt zuſammen und

1) führen einen gewaltſamen Ausbruch aus oder verſuchen denſelben

auszuführen, oder

2) widerſetzen ſich gegen die Aufſeher (vgl. §. 89.) oder

3) zwingen dieſelben zu Handlungen oder Unterlaſſungen, oder ver-

ſuchen es ſie dazu zu zwingen (vgl. §. 90.).

In dieſen Fällen tritt die Strafe des Aufruhrs ein (§. 91.), und

zwar mit der a. a. O. vorgeſchriebenen Erſchwerung, wenn Gewalt-

thätigkeiten gegen Perſonen oder Sachen verübt ſind. Die Meuterei in

der Gefangenanſtalt wird alſo ähnlich beurtheilt, wie die öffent-

lich verübten Handlungen bei dem Aufruhr.

p) Der §. 95. iſt erſt in der Kommiſſion der zweiten Kammer hinzugefügt wor-

den; ſ. den Bericht zu §. 84.

[265/0275]

§. 97. Unbef. Bilden bewaffn. Haufen. §§. 98. 99. Strafb. Theiln. an Verb.

Sechſter Titel.

Vergehen wider die öffentliche Ordnung.

§. 97.

Wer unbefugt bewaffnete Haufen bildet, oder ſolche befehligt, oder eine

Mannſchaft, von der er weiß, daß ſie ohne geſetzliche Befugniß geſammelt iſt,

mit Waffen oder Kriegsbedürfniſſen verſieht, wird mit Gefängniß bis zu zwei

Jahren beſtraft.

Wer an ſolchen bewaffneten Haufen Theil nimmt, hat Gefängniß bis zu

Einem Jahre verwirkt.

In dieſem Titel iſt eine Reihe von Vergehen aufgeführt, welche

zum Theil unter einander in keiner inneren Beziehung ſtehen; ſie tragen

meiſtens den Charakter bloßer polizeilicher Uebertretungen an ſich, zu

denen ſie aber nicht im dritten Theile geſtellt werden konnten, weil eine

höhere Strafe als das dort angenommene Maaß nothwendig ſchien.

Der §. 97. namentlich handelt von dem unbefugten Bilden be-

waffneter Haufen; dieſe Handlung und die ihr gleichgeſtellten ſind mit

Gefängnißſtrafe bedroht, deren Minimum von beziehungsweiſe ſechs und

drei Monaten, welches der Entwurf von 1850. §. 86. vorgeſchrieben

hatte, mit Rückſicht auf mögliche Fälle ſehr geringer Strafbarkeit in der

Kommiſſion der zweiten Kammer geſtrichen wurde. Nimmt dieß Ver-

gehen, welches übrigens in den früheren Entwürfen noch nicht vorkommt,

die Geſtalt eines beſtimmten Verbrechens an, indem z. B. die Ausfüh-

rung eines hochverrätheriſchen Unternehmens Zweck der Anwerbung

iſt (§. 64.), ſo kommen natürlich andere geſetzliche Vorſchriften zur

Anwendung.

§. 98.

Die Theilnahme an einer Verbindung, deren Daſein, Verfaſſung oder Zweck

vor der Staatsregierung geheim gehalten werden ſoll, oder in welcher gegen

unbekannte Obere Gehorſam, oder gegen bekannte Obere unbedingter Gehorſam

verſprochen wird, iſt an den Mitgliedern mit Gefängniß bis zu ſechs Monaten,

und an den Stiftern, Vorſtehern und Beamten der Verbindung mit Gefängniß

von Einem Monate bis zu Einem Jahre zu beſtrafen.

Gegen öffentliche Beamte iſt zugleich auf zeitige Unfähigkeit zur Bekleidung

öffentlicher Aemter zu erkennen.

§. 99.

Die Theilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken oder Beſchäfti-

gungen es gehört, Maaßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von

Beſeler Kommentar. 18

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Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VI. Vergehen wider d. öffentl. Ordnung.

Geſetzen durch ungeſetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften, wird an

den Mitgliedern mit Gefängniß von zwei Monaten bis zu Einem Jahre, und

an den Stiftern, Vorſtehern und Beamten der Verbindung mit Gefängniß von

ſechs Monaten bis zu zwei Jahren beſtraft.

Gegen öffentliche Beamte iſt zugleich auf zeitige Unfähigkeit zur Bekleidung

öffentlicher Aemter zu erkennen.

Die Strafvorſchriften über verbotene Verbindungen, ſo verhängniß-

voll in der Preußiſchen Rechtsgeſchichte, haben in den Beſtimmungen

der vorſtehenden Paragraphen ihren maaßvollen Abſchluß erhalten. Wenn

aber in den Motiven zu dem Entwurf von 1850. §. 86-88. bemerkt

wird, daß die Beſtimmungen über das Vereins- und Verſammlungsrecht

im Allgemeinen der Spezialgeſetzgebung überlaſſen bleiben, ſo iſt dieſe

Behauptung bereits in dem Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer

in der richtigen Weiſe beſchränkt worden. Dieſelbe iſt nämlich begründet,

inſoweit es ſich um die Regelung der Ausübung des Vereinsrechts und

die damit zuſammenhängenden Strafbeſtimmungen handelt. Was da-

gegen die Strafbarkeit der Verbindungen ihrem Zwecke nach betrifft,

ſo gehören die Vorſchriften hierüber, wie das auch in der Verfaſſungs-

Urkunde (Art. 30.) ausgeſprochen iſt, ganz eigentlich in das Straf-

geſetzbuch. Auf dieſer Anſicht beruht auch das Geſetz vom 11. März

1850. (G.-S. S. 277-83.) und der Inhalt der vorſtehenden Para-

graphen.

A. Die Theilnahme an einer Verbindung iſt ſtrafbar wegen der

Organiſation derſelben (§. 98.). Die Fälle, welche hierher gehören,

ſind a. a. O. aufgezählt; die Strafe, Gefängniß bis zu ſechs Monaten,

wird gegen die Stifter, Vorſteher und Beamten der Verbindung ver-

ſchärft; gegen öffentliche Beamte iſt wegen Theilnahme zugleich auf

zeitige Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter zu erkennen. —

Die Freimaurerlogen werden übrigens durch die Vorſchriften des §. 98.

nicht betroffen, da ſie durch eine Generalkonzeſſion geſtattet ſind. q)

B. Die Theilnahme an einer Verbindung iſt ſtrafbar wegen der

Zwecke und Beſchäftigungen derſelben (§. 99.). Dieß bezieht ſich auf

den Fall, wenn die Verbindung es ſich zur Aufgabe ſtellt, Maaßregeln

der Verwaltung oder die Vollziehung der Geſetze zu verhindern oder zu

entkräften. In dieſer Allgemeinheit aufgeſtellt, würde dieſe Vorſchrift

im höchſten Grade der Freiheit gefährlich ſein; die Kommiſſion der

zweiten Kammer fügte aber den Zuſatz hinzu: „durch ungeſetzliche Mit-

q) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 87. (98.)

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§§. 100. 101. Anreizung zu Haß und Verachtung.

tel,“ und der Vertreter der Regierung erklärte, daß der Entwurf auch

nur in dieſer Beſchränkung habe verſtanden werden ſollen. r)

Die Strafen ſind in dieſem Fall etwas höher gegriffen als in dem

vorhergehenden; die Schärfungsgründe ſind auch hier dieſelben.

§. 100.

Wer den öffentlichen Frieden dadurch gefährdet, daß er die Angehörigen

des Staates zum Haſſe oder zur Verachtung gegen einander öffentlich anreizt,

wird mit Geldbuße von zwanzig bis zu zweihundert Thalern oder mit Ge-

fängniß von Einem Monat bis zu zwei Jahren beſtraft.

§. 101.

Wer durch öffentliche Behauptung oder Verbreitung erdichteter oder ent-

ſtellter Thatſachen, oder durch öffentliche Schmähungen oder Verhöhnungen die

Einrichtungen des Staates oder die Anordnungen der Obrigkeit dem Haſſe

oder die Verachtung ausſetzt, wird mit Geldbuße bis zu zweihundert Thalern

oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren beſtraft.

Beide Paragraphen ſind der Verordnung über die Preſſe vom

30. Juni 1849. entnommen und haben es auch mit verwandten Ver-

gehen zu thun.

A. Anreizung der Staatsangehörigen zum Haſſe oder zur Ver-

achtung gegeneinander (§. 100.).

Der Eingang dieſer Vorſchrift lautete in der angeführten Verord-

nung §. 17.: „Wer den öffentlichen Frieden dadurch zu ſtören ſucht,

daß er“ u. ſ. w.; der Entwurf von 1850. hatte aber nach dem Vor-

ſchlage der Preßgeſetz-Kommiſſion der zweiten Kammer s) die Beziehung

auf die Störung des öffentlichen Friedens ganz weggelaſſen, ſo daß die

betreffenden Worte lauteten: „Wer die Angehörigen des Staates“ u. ſ. w.

In der Kommiſſion der zweiten Kammer für das Strafgeſetzbuch kam

die Frage zur wiederholten Erörterung. Man fand, daß die im Ent-

wurf fehlenden Eingangsworte ein Doppeltes enthielten: einmal, daß

die Anreizung zum Haß u. ſ. w. objektiv den öffentlichen Frieden

gefährde; und ſodann zweitens, daß der Thäter bei ſeiner Anreizung die

Abſicht haben müſſe, den öffentlichen Frieden zu ſtören.

„Dieſem letztern Erforderniß,“ heißt es im Berichte, „kann die

Kommiſſion ebenfalls nicht beiſtimmen, dagegen hält ſie zur objektiven

r) Ebendaſ. zu §§. 88. (99.).

s) Es iſt die Kommiſſion aus der Sitzungsperiode von 1849-50. gemeint,

welche die Vorſchriften der Verordnung vom 30. Juni 1849. zum Theil im Sinne

einer ſtärkeren Repreſſion verändert hatte. Ihre Vorſchläge kamen nicht mehr zur

Verhandlung im Plenum; die Staatsregierung hat aber bei Ausarbeitung des Straf-

geſetzbuchs-Entwurfs von 1850. mehrfach Bezug darauf genommen

18*

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Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VI. Vergehen wider d. öffentl. Ordnung.

Charakteriſirung der Anreizung das erſtere Requiſit allerdings noth-

wendig, um nicht Fälle, welche für die öffentliche Ordnung ganz gleich-

gültig ſind, und die lediglich in das Gebiet der Beleidigungen und

Verleumdungen gehören, mit Fällen ganz anderer Bedeutung zuſam-

men zu werfen. Was der Preßverordnung von 1849. hier vorſchwebte,

iſt offenbar jene Aufhetzung einer Klaſſe des Volkes gegen die andere,

wie ſie, ſeit die ſogenannten ſozialen Fragen in den Vordergrund ge-

treten, ſo häufig vorkommen. Es mag bedenklich erſcheinen, dieſen

Hauptfall als den einzigen anzunehmen, und auf ihn die ganze Straf-

beſtimmung zu beſchränken; aber durchaus erforderlich hielt die Kom-

miſſion eine Begrenzung des Thatbeſtandes, welche die Aufreizung

einzelner Individuen als ſolcher gegen einzelne Andere, ohne alle Ge-

fahr für die öffentliche Ordnung, von dieſem Gebiete der öffentlichen

Verbrechen fern hält.“ t)

Auf dieſen Erwägungen beruht die gegenwärtige Faſſung des Pa-

ragraphen: „Wer den öffentlichen Frieden dadurch gefährdet“ u. ſ. w.

B. Die Einrichtungen des Staates oder die Anordnungen der

Obrigkeit werden dem Haſſe oder der Verachtung ausgeſetzt (§.101.).

Dieß geſchieht dadurch, daß entweder

1) erdichtete oder entſtellte Thatſachen öffentlich behauptet oder ver-

breitet, oder

2) öffentliche Schmähungen oder Verhöhnungen angewandt werden.

Auch hierüber kam es in der Kommiſſion der zweiten Kammer zu

umfaſſenden Erörterungen, worüber der Bericht Folgendes mittheilt:

„Daſs zweite Mittel, öffentliche Schmähungen oder Verhöhnungen,

befindet ſich nicht in dem §. 18. der Preßverordnung von 1849., aus

welcher der §. 90. des Entwurfs entnommen iſt, ſondern es iſt ein

ebenfalls von der vorigjährigen Preßkommiſſion der zweiten Kammer

vorgeſchlagener Zuſatz. — In der Kommiſſion (für das Strafgeſetz-

buch) wurde der Antrag geſtellt, dieſen Zuſatz wegzulaſſen, und ſodann

den übrigbleibenden erſten Fall dahin zu präziſiren, daß geſagt werde:

Wer dadurch, daß er erdichtete oder entſtellte Thatſachen, wiſ-

ſend, daß ſie erdichtet oder entſtellt ſind, öffentlich behauptet

oder verbreitet, die Einrichtungen u. ſ. w. dem Haſſe und der

Verachtung ausſetzt.

Der erſtere Antrag wurde darauf geſtützt, daß es nicht nothwendig

erſcheine, Einrichtungen oder Anordnungen, bei denen von perſönlicher

Ehre nicht die Rede ſein könne, gegen bloße Urtheile, mögen ſie eine

Form annehmen, welche ſie wollen, durch Strafe zu ſchützen, und daß

t) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §.89. (100.)

[269/0279]

§§. 102. 103. Beleidigung der Kammern c.

andererſeits dieſer Schutz für die Freiheit der Kritik eine ungerechtfertigte

und wegen der Unbeſtimmtheit der Ausdrücke möglicherweiſe ſelbſt ge-

fährliche Beſchränkung herbeiführe.“

„Die Kommiſſion lehnte aber dieſen Antrag ab, nachdem geltend

gemacht worden, daß das Anſehen der Autorität gegen Schmähungen

oder Verhöhnungen geſchützt werden müſſe, und daß die Kritik der Ein-

richtungen oder Anordnungen ſachlich nicht im Geringſten beſchränkt

werde, wenn ihr durch beſtimmte, keineswegs vage Ausdrücke verwehrt

werde, zu „Schmähungen oder Verhöhnungen“ ihre Zuflucht zu neh-

men. u) Auch der zweite Antrag, als Requiſit des Thatbeſtandes die

Wiſſenſchaft des Thäters von der Erdichtung oder Entſtellung der That-

ſachen hinzuſtellen, lehnte die Kommiſſion ab, nachdem der Vertreter

der Regierung die Analogie dieſes Vergehens mit den Beleidigungen

und Verleumdungen angeführt, und hervorgehoben hatte, daß auch bei

Verleumdungen die Behauptung von falſchen Thatſachen nicht blos

dann, wenn der Thäter wiſſe, daß ſie falſch ſeien, beſtraft werde, ſon-

dern auch dann, wenn er fahrläſſiger Weiſe unterlaſſen, die Richtigkeit

von Thatſachen, welche der Verachtung ausſetzen, zu unterſuchen, ehe

er ſie veröffentliche. Dieſelben Grundſätze wollte die Kommiſſion hier

um ſo mehr feſtgehalten wiſſen, als die frechen Entſtellungen, welche

ſo häufig beſonders in den kleinen Lokalblättern vorkommen, der Be-

ſtrafung faſt immer entgehen würden, wenn der Beweis der Wiſſenſchaft

des Verbreiters von der Erdichtung oder Entſtellung geliefert werden

müſſe.“

Ueber den Grad der Fahrläſſigkeit, der in einem ſolchen Fall vor-

ausgeſetzt wird, um die Beſtrafung eintreten zu laſſen, kommen die all-

gemeinen Grundſätze zur Anwendung; v) auch iſt nach dem Beſchluß

der Kommiſſion das in der Regierungsvorlage aufgeſtellte Minimum

der Strafe von beziehungsweiſe zwanzig Thalern Geldbuße oder Ge-

fängniß von Einem Monate für das in dieſem Paragraphen vorgeſehene

Vergehen weggefallen.

§. 102.

Wer durch Wort, Schrift, Druck, Zeichen, bildliche oder andere Darſtellung

eine der beiden Kammern, ein Mitglied der beiden Kammern, eine andere

politiſche Körperſchaft, eine öffentliche Behörde, einen öffentlichen Beamten,

einen Religionsdiener, ein Mitglied der bewaffneten Macht, einen Geſchwore-

u) Ein Antrag, den der Abgeordnete Veit in der erſten Kammer einbrachte, die

Worte „oder Verhöhnungen“ zu ſtreichen, kam nicht zur Abſtimmung; ſ. Verhand-

lungen der erſten Kammer vom 12. April 1851.

v) S. oben S. 49-56.

[270/0280]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VI. Vergehen wider d. öffentl. Ordnung.

nen, einen Zeugen oder Sachverſtändigen, während ſie in der Ausübung ihres

Berufes begriffen ſind, oder in Beziehung auf ihren Beruf beleidigt, wird mit

Gefängniß von Einer Woche bis zu Einem Jahre beſtraft.

Hat die Beleidigung den Charakter der Verleumdung, ſo iſt die Strafe

Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu achtzehn Monaten, und wenn die

Verleumdung öffentlich begangen wurde, Gefängniß von Einem Monate bis

zu Zwei Jahren.

Wird feſtgeſtellt, daß milderne Umſtände vorhanden ſind, ſo kann in allen

Fällen die Strafe auf Geldbuße von zehn bis zu dreihundert Thalern be-

ſtimmt werden.

§. 103.

Wegen Beleidigung einer der beiden Kammern darf die Verfolgung nur

mit Ermächtigung der Kammer, und wegen Beleidigung eines Mitgliedes der

Kammer nur auf deſſen Antrag eingeleitet werden.

In Anſehung der übrigen im §. 102. vorgeſehenen Ehrverletzungen bedarf

es zur Einleitung der Verfolgung eines Antrages des Verletzten nicht.

Die Vorſchriften dieſer Paragraphen unterſcheiden ſich in zwiefacher

Weiſe von den allgemeinen Beſtimmungen über die Ehrverletzung; ſie

enthalten nämlich einmal höhere Strafen und ſtellen außerdem die

Regel auf, daß es zur Einleitung der Verfolgung eineſs Antrags des

Verletzten nicht bedarf. Ob es deswegen nöthig war, die frühere An-

ordnung zu verlaſſen, w) und das Vergehen an dieſer Stelle, ſtatt im

dreizehnten Titel bei den Verletzungen der Ehre abzuhandeln, kann al-

lerdings mit Recht bezweifelt werden. Jedenfalls wird der allgemeine

Begriff des hier in Frage ſtehenden Vergehens durch die Stellung des-

ſelben im Syſteme nicht geändert; es iſt eine geſetzlich ausgezeichnete

Ehrverletzung.

I. Nach dem Syſtem des Strafgeſetzbuchs ſind die Realinjurien

auch hier ausgeſchieden; ſie werden unter den Mißhandlungen und Kör-

perverletzungen begriffen (§. 192.).

II. Die Vorſchriften des §. 102. ſind der Verordnung über die

Preſſe vom 30. Juni 1849. §. 23. entlehnt; nur ſind unter den Per-

ſonen, deren Beleidigung härter beſtraft werden ſoll, noch die Zeugen

und Sachverſtändigen aufgeführt worden.

III. Die Beleidigung muß den betreffenden Körperſchaften, Be-

hörden und einzelnen Perſonen zugefügt ſein, während ſie in der Aus-

übung ihres Berufs begriffen ſind oder in Beziehung auf ihren Beruf.

Dieſe letztere Bezeichnung iſt allerdings weiter als die des Allgemeinen

Landrechts (Th. II. Tit. 20. §. 208.) „in oder bei Ausübung ihres

w) Entwurf von 1847. §. 196. — Reviſion von 1845. II. S. 41.

[271/0281]

§§. 102. 103. Beleidigung der Kammer c.

Amtes, “ ſo wie des Code pénal (Art. 222.): dans l'exercice de leurs

fonctions ou à l'occasion de cet exerice. Sie drückt daſſelbe aus,

was die älteren Juriſten unter den Worten: ratione officii oder intuitu

officii verſtanden, leidet aber freilich auch an derſelben Unbeſtimmtheit

des Begriffs. Im Allgemeinen wird der Unterſchied darein zu ſetzen

ſein, ob der Beamte u. ſ. w. als ſolcher oder als Privatperſon belei-

digt worden, was dem auch auf Körperſchaften und Behörden anzu-

wenden iſt.

IV. Hinſichtlich der Strafe wird unterſchieden die Beleidigung und

die Verleumdung. Die der erſteren iſt beträchlich höher, als ſie bei der

öffentlichen Privatehrverletzung vorgeſchrieben worden(§. 152.), — es

iſt die der einfachen Verleumdung (§. 156. Abſ. 1.); die einfache Ver-

leumdung iſt hier der öffentlichen Verleumdung von Privatperſonen

gleichgeſtellt (§. 156. Abſ. 2.), das Strafmaaß der öffentlichen Ver-

leumdung aber erhöht worden. x) — Bei der Feſtſtellung mildernder

Umſtände wird, abgeſehen von den ganzen geringfügigen Fällen, beſonders

darauf Rückſicht zu nehmen ſein, ob die Beleidigung durch das unge-

rechtfertigte Benehmen der verletzten Perſon hervorgerufen worden iſt;

und bei der Verleumdung namentlich, ob derjenige, welcher ſie unwahre

Thatſachen verbreitete, dabei in böswilliger Abſicht oder nur aus Fahr-

läſſigkeit gehandelt hat.

Die von dem Vertreter der Regierung in der Kommiſſion der zwei-

ten Kammer angeregte Frage, ob nicht zu der im zweiten Abſatz ange-

drohten Strafe die zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen

Ehrenrechte hinzutreten müſſe, wurde in der Kommiſſion verneint. Die

Gründe der Entſcheidung werden unten zu §. 156. erwähnt werden.

V. Die politiſche Stellung der Kammer und deren Mitglieder

bedingt es daß die Verfolgung der gegen ſie gerichteten Beleidigungen

nur mit ihrer Zuſtimmung geſchehe (§. 103. Abſ. 1.); in den übrigen

Fällen des §. 102. bedarf es eines Antrages des Verletzten nicht, ſo daß

alſo die Einleitung der Verfolgung von Amtswegen ſtatt findet. Dieß

iſt eine Abweichung von dem früher in dieſer Beziehung durchgeführten

Grundſatze: Der Entwurf von 1847. beſtimmte:

§. 204. „Wegen Verletzung der Amts- oder Dienſtehre findet die

Beſtrafung ſtatt, ſowohl wenn der Beleidigte, als wenn die Dienſtbe-

hörde darauf anträgt. So lange die Strafvollſtreckung noch nicht an-

x) Der Begriff der öffentlichen Beleidigung und Verleumdung wird nach dem

Strafgeſetzbuch (§. 152.) nur auf die Art der Verübung bezogen; früher unterſchied

man ſich öffentliche und Privatbeleidigung der Obrigkeit, je nachdem ſie während der

Amtsführung oder um derſelben willen zugefügt war, oder die Beleidigung in keiner

Beziehung zum Amte ſtand. Vgl. A. D. Weber, über Jujurien und Schmähſchrif-

ten. III. S. 190-244.

[272/0282]

Th. II. B.d. einzelnen Verbr.c. Tit. VI. Vergehen wider die öffentl. Ordnung.

gefangen hat, dann der Antrag zurückgenommen werden, von dem Be-

leidigten jedoch nur mit Genehmigung der Dienſtbehörde, und von der

Dienſtbehörde nur mit Genehmigung des Beleidigten.“

„Iſt eine ſolche Beleidigung gegen eine oberſte Staatsbehörde verübt

worden, ſo haben die Gerichte von Amtswegen einzuſchreiten, jedoch

zuvörderſt bei dem Chef des betreffenden Departements anzufragen, ob

derſelbe gegen die Einleitung der Unterſuchung ſeine Einwendung habe.

Auch dann, ſo lange die Strafvollſtreckung noch nicht angefangen hat,

der Departements-Chef darauf antragen, der Unterſuchung keine weitere

Folge zu geben.“

In dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß wurde der zweite Abſatz

geſtrichen; y) die Faſſung des Paragraphen auch in ſeinen erſten Abſatze

zeigt aber, daß man ſich die Ehrverletzung in dieſen Fall als ein ge-

miſchtes Vergehen dachte, bei welchen das Intereſſe des Staates und

des Verletzten zur Berückſichtigung kommen müſſe. Gegenwärtig tritt

bei dem Verfahren von Amtswegen allein das Erſtere hervor. Dieß

iſt in zwiefacher Beziehung von Bedeutung. Für die Behörde nämlich,

welche von Amtswegen einzuſchreiten hat, liegt darin die Anweiſung,

nur im Intereſſe des Staates und des öffentlichen Dienſtes von ihrer

Machtvollkommenheit Gebrauch zu machen, ohne auf die Fälle Rückſicht

zu nehmen, wo die Ehrverletzung nur den Charakter der Privatbeleidi-

gung an ſich trägt. Es hängt alſo von ihren Ermeſſen ab, zu ent-

ſcheiden, wann die Einleitung der Verfolgung von Amtswegen ſtatt

finden ſoll, und der Antrag des Verletzten kann ſie nicht dazu nöthigen.

Auf der anderen Seite kann diejenige öffentliche Perſon, welche ſich

für beleidigt hält, durch die Weigerung der Staatsanwaltſchaft, ein

Verfahren von Amtswegen einzuleiten, nicht ſchlechter geſtellt werden,

as jede Privatperſon. So gut, wie es einer ſolchen freiſteht, den Weg

der Privatklage zu betreten, muß es auch den im §. 102. genannten

Perſon geſtattet ſein, was auch der Vorſchrift des Geſetzes vom

11. März 1850. §. 5. (G.-S. S. 174.) entſpricht. In Beziehung auf das

Verfahren iſt dann die Vorſchrift des §. 160. maaßgebend; was aber

die Strafe anbetrifft, ſo fragt es ſich, ob es dem erkennenden Gerichte

noch freiſteht, je nach dem vorliegenden Thatbeſtande die höheren Stra-

fen des §. 102. oder die Strafen der Privatbeleidigung anzuwenden,

oder ob nur die letzteren in dieſem Fall eintreten können. Nimmt man

das Letztere an, ſo läßt man die Anwendung der Strafen des §. 102.

von der Einleitung einer Verfolgung von Amtswegen bedingt ſein, ſo

daß es von der Entſcheidung der Staatsanwaltſchaft abhängt, ob eine

y) Verhandlungen. III. S. 624

[273/0283]

§§. 104. 105. Anmaaßung von Rechten.

Verletzung der Amtsehre überhaupt zu ahnden iſt oder nicht. Die all-

gemeine Faſſung des §. 102. möchte aber dieſer Anſicht entgegenſtehen.

§. 104.

Wer unbefugt ſich mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes befaßt, oder

ſolche Handlungen vornimmt, die nur in Kraft eines öffentlichen Amtes vor-

genommen werden dürfen, ſoll mit Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu

Einem Jahre beſtraft werden.

§. 105.

Wer unbefugt eine Uniform, eine Amtskleidung, ein Amtszeichen, einen

Orden oder ein Ehrenzeichen trägt, wer unbefugt Titel, Würden oder Adels-

Prädikate annimmt, oder wer eines Namens, der ihm nicht zukommt, ſich be-

dient, wird mit Geldbuße bis zu Einhundert Thalern oder Gefängniß bis zu

drei Monaten beſtraft.

Es werden hier Handlungen unter Strafe geſtellt, welche eine

Anmaaßung gewiſſer Rechte enthalten.

A. Unbefugte Ausübung eines öffentlichen Amtes, der die unbe-

fugte Vornahme von Handlungen, welche nur in Kraft eines öffent-

lichen Amtes vorgenommen werden können, gleichgeſetzt iſt (§. 104.). —

Im Entwurf von 1847. lautete

§. 367. „Wer ſich die Ausübung eines öffentlichen Amtes an-

maaßt, oder ſolche Handlungen eigenmächtig unternimmt, die nur in

Kraft eines öffentlichen Amts vorgenommen werden dürfen, ingleichen,

wer geiſtliche Amtshandlungen verrichtet, ohne dazu befugt zu ſein,

ſoll mit Geldbuße bis zu fünfhundert Thalern oder mit Gefängniß be-

ſtraft werden.“

Die Faſſungsänderung im Anfang des Paragraphen wurde ſchon

in der vorberathenden Abtheilung des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes

beantragt, gelangte damals aber nicht zur Annahme; z) über die Ver-

richtung geiſtlicher Amtshandlungen äußern ſich die Motive zum Entwurf

von 1850. §. 92. in folgender Weiſe:

„Die vorſtehende Beſtimmung iſt aus dem früheren Entwurf

(§. 367.) hervorgegangen. Dort war auch die unbefugte Verrichtung

geiſtlicher Amtshandlungen, alſo namentlich die Vornahme von Taufen,

unter Strafe geſtellt. Indeſſen hat dieſe Beſtimmung nach den gegen-

wärtig angenommenen ſtaatsrechtlichen Prinzipien über die freie Reli-

gionsübung nicht beibehalten werden können; die Geſetzgebung wird ſich

darauf beſchränken müſſen, zur Sicherung des Perſonenſtandes Beſtim-

z) Verhandlungen. IV. S. 446. 447.

[274/0284]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VI. Vergehen widerd. öffentl. Ordnung.

mungen zu erlaſſen, wie ſie in Anſehung der aus der Kirche formell

ausgetretenen Diſſidenten in der Verordnung vom 30. März 1847.

bereits getroffen ſind.“

Aus welchen Gründen die Strafe im Verhältniß zu der Beſtim-

mung des Entwurfs von 1847. erhöht worden iſt, läßt ſich aus den

Motiven nicht entnehmen.

B. Die in §. 105. normirten Fälle ſind rein polizeilicher Natur;

der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß beſchloß daher auch, dieſelben nur

mit der Strafe der Uebertretungen zu belegen. a) In der Kommiſſion

der zweiten Kammer wurde dieſer Antrag aber abgelehnt, indem in

Uebereinſtimmung mit den Motiven zum Entwurf von 1850. ange-

nommen wurde, daß für die ſchwereren Fälle eine höhere Strafe erfor-

derlich ſei. Dagegen entſchied ſich die Kommiſſion dafür, in Ueberein-

ſtimmung mit dem früher zu §. 12. Nr. 2. über den Verluſt des

Adels gefaßten Beſchluß, ſtatt: „Standesauszeichnungen,“ den Ausdruck

„Adels-Prädikate“ zu wählen, indem ſie der Anſicht war, daß dadurch

jeder Widerſpruch mit Art. 4. der Verfaſſungs-Urkunde vermieden werde. b)

§. 106.

Wer Urkunden, Regiſter, Akten oder ſonſtige Gegenſtände, welche ſich an

einem öffentlichen Verwahrungsorte aufbewahrt finden, oder einem Beamten,

zu deſſen Amte die Verwahrung derſelben gehört, in amtlicher Eigenſchaft

übergeben worden ſind, vorſätzlich vernichtet oder bei Seite ſchafft, wird mit

Gefängniß nicht unter drei Monaten beſtraft.

Iſt die Handlung in gewinnſüchtiger Abſicht begangen, ſo ſoll zugleich auf

zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

§. 107.

Wer die zur öffentlichen Bekanntmachung angeſchlagenen Verordnungen,

Befehle, Patente oder Anzeigen öffentlicher Behörden oder Beamten vorſätzlich

abreißt, beſchädigt, befleckt oder verunſtaltet, iſt mit Geldbuße bis zu Einhun-

dert Thalern oder mit Gefängniß bis zu ſechs Monaten zu beſtrafen.

§. 108.

Wer ein amtliches Siegel, welches von einer öffentlichen Behörde oder

einem öffentlichen Beamten angelegt iſt, um Sachen zu verſchließen, zu be-

zeichnen oder in Beſchlag zu nehmen, ohne Befugniß vorſätzlich erbricht, ab-

löſet oder beſchädigt, wird mit Gefängniß von Einer Woche bis zu ſechs

Monaten beſtraft.

a) Verhandlungen. IV. S. 314-18.

b) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 93. (105.)

Vgl. oben S. 107. 108.

[275/0285]

§. 109. Falſche Entſchuldig. §§. 110-113. Verletz. d. Militairdienſtpflicht.

Die in dieſen Paragraphen unter Strafe geſtellten Handlungen

ſind nicht nur ihrem Thatbeſtande nach im Allgemeinen mit einander

verwandt, ſondern haben auch das gemeinſame Erforderniß, daß ſie vor-

ſätzlich begangen ſein müſſen, wenn überhaupt eine Ahndung eintreten

ſoll. Die Ehrenſtrafe in §. 106. iſt in der Kommiſſion der zweiten

Kammer auf den Fall, daß die Handlung in gewinnſüchtiger Abſicht

begangen worden, beſchränkt; die Regierungsvorlage hatte ſie allgemein,

jedoch nur nach dem Ermeſſen des Richters zugelaſſen. c) — Der Aus-

druck „amtliches Siegel“ in §. 108. ſchließt auch die Siegel ſolcher

Beamten und Behörden ein, welche keine obrigkeitliche Gewalt haben,

z. B. der Gerichtsvollzieher in der Rheinprovinz.

§. 109.

Wer als Zeuge oder als Geſchworener berufen, eine Entſchuldigungs-Ur-

ſache vorſchützt, welche ſich als falſch ergiebt, wird mit Gefängniß bis zu zwei

Monaten beſtraft.

Daſſelbe gilt für den Sachverſtändigen, inſofern er auf Grund einer geſetz-

lichen Verpflichtung berufen iſt.

Die Verurtheilung wegen Vorſchützens einer falſchen Entſchuldigungs-Ur-

ſache ſchließt die Verurtheilung in die auf das Richterſcheinen geſetzten Geld-

bußen nicht aus.

Eine falſche Entſchuldigungs-Urſache kann nur eine ſolche ſein,

deren Unrichtigkeit derjenige, welcher ſie vorſchützte, kannte; Irrthum und

Verſehen werden hier alſo nicht mit Strafe bedroht. d) — Die Faſſung

der auf die Sachverſtändigen ſich beziehenden Beſtimmung des Abſ. 2.

wurde mit Rückſicht auf die verſchiedenen Vorſchriften der einzelnen noch

geltenden Prozeßordnungen gewählt. e)

§. 110.

Wer ohne Erlaubniß die Königlichen Lande verläßt und ſich dadurch dem

Eintritt in den Dienſt des ſtehenden Heeres zu entziehen ſucht, ingleichen ein

beurlaubter Landwehrmann, welcher ohne Erlaubniß auswandert, wird mit

einer Geldbuße von funfzig bis zu Eintauſend Thalern oder Gefängniß von

Einem Monate bis zu Einem Jahre beſtraft.

Das Vermögen des Angeſchuldigten iſt inſoweit, als es nach dem Ermeſſen

des Richters zur Deckung der den Angeſchuldigten möglicherweiſe treffenden

höchſten Strafe von Eintauſend Thalern und der Koſten des Verfahrens er-

forderlich iſt, von demſelben mit Beſchlag zu belegen.

c) Kommiſſionsbericht zu §. 94. (106.)

d) Vgl. oben S. 45. 46.

e) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 97. (109.)

[276/0286]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VI. Vergehen wider d. öffentl. Ordnung.

§. 111.

Wer einen Preußen zum Militairdienſte fremder Mächte anwirbt oder den

Werbern der letzteren zuführt, ingleichen wer einen Preußiſchen Soldaten vor-

ſätzlich zum Deſertiren verleitet, oder die Deſertion deſſelben vorſätzlich beför-

dert, wird mit Gefängniß von drei Monaten bis zu drei Jahren beſtraft.

Der Verſuch dieſer Handlungen wird mit der nämlichen Strafe belegt.

§. 112.

Wer von dem Vorhaben einer Deſertion zu einer Zeit, zu welcher die Ver-

hütung des Vergehens möglich iſt, glaubhafte Kenntniß erhält und es unter-

läßt, davon der Polizeibehörde oder Militairbehörde zur rechten Zeit Anzeige

zu machen, ſoll, wenn die Deſertion wirklich begangen wird, mit Gefängniß

bis zu Einem Jahre beſtraft werden.

§. 113.

Wer ſich vorſätzlich durch Selbſtverſtümmelung oder auf andere Weiſe zu

dem Militairdienſte untauglich macht, oder durch einen Anderen untauglich

machen läßt, wird mit Gefängniß nicht unter Einem Jahre und zeitiger Un-

terſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte beſtraft.

Dieſelbe Strafe hat derjenige verwirkt, welcher den Anderen auf deſſen

Verlangen zum Militairdienſte untauglich macht.

Die vorſtehenden Beſtimmungen ſind gegen Perſonen gerichtet,

welche ſich der geſetzlichen Militairdienſtpflicht entziehen oder Andern dazu

behülflich ſind. Sie ſind, wie in den Motiven zu dem Entwurf von

1850. nachgewieſen worden, in Uebereinſtimmung mit den geſetzlichen

Vorſchriften, welche bisher gegolten haben, erlaſſen; ob ſie auch durch-

weg dem Geiſte der modernen Preußiſchen Militairverfaſſung entſpre-

chen, und nicht zum Theil die Spuren älterer Einrichtungen an ſich

tragen, iſt eine Frage, deren Anregung in der Kommiſſion der zweiten

Kammer zu keinen abändernden Beſchlüſſen führte.

Die Vorſchrift des §. 110. iſt an die Stelle der Vermögenskonfis-

kation getreten, und von dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß in An-

trag gebracht worden, ſodann in das Geſetz vom 11. März 1850.

(Geſetzſ. S. 271.) übergegangen.

In §. 112. iſt eine Anwendung der in §. 39. nur für gewiſſe

Verbrechen aufgeſtellten Vorſchrift enthalten.

Die in §. 113. als nothwendig vorgeſchriebene zeitige Unterſagung

der bürgerlichen Ehrenrechte wurde in der Kommiſſion der zweiten Kam-

mer aufrecht erhalten, obgleich bemerkt wurde, daß die Handlung na-

mentlich in den ärmeren Klaſſen nicht immer aus Feigheit und ehrloſer

Geſinnung, ſondern auch aus Rückſichten für hülfsbedürftige Eltern

u. ſ. w. begangen werde. Die Mehrheit der Kommiſſion war aber der

[277/0287]

§§. 114-116. Verleitung zum Auswandern u. ſ. w.

Anſicht, daß das Vergehen in der unbefangenen Auffaſſung des Volkes

unter allen Umſtänden für entehrend gelte, und daß das Strafgeſetzbuch

dieſer Auffaſſung nicht entgegentreten dürfe. f)

§. 114.

Wer es ſich zum Geſchäft macht, Preußiſche Unterthanen zur Auswande-

rung zu verleiten, ſoll mit Gefängniß von Einem Monate bis zu zwei Jah-

ren beſtraft werden.

Eine gleiche Strafe tritt gegen denjenigen ein, welcher es ſich zum Ge-

ſchäft macht, Vorſteher, Gehülfen oder Arbeiter inländiſcher Fabriken dazu zu

verleiten, daß ſie vor Ablauf der Kontraktzeit den Dienſt ihres Fabrikherrn

verlaſſen und in den Dienſt ausländiſcher Fabrikherren übergehen.

§. 115.

Ausländer, welche, nachdem ſie des Landes verwieſen ſind, ohne Erlaubniß

zurückkehren, werden mit Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren

beſtraft.

§. 116.

Wer unter Polizei-Aufſicht geſtellt iſt und den in Folge derſelben ihm auf-

erlegten Beſchränkungen entgegengehandelt, wird mit Gefängniß von Einer

Woche bis zu ſechs Monaten beſtraft.

An die Vorſchriften über die Anwerbung zum Militairdienſt frem-

der Mächte, ſo wie über die Verleitung zum Deſertiren, ſchließt ſich die

des §. 114. an. Es werden hier diejenigen mit Strafe bedroht, welche

es ſich zum Geſchäfte machen, Preußiſche Unterthanen zur Auswande-

rung zu verleiten oder Perſonen, welche in inländiſchen Fabriken arbei-

ten, vor Ablauf der Kontraktzeit zum Uebertritt in den Dienſt auslän-

diſcher Fabrikherren zu verleiten. g) In beiden Fällen gehört es zum

Thatbeſtande des Vergehens, daß diejenigen, welche beſtraft werden ſol-

len, ſolche Handlungen gewerbsmäßig betreiben („es ſich zum Geſchäfte

machen“), und mit dem Ausdruck „verleiten“ iſt die widerrechtliche Ab-

ſicht derſelben bezeichnet. Das Recht der freien Auswanderung iſt hier

alſo eben ſo wenig beſchränkt, als die Beförderung der Auswanderung

durch Koloniſationsgeſellſchaften u. dergl. unter Strafe geſtellt. h)

Die beiden folgenden Paragraphen enthalten Strafandrohungen ge-

gen diejenigen, welche als Ausländer des Landes verwieſen, ohne Er-

laubniß zurückkehren (§. 115.), und gegen diejenigen, welche unter Po-

f) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 101.

g) Vgl. Code pénal. Art. 417.

h) Protokolle der Kommiſſion der zweiten Kammer, Sitzung vom

24. Jan. 1851.

[278/0288]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VI. Vergehen wider d. öffentl. Ordnung.

lizei-Aufſicht geſtellt, den ihnen in Folge deſſen auferlegten Beſchränkun-

gen entgegen handeln (§. 116.). Das niedrige Maaß der auf die

Uebertretungen geſetzten Strafen verhinderte es, die bezeichneten Vergehen

zu denſelben zu ſtellen.

§. 117.

Wer geſchäftslos und arbeitslos umherzieht, ohne ſich darüber ausweiſen

zu können, daß er die Mittel zu ſeinem Unterhalte beſitze, oder doch eine Ge-

legenheit zu demſelben aufſuche, wird als Landſtreicher mit Gefängniß von

Einer Woche bis zu drei Monaten beſtraft.

§. 118.

Die Bettelei wird in folgenden Fällen als Vergehen mit Gefängniß von

Einer Woche bis zu drei Monaten beſtraft:

1) wenn Jemand unter Drohungen oder mit Waffen, oder unter Gebrauch

eines falſchen Namens, oder unter Vorſpiegelung eines Unglücksfalles, einer

Krankheit oder eines Gebrechens bettelt;

2) wenn Jemand bettelt, oder Kinder zum betteln anleitet oder ausſchickt,

oder Perſonen, welche ſeiner Gewalt und Aufſicht untergeben ſind und zu

ſeiner Hausgenoſſenſchaft gehören, vom Betteln abzuhalten unterläßt, nach-

dem er in den letzten drei Jahren wegen dieſer Zuwiderhandlungen zwei

oder mehrere Male rechtskräftig verurtheilt worden iſt.

§. 119.

Mit Gefängniß von Einer Woche bis zu drei Monaten wird beſtraft:

1) wer dem Spiele, dem Trunke oder Müßiggange ſich dergeſtalt hingiebt,

daß er in einen Zuſtand verſinkt, in welchem zu ſeinem Unterhalte oder

zum Unterhalte derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet iſt, durch

Vermittelung der Behörde fremde Hülfe in Anſpruch genommen werden muß;

2) wer eine Unterſtützung aus öffentlichen Armenfonds empfängt, wenn er ſich

weigert, die ihm von der Behörde angewieſene, ſeinen Kräften angemeſſene

Arbeit zu verrichten;

3) wer nach Verluſt ſeines bisherigen Unterkommens binnen einer von der

Ortspolizei-Behörde zu beſtimmenden Friſt ſich kein anderweitiges Unter-

kommen verſchafft hat und auch nicht nachweiſen kann, daß er ſolches, aller

angewandten Bemühungen ungeachtet, nicht vermocht habe.

§. 120.

In den Fällen der §§. 117-119. hat das Gericht zugleich zu erkennen,

daß nach ausgeſtandener Strafe der Ausländer aus dem Lande zu werfen und

der Inländer in ein Arbeitshaus zu bringen ſei.

Die Dauer der Einſperrung in dem Arbeitshauſe iſt von der Landespolizei-

Behörde nach den Umſtänden zu ermeſſen; ſie darf aber einen Zeitraum von

drei Jahren nicht überſteigen.

Die vorſtehende Anordnungen ſtimmen im Allgemeinen mit den

Vorſchriften überein, welche das Geſetz vom 6. Januar 1843. (Geſetzſ.

[279/0289]

§§. 117-120. Landſtreicherei, Bettelei u. ſ. w.

S. 19. 20.) aufgeſtellt hat. Doch ſind folgende Abweichungen zu be-

merken.

I. Die angedrohte Strafe iſt bedeutend heruntergeſetzt worden, das

Minimum von ſechs Wochen auf Eine Woche, und das höchſte Maaß

von ſechs Monaten Strafarbeit auf drei Monate Gefängniß.

II. Die einfache Bettelei iſt zu den Uebertretungen geſtellt worden

(§. 341.); die Strafe des Vergehens tritt erſt nach dem zweiten Rück-

fall ein (§. 118. Nr. 2.).

III. In den §. 119. aufgeführten Fällen des liederlichen Lebens

u. ſ. w. tritt ſofort die Strafe der Landſtreicherei ein, und nicht erſt,

wie nach dem angeführten Geſetz §. 6., im Rückfalle. — Ebend. Nr. 3.

hat die Kommiſſion der zweiten Kammer eine nothwendige Faſſungs-

änderung vorgenommen, indem ſie ſtatt: „kein derartiges Unterkommen

verſchaffen“ geſetzt hat: „verſchafft hat “,— was dem Sinn der

Geſetzesvorſchrift allein entſpricht.

IV. Die Einſperrung in ein Arbeitshaus und beziehungsweiſe die

Landesverweiſung iſt im Straferkenntniß ausdrücklich auszuſprechen

(§. 120.). Die Dauer der Einſperrung innerhalb des geſetzlichen Straf-

maaßes hängt jedoch von dem Ermeſſen der Landespolizei-Behörde ab;

das Gericht würde ſich nicht leicht in dem Stande befinden, die hierbei

in Betracht kommenden perſönlichen Verhältniſſe des Eingeſperrten mit

voller Sachkunde zu erwägen.

Anmerkung. Am Schluſſe dieſes Titels wurde in der Kommiſ-

ſion der zweiten Kammer die Frage angeregt, ob es nicht zweckmäßig

ſei, hier eine Strafbeſtimmung gegen unerlaubte Selbſthülfe, insbeſon-

dere wenn ſie einem richterlichen Verbote zuwider geübt worden, aufzu-

nehmen.

Das Allgemeine Landrecht enthält darüber folgende Vorſchriften:

Th. II. Tit. 20. §. 157. „Wer mit Vorbeigehung der Obrigkeit

ſich ſelbſt, ohne beſondere Zulaſſung der Geſetze, Recht zu verſchaffen

ſucht, ſoll, wenn es ohne Gewalt an Perſonen oder Sachen geſchieht,

mit Geldbuße oder bürgerlichem Arreſte geſtraft; ſonſt aber, nach Ver-

hältniß der ausgeübten Gewalt, mit zwei- bis ſechsmonatlicher Gefäng-

niß-, Feſtungs- oder Zuchthausſtrafe belegt werden.“

§. 158. „Wer dergleichen Selbſthülfe der ſchon erfolgten obrig-

keitlichen Entſcheidung zuwider verübt, iſt, wenn es ohne Gewalt ge-

ſchieht, mit ſechswöchentlicher bis ſechsmonatlicher, bei gebrauchter Ge-

walt hingegen, mit ſechsmonatlicher bis zweijähriger Feſtungs- oder

Zuchthausſtrafe zu belegen.“

[280/0290]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VI. Vergehen wider d. öffentl. Ordnung.

§. 159. „Iſt bei Ausübung der Selbſthülfe ein anderes Verbre-

chen, welches ſchwerere Strafe nach ſich zieht, begangen worden, ſo wird

dieſe, wegen der hinzutretenden Beleidigung des Staats, allemal ge-

ſchärft.“

Bei der Reviſion wurden dieſe Beſtimmungen im Weſentlichen bei-

behalten, i) und nur für die Beſitzſtreitigkeiten die Fälle der erlaubten

Selbſthülfe feſtgeſetzt. k) Das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion ging

aber auf die von vielen Seiten erhobenen Bedenken ein, und ſtellte den

Grundſatz auf, daß es der beſonderen Beſtimmungen über die unerlaubte

Selbſthülfe gar nicht bedürfe, da in allen Fällen, wo dieſelbe ſtrafbar

erſcheine, die Handlung ſchon als beſtimmtes Verbrechen mit Strafe

bedroht ſei. Nur für den Fall des Ungehorſams gegen ein richterliches

Verbot ſei eine beſondere Strafvorſchrift nothwendig. l)

Die Staatsraths-Kommiſſion trat dieſer Ausführung im Weſent-

lichen bei, m) und ſo ging in den Entwurf von 1847. nur folgende

Beſtimmung über:

§. 121. „Wer, einem an ihn ergangenen obrigkeitlichen Verbote

zuwider, ſich ſelbſt Recht zu verſchaffen ſucht, iſt, ſofern das Verbot

nicht ſchon eine beſondere Strafdrohung enthält, mit Gefängniß bis zu

drei Monaten oder mit Geldbuße bis zu Einhundert Thalern zu be-

ſtrafen.“

Die vorberathende Abtheilung des vereinigten ſtändiſchen Aus-

ſchuſſes beantragte aber die Streichung auch dieſer Vorſchrift, indem ſie

namentlich bemerkte:

„Die Beſtimmung dieſes Paragraphen ſetzt voraus, daß jede obrig-

keitliche Behörde die Befugniß habe, Verbote unter Strafandrohung zu

erlaſſen. Hiergegen wurde erinnert, daß eine derartige Befugniß zu

ſchrankenloſer Willkür führen würde, daß ein jedes Verbot noch nicht

eine Strafandrohung rechtfertige, daß die Beurtheilung in dieſer Bezie-

hung lediglich dem Geſetzgeber, nicht aber jeder obrigkeitlichen Behörde

gebühre.“ n)

Von Seiten der Staatsregierung wurde zugegeben, daß die Vor-

ſchriften des Allgemeinen Landrechts zu weit gingen, und daß auch der

vorgeſchlagene Paragraph kaum nothwendig ſei. Am Häufigſten würden

i) Motive zum erſten Entwurf. II. S. 71-76. — Entwurf von 1830.

§. 129. 130. — Entwurf von 1836. §. 218. 219.

k) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 42. 43. — Entwurf von 1843. §. 191. 192.

l) Reviſion von 1845. II. S. 46-48.

m) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 64.

n) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III.

S. 220.

[281/0291]

Selbſthülfe.

Fälle dieſer Art bei Beſitzſtreitigkeiten vorkommen; aber hier werde das

Gericht gleich eventuell das Verbot mit einer Strafandrohung verbin-

den, und ebenſo werde die Polizeibehörde es bei der Regulirung eines

Interimiſtikum und bei anderen Anordnungen halten.

Der Ausſchuß trat darauf nach kurzer Verhandlung dem Antrage

der Abtheilung einſtimmig bei. o)

In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde es faſt allſeitig als

ein weſentlicher Vorzug des Entwurfs von 1850. anerkannt, daß er in

Uebereinſtimmung mit jenem Beſchluß des vereinigten ſtändiſchen Aus-

ſchuſſes, die vielfach angegriffenen Beſtimmungen der früheren Entwürfe

über unerlaubte Selbſthülfe nicht aufgenommen habe und die Selbſthülfe,

ſo lange ſie nicht die Form der Gewalt (§. 187. 212.), der Beſchädi-

gung fremden Eigenthums (§. 281.), der Verletzung des Hausrechts

(§. 214. 346.) oder eines anderen Vergehens, z. B. Nöthigung der Be-

amten und Behörden, Aufruhr, Landfriedensbruch, annehme, nicht zum

Gegenſtand einer Beſtrafung mache. Auch für den beſonderen Fall, daß

die Selbſthülfe einem obrigkeitlichen Verbote zuwider zur Anwendung

gekommen, ſchien es weder nothwendig, noch zweckmäßig, eine Strafe

anzudrohen. Die Vorſchriften der Civilprozeßordnung über die Exeku-

tionen auf Unterlaſſungen und in Beſitzſtreitigkeiten ſeien ausreichend,

und für den Theil der Monarchie, wo ſolche Vorſchriften nicht gelten,

habe ſich ein praktiſches Bedürfniß darnach ſchon um deswillen nicht

zeigen können, weil nach dem dortigen Gerichtsverfahren ſolche richter-

liche Verbote gar nicht vorkommen. p)

Mit dieſer Auffaſſung, welche auch ihre Vertretung in der Doktrin

des gemeinen Deutſchen Kriminalrechts gefunden hat, q) ſtimmen das

Hannoverſche und das Heſſiſche Strafgeſetzbuch überein; andere Geſetz-

gebungen enthalten zwar Strafandrohungen wegen unerlaubter Selbſt-

hülfe; doch beſchränkt das Braunſchweigſche Strafgeſetzbuch (§. 118.)

ſie auf den Fall, wenn dabei Gewalt an Perſonen oder Sachen verübt

worden, und wo die Strafbeſtimmung auch allgemein gefaßt iſt, wird

ihre Anwendung in der Regel doch von dem Antrage des Verletzten

abhängig gemacht. r)

o) a. a. O. S. 220-22.

p) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Th. II. Tit. 6.

am Ende.

q) Mittermaier zu Feuerbach's Lehrbuch §. 186. — Gegen die auch in das

Allg. Landrecht übergegangene Anſicht, daß die unerlaubte Selbſthülfe ein Staats-

verbrechen ſei, ſ. Wächter, Lehrbuch. II. S. 52. 53.

r) Württemberg. Strafgeſetzb. Art. 200. — Bad. Strafgeſetzb.

§. 279. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 195. 196. — Nur das Sächſiſche

Criminalgeſetzb. Art. 204. 205. hat ein Verfahren von Amts wegen.

Beſeler Kommentar. 19

[282/0292]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VII. Münzverbrechen u. Münzvergehen.

Siebenter Titel.

Münzverbrechen und Münzvergehen.

§. 121.

Wer inländiſches oder ausländiſches Metallgeld oder Papiergeld nachmacht,

wer ächtem Metallgelde oder Papiergelde durch Veränderungen an demſelben

den Schein eines höheren Werthes giebt, ingleichen wer verrufenem Metall-

gelde oder Papiergelde durch Veränderungen an demſelben das Anſehen eines

noch geltenden giebt, begeht eine Münzfälſchung, und wird mit Zuchthaus von

fünf bis zu funfzehn Jahren, ſowie mit Stellung unter Polizei-Aufſicht beſtraft.

§. 122.

Wer falſches oder verfälſchtes Geld an ſich bringt und entweder in Umlauf

ſetzt oder zum Zweck der Verbreitung aus dem Auslande einführt, hat dieſelbe

Strafe wie der Münzfälſcher verwirkt.

§. 123.

Wer falſches oder verfälſchtes Geld als ächt empfängt und nach erkannter

Unächtheit als ächt ausgiebt oder auszugeben verſucht, wird mit Gefängniß bis

zu drei Monaten oder mit Geldbuße bis zu Einhundert Thalern beſtraft.

§. 124.

Dem Papiergelde werden gleich geachtet die von dem Preußiſchen oder

einem fremden Staate oder unter deren Autorität von Korporationen, Geſell-

ſchaften oder Privatperſonen ausgeſtellten, auf den Inhaber lautenden Schuld-

verſchreibungen, Aktien oder deren Stelle vertretende Interimsſcheine oder

Quittungen, ſowie die zu dieſen Papieren gehörigen Coupons, Zins- oder

Dividendenſcheine.

Ueber die Stellung des Münzverbrechens im Syſteme des Straf-

geſetzbuchs haben ſich verſchiedene Anſichten geltend gemacht. Das All-

gemeine Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 252-67.) handelt davon im

ſiebenten Abſchnitt: Von Anmaßungen und Beeinträchtigungen der vor-

behaltenen Rechte des Staats; der Code pénal (Art. 132-138.) im

Abſchnitt von der Fälſchung (du faux), welcher aber unter den Staats-

verbrechen, und zwar im Kapitel von den Verbrechen gegen den öffent-

lichen Frieden ſich findet. In den Entwürfen von 1827. und von 1830.

(§. 406-417.) iſt das Münzverbrechen unter den Verbrechen wider

öffentliche Treue und Glauben aufgeführt; in den Entwürfen von 1833.

und von 1836. (§. 631-41.) unter dem Titel von Betrug und Fäl-

ſchung; im Entwurf von 1843. (§. 456-461.) unter dem Titel von

der Fälſchung; im Entwurf von 1847. (§. 302-309.) hat der neun-

zehnte Titel die Ueberſchrift: Münzverbrechen und Fälſchung. Der Ent-

[283/0293]

§§. 121-124. Münzverbrechen und Münzvergehen.

wurf von 1850. hat für Münzverbrechen und Münzvergehen (§. 109 bis

112.) einen eigenen Titel gebildet, und dieſe Eintheilung iſt in dem

Geſetzbuch beibehalten worden, da das Verbrechen in Beziehung auf den

Thatbeſtand manches Eigenthümliche hat, wodurch es ſich von andern

Arten der Fälſchung unterſcheidet, und es ſich ſeinem Erfolge nach an

die Staatsverbrechen anreiht, wenn es auch nicht im eigentlichen Sinne

dazu gehört.

I. Die Vorſchriften des Geſetzbuchs beziehen ſich gleichmäßig auf

Metallgeld und Papiergeld. Das Allg. Landrecht kannte das Letztere

noch nicht; erſt die Verordnung vom 4. Februar 1806. §. 10. über die

Einführung der Treſorſcheine hat dem Münzverbrechen eine ſolche Aus-

dehnung gegeben, welche durch das Strafgeſetzbuch allgemein durch-

geführt worden iſt. s)

II. Dem Papiergelde werden gleichgeachtet die im §. 124. ange-

führten, auf den Inhaber lautenden Kreditpapiere, inſofern ſie von dem

Preußiſchen oder einem fremden Staate oder unter deren Autorität aus-

geſtellt ſind. Von Wichtigkeit iſt hier, zu beſtimmen, welcher Sinn mit

dem Ausdruck: „unter Autorität des Staates ausgeſtellt“ verbunden

iſt. Derſelbe wiederholt ſich in den Strafgeſetzbüchern, welche ſich nicht,

wie das Heſſiſche (Art. 218.) und das Badiſche (§. 435.) darauf be-

ſchränken, nur die Fälſchung von Staatspapieren zu dem Münzverbre-

chen zu zählen. t) Es ſind darunter aber ſolche Kreditpapiere zu ver-

ſtehen, welche als vom Staate anerkannte Tauſchmittel gelten, und über

deren Fundirung, Ausgabe u. ſ. w. daher von Staatswegen Anordnun-

gen, wenn auch nur in der Form der Beſtätigung von Vereinsſtatuten,

getroffen ſind und eine Oberaufſicht geführt wird. u)

III. Das Geſetzbuch unterſcheidet nicht, ob vollhaltige Münzen

nachgemacht werden, etwa um den Schlagſchatz zu gewinnen, oder ob

s) Motive zum erſten Entwurf. IV. S. 293 ff.

t) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 274. „Auf den Inhaber lautende in-

oder ausländiſche Staatsſchuldſcheine, nicht minder dergleichen Creditpapiere, welche

unter öffentlicher Autorität von Privatperſonen, Corporationen oder beſtätig-

ten Credit- oder Actienvereinen ausgeſtellt worden“ u. ſ. w. — Württemb. Straf-

geſetzb. Art. 217. — „unter öffentlicher Autorität auf den Inhaber ausgeſtellt“ —.

Braunſchw. Criminalgeſetzb. §. 130. — „unter öffentlicher Autorität ausgeſtellte“

—. Thüringſch. Strafgeſetzbuch. Art. 267.

u) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 267. „Wer Banknoten, Pfandbriefe oder

Actien, welche unter Landesherrlicher Autorität zum öffentlichen Um-

laufe beſtimmt ſind, verfälſcht oder nachmacht, oder dergleichen verfälſchte Papiere

im Publico wiſſentlich verbreiten hilft, ſoll gleich demjenigen, welcher falſches Geld

unter Landesherrlichem Gepräge gemünzt oder verbreitet hat, beſtraft werden.“ —

Hannov. Criminalgeſetzbuch. §. 205. „Wer — in Anſehung der auf den In-

haber lautenden Obligationen der unter öffentlicher Autoriſation ſtehenden Creditvereine

und der Städte“ u. ſ. w. Vgl. Weiß, Criminalgeſetzbuch für das Königreich Sach-

ſen. (2. Aufl.) S. 753. 754.

19*

[284/0294]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VII. Münzverbrechen u. Münzvergehen.

geringhaltigere Münzen verfertigt werden. Hierin liegt eine Abweichung

vom Allgemeinen Landrecht, welche von der Staatsraths-Kommiſſion

alſo motivirt iſt: v)

„Zuvörderſt macht das Allg. Landrecht zwiſchen dem Nachmachen

von vollhaltigen und dem Verfertigen von geringhaltigern Mün-

zen in der Art einen Unterſchied, daß das bloße Nachmachen vollhalti-

ger Münzen unter landesherrlichem Gepräge, außer einer Geldbuße, nur

zwei- bis dreijährige Feſtungsſtrafe zur Folge haben ſoll, während das

Verfertigen geringhaltiger Münzen mit Feſtungsſtrafe bis zu zehn Jah-

ren, ja ſogar auf Lebenszeit geahndet werden kann. Dagegen hat der

revidirte Entwurf (von 1836.) in Uebereinſtimmung der meiſten neuern

Geſetzgebungen dieſen Unterſchied fortfallen laſſen. Man iſt davon aus-

gegangen, daß der Thatbeſtand des Verbrechens nicht ſowohl in dem

Verfertigen von ſchlechtern Münzen, als in dem Nachmachen von Mün-

zen überhaupt liege, da der Werth des Geldes, als allgemeinen Tauſch-

mittels, auf dem Glauben an ſeine Aechtheit, daß es wirklich vom

Staate geprägt ſei, beruhe, und die Sicherheit des Verkehrs durch die

falſche Münze geſtört werde.“

IV. Eine andere Abweichung des Strafgeſetzbuchs vom Allg. Land-

recht wird a. a. O. in folgender Weiſe gerechtfertigt:

„Ferner macht das Allg. Landrecht einen Unterſchied zwiſchen dem

Nachmachen des landesherrlichen und irgend eines auswärtigen

Gepräges. Dagegen hat der revidirte Entwurf in Uebereinſtimmung der

meiſten neueren Geſetzgebungen dieſe Diſtinktion fallen laſſen, und bei

Beſtimmung der Strafe keinen Unterſchied zwiſchen dem Gelde des In-

oder Auslandes gemacht. Man hat angenommen, daß es auf einem

bloßen Schein beruhe, wenn man glaube, daß das Münzen unter lan-

desherrlichem Gepräge dem Staate nachtheiliger ſei. Das Geld ſei nicht

auf einen gewiſſen Bezirk beſchränkt, wenn auch in der Nähe der Münz-

ſtätte das dort ausgegebene am häufigſten angetroffen werde. Handel

und andere Umſtände veränderten oft den Lauf dergeſtalt, daß die

Staaten gegenſeitig das in einem jeden derſelben geprägte Geld ge-

brauchten. Nach der dieſſeitigen Geſetzgebung ſei keine Geldſorte, mit

Ausnahme der fremden Scheidemünze, vom Verkehr ausgeſchloſſen, ja

von einer großen Menge ſei ſogar das beſtimmte Werthverhältniß zu

unſerm Münzfuße geſetzlich angegeben (Bekanntmachung vom 27. No-

vember 1821. G.-S. S. 190.). Man hat es um ſo mehr für empfeh-

v) Berathungs-Protokolle. III. S. 406. — Der hier und weiter unten

wieder gegebene Abdruck des Protokolls iſt auch wörtlich in die Motive zum Entwurf

von 1850. §. 109. übergegangen.

[285/0295]

§§. 121-124. Münzverbrechen und Münzvergehen.

lenswerth erachtet, keinen Unterſchied zwiſchen landesherrlichem und aus-

wärtigem Gepräge zu geſtatten, als hierdurch diejenigen Staaten, wo

es nicht ſchon geſchehen, um ſo mehr veranlaßt werden dürften, dem

Preußiſchen Gelde gleichen Schutz, wie dem ihrigen, angedeihen zu

laſſen.“

Nur dann iſt der Umſtand, ob die Münzfälſchung in Beziehung

auf inländiſches oder ausländiſches Geld verübt worden iſt, von Be-

deutung, wenn es ſich um die Beſtrafung des im Auslande begangenen

Verbrechens handelt (§. 4.).

V. Dem Nachmachen des ächten Geldes iſt es gleichgeſetzt, wenn

dem ächten Gelde durch Veränderungen an demſelben der Schein eines

höheren Werthes gegeben, oder verrufenem Gelde durch Veränderungen

an demſelben das Anſehen eines noch geltenden gegeben wird. Die

meiſten neueren Geſetzgebungen unterſcheiden dieſe Verbrechen als Münz-

fälſchung oder Münzverfälſchung von der Falſchmünzerei; doch ſcheint

dazu kein Grund vorhanden. „Dort wie hier werden Münzen dar-

geſtellt, die für etwas gelten ſollen, was ſie nicht ſind. Wird dieſes

dadurch bewirkt, daß man die Geſtalt vorhandener Münzen ändert, ſo

ſind dieſe alten Münzen eigentlich nur das Material der neuen falſchen;

ob ſie zu dem Ende erſt zuſammengeſchmolzen und neu gegoſſen oder

geprägt werden, oder ob ihre Form theilweiſe beibehalten wird, macht

keinen weſentlichen Unterſchied; der Betrug iſt in beiden Fällen der-

ſelbe.“ w) —

VI. Die früheren Entwürfe hatten das Verbrechen der Münz-

fälſchung ſchon mit dem Nachmachen und Fälſchen des Geldes für voll-

endet erklärt, während das Allg. Landrecht (a. a. O. §. 252.) verlangt,

daß es „zum Cours im Publico“ geſchieht, d. h. um das nachgemachte

oder verfälſchte Geld auch wirklich in Umlauf zu ſetzen und zu verbrei-

ten. Iſt die Abſicht da geweſen, die Verbreitung aber noch nicht ge-

ſchehen, ſo ſoll nur die Hälfte der geſetzlichen Strafe eintreten (a. a. O.

§. 259.). In der Staatsraths-Kommiſſion wurde dieß ſo aufgefaßt,

daß es auf die verbrecheriſche Abſicht bei dem Münzverbrechen gar

nicht ankomme. „Denn einerſeits ſei kaum ein anderer Zweck als der

der Verbreitung bei dem Falſchmünzer gedenkbar, und es werde deshalb

die vom Geſetze in Betreff der beabſichtigten Verbreitung aufgeſtellte

Beſchränkung nur zu Einreden und Ausflüchten Anlaß geben; anderer-

ſeits aber liege es auch nicht immer in der Macht des Verfertigers,

die nachgemachte Münze vom Umlauf auszuſchließen, indem ſein Tod,

der Zufall, der Wille oder der Irrthum Anderer ſie ſpäter in Umlauf

w) Reviſion von 1845. III. S. 39.

[286/0296]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VII. Münzverbrechen u. Münzvergehen.

bringen könne. Bei einem gemeingefährlichen Verbrechen, wie es das

Falſchmünzen ſei, dürfe die Unbeſtimmtheit des Vorſatzes nicht entſchul-

digen; im Gegentheil müſſe das Geſetz, um den Thatbeſtand nicht zwei-

felhaft zu laſſen, den Begriff des Verbrechens auf beſtimmte Thatſachen,

wie ſie hier in der abſichtlichen Anfertigung falſcher Münzen beſtänden,

zurückführen.“ x)

Gegen dieſe, nur den polizeilichen Standpunkt wahrende Auffaſſung

erklärte ſich aber das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion. y) Jene

Gründe genügten nicht, um jeden mit der Strafe der Münzfälſchung zu

belegen, welcher ohne alle verbrecheriſche Abſicht, zum Spiel, zur Uebung,

für eine Münzſammlung u. ſ. w. ein Geldſtück nachmacht; das könne

höchſtens mit einer Polizeiſtrafe geahndet werden. Auch habe man ſich

in der Staatsraths-Kommiſſion irrthümlich auf andere Geſetzgebungen

berufen. Das Bayeriſche Strafgeſetzbuch (Art. 343.), ſo wie das Han-

noverſche Kriminalgeſetzbuch (Art. 200.) ſetzten ausdrücklich eine betrü-

geriſche oder rechtswidrige Abſicht, und der Code pénal ſetze hier, wie

überall, ſtillſchweigend den Dolus voraus, welches Letztere anſcheinend

auch im Oeſterreichiſchen Geſetzbuch anzunehmen ſei. Alle neueren Ge-

ſetzgebungen forderten daher eine verbrecheriſche Abſicht bei dieſem Ver-

brechen z) — Man dürfe nicht weiter gehen, als eine Vermuthung für

die Abſicht der Verbreitung aufſtellen, wodurch auch genügende Sicher-

heit erreicht werde. Dagegen ſei es allerdings richtig, daß die Verbrei-

tung nicht zum Thatbeſtande gerechnet werden dürfe; das Verbrechen

müſſe ſchon als vollendet gelten, wenn das Geld nachgemacht oder um-

geändert worden ſei.

Die auf dieſe Ausführung begründeten Anträge wurden in der

Staatsraths-Kommiſſion geprüft und mit einer, durch den Miniſter Ro-

ther veranlaßten formellen Aenderung angenommen. a) Daraus gingen

für den Entwurf von 1847. folgende Beſtimmungen hervor:

§. 302. „Wer inländiſches oder ausländiſches Metallgeld oder

Papiergeld nachmacht, wer ächtem Metallgelde oder Papiergelde durch

Umänderung den Schein eines höheren Werthes verſchafft, ingleichen

wer verrufenem Metallgelde oder Papiergelde durch Veränderungen an

x) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 407. Vgl. Motive zum Entwurf von 1850. §. 109.

y) Reviſion von 1845. III. S. 39. 40.

z) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 268. — Württemb. Strafgeſetzb.

Art. 206. — Braunſchweig. Criminalgeſetzbuch §. 126. — Heſſiſch.

Strafgeſetzbuch Art. 204. — Badiſch. Strafgeſetzb. §. 509. — Thüring.

Strafgeſetzb. Art. 260.

a) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 161-63.

[287/0297]

§§. 121-122. Münzverbrechen und Münzvergehen.

demſelben das Anſehen eines noch geltenden giebt, begeht eine Münz-

fälſchung, und iſt mit Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig Jahren zu

beſtrafen, ſo wie unter beſondere Polizeiaufſicht zu ſtellen.

Das Verbrechen iſt mit dem Nachmachen oder Umändern des Gel-

des vollendet.“

§. 303. „Wenn jedoch in den Fällen des §. 302. aus den be-

ſonderen Umſtänden erhellet, daß der Handelnde nicht die Abſicht gehabt

hat, das ſo verfertigte oder umgeänderte Geld in Umlauf zu ſetzen, ſo

ſoll derſelbe mit Gefängniß nicht unter vier Wochen oder mit einer

Geldbuße von funfzig bis zu fünfhundert Thalern beſtraft werden.“

Der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß erklärte ſich mit dieſen Beſtim-

mungen einverſtanden, indem nur die vorberathende Abtheilung bemerkte,

daß es wohl überflüſſig ſei, der beſondern Umſtände Erwähnung zu

thun, da der Beweis, daß der Handelnde nicht die Abſicht gehabt habe,

das Geld in Umlauf zu ſetzen, ſich aus dem Falle ſelbſt ergeben werde,

und es auf beſondere Umſtände dabei wohl nicht ankommen könne. b) —

Es fragt ſich aber, wie jetzt der §. 121. zu verſtehen ſei, nachdem die

Vorſchriften, welche der Entwurf von 1847. §. 302. Abſ. 2. und

§. 303. aufgeſtellt hatte, wieder weggelaſſen worden ſind.

Wollte man dabei allein auf die gedruckten Motive Gewicht legen,

ſo würde anzunehmen ſein, daß die frühere Anſicht der Staatsraths-

Kommiſſion in ihrer ganzen Strenge im Geſetzbuch anerkannt ſei. Aber

jene Motive ſind, wie ſo eben gezeigt worden, den älteren Materialien

ohne Rückſicht auf die ſpäteren Arbeiten und Ausführungen entnommen

worden; ſie haben in den Kommiſſionen der beiden Kammern keine

Anerkennung gefunden. Der Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer

äußert ſich über dieſen Gegenſtand in folgender Weiſe:

„Was endlich die Abſicht betrifft, welche den Fälſcher geleitet haben

muß, ſo glaubt die Kommiſſion, daß der ſpezielle Zweck, die falſche

Münze in Umlauf zu ſetzen, nicht in den Thatbeſtand aufzunehmen ſei;

daß vielmehr dieſe Abſicht ſchon in der Handlung ſelbſt, in dem An-

fertigen falſchen Geldes, liege, und daß der rechtswidrige Dolus, welcher

bei allen ſtrafbaren vorſätzlichen Handlungen nothwendig vorausgeſetzt

wird, es unmöglich mache, unter den Begriff der Münzverfälſchung auch

ſolche ſeltene Fälle zu bringen, in welchen die ſchwierige Operation des

Anfertigens falſcher Münze mit der entſchiedenen Abſicht, die Münze

nicht in Umlauf zu ſetzen, vorgenommen werden ſollte; wie denn auch

in dem Franzöſiſchen und Rheiniſchen Rechte, obgleich daſſelbe ebenfalls

b) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 281.

[288/0298]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. VII. Münzverbrechen u. Münzvergehen.

die Abſicht, die Münze in Umlauf zu ſetzen, nicht als ein Requiſit des

Thatbeſtandes aufführt, die Jurisprudenz unbedenklich annimmt, daß

eine betrügeriſche Abſicht vorliegen müſſe. c) Wenn jene ſpezielle Abſicht

im Thatbeſtande nicht ſpeziell aufgeführt wird, ſo geſchieht es nicht, um

die bloße Thatſache des Nachmachens ſchon für hinreichend zu erklären,

ſondern nur um die unrichtige Vorſtellung zu verhindern, als müſſe eine

ſolche beſtimmte Abſicht noch beſonders nachgewieſen werden, während

ſie in den meiſten Fällen aus der bloßen Anfertigung des falſchen Gel-

des ſelbſt ſchon hervorgeht.“

Auch in der Kommiſſion der erſten Kammer hat laut des Berichts

der Inhalt des ſiebenten Titels nur die Aeußerung hervorgerufen, daß

bei dem Münzverbrechen ſtets der kriminalrechtliche Dolus vorausgeſetzt

werde. In der That bedurfte es auch keiner Aufſtellung einer beſon-

deren Vermuthung, ſeitdem mit dem veränderten Gerichtsverfahren die

früheren Regeln über die Beweisführung ihre Bedeutung verloren haben.

Die Münzfälſchung ſetzt alſo die verbrecheriſche Abſicht voraus,

aber nicht, um vollendet zu ſein, die geſchehene Verbreitung des falſchen

Geldes.

VII. Die Strafe der Münzfälſchung iſt Zuchthaus von fünf bis

zu funfzehn Jahren, ſo wie Stellung unter Polizei-Aufſicht. Dieſe Strafe

iſt ſehr milde im Vergleich mit der anderer Geſetzbücher; der Code

pénal (Art. 132.) z. B. ſchreibt die Todesſtrafe und die Vermögenskon-

fiskation vor, und das Geſetz vom 28. April 1832. hat die lebensläng-

liche Zwangsarbeit an deren Stelle geſetzt. Auch läßt das Geſetzbuch

dem richterlichen Ermeſſen einen hinreichenden Spielraum, um die ver-

ſchiedenen Grade der Verſchuldung, der Gemeingefährlichkeit u. ſ. w. bei

der Strafzumeſſung gehörig zu berückſichtigen.

VIII. Der Münzfälſchung iſt es gleichgeſtellt, wenn jemand fal-

ſches oder verfälſchtes Geld an ſich bringt und entweder in Umlauf ſetzt

oder zum Zweck der Verbreitung aus dem Auslande einführt (§. 122.).

Eine beſtimmte Beziehung zu der Fälſchung gehört alſo nicht zum That-

beſtande dieſes Verbrechens, obgleich ſie wohl gewöhnlich ſtattfinden

wird; es wird nur vorausgeſetzt,

1) daß jemand ſich das falſche oder verfälſchte Geld, wiſſend, daß

es falſch oder verfälſcht iſt, verſchafft, es an ſich bringt, und

2) daß er es in Umlauf ſetzt oder zum Zweck der Verbreitung

einführt.

IX. Von dem ſo eben angeführten Verbrechen weſentlich verſchie-

c) cf. Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal, II.

chap. XX. p. 58. 59.

[289/0299]

§§. 125-128. Meineid.

den iſt das Münzvergehen (§. 123.). Hier liegt kein Dolus bei dem

Empfang des Geldes vor; im Gegentheil, es iſt als ächt angenommen

worden, und erſt nach erkannter Unächtheit tritt die ſtrafbare Handlung

ein. Der Empfänger will den Schaden, den er erlitten hat, auf Andere

wälzen; er giebt das Geld nun ſelbſt als ächt aus. Das kann ein

geringfügiger Fall des ſtrafbaren Eigennutzes ſein, namentlich wenn die

Anſicht zum Grunde liegt, der neue Beſitzer werde ſich auch ſchon ſchad-

los zu halten wiſſen; es kann aber allerdings, zumal bei größeren

Summen, die Sache einen ernſteren Charakter annehmen. Die Strafe

des Geſetzbuchs iſt, nachdem die Kommiſſion der zweiten Kammer das

Minimum von beziehungsweiſe acht Tagen Gefängniß und fünf Thalern

Geldbuße geſtrichen hat, für ſehr milde zu erachten.

X. Ein anderes Vergehen, welches gewöhnlich bei der Münzfäl-

ſchung aufgeführt wird, nämlich das Abfeilen und Beſchneiden der

Metallgeldſtücke, iſt in dem Strafgeſetzbuch bei dem Betruge (§. 243.

Nr. 3.) abgehandelt worden, und die Strafbeſtimmungen über das un-

erlaubte Anfertigen von Stempeln, Platten und andern Formen, ſo wie

über deren unerlaubten Gebrauch ſind unter die Uebertretungen aufge-

nommen (§. 340. Nr. 3. 4.), wo ſich auch (a. a. O. Nr. 5.) Vor-

ſchriften über die dem Papiergeld ähnlichen Waaren-Empfehlungskarten

u. dgl. finden. Den Antrag des Finanzminiſteriums, die Anfertigung

und Verbreitung ſolcher Karten in Verbindung mit der Münzfälſchung

zu bringen, und mit einer Gefängnißſtrafe von drei Monaten bis zu

zwei Jahren zu bedrohen, konnte die Kommiſſion der zweiten Kammer

aus den im Bericht angegebenen Gründen nicht annehmen. Sie war

der Anſicht, daß Fälle dieſer Art als Münzfälſchung oder wenigſtens

als Betrug ſich darſtellen könnten; liege aber gar keine betrügeriſche

Abſicht vor, ſo daß eine ſolche Handlung nur wegen der Möglichkeit

der Täuſchung zu verbieten ſei, dann könne auch nur die Strafe der

Uebertretungen zur Anwendung kommen.

Achter Titel.

Meineid.

§. 125.

Wer einen ihm zugeſchobenen, zurückgeſchobenen oder auferlegten Eid wiſ-

ſentlich falſch ſchwört, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren beſtraft.

§. 126.

Wer als Zeuge in einer Civilſache oder Strafſache wiſſentlich ein falſches

[290/0300]

Th. II. Von d. einzelnen Verbrechen u. Vergehen. Tit. VIII. Meineid.

Zeugniß mit einem Eide bekräftigt, oder den vor ſeiner Vernehmung gelei-

ſteten Eid wiſſentlich durch ein falſches Zeugniß verletzt, wird mit Zuchthaus

bis zu zehn Jahren beſtraft.

Iſt das falſche Zeugniß in einer Strafſache zum Nachtheil eines Angeſchul-

digten abgelegt, und dieſer zur Todesſtrafe, Zuchthausſtrafe oder zur Strafe

der Einſchließung von mehr als fünf Jahren verurtheilt worden, ſo iſt die

Strafe Zuchthaus von zehn bis zu zwanzig Jahren.

§. 127.

Wer als Sachverſtändiger in einer Civilſache oder Strafſache wiſſentlich ein

falſches Gutachten mit einem Eide bekräftigt, oder den vor ſeiner Erklärung

geleiſteten Eid wiſſentlich durch ein falſches Gutachten verletzt, wird gleich dem

falſchen Zeugen beſtraft.

§. 128.

Der Ableiſtung eines Eides wird gleich geachtet:

1) wenn ein Mitglied einer Religionsgeſellſchaft, welcher das Geſetz den

Gebrauch gewiſſer Betheuerungsformeln an Stelle des Eides geſtattet,

eine Erklärung unter der Betheuerungsformel ſeiner Religionsgeſellſchaft

abgiebt;

2) wenn derjenige, welcher als Partei, Zeuge oder Sachverſtändiger einen

Eid geleiſtet hat, in gleicher Eigenſchaft eine Verſicherung unter Beru-

fung auf den bereits früher in derſelben Angelegenheit geleiſteten Eid

abgiebt, oder wenn ein Sachverſtändiger, welcher als ſolcher ein für

allemal vereidet iſt, eine Verſicherung auf den von ihm geleiſteten Eid

abgiebt;

3) wenn ein vereideter Beamter eine amtliche Verſicherung unter Berufung

auf ſeinen Dienſteid abgiebt.

Nur die vier erſten Paragraphen dieſes Titels handeln von dem

Verbrechen des Meineides, nämlich §. 125. von dem falſchen Eide

einer Partei im Civilprozeß, §. 126. von dem falſchen Zeugniß im

Civil- und Strafverfahren, §. 127. von dem falſchen eidlichen Gut-

achten eines Sachverſtändigen und §. 128. von einzelnen, dem Meineide

gleichgeſtellten Fällen. Daran ſchließen ſich Beſtimmungen an über die

falſche Verſicherung an Eidesſtatt (§. 129.), über die verſuchte Ver-

leitung zum Meineide (§. 130.), über den Bruch eines eidlichen Kau-

tionsgelöbniſſes und eines in einem Manifeſtations-Eide gegebenen

Verſprechens (§. 131.) und endlich über den fahrläſſig geleiſteten Eid

(§. 132.).

I. Das Verbrechen des Meineides iſt ſeinem Thatbeſtande nach

in der gegenwärtigen Faſſung des Strafgeſetzbuchs mehr beſchränkt,

als in den früheren Entwürfen. Der Entwurf von 1830. beſtimmte

[291/0301]

§§. 125-128. Meineid.

§. 439. „Wer etwas Falſches wider beſſeres Wiſſen als wahr

bekundet, oder eine ihm bekannte Thatſache abſichtlich verſchweigt, und

die Ausſage durch einen in geſetzlicher Form vor einer richterlichen

Behörde geleiſteten Eid bekräftigt, iſt des Meineids ſchuldig.“

Dieſe Begriffsbeſtimmung war aber in dem Entwurf von 1836.

in folgender Weiſe erweitert:

§. 301. „Wer wider beſſeres Wiſſen etwas Unwahres als wahr

oder etwas Wahres als unwahr bekundet oder eine ihm bekannte That-

ſache in der Abſicht, die Wahrheit zu verhehlen, verſchweigt und die

Ausſage durch einen Eid bekräftigt, macht ſich des Meineides ſchuldig.“

Allein die Auffaſſung des Verbrechens in dieſer Allgemeinheit,

wodurch auch die Verletzung der Privateide in demſelben begriffen war,

fand keine Billigung; vielmehr wurde die Ableiſtung des Eides vor

einer öffentlichen Behörde als nothwendige Vorausſetzung des

Meineides angenommen, d) und demnach für den Entwurf von 1847.

folgende Faſſung gewählt:

§. 153. „Wer vor einer öffentlichen Behörde in eigenen oder

fremden Angelegenheiten einen falſchen Eid ſchwört, oder den vor der

Vernehmung in der Eigenſchaft eines Zeugen oder Sachverſtändigen

geleiſteten Eid wiſſentlich verletzt, iſt mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren

zu beſtrafen.“

Seitdem iſt man wieder zu dem Entwurf von 1830. zurückgekehrt,

und hat nur den vor Gericht abgeleiſteten falſchen Eid unter Strafe

geſtellt. Doch iſt dieß nicht in einer Definition ausgeſprochen worden,

ſondern folgt aus den Beſtimmungen über die einzelnen Fälle des

Meineides, welche das Strafgeſetzbuch aufführt. — Eine aus-drückliche

Vorſchrift darüber, daß der falſche Eid, welchen jemand durch das Organ

eines Bevollmächtigten leiſtet, als ein Meineid zu betrachten ſei, wurde

ſpäter als ſich von ſelbſt verſtehend für überflüſſig gehalten, und des-

wegen die Auslaſſung der Worte, welche der Entwurf von 1843.

§. 245. hatte: „es ſei perſönlich oder durch einen Bevollmächtigten“

beſchloſſen. e)

II. Der Entwurf von 1843. hatte folgende Beſtimmung:

§. 247. „Das Verbrechen des Meineids iſt erſt dann vollendet,

wenn die Verhandlung in Anſehung desjenigen, welcher den Eid abge-

leiſtet hat, geſchloſſen iſt, die Eidesleiſtung mag der Ausſage voraus-

gegangen oder nachgefolgt ſein.“

d) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S.

75. 76. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 13. März 1841.

e) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 83.

[292/0302]

Th. II. V. d. einzelnen Verbrechen u. Vergehen. Tit. VIII. Meineid.

Man bezweckte durch dieſe Beſtimmung bei dem verſchiedenen Ver-

fahren, welches nach dem Preußiſchen, Rheiniſchen und gemeinen Deut-

ſchen Prozeßrecht hinſichtlich der Vernehmung von Zeugen gilt, für die

Vollendung des Meineids immer einen feſten Zeitpunkt zu erlangen,

und zugleich dem Schwörenden Zeit zum beſſern Beſinnen zu laſſen. f)

Aber gegen dieſe Auffaſſung erklärte ſich das Miniſterium für die Geſetz-

Reviſion. g)

„Es liegt in der Natur der Sache, daß der Meineid vollendet iſt,

ſobald die Vernehmung erfolgt und der Eid geleiſtet iſt. Ob das

Protokoll, welches nur Beweismittel iſt, geſchloſſen und unterſchrieben

iſt, bleibt hiernach gleichgültig, zumal die Unterſchrift, beſonders beim

mündlichen Verfahren, gar nicht nothwendig iſt.“ Die Frage ſelbſt ſei

kontrovers, allein es leuchte ein, daß die Handlung des Schwörenden

durch die Handlung des Dritten, die Redaktion des Protokolls, nicht

bedingt ſein könne. Auch ſei es zweifelhaft, was unter dem „Schluß

der Verhandlungen“ zu verſtehen, da man darunter ſowohl das ſchrift-

liche Protokoll ſich denken könne, als auch die mündliche Verhandlung

ohne Redaktion. Ein feſter Zeitpunkt werde daher durch die Beſtim-

mung des Entwurfs nicht gewonnen; das politiſche Moment, dem

Schwörenden Zeit zur Reue und zum Widerruf zu laſſen, könne aber

nur auf die Strafzumeſſung von Einfluß ſein. — Das Richtige ſei,

die Frage über die Vollendung des Meineids, wie bei anderen Ver-

brechen, der Doktrin und dem richterlichen Ermeſſen zu überlaſſen.

In Folge dieſer Bemerkungen wurde jene Beſtimmung ausgeſchie-

den, und das Geſetzbuch bringt nur im Allgemeinen die Regel zur

Anwendung, daß es für den Meineid des Zeugen wie des Sachver-

ſtändigen gleichbedeutend iſt, ob der Eid der Ausſage und beziehungs-

weiſe dem Gutachten nachgefolgt oder vorhergegangen iſt (§. 126. 127.).

— An jene Beſtimmung knüpfte ſich aber noch eine andere Streitfrage

an, wie es nämlich mit der Beſtrafung eines in der Vorunterſuchung

abgegebenen falſchen Zeugniſſes zu halten ſei. Ueber dieſe Frage haben

früher mit Rückſicht auf den Rheiniſchen Strafprozeß ſehr lebhafte Ver-

handlungen ſtattgefunden; h) gegenwärtig iſt ſie nach Einführung des

mündlichen Anklageprozeſſes für die ganze Monarchie von gleicher Be-

deutung; ihre Löſung konnte aber nicht im Strafgeſetzbuch gegeben

werden, weil dieſelbe eigentlich von der Beantwortung der andern Frage

f) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion II. S. 78.

g) Reviſion von 1845. II. S. 79. 80.

h) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III.

S. 351-57. IV. S. 715-21.

[293/0303]

§§. 125-128. Meineid.

abhängt, ob in der Vorunterſuchung der Zeuge ſeine Ausſage unter

einem religiöſen Eide abgeben ſoll oder nicht. i)

III. Die Strafe des Meineides iſt zwei bis zehn Jahre Zucht-

haus; ſie iſt dieſelbe für die verſchiedenen im Geſetzbuch aufgeführten

Fälle, und namentlich wird im Allgemeinen kein Unterſchied gemacht,

ob das falſche Zeugniß in einer Civilſache oder Strafſache abgelegt

worden. Nur wenn es in einer Strafſache zum Nachtheil eines An-

geſchuldigten abgelegt und dieſer in die volle geſetzliche Strafe eines

Verbrechens — Todesſtrafe, Zuchthaus, Einſchließung über fünf Jahre —

verurtheilt worden iſt, ſteigert ſich die Strafe auf zehn bis zu zwanzig

Jahren Zuchthaus. Dabei kommt es nicht darauf an, ob gerade die

falſche Ausſage die Verurtheilung herbeigeführt hat; das würde ſich bei

dem gegenwärtigen Strafverfahren überhaupt nur in ſehr ſeltenen Fällen

beſtimmt feſtſtellen laſſen. Es genügt, daß in einer Strafſache, welche

zu der Verurtheilung eines Angeſchuldigten in eine der genannten Stra-

fen geführt hat, ein falſches Zeugniß zu deſſen Nachtheil abgelegt wor-

den iſt. k)

IV. Die Frage, ob der Sachverſtändige wegen eines falſchen

eidlichen Gutachtens dem Zeugen gleichgeſtellt werden ſolle, iſt erſt durch

den Staatsrath bejahend entſchieden worden. Früher wollte man in

einem ſolchen Falle nur ein Verbrechen gegen Treu und Glauben

finden. l)

V. Wenn das Geſetz einer Religionsgeſellſchaft, z. B. den Me-

noniten und Philipponen, den Gebrauch gewiſſer Betheuerungsformeln

an Stelle des Eides geſtattet, ſo muß auch die falſche Erklärung unter

einer ſolchen Formel dem Meineide gleichſtehen (§. 128. Nr. 1.). Ebenſo

rechtfertigt es ſich, daß die Berufung auf einen früher geleiſteten Eid

der Ableiſtung eines neuen Eides gleichgeachtet wird (§. 128. Nr. 2.).

Dieß wird denn auch auf den Sachverſtändigen bezogen, der als ſolcher

ein für allemal vereidet iſt, und auf den Beamten, der eine amtliche

Verſicherung unter Berufung auf ſeinen Dienſteid abgiebt (§. 128. Nr. 3.).

Die Beſchränkung dieſer letzteren Vorſchrift auf Verſicherungen in Pro-

zeſſen und Unterſuchungen, welche die Staatsraths-Kommiſſion gegen

das Allg. Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 1420.) in den Entwurf von

1847. §. 155. gebracht hatte, iſt wieder entfernt worden. m)

i) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 114. (126.)

k) Bericht der Kommiſſion a. a. O.

l) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion II.

S. 77. 78. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 13. März 1841.

m) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 84. — Vgl. Berathungs-Protokolle II. S. 78. — Reviſion von 1845.

II. S. 79.

[294/0304]

Th. II. V. d. einzelnen Verbrechen u. Vergehen. Tit. VIII. Meineid.

§. 129.

Wer einer öffentlichen Behörde eine Verſicherung an Eidesſtatt wiſſentlich

falſch abgiebt, wird mit Gefängniß von drei Monaten bis zu Einem Jahre

beſtraft; auch kann gegen denſelben zugleich auf zeitige Unterſagung der Aus-

übung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Die Verſicherung an Eides ſtatt ſoll nur dann beſtraft werden,

wenn ſie einer öffentlichen Behörde wiſſentlich falſch abgegeben worden

iſt. Das entſpricht dem Grundſatze, nach welchem die Verletzung der

Privateide nicht beſtraft wird. Während aber nach dem Strafgeſetzbuch

nur der vor Gericht geleiſtete falſche Eid als Meineid unter Strafe

geſtellt worden, genügt es bei der Verſicherung an Eides ſtatt, daß ſie

überhaupt einer öffentlichen Behörde gegeben iſt. Dagegen ſcheint es

unweſentlich, von wem die Verſicherung gefordert worden iſt, und die

Faſſung des Entwurfs von 1850. §. 117. „Wer die von einer öffent-

lichen Behörde geforderte Verſicherung“ u. ſ. w. iſt daher von der

Kommiſſion der zweiten Kammer in die des Strafgeſetzbuchs umgeändert

worden, um den Thatbeſtand des Vergehens zu vereinfachen. n)

In den Worten: „eine Verſicherung an Eides ſtatt wiſſentlich

falſch abgiebt“ liegt es aber ausgeſprochen, daß es ſich hier von einer

Erklärung und nicht von einem Verſprechen handelt, wie auch beim

Meineide nur der falſche aſſertoriſche Eid den Thatbeſtand des Verbre-

chens bildet.

§. 130.

Derjenige, welcher einen Anderen wiſſentlich zur Ableiſtung eines falſchen

Eides in deſſen eigenen Angelegenheiten, zur eidlichen Bekräftigung einer Un-

wahrheit oder zur Angabe der Unwahrheit nach abgeleiſtetem Zeugeneide zu

verleiten verſucht, ſoll mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren beſtraft werden.

Derjenige, welcher einen Anderen wiſſentlich zur Abgabe einer falſchen

Verſicherung an Eidesſtatt (§. 129.) zu verleiten verſucht, wird mit Gefäng-

niß bis zu Einem Jahre beſtraft; auch kann gegen denſelben zugleich auf

zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Wer einen Anderen zum Meineid verleitet, wird nach der Regel

des §. 35. als Theilnehmer beſtraft. Auf die Mittel, welche dabei

angewandt worden, ſoll es nach §. 34. nicht ankommen, und es be-

durfte daher keiner beſonderen Vorſchrift über die Beſtechung von Zeugen

und Sachverſtändigen, auch wenn nicht Geſchenke und Verſprechungen

n) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 117. (129.).

[295/0305]

§. 130. Verleitung zum Meineide.

ausdrücklich unter jenen Mitteln aufgeführt wären. Die Verleitung zu

einem Verbrechen oder Vergehen wird aber als Theilnahme nur dann

beſtraft, wenn ſie von Erfolg geweſen iſt; der vergebliche Verſuch der

Anſtiftung unterliegt dagegen nach den allgemeinen Grundſätzen des

Geſetzbuchs keiner Beſtrafung. Bei dem Meineide aber rechtfertigt ſich

im Intereſſe der Rechtsſicherheit und der öffentlichen Moral eine Aus-

nahme von dieſer Regel, und eine ſolche ſtellt der §. 130. auf und

dehnt ſie auch auf die erfolgloſe Verleitung zur Abgabe einer falſchen

Verſicherung an Eides ſtatt aus.

Der Entwurf von 1850. beſtimmte in dieſer Beziehung:

§. 118. „Derjenige, welcher einen Anderen wiſſentlich zur Aus-

ſchwörung eines falſchen Eides in deſſen eigenen Angelegenheiten, zur

eidlichen Bekräftigung einer Unwahrheit nach abgeleiſtetem Zeugeneide

oder zur Abgabe einer falſchen Verſicherung an Eides ſtatt verleitet,

wird dadurch nicht ſtraflos, daß der Verleitete nicht wiſſentlich die

Unwahrheit ſagt, oder aus einem anderen ihm perſönlichen Grunde nicht

ſchuldig iſt.“

In dieſer Faſſung hatte der Paragraph keine andere Bedeutung,

als daß er ein kaſuiſtiſches Bedenken aus der Lehre von der Theil-

nahme an einem Verbrechen oder Vergehen in Beziehung auf einen

beſtimmten Fall löſte: auch wenn der Thäter nicht ſchuldig iſt, ſoll

doch der Anſtifter beſtraft werden. Erſt durch die in der Kommiſſion

der zweiten Kammer vorgenommene Abänderung hat die Geſetzesvorſchrift

die Bedeutung eines poſitiven Rechtsſatzes erhalten.

I. Die Worte: „in deſſen eigenen Angelegenheiten“ beziehen ſich

auf den Fall des §. 125., wenn jemand als Partei im Civilprozeß

einen Eid leiſtet, und alſo der Anſtifter darauf ausgeht, einen Anderen

zur Ablegung eines falſchen Parteieneides zu verleiten. Die folgenden

Worte: „zur eidlichen Bekräftigung einer Unwahrheit oder zur Angabe

der Unwahrheit“ bezeichnen den Fall des Zeugeneides (§. 126.), je

nachdem derſelbe vor oder nach der Ausſage abgeleiſtet wird. Es fragt

ſich aber, ob ſie auch auf die verſuchte Verleitung eines Sachverſtän-

digen zur Ausſtellung eines falſchen Gutachtens (§. 127.) bezogen

werden können. Die Worte: „zur eidlichen Bekräftigung einer Unwahr-

heit“ würden nach demjenigen Verfahren, welches die Beeidigung erſt

nach der Ausſtellung des Gutachtens eintreten läßt, für jene Annahme

ſprechen; aber da, wo die Beeidigung vorher geht, läßt ſich die Ge-

ſetzesſtelle auf dieſen Fall nicht anwenden, denn es heißt ausdrücklich:

„zur Angabe der Unwahrheit nach abgeleiſtetem Zeugeneide.“

Da nun gar kein Grund abzuſehen iſt, warum die erfolgloſe Verleitung

des Sachverſtändigen in dem Einen Fall beſtraft werden ſollte und in

[296/0306]

Th. II. V. d. einzelnen Verbrechen u. Vergehen. Tit. VIII. Meineid.

dem andern nicht; da ferner die Stellung des Sachverſtändigen nicht

allein mit der des Zeugen, ſondern auch mit der des Beamten Aehn-

lichkeit hat, und dieſe letztere hier maaßgebend geweſen ſein kann, da

endlich das praktiſche Bedürfniß für den vergeblichen Verſuch, einen

Sachverſtändigen zum Meineid zu verleiten, nicht ſo dringend eine Strafe

nöthig macht, als wenn es auf die Verleitung eines Zeugen abgeſehen

iſt: ſo muß die Beſtimmung des §. 130. einſchränkend erklärt und kann

nicht auf den Fall des §. 127. bezogen werden.

II. Die weiteren Beſtimmungen des Paragraphen ſind in dem

Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer in folgender Weiſe motiviert

worden:

„Das Strafmaaß ſchließt ſich in entſprechendem Verhältniſſe an

die Strafe des Verbrechens oder Vergehens, zu welchem verleitet werden

ſoll, an. Die Vorausſetzungen, unter welchen ſie nach dem obigen

Vorſchlage eintritt, ſind einmal, daß der Thäter den Vorſatz habe, einen

Andern zu verleiten, das Verbrechen oder Vergehen des Meineides zu

begehen, d. h. wiſſentlich einen falſchen Eid zu leiſten oder eine Ver-

ſicherung an Eides ſtatt abzugeben; und zweitens, daß der Anſtifter bei

dem Andern den Verſuch mache, dieſen Zweck zu erreichen. Da hiernach

nicht erforderlich iſt, daß überhaupt irgend ein Erfolg bei dem Andern

erreicht werde, noch viel weniger daß dieſer Andere wirklich einen falſchen

Eid leiſte, ſo fällt nach der Anſicht der Kommiſſion das Bedürfniß

weg, noch ſpeziell auszuſprechen, daß der Verleitete nicht wiſſentlich die

Unwahrheit ſage, oder aus einem andern ihm perſönlichen Grunde nicht

ſchuldig ſei.“

„Dagegen glaubt die Kommiſſion daran feſthalten zu müſſen, daß

beim Verſuch der Verleitung, wie bei der Verleitung ſelbſt, ein noth-

wendiges Requiſit der Vorſatz des Verleiters ſei, den Andern zu be-

ſtimmen, wiſſentlich falſch zu ſchwören. Darüber hinaus zu gehen und

eine Faſſung zu wählen, welche auch ſolche Kunſtgriffe mittreffe, die

angewendet werden, um einen Andern, der vorausſichtlich als Zeuge

auftreten wird, in Irrthum über Thatſachen zu verſetzen, damit dieſer

ſie in gutem Glauben als wahr bezeuge, ſchien der Kommiſſion eine zu

gefährliche Verallgemeinerung des Thatbeſtandes, und ſie hielt außerdem

dafür, daß es materiell ungerecht ſei, denjenigen, welcher gar nicht die

Abſicht habe, einen Andern zum Meineidigen zu machen, als einen

Verleiter zum Meineide zu beſtrafen.“

§. 131.

Wer vorſätzlich einer durch eidliches Angelöbniß vor Gericht geleiſteten

Kaution, oder dem in einem Manifeſtations-Eide gegebenen Verſprechen zuwider

handelt, ſoll mit Gefängniß bis zu zwei Jahren beſtraft werden.

[297/0307]

§. 132. Fahrläſſiger Meineid.

Der Bruch eines promiſſoriſchen Eides wird in der Regel nicht

als ein beſonderes Vergehen beſtraft, wenn auch namentlich bei den

allgemeinen Verſprechungs-Eiden eine Verletzung derſelben die Folge

haben kann, daß ſie eine Strafe z. B. wegen Amtsverbrechens nach ſich

zieht. Nur für die im §. 131. aufgeführten Fälle war im Intereſſe der

Rechtsſicherheit eine Strafbeſtimmung nöthig. Auf den Kalumnieneid,

der ſchon jetzt in der Praxis kaum noch zur Anwendung kommt und

bei einer Reviſion des Prozeßrechts ganz verſchwinden wird, war die-

ſelbe aber nicht auszudehnen. o)

§. 132.

Wer aus Fahrläſſigkeit in eigenen oder fremden Angelegenheiten etwas

Unwahres eidlich verſichert, oder eine unwahre, an die Stelle eines Eides

tretende Verſicherung abgiebt, wird mit Gefängniß bis zu Einem Jahre beſtraft.

Die Strafe wird ausgeſchloſſen, wenn der Thäter, bevor eine Anzeige

gegen ihn gemacht oder eine Unterſuchung gegen ihn eingeleitet worden, und

ehe noch ein Rechtsnachtheil für einen Anderen daraus entſtanden iſt, ſeine

unwahre Verſicherung bei derjenigen Behörde, welcher er ſie abgegeben hat,

widerruft.

Die große Bedeutung, welche der Eid für das ganze Rechtsleben

ſo wie für die Intereſſen der Einzelnen hat, erfordert es, daß nicht

allein der Meineid und die falſche Verſicherung an Eides ſtatt beſtraft

wird, ſondern daß auch die Fahrläſſigkeit bei der Abgebung einer ſolchen

Erklärung nicht ungeahndet bleibt. Dieſelbe iſt daher, wie bei den

meiſten gemeingefährlichen Verbrechen und Vergehen, auch hier unter

Strafe geſtellt. Wird jedoch die unwahre Verſicherung, ehe noch für

einen Andern ein Rechtsnachtheil daraus erwachſen iſt, von dem Thäter

aus eigenem Antrieb bei derjenigen Behörde, welcher er ſie abgegeben

hat, widerrufen, ſo bleibt er ſtraflos. Eine ähnliche Beſtimmung enthält

ſchon das Allgem. Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 1411 a und 1411 b);

ſie konnte füglich beibehalten werden, während die Ausdehnung derſelben

auch auf den vorſätzlichen Meineid mit der Wirkung, daß die Selbſt-

anzeige eine Strafermäßigung zur Folge haben ſolle (Entwurf von

1847. §. 157.), mit dem Strafſyſtem des Geſetzbuchs nicht in Einklang

ſtehen würde und daher mit Recht weggelaſſen worden iſt.

o) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 87.

— Reviſion von 1845. II. S. 86.

Beſeler Kommentar. 20

[298/0308]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. u. Vergeh. Tit. IX. Falſche Anſchuldigung.

Neunter Titel.

Falſche Anſchuldigung.

§. 133.

Wer bei einer öffentlichen Behörde eine Anzeige macht, durch welche er

Jemanden wider beſſeres Wiſſen der Verübung einer geſetzlich ſtrafbaren Hand-

lung oder der Verletzung der Amtspflichten beſchuldigt, wird mit Gefängniß

nicht unter drei Monaten beſtraft; auch kann gegen denſelben auf zeitige Un-

terſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

So lange ein in Folge der gemachten Anzeige eingeleitetes Verfahren an-

hängig iſt, ſoll mit dem Verfahren und mit dem Erkenntniß über die falſche

Anſchuldigung inne gehalten werden.

§. 134.

In allen Fällen, in denen wegen falſcher Anſchuldigung auf Strafe

erkannt wird, iſt dem Verletzten auf Koſten des Verurtheilten eine Ausferti-

gung des Erkenntniſſes zu ertheilen. Auch ſoll dem Verletzten in dem

Erkenntniſſe die Befugniß ertheilt werden, die Verurtheilung öffentlich bekannt

zu machen.

Die Art und Weiſe dieſer Bekanntmachung, welche ſtets auf Koſten des

Verurtheilten erfolgt, ſowie die Friſt zu derſelben, iſt vom Richter in dem

Erkenntniſſe zu beſtimmen.

Der Entwurf von 1850. hatte den Inhalt dieſes Titels als §. 149.

zu den Ehrverletzungen geſtellt; zunächſt formelle Bedenken, welche mit

den Beſtimmungen über die Privatſtrafanträge wegen Ehrverletzung

zuſammen hingen, veranlaßten die Kommiſſion der zweiten Kammer,

die Ordnung des Entwurfs von 1847. wieder herzuſtellen. Demſelben

wurde dann auch die in §. 134. enthaltene Vorſchrift über die Aus-

fertigung und die Bekanntmachung des Straferkenntniſſes entlehnt. —

Der Thatbeſtand der Kalumnie iſt gegenwärtig im Vergleich mit den

früheren Entwürfen vereinfacht und genauer gefaßt; die Anzeige bei der

öffentlichen Behörde unterſcheidet dieſelbe namentlich von der Verleum-

dung. p) Bei der Feſtſtellung der Strafe iſt die bedingte Talion des

Allgem. Landrechts aufgegeben worden. q)

p) Der Code pénal, welcher Art. 367-74. die Verleumdung (calomnie)

behandelt, enthält Art. 373. Beſtimmungen über die falſche Anſchuldigung (dénon-

ciation calomnieuse), — eine Anordnung, welcher die meiſten neueren Strafgeſetz-

bücher gefolgt ſind.

q) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 1431-34. — Berathungs-Protokolle

der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 111. 112. — Reviſion von 1845.

II. S. 107.

[299/0309]

§§. 135. 136. Gottesläſterung u. ſ. w.

Zehnter Titel.

Vergehen, welche ſich auf die Religion beziehen.

§. 135.

Wer öffentlich in Worten, Schriften oder anderen Darſtellungen Gott

läſtert, oder eine der chriſtlichen Kirchen oder eine andere mit Korporations-

rechten im Staate beſtehende Religionsgeſellſchaft oder die Gegenſtände ihrer

Verehrung, ihre Lehren, Einrichtungen oder Gebräuche verſpottet, oder in einer

Weiſe darſtellt, welche dieſelben dem Haſſe oder der Verachtung ausſetzt, in-

gleichen wer in Kirchen oder anderen religiöſen Verſammlungsorten an Gegen-

ſtänden, welche dem Gottesdienſte gewidmet ſind, beſchimpfenden Unfug verübt,

wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren beſtraft.

§. 136.

Wer durch Thätlichkeiten oder Drohungen eine oder mehrere Perſonen

zwingt oder hindert, den Gottesdienſt einer im Staate beſtehenden Religions-

geſellſchaft auszuüben, ingleichen wer in Kirchen oder anderen religiöſen Ver-

ſammlungsorten durch Erregung von Lärm und Unordnung den Gottesdienſt

oder einzelne gottesdienſtliche Verrichtungen einer im Staate beſtehenden Reli-

gionsgeſellſchaft verhindert oder ſtört, ſoll mit Gefängniß von Einem Monate

bis zu drei Jahren beſtraft werden.

Es werden in dieſen Paragraphen eine Reihe von Vergehen auf-

geführt, welche in einer beſtimmten Beziehung zu dem religiöſen Glauben

und den Religionshandlungen ſtehen, und im Allgemeinen auch mit

derſelben Strafe bedroht ſind, nur daß für die Fälle des §. 136. ein

Minimum von Einem Monat Gefängniß vorgeſchrieben iſt.

I. Die Gottesläſterung. In der Kommiſſion der zweiten Kammer

wurde der Antrag geſtellt, ein ſolches Vergehen nicht mehr im Straf-

geſetzbuch aufzuführen; die Handlung ſelbſt, welche darunter gemeint ſei,

werde auch ohne dieß als eine Verſpottung und Verachtung der Gegen-

ſtände der Verehrung u. ſ. w. der einzelnen Kirchen beſtraft; die vor-

geſchlagene Faſſung aber laſſe die Deutung zu, als wolle der Staat in

das religiöſe Gebiet übergreifen, und Verletzungen der religiöſen Pflicht

des Individuums ſtrafen, oder gar als ſolle Gott als die beleidigte

Perſon angeſehen und gegen dieſe Verletzung durch Strafen geſichert

werden. — Dagegen wurde aber auch von ſolchen, welche die alte

Vorſtellung von der Gottesläſterung nicht theilen konnten, auf jene

Ausführung erwiedert, daß die Gottesläſterung jedenfalls eine Ver-

letzung des religiöſen Gefühls enthalte, welches Anſpruch auf Schutz

20*

[300/0310]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. X. Vergeh., welche ſich a. d. Rel. bezieh.

habe, und daß es nicht angemeſſen ſei, das beſtehende Recht in dieſer

Hinſicht zu ändern. Der Antrag wurde nicht angenommen. r)

II. In Beziehung auf die andern in §. 135. bezeichneten Vergehen

kam es in der Kommiſſion der zweiten Kammer namentlich zur Erwä-

gung, ob ſie nur gegen die mit Korporationsrechten im Staate beſte-

henden Religionsgeſellſchaften ſollten verübt werden können, oder ob

auch andere Religionsgeſellſchaften durch Strafbeſtimmungen davor zu

ſchützen ſeien. Der Kommiſſionsbericht enthält darüber folgende Mit-

theilung:

„Ein anderer Antrag nahm den Schutz des §. 121. (135.) auch

für diejenigen im Staate beſtehenden Religionsgeſellſchaften in Anſpruch,

welche keine Korporationsrechte erlangt haben. Er ſtützte ſich im We-

ſentlichen darauf, daß die Verfaſſung die Bildung der Religionsgeſell-

ſchaften frei gebe, daß die Erlangung von Korporationsrechten, welche

beſonderen Schwierigkeiten unterliege, nur den Sinn habe, die Geſellſchaft

als civilrechtliche Perſon anzuerkennen, um ihr die Erwerbung von

Vermögensrechten möglich zu machen. Die Beſtrafung der den Reli-

gionsgeſellſchaften zugefügten Beleidigungen ſtehe alſo mit der Verlei-

hung von Korporationsrechten in gar keinem Zuſammenhange; —

nachdem den Staatsbürgern freigegeben worden, je nach ihren religiöſen

Ueberzeugungen neue Religionsgeſellſchaften zu bilden, enthalte es eine

Ungerechtigkeit, und widerſtrebe dem Geiſte der Verfaſſung, die religiöſen

Ueberzeugungen der verſchiedenen Religionsgeſellſchaften nicht gleich ſehr

gegen Verſpottung zu ſichern.“

„Von der andern Seite wurde hiergegen geltend gemacht: es ſtehe

jeder Religionsgeſellſchaft frei, Korporationsrechte zu erlangen, und ſie

werde ſie erlangen, wenn ſie den Faktoren der Geſetzgebung die Ueber-

zeugung verſchaffe, daß ihre Bildung nicht bloß aus einer flüchtigen

Anregung des Augenblicks hervorgegangen, ſondern daß ein dauerndes

religiöſes Bedürfniß ihr zu Grunde liege. — Es ſei die Möglichkeit

gegeben, daß ſich jede politiſche Vereinigung in eine Religionsgeſellſchaft

einkleide. Der Strafrichter müſſe ein feſtes Kriterium haben, um zu

beurtheilen, ob die beleidigte Geſellſchaft eine Religionsgeſellſchaft ſei,

und dies liege nur dann vor, wenn die Religionsgeſellſchaft als ſolche

von der Geſetzgebung anerkannt ſei. So lange dies nicht der Fall ſei,

habe ſie keinen Anſpruch darauf, daß Beleidigungen, gegen ſie verübt,

ſtrenger als Beleidigungen aller andern Geſellſchaften beſtraft würden.

Auch ſei die freie Bildung neuer Religionsgeſellſchaften hierdurch nicht

r) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §§. 121. 122.

(135. 136.)

[301/0311]

§. 137. Zerſtörung von Gräbern c. §. 138. Verbr. in Beziehung c.

im Mindeſten beſchränkt, da es ſich hier nicht von thätlichen Störungen

handele.“

Der Antrag auf Streichung der Worte „mit Korporationsrechten“

wurde aus den angeführten Gründen abgelehnt.

III. Dagegen wurde angenommen, daß der Schutz, welchen der

§. 136. gegen die Verhinderung der freien Ausübung des Gottesdienſtes

und die Störung deſſelben gewährt, allen Religionsgeſellſchaften gebühre,

und daß in dieſer Hinſicht kein Unterſchied zu machen ſei, ob eine

Religionsgeſellſchaft Korporationsrechte erlangt habe oder nicht.

§. 137.

Wer unbefugt eine Leiche oder einen Theil derſelben aus der Gewahrſam

der dazu berechtigten Perſonen wegnimmt, ingleichen wer unbefugt Gräber zer-

ſtört oder beſchädigt, oder an denſelben beſchimpfenden Unfug verübt, ſoll mit

Gefängniß von Einem Monate bis zu zwei Jahren beſtraft werden.

Liegt der Handlung gewinnſüchtige Abſicht zum Grunde, ſo iſt zugleich auf

zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen.

Die mit dem religiöſen Gefühl eng verbundene Anſchauung, daß

dem Frieden der Todten und der Gräber ein beſonderer Schutz gegen

Störungen und Beſchimpfungen zu gewähren ſei, hat die Beſtimmungen

des Paragraphen hervorgerufen und denſelben ihren Platz in dieſem Titel

verſchafft. — Die bedingte Androhung der zeitigen Ehrenſtrafe beruht

auf denſelben Motiven, wie ſie bei §. 106. maaßgebend waren.

Eilfter Titel.

Verbrechen in Beziehung auf den Perſonenſtand.

§. 138.

Wer ein Kind unterſchiebt oder vorſätzlich verwechſelt, oder auf andere

Weiſe den Perſonenſtand eines Anderen vorſätzlich verändert oder unterdrückt,

wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren beſtraft.

Die vorſätzliche Verletzung der Rechte des Perſonenſtandes (jura

status) bildet den Thatbeſtand des Verbrechens, über deſſen Beſtrafung

§. 138. verfügt. Außerdem enthielt der Entwurf von 1850. §. 125-27.

noch Beſtimmungen über das Verhalten der Civilſtandsbeamten bei den

ihnen übertragenen Geſchäften, der Geiſtlichen in Beziehung auf die

Civilehe und über die Anmeldung neugeborener Kinder. Dieſe Beſtim-

[302/0312]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.

mungen ſind jedoch ſpäter in das Einführungsgeſetz (Art. XII. §. 4-6.)

verwieſen worden; s) es wird dort der Ort ſein, ſie zum Gegenſtande

einer weiteren Erörterung zu machen.

Zwölfter Titel.

Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit.

§. 139.

Ein Ehegatte, welcher vor Auflöſung ſeiner Ehe eine neue Ehe eingeht,

ingleichen eine unverheirathete Perſon, welche mit einem Ehegatten, wiſſend,

daß er verheirathet iſt, eine Ehe eingeht, wird mit Zuchthaus bis zu fünf

Jahren beſtraft.

Eine gleiche Strafe trifft den Religionsdiener oder Perſonenſtands-

Beamten, welcher, wiſſend, daß eine Perſon verheirathet iſt, eine neue Ehe

derſelben ſchließt.

Bei dem Verbrechen der mehrfachen Ehe beginnt die Verjährung mit dem

Zeitpunkte, an welchem eine der beiden Ehen aufgelöſt oder für ungültig oder

nichtig erklärt worden iſt.

Dieſer Titel handelt von den ſ. g. Fleiſchesverbrechen; es kommen

hier beſondere in Betracht: mehrfache Ehe (§. 139.), Ehebruch (§. 140.),

Blutſchande (§. 141.), Unzucht der Vormünder u. ſ. w. (§. 142.), wi-

dernatürliche Unzucht (§. 143.), Nothzucht und verwandte Fälle

(§§. 144. 145.), gewerbliche Proſtitution (§. 146.), Kuppelei und Ver-

führung (§§. 147-49.), öffentliche Verletzung der Schamhaftigkeit

(§§. 150. 151.). — Zuerſt alſo iſt die mehrfache Ehe oder Bigamie

zu erörtern.

I. Die allgemeine Vorausſetzung dieſes Verbrechens iſt, daß eine

Ehe beſteht, vor deren Auflöſung eine neue Ehe eingegangen wird.

Nun fragt es ſich aber, ob der Thatbeſtand des Verbrechens auch dann

anzunehmen iſt, wenn die erſte Ehe eine nichtige war, und bei der

Eingehung der zweiten Ehe die Nichtigkeit nur noch nicht durch gericht-

lichen Ausſpruch feſtgeſtellt war. In der Franzöſiſchen Jurisprudenz

wird in einem ſolchen Fall die Bigamie nicht angenommen, weil eine

nichtige Ehe überhaupt kein eheliches Band begründe, und nicht auf-

s) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §§. 124-27.

[303/0313]

§. 139. Mehrfache Ehe.

gelöſt zu werden brauche. t) Die Vorfrage, ob die erſte Ehe für gültig

oder ungültig zu erklären, wird dabei als zur Kompetenz der Civil-

gerichte gehörig betrachtet, ſo daß von deren Entſcheidung das Urtheil

des Strafgerichts in gewiſſer Weiſe bedingt iſt. Die prozeſſualiſchen

Schwierigkeiten, welche aus dieſer Auffaſſung hervorgehen, laſſen ſich

nicht verkennen; auch hat die Praxis des Kaſſationshofes ſich erſt nach

einigem Schwanken in dieſer Frage der Doktrin angeſchloſſen. u)

In der Theorie des gemeinen Deutſchen Kriminalrechts hat ſich

keine ſo feſte Anſicht hierüber gebildet; wenn aber beſonders in neuerer

Zeit ſich die meiſten Rechtslehrer für die Ausſchließung der Bigamie im

Falle der Nichtigkeit der erſten Ehe erklärt haben, ſo hat das zum

Theil darin ſeinen Grund, daß das Verbrechen nach der Auffaſſung der

Karolina (Art. 121.) als ein qualifizirter Ehebruch betrachtet wird, und

auf deſſen Thatbeſtand wieder die Beſtimmungen des Römiſchen Rechts

von Einfluß geworden ſind. v) — Das Allg. Landrecht ſcheint keinen

Unterſchied zu machen, ob die erſte Ehe eine gültige war oder nicht;

denn wenn es beſtimmt:

Th. II. Tit. 20. §. 1066. „Wer vor Trennung einer Ehe wiſ-

ſentlich und vorſätzlich eine andere vollzieht, ſoll mit ein- bis zwei-

jähriger Zuchthaus- oder Feſtungsſtrafe belegt werden.“

ſo iſt wohl nicht anzunehmen, daß auf die Bezeichnung „Trennung“

im Gegenſatz zur Nichtigkeitserklärung der Nachdruck gelegt worden ſei.

Bei der Reviſion des Strafrechts iſt man in den verſchiedenen Stadien

derſelben über die Frage, ob es auf die Gültigkeit der erſten Ehe an-

komme, verſchiedener Anſicht geweſen. Der Entwurf von 1830. §. 303.

nahm inſofern Rückſicht darauf, als er für einen ſolchen Fall eine

erhebliche Strafermäßigung eintreten ließ: aber der Entwurf von 1836.

§. 493. beſtimmte ausdrücklich: „Wer, bevor die Ehe, in welcher er ſich

befindet, rechtskräftig getrennt oder für nichtig erklärt und dies ihm

geſetzmäßig bekannt geworden“ u. ſ. w., und die Staatsraths-Kommiſ-

ſion erklärte ſich mit dieſer Auffaſſung einverſtanden, „da die Ehe

erſt durch das richterliche Urtheil für eine nichtige erklärt werde, und

bis zu ihrer rechtskräftig erfolgten Annullation formell als Ehe be-

t) Code pénal. Art. 340. Quiconque étant engagé dans les liens du

mariage en aura contracté un autre avant la dissolution du précédent, sera

puni de la peine des travaux forcés à temps. — L'officier public qui aura

prêté son ministère à ce mariage, connaissant l'existence du précédent,

sera condamné à la même peine.

u) Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. III.

chap. LI.

v) Feuerbach, Lehrbuch. §. 385. — Wächter, Lehrbuch. II. §. 215. —

Heffter, Lehrbuch. §. 450.

[304/0314]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.

ſtehe.“ w) Dem ſtimmte auch das

Miniſterium für die Geſetz-Reviſion

bei, x) wogegen die Staatsraths-Kommiſſion nach wiederholter Berathung

zu der Auffaſſung des Entwurfs von 1830. zurückkehrte. y) Der Ent-

wurf von 1847. beſtimmt daher:

§. 172. „Wer in einer nichtigen Ehe lebt, und obgleich er weiß,

daß die Nichtigkeit dieſer Ehe noch nicht rechtskräftig feſtſteht, dennoch

eine neue Ehe ſchließt, iſt mit Gefängniß von drei Monaten bis zu

Einem Jahre oder mit Strafarbeit bis zu Einem Jahre zu beſtrafen.

Eben dieſe Strafe iſt auf denjenigen anzuwenden, welcher ſich mit der

in einer ſolchen nichtigen Ehe lebenden Perſon verheirathet.“

Gegen dieſe Vorſchrift erklärte ſich aber wieder die vorberathende

Abtheilung des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes, und beantragte, den

Paragraphen ganz wegfallen zu laſſen, — „indem nicht erſichtlich ſei,

weshalb eine Strafmilderung dem angedeihen ſolle, welcher einen Rechts-

grund habe, auf Nichtigkeit einer in formeller Gültigkeit beſtehenden

Ehe zu klagen. Wolle der Staat die Ehe ſchützen, ſo müſſe er ſie

ſchützen, bis ihre äußere Exiſtenz durch Richterſprüche vernichtet worden;

ehe dieß geſchehen, ſei eine gleiche Verpflichtung vorhanden für den-

jenigen, welcher mit der Nichtigkeitsklage obſiegen, ſo wie für den,

welcher mit ihr unterliegen werde, das Verhältniß zu achten, welchem

der Staat ſein Anerkenntniß und ſeinen Schutz gegeben.“ z) — Dem

Antrage der Abtheilung ſchloß ſich der Ausſchuß einſtimmig an, und

auch das Strafgeſetzbuch hat die damals abgelehnte Vorſchrift nicht

wieder aufgenommen. Es iſt daher anzunehmen, daß die Geſetzgebung

die mildere Anſicht, wie ſie in den Entwürfen von 1830. und 1847.

ausgeſprochen war, aufgegeben hat, und es für den Thatbeſtand und

die Beſtrafung der Bigamie ohne Einfluß ſein läßt, ob die erſte Ehe

gültig war oder nicht. Das folgt auch aus dem Schlußſatz des Pa-

ragraphen; denn wenn die Verjährung des Verbrechens unter anderen

erſt beginnt, wenn die erſte Ehe für nichtig erklärt worden iſt, ſo ſetzt

dieß voraus, daß die Nichtigkeit dieſer Ehe das Verbrechen nicht aus-

ſchließt. — Mit dieſer Auffaſſung, nach welcher unter „Auflöſung der

Ehe“ auch die Nichtigkeitserklärung zu verſtehen iſt, hat ſich die Kom-

miſſion der zweiten Kammer einverſtanden erklärt. a)

II. Wegen Bigamie wird nicht allein der Ehegatte beſtraft, welcher

vor Auflöſung der erſten Ehe eine andere eingeht, ſondern auch, anders

w) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 246. Vgl. Entwurf von 1847. §. 381.

x) Reviſion von 1845. II. S. 168.

y) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 88.

z) Verhandlungen. III. S. 459.

a) Kommiſſionsbericht zu §. 128. (139.).

[305/0315]

§. 139. Mehrfache Ehe.

wie im Rheiniſchen Recht, die unverheirathete Perſon, welche mit einer

verheiratheten eine Ehe eingeht. Indeſſen ſcheint für dieſen Fall doch

der Thatbeſtand des Verbrechens inſofern anders beſtimmt zu ſein,

als es ausdrücklich erfordert wird, daß die unverheirathete Perſon das

Beſtehen der anderen Ehe gekannt habe, während für den Bigamus dieß

nicht ausgeſprochen iſt. Daraus könnte die Folgerung abgeleitet werden,

daß es für den Letzteren auf den Vorſatz gar nicht ankomme, ſondern

auch das aus Irrthum oder Fahrläſſigkeit begangene Verbrechen an ihm

beſtraft werde, was freilich eine principielle Abweichung von der Be-

ſtimmung ſowohl der Karolina (Art. 121.) wie des Allgemeinen Land-

rechts (II. 20. §. 1066.) ſein würde.

Einer ſolchen Auffaſſung hatte der Entwurf von 1836. beſtimmt

entgegen treten wollen, indem er vorſchrieb:

§. 493. Abſ. 2. „Hatte aber derjenige, welcher die neue Ehe

ſchloß, aus einem unverſchuldeten Irrthum die frühere Ehe für getrennt

oder annullirt gehalten; ſo iſt derſelbe ſtraflos.“

Die Staatsraths-Kommiſſion bemerkte hierzu: b)

„Endlich war man mit dem revidirten Entwurf darin einverſtan-

den, daß die kulpoſe Bigamie nicht beſtraft werden könne, da der we-

ſentlichſte Theil der Strafbarkeit bei der vorſätzlichen Bigamie, nämlich

der Treubruch gegen den andern Ehegatten, hier nicht vorliege; allein

man hielt die im §. 493. enthaltene ausdrückliche Beſtimmung für

entbehrlich, da ſchon der §. 52. des Allgemeinen Theils des umgear-

beiteten Entwurfs ausdrücklich beſtimme, daß eine Handlung, die, vor-

ſätzlich verübt, Strafe nach ſich ziehe, in dem Fall, wo ihr bloß Fahr-

läſſigkeit zum Grunde liege, nur dann geſtraft werden ſolle, wenn das

Geſetz dies ausdrücklich vorſchreibe.“

Das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion theilte dieſe Anſicht, c)

indem es ſich dahin ausſprach, daß die Strafbarkeit allerdings bedingt

ſei durch das Bewußtſein von dem Daſein und der Fortdauer der frü-

heren Ehe; daß aber die allgemeine Beſtimmung des §. 68. (§. 44. des

Strafgeſetzbuchs) eine beſondere Vorſchrift hierüber unnöthig mache.

Dieſe Auffaſſung iſt jedoch kaum für richtig zu halten, da es nach dem

angeführten Paragraphen vorausgeſetzt wird, daß die Strafbarkeit der

Handlung von beſonderen Eigenſchaften der Perſon u. ſ. w. abhängig

iſt, dieſe Vorausſetzung aber gerade bei der Bigamie in Frage ſteht. —

Auch wurde es in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß von dem Ab-

geordneten Grabow angeregt, daß das Geſetzbuch ausdrücklich nur die

b) Berathungs-Protokolle. II. S. 247.

c) Reviſion von 1845. II. S. 168.

[306/0316]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.

doloſe Bigamie unter Strafe ſtellen müſſe, da die allgemeinen Beſtim-

mungen über Vorſatz und Fahrläſſigkeit jetzt weggelaſſen ſeien. Dagegen

aber bemerkte nun der Regierungs-Kommiſſar:

„Man muß hier mit der Faſſung ſehr vorſichtig ſein, denn es muß

die Beſtrafung auch eintreten, wenn Jemand es darauf ankommen läßt,

ob die Ehe bereits wirklich aufgelöſt iſt. Beiſpielsweiſe ſind nach dem

Ruſſiſchen Feldzuge Fälle vorgekommen, wo die zurückgelaſſenen Ehe-

frauen von Militairperſonen in der unbegründeten Vorausſetzung, daß

ihre Ehemänner um's Leben gekommen ſeien, ſich anderweit verheirathet

hatten, ohne ſich vorher darüber zu vergewiſſern, daß die Ehe durch den

Tod des anderen Ehegatten wirklich getrennt ſei. Solche Fälle der

leichtſinnigen Eingehung der zweiten Ehe muß man hier mit beſtrafen,

und deshalb kann man nicht als Bedingung des Verbrechens hinſtellen,

daß der Ehegatte poſitiv gewußt haben müſſe, daß die Ehe noch beſtehe;

es würde der Begriff des Verbrechens zu ſehr beengt werden.“ d)

Dieſe Argumentation iſt beinahe wörtlich in die Motive zu dem

Entwurf von 1850. übergegangen; auch die Kommiſſion der erſten

Kammer hat ſich ihr angeſchloſſen, indem ſie nur „wegen völlig ſchuld-

loſer thatſächlicher Nichtkenntniß der früheren Ehe oder ihres Fortbe-

ſtandes“ Strafloſigkeit eintreten läßt. Es liege hierbei die Anſicht zum

Grunde, daß der Charakter des Verbrechens der mehrfachen Ehe theils

Nichtachtung noch beſtehender Rechte eines Ehegatten, theils Mißbrauch

öffentlicher Formen, die zur Sicherſtellung eines von Kirche und Staat

geheiligten Verhältniſſes dienen ſollen, endlich auch Gleichgültigkeit gegen

dieſes ſelbſt ſei. In dieſem Falle befinde ſich aber nicht allein derjenige,

welcher beſtimmt wiſſe, daß ſein bisheriges Eheband noch nicht auf-

gelöſet ſei, ſondern auch derjenige, welcher Zweifel darüber, d. h. Gründe

habe, ſein Eheband für aufgelöſet zu halten, dennoch aber unterlaſſe,

ſich darüber die nöthigen Aufklärungen zu verſchaffen oder die geſetzlichen

Formen zum Zweck einer Ledigkeitserklärung zu beobachten, und ſomit

leichtſinnig zu einer anderen Ehe ſchreite. e)

Der Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer ſtimmt mit dieſer

Ausführung im Weſentlichen überein, ſucht aber doch darzuthun, daß

es ſich nach dem Sinn der Strafvorſchrift nicht von einer kulpoſen

Bigamie handle; der Bigamus ſei ſich deſſen bewußt, daß er den Nach-

weis der Auflöſung der erſten Ehe nicht führen könne; er laſſe es aber

darauf ankommen, gehe leichtſinnig eine zweite Ehe ein. Jenes Bewußt-

ſein müſſe vorausgeſetzt werden, nicht aber der böſe Vorſatz in dem

d) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III.

S. 458. 459.

e) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 139.

[307/0317]

§. 139. Mehrfache Ehe.

Sinne, daß ihm die Kenntniß von dem Fortbeſtande der früheren Ehe

poſitiv müſſe nachgewieſen werden.

In dieſer letzteren Auffaſſung iſt die richtige Anſicht, wenn auch

nicht in der gehörigen Beſtimmtheit ausgeſprochen worden. Im Allge-

meinen nämlich iſt bei der Bigamie wie bei allen anderen Verbrechen,

bei welchen nicht das Gegentheil ausgedrückt iſt, der ſtrafrechtliche Dolus

für den Thatbeſtand weſentlich. Allein dieſer Dolus beſteht nicht noth-

wendig in dem poſitiv böſen Willen; auch der frevelhafte Leichtſinn, die

luxuria als die höchſte Steigerung des Verſehens, in welcher derſelbe

in den Dolus hinüberreicht, kann die Vorausſetzung der Strafanwen-

dung begründen, und das wird der Fall ſein, wenn der Ehegatte bei

Eingehung einer neuen Ehe ſich nicht von der Auflöſung der früheren

überzeugt hat. Ob er überzeugt geweſen, ob er Grund hatte, ſich für

überzeugt zu halten, — das iſt von dem erkennenden Richter nach all-

gemeinen Grundſätzen zu entſcheiden, ohne daß von Beweis und Gegen-

beweis die Rede ſein kann. f) Wollte man aber weiter gehen, und die

Bigamie zu den Delikten zählen, bei denen überhaupt die Fahrläſſigkeit

zum Thatbeſtande genügt, ſo würde man mit den allgemeinen Grund-

ſätzen des Strafgeſetzbuchs in Widerſpruch treten und genöthigt ſein,

auf Handlungen, bei denen ein bloßes Verſehen und ein geringer Grad

der Verſchuldung vorliegen kann, die ſchwere Strafe der Verbrechen

anzuwenden. Denn es iſt nicht zu überſehen, daß bei der Bigamie die

Berückſichtigung mildernder Umſtände nicht zugelaſſen iſt.

III. Es iſt ſchon bemerkt worden, daß außer dem Bigamus auch

die unverheirathete Perſon, welche denſelben im Bewußtſein der Schuld

heirathet, mit der vollen geſetzlichen Strafe des Verbrechens bedroht

wird. Das Allgemeine Landrecht (II. 20. §. 1067.) und die meiſten

neueren Geſetzgebungen haben für dieſen Fall eine mildere Strafe, wäh-

rend das Rheiniſche Recht denſelben gar nicht berückſichtigt. Die Be-

ſtimmung des Geſetzbuchs beruht auf der Erwägung, daß der Unverhei-

rathete als der Verführer der ſchuldigere Theil ſein kann. Da hier

von wiſſentlicher und vorſätzlicher Konkurrenz eines Hauptgehülfen

und nur von dem Strafmaaß im Allgemeinen die Rede ſei, ſo

f) Vgl. Chauveau et Hélie Faustin l. c. p. 93. — Der Code pénal

von 1791. beſtimmte: En cas d'exécution de ce crime (de bigamie) l'excep-

tion de la bonne foi pourra ètre admise, lorsqu'elle sera prouvée. Dieß

erklärte ſehr treffend ein Urtheil des Kaſſationshofs dahin „que la bonne foi dont

parle la loi consiste, non dans les motifs, quelque forts qu'ils soient, qui

peuvent déterminer à un second mariage pendant l'existence du premier,

mais dans l'opinion raisonnable, fondée sur de très-fortes probabilités qui

portent à croire à la dissolution du premier mariage.

[308/0318]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.

rechtfertige ſich die Beſtimmung hier ſo gut wie die entſprechende bei

dem Ehebruch. g)

Die Ausdehnung der geſetzlichen Strafe auch auf den Religions-

diener oder den Perſonenſtands-Beamten, welcher die verbrecheriſche Ehe

ſchließt, findet ſich erſt in dem Entwurf von 1850.; ſie iſt dem Code

pénal nachgebildet worden. h)

IV. Die Kriminalordnung beſtimmt

§. 601. „Bei dem Verbrechen der Bigamie ſoll dieſer fünfjährige

Zeitraum (der Verjährung) von dem Tage der Vollziehung der letzten

Ehe durch Kopulation gerechnet werden.“

Im Gegenſatz zu dieſer Vorſchrift wurde in der Staatsraths-Kom-

miſſion der Grundſatz angenommen, „daß der Anfang der Verjährung

von da an zu geſtatten ſei, wo entweder die erſte Ehe auf irgend eine

Weiſe getrennt oder das zweite ungültige Ehebündniß aufgelöſt worden,

da in beiden Fällen das Verhältniß in eine Lage komme, wo kein Ver-

brechen mehr vorhanden ſei.“ i)

Im Staatsrath wurde dieſe Auffaſſung lebhaft angefochten, und

die Beibehaltung der Vorſchrift der Kriminalordnung befürwortet, da

mit der Schließung der neuen Ehe das Verbrechen vollendet werde, und

mit dem Zeitpunkt der Vollendung des Verbrechens die Verjährung

grundſätzlich ihren Anfang nehme. Das Weſen des Verbrechens beſtehe

bei der Bigamie in dem Mißbrauch der Heiligkeit des Aktes der Trauung;

das Zuſammenleben in einer Bigamie könne nicht als eine Fortſetzung

des Verbrechens angeſehen werden, ſondern nur als eine Folge deſſel-

ben, welche dem Fall ähnlich ſei, wenn ein Dieb ſich noch in dem

Beſitze der geſtohlenen Sache befinde, wodurch der Lauf der Verjährung

unſtreitig nicht gehemmt werde. — Von der andern Seite wurde hier-

gegen angeführt, daß die Verjährung eines Verbrechens erſt von dem

Zeitpunkte an beginne, an welchem die verbrecheriſche Handlung ihre

Endſchaft erreicht habe; das ſei aber der in dem Beſchluß der Staats-

raths-Kommiſſion angenommene, indem, ſo wie das Weſen der Ehe in

der innigen Lebensgemeinſchaft beſtehe, auch das Weſen der Bigamie in

dem unter dem Mißbrauche der Heiligkeit der Trauung ſtattfindenden

Zuſammenleben beruhe. k)

Dieſe letztere Anſicht gewann im Staatsrath die Mehrheit der

Stimmen für ſich, und iſt in die folgenden Entwürfe ſo wie auch in

g) Reviſion von 1845. II. S. 168.

h) Ueber einzelne hierbei in Betracht kommende politiſche Erwägungen ſ. den

Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O.

i) Berathungs-Protokolle. II. S. 247.

k) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 8. Mai 1841.

[309/0319]

§. 140. Ehebruch.

das Strafgeſetzbuch (§. 139. Abſ. 3.) übergegangen. Für die richtige

kann ſie nicht angeſehen werden. Auf den Akt der Trauung darf dabei

freilich nicht der Nachdruck gelegt werden, denn das Verbrechen iſt auch

vorhanden, wenn die zweite Ehe eine Civilehe iſt. Aber die Einge-

hung der Ehe iſt die entſcheidende Handlung, welche auch nach der

Faſſung des erſten Abſatzes in dieſem Paragraphen den Thatbeſtand

des Verbrechens bildet, und mit welchem es vollendet iſt. Die Ehe

ſelbſt iſt keine Handlung, ſondern ein Verhältniß, welches, wie im

Staatsrath richtig hervorgehoben worden, nur als die Folge der verbre-

cheriſchen Eingehung betrachtet werden kann. Das Geſetzbuch hätte um

ſo weniger die ſinguläre Beſtimmung über die Verjährung beibehalten

ſollen, da es den doktrinären Begriff des fortgeſetzten Verbrechens auf-

gegeben hat.

§. 140.

Der Ehebruch wird, wenn wegen dieſes Vergehens die Ehe geſchieden iſt,

an dem ſchuldigen Ehegatten, ſowie deſſen Mitſchuldigen, mit Gefängniß von

vier Wochen bis zu ſechs Monaten beſtraft.

Die Beſtrafung des Ehebruchs bleibt ausgeſchloſſen, wenn der unſchuldige

Ehegatte im Laufe des Eheſcheidungsprozeſſes oder bis zur Abfaſſung des

Straferkenntniſſes die Nichtbeſtrafung ausdrücklich beantragt, in welchem Falle

das Strafverfahren auch gegen die Mitſchuldigen wegfällt.

Ueber die Beſtrafung des Ehebruchs enthalten die früheren Ver-

handlungen ein ſehr umfaſſendes Material, l) welches nach der im Straf-

geſetzbuch erfolgten Normirung gegenwärtig von geringer praktiſcher Be-

deutung iſt. Es kommen hier folgende Punkte in Betracht.

I. Eine Strafe wegen Ehebruchs, mit welcher deſſen civilrechtliche

Folgen nicht zu verwechſeln ſind, tritt nur ein, wenn wegen dieſes Ver-

gehens die Ehe geſchieden iſt.

II. Die Beſtrafung bleibt auch in dieſem Fall ausgeſchloſſen,

wenn der unſchuldige Ehegatte die Nichtbeſtrafung ausdrücklich bean-

tragt. In der Kommiſſion der zweiten Kammer fand der Antrag auf

Streichung des ganzen Paragraphen ſo wenig wie der auf Streichung

des zweiten Abſatzes die genügende Unterſtützung; jedoch hielt man es

für richtiger, nach dem Vorgange des Allg. Landrechts (II. 20. §. 1061.)

l) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 272-75. — Berathungs-

Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 239-46. 249-52. —

Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 28. April und 8. Mai 1841. —

Reviſion von 1845. II. S. 162-68. — Verhandlungen der Staatsraths-

Kommiſſion von 1846. S. 85-87. — Verhandlungen des vereinigten

ſtänd. Ausſchuſſes. III. S. 395-457.

[310/0320]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.

das Verfahren von Amtswegen hier auszuſchließen, und nur auf aus-

drücklichen Antrag des unſchuldigen Theils eine Strafe erkennen zu

laſſen. Bei dem großen Gewicht aber, welches von einer Seite auf

die negative Faſſung der Beſtimmung gelegt wurde, glaubte man, um

die Annahme des Geſetzbuchs nicht zu gefährden, auf die im Entwurf

von 1850. vorgeſchlagene Formulirung eingehen zu müſſen. Doch

wurde beſchloſſen, daß der Antrag auf Nichtbeſtrafung nicht nur im

Laufe des Eheſcheidungsprozeſſes, ſondern bis zur Abfaſſung des Straf-

erkenntniſſes ſolle geſtellt werden können, damit derſelbe nicht durch ein

bloßes Verſehen des unſchuldigen Theils wider deſſen Willen ausge-

ſchloſſen werde. m)

III. Die geſetzliche Strafe iſt für alle Mitſchuldigen, zu denen

auch, im Gegenſatz zum Rheiniſchen Recht, n) der Ehemann, welcher

einen Ehebruch begeht, gezählt wird, in gleicher Weiſe feſtgeſtellt. Ueber

die Anwendung derſelben, namentlich auch bei dem doppelten Ehebruch,

entſcheidet nach den verſchiedenen Graden der Verſchuldung das richter-

liche Ermeſſen.

§. 141.

Die Unzucht zwiſchen leiblichen Eltern und Kindern wird an den Erſteren

mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, an den Letzteren, wenn ſie das ſechszehnte

Lebensjahr zurückgelegt haben, mit Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei

Jahren beſtraft.

Die Unzucht zwiſchen Schwiegereltern und Schwiegerkindern, zwiſchen Stief-

eltern und Stiefkindern und zwiſchen vollbürtigen oder halbbürtigen Geſchwi-

ſtern wird mit Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren beſtraft.

Auch kann zugleich auf die zeitige Unterſagung der Ausübung der bürger-

lichen Ehrenrechte erkannt werden.

Stiefkinder bleiben ſtraflos, wenn ſie das ſechszehnte Lebensjahr noch nicht

zurückgelegt haben.

Zu dieſem und den folgenden Paragraphen hat der Bericht der

Kommiſſion der zweiten Kammer folgende allgemeine Bemerkung vor-

ausgeſchickt:

„In den die ſogenannten Fleiſches-Verbrechen und Vergehen be-

treffenden Beſtimmungen des Entwurfs kommen für die unter Strafe

geſtellten Handlungen die Bezeichnungen:

1) Unzucht (§§. 141. 146. 147. 148. des Strafgeſetzbuchs),

2) widernatürliche Unzucht (§. 143.),

m) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 129. (140.)

— Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ.

n) Code pénal. Art. 336-39.

[311/0321]

§. 141. Blutſchande.

3) unzüchtige Handlungen (§§. 142. Nr. 1-3. 144. Nr. 3.),

4) auf Befriedigung des Geſchlechtstriebes gerichtete unzüchtige

Handlungen (§. 144. Nr. 1. und 2.),

5) Beiſchlaf (§§. 145. 149.)

vor. Es haben ſich Zweifel darüber ergeben, ob und inwieweit durch

dieſe verſchiedenen Ausdrücke verſchiedene Handlungen bezeichnet ſeien.

Man war jedoch in der Kommiſſion ſchließlich darüber einverſtanden,

daß unter dem erſtgedachten Ausdrucke daſſelbe zu verſtehen ſei, wie

unter dem zu 5., welcher letztere ſich füglich von dem zu 2. nicht habe

gebrauchen laſſen; ferner, daß zwar auch bei den zu 4. bezeichneten

ſtrafbaren Handlungen zum Thatbeſtande nicht Momente erforderlich

ſeien, in deren Präziſirung ſich Strafrechtslehre und Strafrechtspraxis

früherhin mit einer gewiſſen Laszivität zu ergehen pflegten, und daß zu

denſelben auch Handlungen der zu 2. bezeichneten Art gehörten, daß

aber zu den unzüchtigen Handlungen zu 3., wenn auch nicht bloße Un-

anſtändigkeiten, doch auch ſchon andere, als die zu 4. bezeichneten

Handlungen zu rechnen ſeien, welche die Schamhaftigkeit gegen eine be-

ſtimmte Perſon verletzen und von dem Thäter aus Geilheit und zum

Sinnenkitzel vorgenommen werden.“

Zu dem §. 141. wird dann noch insbeſondere bemerkt:

„In dem den Inzeſt betreffenden Paragraphen werden nun (und

zwar zur Vermeidung einer anſtößig befundenen Faſſung und einer wi-

drigen Kaſuiſtik, unter Zuſammenziehung der §§. 162-66. des Ent-

wurfs vom Jahre 1847.) Handlungen unter Strafe geſtellt, die im

Rheiniſchen Strafgeſetzbuche ſämmtlich und im Allgemeinen Landrechte

theilweiſe (nämlich zwiſchen Schwiegereltern und Schwiegerkindern, ſo

wie Rückſichts der Stiefkinder, wenn ſie, was in der Regel der Fall,

als blos Verführte anzuſehen ſind) es nicht ſind. Die Strafbarkeit

aller dieſer, die Familienrechte gefährdenden Unzuchtsfälle iſt jedoch in

der Kommiſſion nicht in Zweifel gezogen worden. Auch hält es die

Kommiſſion für angemeſſen, daß kein Unterſchied gemacht worden, ob

durch eheliche oder uneheliche Geburt das Verwandtſchafts- oder Affini-

täts-Verhältniß, — ſoweit Letzteres nach Lage der bürgerlichen Geſetz-

gebung dabei überhaupt eintritt (vgl. Allg. Landrecht I. 1. §. 44.) —

begründet war. Kenntniß deſſelben wird vorausgeſetzt (§. 44. des

Strafgeſetzbuchs) und nur auf die Strafzumeſſung kann jener Unter-

ſchied Einfluß haben.“

„Erinnert wurde, daß durch die Faſſung des erſten Abſatzes die

Unzucht zwiſchen Großeltern und Enkeln für ausgeſchloſſen erachtet wer-

den könnte; es ward angetragen, ſtatt „Eltern und Kindern“ zu ſagen

„Verwandten in auf- und abſteigender Linie“. Die Kommiſſion er-

[312/0322]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.

kannte jedoch ein Bedürfniß hierzu bei ihrer ſchließlichen Berathung

nicht an. — Ebenſo wurde ein Antrag, auch die Unzucht zwiſchen

Adoptiv-Eltern und Adoptiv-Kindern unter Strafe zu ſtellen, abgelehnt,

da das Verhältniß zwiſchen Adoptiv-Eltern und Kindern, auch nach den

die Eheverbote betreffenden Beſtimmungen des Allg. Landrechts, ein an-

deres ſei, als das der Schwieger- und Stief-Eltern zu den Schwieger-

und Stief-Kindern (II. 1. §. 6. 13.).“

I. Die Blutſchande befaßt alſo nur die Unzucht zwiſchen Bluts-

verwandten und Verſchwägerten in gerader Linie, ſo wie zwiſchen Ge-

ſchwiſtern, folglich nur die Fälle, in denen unter den Schuldigen

indispenſabele Ehehinderniſſe beſtehen.

II. Leibliche Eltern, zu denen im Sinne des Entwurfs auch die

Großeltern zu rechnen ſind, werden mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren

beſtraft; die anderen genannten Perſonen mit Gefängniß von zwei Mo-

naten bis zu zwei Jahren. Zu der Gefängnißſtrafe kann jedoch die

zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte hinzutreten. Da dieſe

letztere Beſtimmung in einem beſonderen Abſatz hinzugefügt worden, ſo

iſt ſie auch auf die im erſten Abſatz verfügte Strafe der leiblichen Kin-

der (und Enkel), und nicht allein auf die Fälle des zweiten Abſatzes zu

beziehen.

III. Haben die leiblichen Kinder und die Stiefkinder das ſechszehnte

Lebensjahr noch nicht zurückgelegt, ſo bleiben ſie ſtraflos, ſo daß es

nicht darauf ankommt, ob Unterſcheidungsvermögen vorhanden war oder

nicht. Es iſt dieß eine Abweichung von der allgemeinen Regel der

§§. 42. 43.

§. 142.

Mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren werden beſtraft:

1) Vormünder, welche mit ihren Pflegebefohlenen, Lehrer, Geiſtliche und

Erzieher, welche mit ihren minderjährigen Schülern oder Zöglingen un-

züchtige Handlungen vornehmen;

2) Beamte, welche mit Perſonen, gegen die ſie eine Unterſuchung zu füh-

ren haben, oder die ihrer Obhut anvertraut ſind, unzüchtige Handlun-

gen vornehmen;

3) Beamte, Aerzte oder Wundärzte, die in Gefängniſſen oder in öffent-

lichen, zur Pflege von Kranken, Armen oder anderen Hülfloſen beſtimm-

ten Anſtalten beſchäftigt oder angeſtellt ſind, wenn ſie mit den in der

Anſtalt aufgenommenen Perſonen unzüchtige Handlungen vornehmen.

Die Härte dieſer Strafbeſtimmungen o) rechtfertigt ſich durch die

o) Dieſelben entſprechen der Vorſchrift des Code pénal. Art. 333., welche

ſich aber nur auf die Nothzucht und die verwandten Verbrechen bezieht.

[313/0323]

§. 143. Widernatürliche Unzucht. §§. 144. 145. Nothzucht u. ſ. w.

beſondere Stellung, welche die Perſonen, auf welche ſie ſich beziehen,

einnehmen; in dem Verbrechen liegt immer ein ſchmählicher Mißbrauch

ihrer Autorität und des ihnen geſchenkten Vertrauens.

§. 143.

Die widernatürliche Unzucht, welche zwiſchen Perſonen männlichen Geſchlechts

oder von Menſchen mit Thieren verübt wird, iſt mit Gefängniß von ſechs

Monaten bis zu vier Jahren, ſowie mit zeitiger Unterſagung der Ausübung

der bürgerlichen Ehrenrechte zu beſtrafen.

Die Strafen der Päderaſtie und der Sodomiterei ſind im Verhältniß

zu den Beſtimmungen der älteren Geſetze gemildert; über die Gründe

ſ. den Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu dieſem Paragraphen.

§. 144.

Mit Zuchthaus bis zu zwanzig Jahren wird beſtraft:

1) wer an einer Perſon des einen oder des anderen Geſchlechtes mit Ge-

walt eine auf Befriedigung des Geſchlechtstriebes gerichtete unzüchtige

Handlung verübt, oder ſie durch Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr

für Leib oder Leben zur Duldung einer ſolchen unzüchtigen Handlung

zwingt;

2) wer eine in einem willenloſen oder bewußtloſen Zuſtande befindliche Per-

ſon zu einer auf Befriedigung des Geſchlechtstriebes gerichteten unzüch-

tigen Handlung mißbraucht;

3) wer mit Perſonen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vor-

nimmt, oder dieſelben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Hand-

lungen verleitet.

Iſt der Tod der Perſon, gegen welche das Verbrechen verübt wird, dadurch

verurſacht worden, ſo tritt lebenslängliche Zuchthausſtrafe ein.

§. 145.

Wer eine Frauensperſon zur Geſtattung des Beiſchlafs dadurch verleitet,

daß er eine Trauung vorſpiegelt oder einen anderen Irrthum erregt, in wel-

chem ſie den Beiſchlaf für einen ehelichen halten mußte, wird mit Zuchthaus

bis zu fünf Jahren beſtraft.

Das wichtigſte der hier behandelten Verbrechen iſt das der Noth-

zucht; die anderen haben mit demſelben zwar den Zweck und zum Theil

die Strafe gemein, aber es fehlt ihnen als weſentliches Erforderniß des

Thatbeſtandes die Anwendung von Gewalt oder Drohungen.

A. Die Nothzucht (le viol).

Der Begriff des Verbrechens, deſſen techniſche Bezeichnung ſelbſt

vermieden worden, findet ſich hier weiter gefaßt, als in dem früheren

Beſeler Kommentar. 21

[314/0324]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.

Rechte. Aehnlich wie im Code pénal, der neben der Nothzucht auch

die gewaltſamen Angriffe auf die Schamhaftigkeit unter Strafe ſtellt, p)

wird die Vollziehung des Beiſchlafs nicht zum Thatbeſtande des in

§. 144. Nr. 1. behandelten Verbrechens erfordert, die auf Befriedigung

des Geſchlechtstriebes gerichtete unzüchtige Handlung vielmehr mit der-

ſelben Strafe bedroht, mag ſie gegen eine Perſon des einen oder des

anderen Geſchlechtes verübt worden ſein. Schon in dem vereinigten

ſtändiſchen Ausſchuß trug der Abgeordnete Freiherr v. Mylius auf

eine ſolche weitere Faſſung der Geſetzesſtelle an, welche aber damals keine

Zuſtimmung fand. q)

I. Die Verübung des Verbrechens muß mit Gewalt oder in Folge

angewandter Drohungen geſchehen ſein.

a. Der Begriff der Gewalt iſt hier nicht näher beſtimmt worden;

es iſt weder wie nach dem Allg. Landrecht (II. 20. §. 1052.) eine „un-

widerſtehliche Gewalt“, noch wie nach dem Entwurf von 1836. (§. 495.)

eine „körperliche, nach den vorliegenden Verhältniſſen nicht abwendbare“

erfordert. Man hielt dafür, daß es nach der Natur der Sache nicht

möglich ſei, eine ſolche Präziſirung in erſchöpfender Weiſe anzugeben.

Alles komme auf die relativen Umſtände in concreto und auf das

einſichtsvolle richterliche Ermeſſen an. r) Auf die Einwendung aber,

daß bei einer ſo unbeſtimmten Faſſung des Geſetzes auch leichte Schläge

für hinreichend gehalten werden könnten, wurde erwiedert, ſchon nach

dem Sinn der Worte müſſe die Gewalt von der Art ſein, daß ſie die

Annahme eines Zwanges bei Duldung der verbrecheriſchen Handlung

begründen könne, wozu die Ueberwältigung eines thätlichen Widerſtan-

des nothwendig gehöre. s)

b. Die Drohung muß mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder

Leben verbunden geweſen ſein. Die früheren Entwürfe hatten dieß in

ſehr kaſuiſtiſcher Weiſe ausgedehnt, t) und namentlich die Gefahr naher

Angehöriger mit hineingezogen. Der Entwurf von 1843. §. 383. ver-

p) Code pénal. Art. 331. Quiconque aura commis le crime de viol,

ou sera coupable de tout autre attentat à la pudeur, consommé ou tenté

avec violence contre des individus de l'un ou de l'autre sexe, sera puni de

la reclusion. — Das Geſetz vom 28. April 1832. hat auch hier weſentliche Aende-

rungen eingeführt.

q) Verhandlungen. III. S. 459-61.

r) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 247.

s) Reviſion von 1845. II. S. 170. Vgl. Motive zum Entwurf von

1850. §. 133.

t) Entwurf von 1836. §. 495. „Derjenige, welcher eine Frauensperſon ent-

weder durch körperliche, nach den vorliegenden Verhältniſſen durch ſie nicht abwend-

bare Gewalt oder durch für ihre oder ihres Ehegatten, ihrer Kinder, Eltern oder

Geſchwiſter Leben oder Geſundheit oder bedeutenden Vermögenstheil gefährliche Dro-

hungen“ u. ſ. w. Vgl. Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 263.

[315/0325]

§§. 144. 145. Nothzucht u. ſ. w.

langte gefährliche Drohungen, wofür in Folge eines Beſchluſſes der

Staatsraths-Kommiſſion u) der Entwurf von 1847. §. 174. „Drohun-

gen mit gegenwärtiger Gefahr für ihr oder anderer Menſchen Leib oder

Leben“ ſetzte. Dieſe Bezugnahme auf andere Perſonen iſt im Straf-

geſetzbuch weggeblieben, wie ſie ſich auch weder im Allgemeinen Land-

recht, noch im Rheiniſchen oder im gemeinen Deutſchen Strafrechte findet.

Man kann daher auch nicht mit dem Bericht der Kommiſſion der zwei-

ten Kammer (zu §. 133. unter 3.) behaupten, daß es nicht darauf an-

komme, gegen wen die Drohung gerichtet war, vielmehr der Richter zu

ermeſſen habe, ob dadurch Zwang verübt worden ſei. Eine ſolche Aus-

dehnung des Thatbeſtandes der Nothzucht wäre nur wegen einer aus-

drücklichen Vorſchrift des Geſetzbuchs anzunehmen.

II. Ob die gemißbrauchte Perſon verleumdet oder unverleumdet

war, iſt für den Thatbeſtand des Verbrechens gleichgültig, und bloß

bei der Strafzumeſſung von Einfluß. Ebenſo verhält es ſich mit den

Folgen des Verbrechens, ob daſſelbe namentlich der Geſundheit der ge-

mißbrauchten Perſon geſchadet hat, wobei denn noch beſonders zu er-

wägen ſein wird, ob der Nachtheil für die Geſundheit ein bleibender

oder erheblicher war. Die Unbeſtimmtheit dieſer Ausdrücke und die

Schwierigkeit der Feſtſtellung des einzelnen Falles führten dahin, die

Bezugnahme auf dieſe thatſächlichen Momente im Geſetzbuch ganz

aufzugeben, und ihre Berückſichtigung dem richterlichen Ermeſſen zu über-

laſſen, dafür aber auch das geſetzliche Strafmaaß ſo, wie es geſchehen

iſt, zu erhöhen. v)

III. Nur wenn der Tod der Perſon, gegen welche das Verbrechen

verübt worden, dadurch herbeigeführt iſt, tritt lebenslängliche Zuchthaus-

ſtrafe ein. Die Todesſtrafe hier vorzuſchreiben, erſchien wohl deshalb

unzuläſſig, weil die Abſicht der Tödtung nicht leicht vorliegen wird,

und das Verbrechen ſelbſt nicht als ein gemeingefährliches zu betrachten

iſt. Sollte aber wirklich die Abſicht der Tödtung ſich nachweiſen laſſen,

ſo würde eine ideale Konkurrenz von Verbrechen ſtattfinden, und im Fall

des Mordes die Todesſtrafe begründet ſein.

IV. Daß im Gegenſatz zu früheren Beſchlüſſen w) ein Strafantrag

nicht mehr erforderlich iſt, ſondern das Verbrechen von Amtswegen ge-

ahndet werden ſoll, kann bei der Größe und Gefährlichkeit deſſelben nur

gebilligt werden. Das Princip des älteren Rechts, daß der Zweck der

Strafandrohung Schutz der weiblichen Ehre ſei, iſt bei der gegenwärti-

u) Verhandlungen von 1846. S. 127. 128.

v) a. a. O. S. 128.

w) Verhandlungen des vereinigten ſtänd. Ausſchuſſes. III. S. 467.

bis 485.

21*

[316/0326]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.

gen Faſſung des Geſetzbuchs überhaupt nicht mehr feſtgehalten worden;

die Sühnung des Unrechts durch die ſtrafende Gerechtigkeit ſoll auch

hier allgemein verwirklicht werden.

B. Der Nothzucht iſt es §. 144. Nr. 2. gleichgeſtellt worden,

wenn jemand eine in einem willenloſen oder bewußtloſen Zuſtande be-

findliche Perſon zu einer auf Befriedigung des Geſchlechtstriebes gerich-

teten unzüchtigen Handlung mißbraucht. Dabei kommt es nur für die

Strafzumeſſung in Betracht, ob der Thäter den willenloſen oder bewußt-

loſen Zuſtand der gemißbrauchten Perſon vorſätzlich herbeigeführt hat; x)

auch iſt kein Unterſchied gemacht worden, ob das Verbrechen an einer

verleumdeten oder unverleumdeten Perſon begangen worden. In der

Staatsraths-Kommiſſion wurde in letzterer Beziehung vorgeſchlagen, die

Strafe ganz auszuſchließen oder weſentlich herunterzuſetzen, wenn mit

einer liederlichen Perſon, die ſich in einem völlig trunkenen Zuſtande

befinde, der Beiſchlaf vollzogen werde. Die Kommiſſion ging aber nicht

darauf ein, indem ſie annahm, daß ſolche Fälle überhaupt wohl nicht

zur Anzeige und zu einer gerichtlichen Unterſuchung kommen würden,

und daß es jedenfalls nicht angemeſſen erſcheine, dieſelben ſpeziell im

Geſetze hervorzuheben. y)

C. Hat jemand mit Perſonen unter vierzehn Jahren unzüchtige

Handlungen vorgenommen, ſo trifft ihn ſchon um deswegen die Strafe

der Nothzucht, ohne daß die vorher unter Nr. 1. und 2. aufgeführten

Vorausſetzungen zum Thatbeſtande erforderlich ſind (§. 144. Nr. 3.).

Dieſe Vorſchrift iſt aus der Kabinets-Ordre vom 9. November 1815.

(G.-S. S. 207.) herübergenommen, welche beſtimmt: „daß jede an einer

ſolchen unerwachſenen Perſon verübte Brutalität dieſer Art für erzwun-

gen erachtet werden ſolle, auch wenn keine Gewalt gegen ſie ausgeübt

worden ſei.“ Nur iſt als das Unterſcheidungsjahr im Geſetzbuch nicht

das zwölfte, ſondern das vierzehnte Lebensjahr angenommen worden. z)

D. Verleitung einer Frauensperſon zum Beiſchlaf, indem dieſelbe

in den irrthümlichen Glauben verſetzt wird, derſelbe ſei ein ehelicher

(§. 145.). Durch die gegenwärtige Faſſung des Geſetzes ſind Mißver-

ſtändniſſe, welche ſich früher über deſſen Sinn zeigten, beſeitigt worden. a)

Die Strafe des Verbrechens iſt in ihrem höchſten Maaße erheblich nie-

driger, als die der Nothzucht.

x) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 133. Nr. 4.

Vgl. Entwurf von 1847. §. 176.

y) Verhandlungen von 1846. S. 128. 129.

z) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 128.

a) Der Entwurf von 1843. §. 387. hatte nämlich den Ausdruck gebraucht,

daß die Frauensperſon den Beiſchlaf irrthümlich für „erlaubt“ halten müßte, was die

Motive von 1850. §. 134. noch für die geſetzliche Bezeichnung zu nehmen ſcheinen.

[317/0327]

§. 146. Proſtitution. §§. 147-149. Kuppelei und Verführung.

§. 146.

Weibsperſonen, welche den polizeilichen Anordnungen zuwider gewerbsmäßig

Unzucht treiben, werden mit Gefängniß bis zu acht Wochen beſtraft.

Das Gericht kann zugleich verordnen, daß die Angeſchuldigte nach Beendi-

gung der Gefängnißſtrafe in ein Arbeitshaus gebracht werde.

Iſt die Angeſchuldigte eine Ausländerin, ſo kann neben der Gefängnißſtrafe

auf Landesverweiſung erkannt werden.

Die Dauer der Einſperrung in dem Arbeitshauſe iſt von der Landespolizei-

Behörde nach den Umſtänden zu ermeſſen; ſie darf aber den Zeitraum Eines

Jahres nicht überſteigen.

Die Einſperrung in einem Arbeitshauſe iſt hier ähnlich wie in

§. 120. normirt; nur braucht der Richter nicht nothwendig darauf zu

erkennen, was auch von der Landesverweiſung einer Ausländerin gilt,

und die Dauer der Einſperrung ſoll den Zeitraum Eines Jahres nicht

überſteigen.

§. 147.

Wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch ſeine Vermittelung, oder

durch Gewährung oder Verſchaffung von Gelegenheit, der Unzucht einer oder

mehrerer Perſonen des einen oder anderen Geſchlechts Vorſchub leiſtet, wird

wegen Kuppelei mit Gefängniß nicht unter ſechs Monaten, ſowie mit zeitiger

Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte und mit Stellung

unter Polizei-Aufſicht beſtraft.

§. 148.

Die Kuppelei iſt; ſelbſt wenn ſie nicht gewohnheitsmäßig oder nicht aus

Eigennutz betrieben wird, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren und Stellung

unter Polizei-Aufſicht zu beſtrafen:

1) wenn, um der Unzucht Vorſchub zu leiſten, hinterliſtige Kunſtgriffe an-

gewendet worden ſind;

2) wenn der Schuldige zu den Perſonen, mit welchen die Unzucht getrieben

worden iſt, in dem Verhältniſſe von Eltern zu Kindern, von Vormün-

dern zu Pflegebefohlenen, oder von Erziehern, Lehrern oder Geiſtlichen

zu den von ihnen zu erziehenden oder zu unterrichtenden Perſonen ſteht.

§. 149.

Wer ein unbeſcholtenes, in dem Alter von vierzehn bis ſechszehn Jahren

ſtehendes Mädchen zum Beiſchlaf verführt, iſt, auf den Antrag der Eltern

oder des Vormundes der Verletzten, mit Gefängniß von drei Monaten bis zu

Einem Jahre zu beſtrafen.

A. Da das einfache Stuprum nicht unter Strafe geſtellt worden

iſt, ſo konnte dieß auch bei der Kuppelei im Allgemeinen nicht geſche-

hen. Nur wenn dieſelbe ſich als Theilnahme an einem andern Delikt

[318/0328]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XII. Verbr. u. Verg. gegen d. Sittlichk.

darſtellt oder gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz betrieben wird, tritt

eine Strafe ein, welche für die letzteren Fälle in §. 147. normirt iſt.

Ob die Perſon, deren Unzucht Vorſchub geleiſtet worden, jugendlichen

Alters iſt oder nicht, b) iſt gegenwärtig für den Thatbeſtand des Ver-

gehens ohne Bedeutung und kommt nur bei der Strafzumeſſung in Be-

tracht. — In der Kommiſſion der erſten Kammer kam es zur Sprache,

daß nach der Wortfaſſung auch eine polizeilich geduldete Bordellwirth-

ſchaft unter die Strafbeſtimmung begriffen werden könnte. Weil jedoch

in §. 146. nur eine den polizeilichen Anordnungen zuwiderlaufende ge-

werbsmäßige Unzucht von Frauenzimmern mit Strafe bedroht ſei, ſo

werde ein gleiches bei einer derartigen Bordellwirthſchaft anzunehmen

ſein. c) Jedenfalls würde die Staatsanwaltſchaft bei ihren Strafanträ-

gen auf ſolche Umſtände Rückſicht nehmen.

Die ſo eben entwickelten Grundſätze über die Kuppelei werden aber

weſentlich modifizirt, wenn die in §. 148. bezeichnete qualifizirte Kup-

pelei vorliegt. Dann kommt es nicht darauf an, ob ſie gewohnheits-

mäßig oder aus Eigennutz betrieben worden, und die Strafe ſteigert ſich

bis auf fünf Jahre Zuchthaus. — Der Entwurf von 1847. §. 188.

hatte außer den in dem angeführten Paragraphen bezeichneten Fällen

auch noch den hervorgehoben, wenn bei der Kuppelei Gewalt angewandt

worden; doch iſt derſelbe ſpäter ausgeſchieden, weil in dieſer Hinſicht

die Vorſchriften des §. 144. oder der §§. 205. ff. in Verbindung mit

den allgemeinen Vorſchriften über die Theilnahme an Verbrechen aus-

reichen. d)

B. In §. 149. iſt der Fall unter Strafe geſtellt, wenn ein un-

beſcholtenes, in dem Alter von vierzehn bis ſechszehn Jahren ſtehendes

Mädchen zum Beiſchlaf verführt wird. Doch tritt die Beſtrafung hier

nur auf den Antrag der Eltern oder des Vormundes der Verletzten ein.

Für Kinder unter vierzehn Jahren iſt die Vorſchrift des §. 144. Nr. 3.

maaßgebend. — Was aber unter dem Ausdruck „verführen“ zu verſtehen,

iſt im Geſetzbuch nicht näher angegeben worden; man hat vielmehr die

Deutung deſſelben abſichtlich dem Richter überlaſſen, weil es dem Ge-

ſetzgeber nicht zukomme, ſolche Bezeichnungen aus dem Sprachgebrauche

des gemeinen Lebens zu erklären. e) Der Sinn des Wortes wird übri-

gens im Weſentlichen mit dem von „verleiten“ zuſammen treffen.

b) Vgl. A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 996. — Code pénal. Art. 334.

c) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 147.

d) Motive zum Entwurf von 1850. §. 135-37.

e) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 256.

[319/0329]

§§. 150. 151. Oeffentliche Verletzung der Schamhaftigkeit.

§. 150.

Wer durch eine Verletzung der Schamhaftigkeit ein öffentliches Aergerniß

giebt, wird mit Gefängniß von drei Monaten bis zu drei Jahren beſtraft.

Auch kann zugleich auf zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen

Ehrenrechte erkannt werden.

§. 151.

Wer unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darſtellungen verkauft, ver-

theilt oder ſonſt verbreitet, oder an Orten, welche dem Publikum zugänglich

ſind, ausſtellt oder anſchlägt, wird mit Geldbuße von zehn bis zu Einhundert

Thalern oder mit Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu ſechs Monaten

beſtraft.

In dem Strafurtheile iſt zugleich auf Konfiskation der ausgeſtellten und

der zum Verkauf oder zur Verbreitung vorräthigen Schriften, Abbildungen

oder Darſtellungen zu erkennen.

Außer den hier bezeichneten Fällen der Verletzung der Schamhaftig-

keit hatte der Entwurf von 1847. §. 184. grobe Angriffe auf die

Schamhaftigkeit mit Strafe bedroht. Die Beſtimmung fehlt in dem

Geſetzbuch; der Fall wird entweder unter den §. 150. zu ſubſumiren

oder als eine körperliche Mißhandlung oder eine Verletzung der Ehre

aufzufaſſen zu ſein; auch kann er unter Umſtänden nach §. 340. Nr. 9.

als grober Unfug beſtraft werden.

A. Bei der Feſtſtellung des in §. 150. vorgeſehenen Delikts

kommt es namentlich darauf an zu beſtimmen, was unter den Worten

„ein öffentliches Aergerniß geben“ zu verſtehen iſt. Der Entwurf von

1847. §. 185. hatte dafür den Ausdruck: „Wer ſich öffentlich einer

„groben“ Verletzung der Schamhaftigkeit ſchuldig macht“, der Entwurf

von 1850. §. 139. aber nur die Bezeichnung: „Wer öffentlich eine Ver-

letzung der Schamhaftigkeit begeht“. Dieß ſchien aber der Kommiſſion der

zweiten Kammer doch zu allgemein gehalten, und ſie wählte daher die

jetzige Faſſung des Paragraphen, um das Strafbare in der Handlung

nach dem Eindruck, den ſie bei anſtändigen Leuten, die nicht unmittel-

bar dabei betheiligt ſind, hervorruft, — genauer zu charakteriſiren. Es

iſt eine ähnliche Handlungsweiſe hier gemeint, wie die, welche der Code

pénal (Art. 330.) als outrage public à la pudeur unter Strafe ſtellt,

und die in einem Urtheile des Pariſer Kaſſationshofs treffend als eine

ſolche bezeichnet wird, welche die guten Sitten verletzt und durch ihre

Frechheit und Oeffentlichkeit Anlaß zu einem öffentlichen Skandale giebt.

f)

f) Cass. 26. Mars 1813. (Dalloz. 3, 93. Sirey. 13, 256.) —

que les outrages à la pudeur, prévus et punis par l'art. 330., sont ceux

qui, n'ayant pas été accompagnés de violence ou de contrainte, n'ont

pu blesser la pudeur de la personne sur laquelle des actes déshonnê-

[320/0330]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIII. Verletzungen der Ehre.

B. Die Vorſchrift des §. 151. Abſ. 1. iſt der Verordnung vom

30. Juni 1849. §. 24. über die Preſſe entlehnt, indem nur in der

Kommiſſion der zweiten Kammer ſtatt der Worte „Druckſchriften, welche

die Sittlichkeit verletzen“, der bezeichnendere Ausdruck gewählt wurde

„unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darſtellungen“. — Die

Faſſung „an Orten, welche dem Publikum zugänglich ſind, ausſtellt

oder anſchlägt“, beruht auf der Erinnerung der vorberathenden Abthei-

lung des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes, welche die Bezeichnung der

Handlung als einer öffentlichen zu unbeſtimmt fand. Dem faſt ein-

ſtimmigen Beſchluß des Ausſchuſſes aber, die Strafbeſtimmung unter

die Polizei-Uebertretungen zu ſtellen, iſt ſpäter keine Folge gegeben wor-

den. g) — Statt der Vernichtung der vorgefundenen Exemplare, welche

der Entwurf von 1847. §. 186. vorſchrieb, iſt im Abſ. 2. nur die

Konfiskation der ausgeſtellten oder zum Verkauf oder zur Verbreitung

vorräthigen Exemplare angeordnet worden. h)

Dreizehnter Titel.

Verletzungen der Ehre.

§. 152.

Wer einen Anderen öffentlich oder ſchriftlich beleidigt, wird mit Geldbuße

bis zu dreihundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu ſechs Monaten beſtraft.

Eine öffentliche Beleidigung iſt vorhanden, wenn die Beleidigung an einem

öffentlichen Orte, oder in einer öffentlichen Zuſammenkunft, oder wenn ſie

durch Schriften, Abbildungen oder Darſtellungen geſchieht, welche verkauft,

vertheilt oder umhergetragen, oder an Orten, welche dem Publikum zugänglich

ſind, ausgeſtellt oder angeſchlagen werden.

§. 153.

Wenn Beleidigungen auf der Stelle erwiedert werden, ſo ſoll der Richter

ermächtigt ſein, für beide Beleidiger oder für einen derſelben eine, der Art

oder dem Maaße nach, mildere Strafe oder gar keine Strafe eintreten zu laſſen.

f)

g) Verhandlungen. I. S. 277. III. S. 487. 488.

h) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 140. (151.).

f) tes peuvent avoir été exercés, qui n'ont ainsi pu offenser que les

bonnes moeurs, mais qui, par leur licence et leur publicité, ont

dû être l'occasion d'un scandale public pour l'honnê teté et la

pudeur de ceux qui, fortuitement, ont pu en être les témoins.

cf. Chauveau l. c. chap. XLIX. p. 38.

[321/0331]

§§. 152-155. Beleidigung.

§. 154.

Tadelnde Urtheile über wiſſenſchaftliche, künſtleriſche oder gewerbliche Lei-

ſtungen, ingleichen Aeußerungen, welche zur Ausführung oder Vertheidigung

von Gerechtſamen gemacht worden ſind, ſowie Vorhaltungen und Rügen der

Vorgeſetzten gegen ihre Untergebenen, dienſtliche Anzeigen oder Urtheile von

Seiten eines Beamten und ähnliche Fälle ſind nur inſofern ſtrafbar, als aus

der Form der Aeußerung oder aus den Umſtänden, unter welchen dieſelbe er-

folgt, die Abſicht zu beleidigen hervorgeht.

§. 155.

Medizinalperſonen und deren Gehülfen, ſowie alle Perſonen, welche unbe-

fugterweiſe Privatgeheimniſſe offenbaren, die ihnen kraft ihres Amtes, Stan-

des oder Gewerbes anvertraut ſind, werden mit Geldbuße bis zu fünfhundert

Thalern oder mit Gefängniß bis zu drei Monaten beſtraft.

Wenn irgend ein Theil des Preußiſchen Strafrechts einer Reform

durch die Geſetzgebung dringend bedurfte, ſo war es derjenige, welcher

die Ehrverletzungen betrifft. Die ausführlichen Beſtimmungen des All-

gemeinen Landrechts (II. 20. §. 538-66.) befriedigten ſo wenig die

Anforderungen der Praxis, daß bald nach dem Erſcheinen des Geſetz-

buchs eine Umarbeitung derſelben für nothwendig erachtet wurde, und

auch ſpäter noch die Geſetzgebung wichtige Abänderungen vornahm, i)

welche aber die Nothwendigkeit einer weiteren gründlicheren Reform nicht

ausſchloſſen. So konnte es geſchehen, daß im Staatsrathe nach Been-

digung der Berathung dieſes Titels der Antrag geſtellt wurde, denſelben

ſogleich als ein beſonderes Geſetz zu verkünden, und daß man nur

darum nicht auf dieſen Antrag einging, weil die Vollendung des neuen

Strafgeſetzbuchs nahe bevorzuſtehen ſchien. k)

Der dreizehnte Titel handelt nun zunächſt von der Beleidigung und

läßt dann die Verleumdung folgen. Jene bildet daher den nächſten

Gegenſtand der Erörterung. Dabei iſt aber zuvörderſt zu bemerken,

daß ſchon in Folge eines Beſchluſſes, welchen der vereinigte ſtändiſche

Ausſchuß auf Antrag der Staatsregierung faßte, l) die einfache Belei-

digung aus der Reihe der Vergehen ausgeſchieden und unter die Ue-

bertretungen geſtellt worden iſt (§. 343.). Eine andere ſehr weſentliche

Abweichung von dem früheren Rechte beſteht darin, daß der Begriff der

i) Cirkular-Verordnung vom 30. Dez. 1798. Abſchn. IV. (N. C. C.

T. X. S. 1851.). — K.-O. vom 1. Febr. 1811. (G.-S. S. 149.) — An-

hang zur A. G. D. §. 232. Vgl. Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 5.

k) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 27. März 1841. Vgl.

Geſetz vom 11. März 1850. (G.-S. S. 174-76.)

l) Verhandlungen. III. S. 542. — IV. S. 722-26.

[322/0332]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIII. Verletzungen der Ehre.

Realinjurien aufgegeben worden iſt, und die Thätlichkeiten, welche frü-

her als Beleidigungen geahndet wurden, gegenwärtig zu den Körper-

verletzungen und Mißhandlungen (Tit. XVI.) gezählt werden.

Die Frage, ob man in dieſer Beziehung dem Rheiniſchen Rechte

folgen oder dem auch im Allgemeinen Landrecht anerkannten Syſteme

des gemeinen Deutſchen Strafrechts treu bleiben ſolle, iſt in verſchiede-

nen Stadien der Reviſion ausführlich erörtert worden. Im Allgemeinen

war man darin einverſtanden, daß die leichten Körperverletzungen, was

den Privatſtrafantrag und die Kompenſation betrifft, ähnlich wie die

Beleidigungen zu behandeln ſeien, und daß es ſich bei der Frage, ob

ſie denſelben nicht mehr formell beigezählt werden ſollten, mehr um die

ſyſtematiſche Anordnung als um eine Aenderung des materiellen Rech-

tes handle. Gegen die Anerkennung der Realinjurien und für ihre

Unterordnung unter den Begriff der Körperverletzungen wurde beſonders

angeführt, daß das Weſentliche des Vergehens in dem Angriffe auf

die Perſon liege; ein ſolcher könne nun aus verſchiedenen Motiven un-

ternommen werden, welche nicht ſogleich erkennbar ſeien, ſondern erſt

im Verlaufe der Unterſuchung ſich näher herausſtellten. Den That-

beſtand des Vergehens bilde der Angriff auf die Perſon; die Abſicht

der Ehrenkränkung erſcheine nur als ein Moment für die Strafzumeſ-

ſung. Stelle man dieſelbe Handlung bald als Körperverletzung, bald

als Beleidigung dar, ſo nehme das Vergehen eine zwitterartige Natur

an, welche die richtige Auffaſſung verdunkle. Der Richter werde oft

zweifelhaft ſein, welches Moment denn das überwiegende ſei und den

Thatbeſtand des Vergehens beſtimme. Scheide man dagegen die Real-

injurien ganz aus, ſo werde Alles einfach und klar. Dieſelben ſeien

auch erſt durch das Römiſche Recht bei uns eingeführt worden; das

ältere Deutſche Recht habe ſie nicht gekannt.

Von der andern Seite wurde erwiedert, der Charakter eines Ver-

brechens müſſe allerdings nach deſſen objektiver Beſchaffenheit beſtimmt

werden; dieſe werde aber durch das verletzte Recht bedingt, und das ſei

hier die Ehre. Thätlichkeiten könnten, als Angriff auf die Perſon be-

trachtet, von gar keiner Bedeutung ſein, als Injurie aber ein ſchweres

Vergehen darſtellen. Daß eine Thätlichkeit hauptſächlich als Ehrver-

letzung zu betrachten ſei, könne zwar nicht immer ſogleich erkannt wer-

den; aber das ſei nicht entſcheidend: in der Verſetzung eines Schlages

könne ja der Verſuch des Mordes liegen. Die Auffaſſung des Fran-

zöſiſchen Strafgeſetzbuchs habe allerdings den Vortheil einer größeren

Einfachheit; dem bloß formellen Vortheile würde aber das Materielle

der Sache zum Opfer gebracht. Auch ſei dieſe Auffaſſung den Deut-

ſchen Anſichten fremd, während die Unterſcheidung der Verbal- und

[323/0333]

§§. 152-155. Beleidigung.

Realinjurien ins Volksleben übergegangen ſei, und ſich in allen neueren

Geſetzbüchern Deutſchlands finde. m)

Dieſe letztere Anſicht blieb längere Zeit die überwiegende. Die

ſchweren Realinjurien des Landrechts wurden freilich gleich im Anfang

der Reviſion zu den Körperverletzungen geſtellt, n) und auch die Auf-

faſſung, daß bei der durch Thätlichkeiten verübten Ehrverletzung eine

ideale Konkurrenz anzunehmen ſei, wurde wieder aufgegeben; o) aber der

Begriff der Realinjurien wurde doch beibehalten, und der Vorſchlag des

Miniſteriums für die Geſetz-Reviſion, ſich in dieſer Hinſicht dem Sy-

ſteme des Code pénal anzuſchließen, fand keinen Anklang. p) Erſt der

Entwurf von 1850. hat dieſe Aenderung herbeigeführt, welche in den

Kommiſſionen beider Kammern gebilligt worden iſt. q) Beſſer hätte man

es wohl bei der Faſſung des Entwurfs von 1847. bewenden laſſen;

was auch das ältere Deutſche Recht davon gehalten haben mag, der

gegenwärtigen Anſchauungsweiſe entſpricht es nicht, eine Maulſchelle

oder ähnliche leichte Thätlichkeiten als Körperverletzungen oder Miß-

handlungen aufzufaſſen, und die Uebereinſtimmung mit ſämmtlichen

neueren Deutſchen Strafgeſetzbüchern r) wäre doch auch für einen Gewinn

zu achten geweſen. Wie überhaupt in neuerer Zeit bei den Ehrver-

letzungen, hat man auch in dieſem Fall auf die Abſicht bei der Hand-

lung ein zu geringes Gewicht gelegt.

I. Der Umſtand, daß die einfache Beleidigung zu den Uebertre-

tungen geſtellt iſt, entbindet nicht von der Verpflichtung, ſchon hier auf

eine allgemeine Erörterung über den Begriff der Ehrverletzung und na-

mentlich der Beleidigung einzugehen. Daß es ſich nun, wenn die

Verletzung der Ehre den Gegenſtand beſtimmter Delikte bildet, nicht um

die bürgerliche Ehre handelt, deren Weſen aus den Beſtimmungen des

§. 12. deutlich hervorgeht, liegt auf der Hand. Die bürgerliche Ehre,

m) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 207-209. 214. 215. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom

24. März 1841. — Reviſion von 1845. II. S. 93-95.

n) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 51-56. — Entwurf von

1830. §. 196.

o) Entwurf von 1843. §. 268. — Entwurf von 1847. §. 195.

p) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 90.

q) Motive zu dem Entwurf von 1850. §. 141. 142. — Bericht der

Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 141. 142. — Bericht der Kom-

miſſion der erſten Kammer zum 13. Titel.

r) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 198. — Würtemberg. Straf-

geſetzb. Art. 284. Nr. 4. — Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 264. — Braun-

ſchweig. Criminalgeſetzb. §. 198. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 308. 312.

— Badiſch. Strafgeſetzb. §. 291. 293. 301. 320. — Thüring. Straf-

geſetzb. Art. 189. — Ueber das ältere Deutſche Recht vgl. Wilda, Strafrecht der

Germanen. S. 775-84.

[324/0334]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIII. Verletzungen der Ehre.

deren Verluſt oder zeitige Aberkennung die Wirkung einer ſchweren

Kriminalſtrafe hat, beſteht aus einem Inbegriff beſtimmter, vom Staate

gewährleiſteter Rechte; die Ehre als Gegenſtand ſtrafbarer Verletzung

durch Andere iſt das Reſultat des guten Namens, und wird gegen

widerrechtliche Kränkungen durch Strafvorſchriften geſchützt. s) Die un-

mittelbare Verletzung dieſer Ehre durch Wort oder Zeichen iſt die Be-

leidigung; die mittelbare durch Behauptung oder Verbreitung unwahrer

Thatſachen die Verleumdung.

II. Die Beleidigung ſtellt ſich nur als ein Vergehen dar, wenn

ſie öffentlich oder ſchriftlich zugefügt worden iſt. Der Begriff der öffent-

lichen Beleidigung iſt hier (§. 152. Abſ. 2.) genau beſtimmt; es wird

im Allgemeinen eine ſolche darunter verſtanden, welche durch den Ort

der Handlung oder die Art der Aeußerung zu einer größeren Verbrei-

tung gelangt; namentlich ſind hier alſo die Beleidigungen durch die

Preſſe gemeint, t) wobei die eigentliche Schmähſchrift oder das Pasquill

im Geſetzbuch nicht beſonders hervorgehoben worden iſt. u) — Aber auch

die ſchriftlich zugefügten Beleidigungen ſollen den öffentlichen gleich

geachtet werden, — eine Beſtimmung, welche in der Kommiſſion der

zweiten Kammer angefochten, aber damit vertheidigt ward, daß bei jenen

ſtets eine gewiſſe Ueberlegung angenommen werden müſſe, und daß ſie

faſt nur in den für Ehrverletzungen empfänglicheren gebildeteren Klaſſen

vorkommen. v)

III. Bei der Reviſion des Strafrechts iſt es wiederholt zur Sprache

gekommen, ob eine Definition der Beleidigung aufgeſtellt, und ob na-

mentlich die Abſicht der Beleidigung, der animus injuriandi, als weſent-

licher Theil des Thatbeſtandes angegeben werden ſolle. Die älteren

Entwürfe enthalten noch ſolche Beſtimmungen; w) ſpäter iſt man in

richtiger Erkenntniß von der Aufgabe der Geſetzgebung davon zurück-

gekommen, und hat die Entſcheidung der Frage, ob eine ſtrafbare Be-

leidigung anzunehmen ſei, für den einzelnen Fall dem richterlichen

Ermeſſen überlaſſen. x) Wenn dabei einerſeits das Mißverſtändniß zu

vermeiden iſt, als ob es ſich bei der Beleidigung von einer ganz beſon-

s) Vgl. oben S. 103. ff.

t) Die Vorſchriften des Code pénal (Art. 367-77.) ſind daher auch durch

die ſpäteren Geſetze über die Preſſe vom 17. Mai 1819. und 25. März 1822. we-

ſentlich verändert worden.

u) Vgl. A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 572-75. — Sächſ. Criminal-

geſetzb. Art. 200. — Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 198. — Thü-

ringiſches Strafgeſetzbuch. Art. 191.

v) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O.

w) Entwurf von 1830. §. 180. — Entwurf von 1836. §. 317-19.

x) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 88. 89.

[325/0335]

§§. 152-155. Beleidigung.

deren Art des ſtrafrechtlichen Dolus handle, welcher dem Thäter ſpeziell

nachgewieſen werden müſſe, oder wohl gar, außer beſtimmten Fällen

der geſetzlichen Präſumtion, von der Erklärung des Thäters über ſeine

Abſicht bedingt ſei; ſo muß man ſich doch auch hüten, das Weſen des

Dolus ausſchließlich in der vorſätzlichen Verübung der Handlung zu

finden, ohne Rückſicht auf den Sinn derſelben und die Abſicht, welche

damit verbunden war. Die Motive zum Entwurf von 1850. äußern

ſich hierüber in folgender Weiſe:

„Bei allen dieſen Beleidigungen wird zum Thatbeſtande nicht, wie

in der älteren Jurisprudenz, den älteren Geſetzgebungen und namentlich

dem Allgemeinen Landrecht, der ſpezielle animus injuriandi gefordert.

Der Entwurf verlangt vielmehr, wie bei jedem anderen Verbrechen, ſo

auch bei dem Vergehen der Ehrverletzung nur zweierlei: in ſubjektiver

Beziehung den Vorſatz im Allgemeinen, das Bewußtſein der That; in

objektiver Beziehung die Verletzung des Rechts eines Anderen, des Rechts

auf Ehre. Sind dieſe beiden Momente vorhanden, ſo liegt das Ver-

gehen der Ehrverletzung vor.“

Jener ſpezielle animus injuriandi iſt nun in der Deutſchen Juris-

prudenz doch ſchon durch A. D. Weber wiſſenſchaftlich beſeitigt wor-

den; y) aber das Weſen des Dolus in der Verſchiedenheit der verbre-

cheriſchen Erſcheinungen iſt nicht erſchöpft, wenn man ihn bloß als den

Vorſatz bei der Verübung der äußeren Handlung auffaßt. Gerade bei

den Delikten, welche ihrer Natur nach nicht aus Verſehen begangen

werden können, kommt es vor Allem auch auf die Abſicht an, in

welcher die Handlung vorgenommen worden iſt, z) und daß die Belei-

digungen zu dieſen Delikten gehören, wird von keiner Seite bezweifelt.

Ob aber die Abſicht zu beleidigen in dem gegebenen Fall anzunehmen

iſt, das hat der erkennende Richter nach den vorliegenden Umſtänden zu

ermeſſen, und die Erklärung des Angeſchuldigten iſt nur Eins der in

Betracht kommenden Momente, deſſen Bedeutung wieder nach der Art

der gebrauchten Ausdrücke, den Verhältniſſen der Betheiligten u. ſ. w.

zu beſtimmen iſt; ſ. Geſetz vom 11. März 1850. §. 6. (G.-S. S. 175.).

Daß der Gebrauch gewiſſer, formell beleidigender Worte, Schimpf-

reden u. ſ. w. auf den animus injuriandi mit Sicherheit ſchließen läßt,

beweiſt nichts gegen die Richtigkeit dieſer Auffaſſung im Allgemeinen.

IV. Gegen dieſe Auffaſſung läßt ſich auch nicht der Inhalt des

§. 154. anführen. In demſelben ſind nämlich gewiſſe Fälle hervor-

gehoben, für welche die allgemeinen Rückſichten, welche jeder Einzelne

y) Ueber Injurien und Schmähſchriften. I. S. 44. ff.

z) S. oben. S. 45.

[326/0336]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIII. Verletzungen der Ehre.

in Anerkennung ſeiner perſönlichen Ehre verlangen kann, eine Beſchrän-

kung erleiden. Dieſe hier erwähnten beſonderen Verhältniſſe, welche nur

beiſpielsweiſe angeführt ſind, wie der in der Kommiſſion der zweiten

Kammer beliebte Zuſatz: „und ähnliche Fälle“ darthut, ſind nicht von

der Beſchaffenheit, daß ſie eine wahre Ehrverletzung in irgend einer

Weiſe rechtfertigten und ſtraflos machten; aber ſie können Aeußerungen,

die unter anderen Umſtänden als Beleidigungen erſcheinen würden, den

Charakter des unbefangenen Urtheils oder der wohl befugten Zurecht-

weiſung ertheilen, und für die Entſcheidung der Frage, ob eine Ehrver-

letzung vorliegt oder nicht, ſind ſie daher von Bedeutung und wohl zu

berückſichtigen. Hat aber der Angeſchuldigte die von der Sitte und dem

Geſetz gezogenen Schranken ſeiner Befugniſſe nicht geachtet, iſt die wiſ-

ſenſchaftliche, künſtleriſche oder gewerbliche Leiſtung einer gehäſſigen, die

Perſönlichkeit formell verletzenden Kritik unterzogen worden, die Vorhal-

tung gegen den Untergebenen, das amtliche Urtheil in beſchimpfenden

Ausdrücken geſchehen u. ſ. w., — dann macht ſich auch das Recht des

Verletzten auf Ehre wieder geltend, und iſt von dem Richter in dem

Strafurtheile zur Anerkennung zu bringen. Wenn es daher am Schluß

des §. 154. heißt, tadelnde Urtheile u. ſ. w. ſeien in ſolchen Fällen

nur inſofern ſtrafbar, als aus der Form der Aeußerung oder aus den

Umſtänden, unter welchen dieſelben erfolgt, die Abſicht zu beleidigen

hervorgehe; — ſo ſoll damit nicht geſagt ſein, daß es in anderen Fällen

nicht auch auf dieſe Abſicht ankomme, ſondern nur, daß jene beſonderen

Verhältniſſe bei der Erwägung des einzelnen Falles gehörig berückſich-

tigt werden müſſen. Die ganze Vorſchrift hätte daher, da ſie aus

allgemeinen Rechtsgrundſätzen ſchon von ſelbſt folgt, in dem Geſetzbuch

fehlen können; aber, wie der Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer

ſich ausdrückt, ſie hat den Werth eines praktiſchen Fingerzeigs und iſt

in ſich begründet. a)

V. Die Strafe der öffentlichen oder ſchriftlichen Beleidigung iſt

Geldbuße bis zu dreihundert Thalern oder Gefängniß bis zu ſechs Mo-

naten (§. 152.). Da kein Minimum aufgeſtellt iſt und Fälle ſchwerer

Verſchuldung vorkommen können, ſo iſt gegen das Strafmaaß, welches

ſich ſchon in dem Geſetz vom 11. März 1850. §. 2. (G.-S. S. 174.)

findet, nichts zu erinnern. Eine andere Frage freilich iſt es, ob denn

nicht auch bei der Beſtrafung der Injurien die privatrechtliche Natur

des Delikts, welche ſich in den Vorſchriften über die Strafanträge noch

a) Der Entwurf von 1850. hatte am Schluß des §. 143. (154.) die Worte

„eine Ehrenkränkung zu entnehmen iſt.“ Die Umänderung derſelben, welche die Kom-

miſſion der zweiten Kammer vornahm („die Abſicht zu beleidigen hervorgeht“), iſt ei-

gentlich nur eine Faſſungsſache.

[327/0337]

§§. 152-155. Beleidigung.

anerkannt findet, ſich hätte geltend machen ſollen. Die ſ. g. Deutſch-

rechtlichen Privatſtrafen (Abbitte, Widerruf, Ehrenerklärung) werden

freilich wohl kaum noch unter denjenigen Vertheidiger finden, welche den

Immediat-Bericht geleſen haben, den der Juſtizminiſter von Kircheiſen

gemeinſchaftlich mit dem Fürſten Hardenberg zur Motivirung der

Kabinetsordre vom 1. Febr. 1811. erſtattet hat, und welcher in ein-

ſchneidender Weiſe das Unzweckmäßige dieſer Strafmittel darthut. b) Aber

vielleicht war es ein zu weit getriebenes Zartgefühl der Geſetzgebung,

die Privatgenugthuung, welche als Gegenſtand der actio injuriarum

aestimatoria in einer Geldbuße an den Verletzten beſtand, ganz aufzu-

heben. Wenn es auch nicht für ſchicklich gehalten werden ſollte, ſich

mit Geld eine Ehrenkränkung bezahlen zu laſſen, ſo muß es doch dem

Verletzten mehr Genugthuung gewähren, eine ihm zugeſprochene Buße

zu wohlthätigen Zwecken frei verwenden zu können, als ſie dem Fiskus

zufallen, oder gar wider ſeine Abſicht den Angeſchuldigten ins Gefängniß

geſchickt zu ſehen. Eine ſolche Berückſichtigung individueller Beziehungen

ſollte hier, auf einem dem Strafrecht und dem Civilrecht gemeinſchaft-

lichen Gebiete, nicht ganz unbeachtet bleiben. — Freilich iſt für gewiſſe

Kreiſe die unvermeidliche Ergänzung der Injurienſtrafen das Duell, und

für andere Fälle, die mehr dem öffentlichen Leben angehören, fängt doch

auch in Deutſchland eine geſundere Anſchauung an ſich Bahn zu

brechen, welche nach der derberen Art freier Völker der öffentlichen Be-

leidigung, wenn ſie den Privatcharakter nicht antaſtet, das ſichere

Bewußtſein eines erprobten Namens entgegenſtellt.

VI. Beſondere Beſtimmungen pflegen für den Fall vorgeſchrieben

zu ſein, wenn eine Beleidigung auf der Stelle erwiedert wird. Der

Code pénal läßt nur, im Fall keine Provokation erfolgt iſt, eine Strafe

eintreten, beſchränkt dieſe Vorſchrift aber auf die einfachen Injurien; c)

andere Geſetzgebungen ſchreiben entweder eine Kompenſation vor, d) oder

betrachten die vorhergegangene Provokation nur als einen Milderungs-

grund. e) Die Faſſung des §. 153. entſpricht dem allgemeinen Princip

des Strafgeſetzbuchs, bei Fragen, deren Entſcheidung nur nach freier

Erwägung aller in Betracht kommenden beſonderen Umſtände in gerechter

Weiſe erfolgen kann, dem richterlichen Ermeſſen den weiteſten Spielraum

zu gewähren.

b) Der Bericht iſt abgedruckt in den Motiven zum erſten Entwurf. III. 2. S. 7. 8.

— Von den neueren Deutſchen Strafgeſetzbüchern hat nur das Hannoverſche, Art. 266.

noch die ſ. g. Deutſchrechtlichen Ehrenſtrafen.

c) Code pénal. Art. 471. Nr. 11.

d) Württemb. Strafgeſetzb. Art. 293. — Hannov. Criminalgeſetzb.

Art. 268. — Bad. Strafgeſetzb. §. 312.

e) Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 200.

[328/0338]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIII. Verletzungen der Ehre.

VII. Die Vorſchrift des §. 155. gegen ſolche Perſonen, welche

unbefugterweiſe Privatgeheimniſſe offenbaren, die ihnen kraft ihres Amtes,

Standes oder Gewerbes anvertraut ſind, wird in ihrer jetzigen Faſſung

zu Bedenken kaum noch Anlaß geben. f) Der Gegenſtand gehört ſtreng

genommen freilich nicht hierher, aber er ſchließt ſich doch den Beſtim-

mungen über die Beleidigung nicht unbequem an wie dieß auch im

Code pénal (Art. 348.) geſchehen iſt. Während aber dort Gefängniß

und Geldbuße cumulativ angedroht ſind, ſollen ſie nach dem Straf-

geſetzbuch nur alternativ erkannt werden. Ueberhaupt aber iſt durch das

Wort „unbefugterweiſe“ der Thatbeſtand des Vergehens ſehr unbeſtimmt

geworden, g) und auch hier in der Erwägung der Umſtände dem richter-

lichen Ermeſſen ſehr viel überlaſſen.

§. 156.

Wer in Beziehung auf einen Anderen unwahre Thatſachen behauptet oder

verbreitet, welche denſelben in der öffentlichen Meinung dem Haſſe oder der

Verachtung ausſetzen, macht ſich der Verleumdung ſchuldig und wird mit Ge-

fängniß von Einer Woche bis zu Einem Jahre beſtraft.

Iſt die Verleumdung öffentlich begangen, ſo iſt die Strafe Gefängniß von

vierzehn Tagen bis zu achtzehn Monaten. Eine öffentliche Verleumdung iſt

vorhanden, wenn die Verleumdung an einem öffentlichen Orte oder in einer

öffentlichen Zuſammenkunft, oder wenn ſie durch Schriften, Abbildungen oder

Darſtellungen geſchieht, welche verkauft, vertheilt oder umhergetragen, oder

an Orten, welche dem Publikum zugänglich ſind, ausgeſtellt oder angeſchlagen

werden.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo kann in allen

Fällen die Strafe auf Geldbuße von fünf bis zu dreihundert Thalern be-

ſtimmt werden.

§. 157.

Der Beweis der Wahrheit der behaupteten oder verbreiteten Thatſachen kann

durch alle im Strafverfahren zuläſſige Beweismittel geführt werden.

Der Zeugenbeweis iſt jedoch nur dann zuläſſig, wenn ſich der Angeſchul-

digte zum Beweiſe beſtimmter Thatſachen erboten und das Gericht durch vor-

gängigen beſonderen Beſchluß befunden hat, daß der Beweis dieſer Thatſachen,

im Falle er erbracht werden ſollte, die Strafbarkeit des Angeſchuldigten aus-

ſchließen oder mildern würde.

Unbedingt unzuläſſig iſt der Beweis der Wahrheit, wenn die dem Anderen

beigemeſſene Handlung mit Strafe bedroht und eine Freiſprechung durch ein

rechtskräftiges Erkenntniß erfolgt iſt.

f) Vgl. im Allgemeinen Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen

Ausſchuſſes. III. S. 543-53.

g) Der Code pénal. Art.378. ſagt ſehr beſtimmt: — hors le cas où

la loi les oblige à se porter dénonciateurs. —

[329/0339]

§§. 156-159. Verleumdung.

§. 158.

Der Beweis der Wahrheit der behaupteten oder verbreiteten Thatſachen

ſchließt das Vorhandenſein einer Beleidigung nicht aus, wenn aus der Form

der Behauptung oder Verbreitung, oder aus anderen Umſtänden, unter welchen

ſie geſchah, die Abſicht zu beleidigen hervorgeht.

§. 159.

Sind die behaupteten oder verbreiteten Thatſachen ſtrafbare Handlungen,

und iſt wegen derſelben bei der zuſtändigen Behörde Anzeige gemacht, ſo muß

bis zu dem Beſchluſſe, daß die Eröffnung der Unterſuchung nicht ſtattfinde,

oder bis zur Beendigung der eingeleiteten Unterſuchung mit dem Verfahren

und der Entſcheidung über die Verleumdung inne gehalten werden.

Wenn bei der Beleidigung daran feſtzuhalten war, daß dieſelbe

nicht ohne den auf die Ehrverletzung gerichteten Dolus anzunehmen ſei,

ſo iſt bei der Verleumdung ein anderes Princip maaßgebend geworden.

Zum Thatbeſtande dieſes Vergehens wird gefordert,

1) daß in Beziehung auf einen Anderen unwahre Thatſachen be-

hauptet oder verbreitet ſind,

2) daß derſelbe dadurch in der öffentlichen Meinung dem Haſſe oder

der Verachtung ausgeſetzt wird.

Darauf aber kommt es nicht an, ob der Thäter die Unwahrheit

der Thatſachen kannte, und ob er ſie in der Abſicht verbreitet hat, dem

guten Namen des Anderen dadurch zu ſchaden. Auch derjenige, welcher,

ſich auf einen unſicheren Gewährsmann verlaſſend, aus Leichtſinn und

Unbeſonnenheit verleumdet hat, iſt ſtrafbar, und nur bei der Straf-

zumeſſung wird auf den Grad ſeiner Verſchuldung Rückſicht zu nehmen

ſein. Die Zulaſſung mildernder Umſtände (§. 156. Abſ. 3.) bezieht ſich

namentlich auf ſolche Fälle der fahrläſſigen Verleumdung.

Dieſe Auffaſſung des Vergehens iſt jedoch nicht ohne Widerſpruch

geblieben. Im Staatsrathe machte ſich die Anſicht geltend, daß wie in

den meiſten anderen Deutſchen Geſetzgebungen zu unterſcheiden ſei zwi-

ſchen der abſichtlichen bewußten Verleumdung und der üblen Nachrede,

welche aus Fahrläſſigkeit unwahre Thatſachen zum Nachtheile eines

Anderen verbreitet. In dieſem letzteren Falle ſei die Strafe principiell

zu ermäßigen, ja unter Umſtänden werde ſie ſich gar nicht rechtfertigen

laſſen, namentlich wenn nur eine vertrauliche Mittheilung vorliege,

welche eine Verbreitung der betreffenden Thatſachen gar nicht bezweckt

habe. Obgleich nun darauf erwiedert wurde, daß es ſich hier nicht um

Mittheilungen handle, welche dem Betheiligten nur unangenehm, und

vielleicht nachtheilig ſein könnten, nicht um ſ. g. Klatſchereien, ſondern

Beſeler Kommentar. 22

[330/0340]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIII. Verletzungen der Ehre.

um gravirende Thatſachen, welche den Andern in der öffentlichen Mei-

nung dem Haſſe und der Verachtung ausſetzten, und die niemand ver-

breiten dürfe, der nicht auch die Wahrheit derſelben zu vertreten ver-

möge; ſo wurde doch die Frage:

„Soll es unter allen Umſtänden ſtrafbar ſein, wenn jemand

einem Anderen ein Verbrechen oder eine ſolche Handlung, durch

welche derſelbe ſich verächtlich machen würde, nachſagt, ohne

die Wahrheit hiervon beweiſen zu können?“

mit 30. gegen 13. verneint. h)

Im Sinne dieſes Beſchluſſes wurden in dem Entwurf von 1843.

die Verleumdung und die üble Nachrede getrennt behandelt, und in

Beziehung auf die letztere beſtimmt:

§. 261. „Iſt die Aeußerung gegen einen Dritten geſchehen, dem

an deren Mittheilung gelegen iſt, ſo tritt eine Beſtrafung nur in dem

Falle einer weiteren Verbreitung derſelben und nur gegen denjenigen

ein, durch deſſen Verſchulden die Verbreitung erfolgt iſt.“

Im weiteren Verlaufe der Reviſion verließ man aber dieſe Auf-

faſſung wieder, indem, mit Bezugnahme auf die dagegen erhobenen

Bedenken angenommen wurde, daß es theils eine doch nicht ausreichende

Kaſuiſtik mit ſich führen, theils gefährlichen Ausflüchten Raum eröffnen

würde, wenn der zweideutige Begriff vertraulicher Mittheilungen aufge-

nommen, oder alle Aeußerungen im Familienkreiſe oder gegen einen

Freund ausgeſchloſſen würden. Es ſei am Räthlichſten, hier dem rich-

tigen Takte des Richters zu vertrauen. i)

I. Der wegen der Verleumdung in Anſpruch Genommene kann

ſich vor Strafe ſchützen, wenn er den Beweis der Wahrheit der

von ihm behaupteten oder verbreiteten Thatſachen führt. Dieſer früher

oft unbillig beſchränkte Grundſatz iſt jetzt zur vollen Anerkennung ge-

langt, und in ſeiner Anwendung nur durch beſtimmte, in der Natur

der Verhältniſſe liegende Normen begrenzt worden.

a. Nur die im Strafverfahren zuläſſigen Beweismittel ſind zu-

läſſig (§. 157. Abſ. 1.). Es ſollte durch dieſe in der Kommiſſion der

zweiten Kammer angenommene Faſſung die Eidesdelation ausgeſchloſſen

werden, welche nach den Worten des Entwurfs von 1850. §. 146.

geſtattet ſchien, wenn dieß auch nicht in der Abſicht der Staatsregierung

gelegen hatte. k)

h) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 20. März 1841.

i) Reviſion von 1845. II. S. 88-91. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 91. — Entwurf von 1847. §. 189. —

Verordnung vom 30. Juni 1849. §. 25. (G.-S. S. 231.).

k) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 146. (157.).

[331/0341]

§§. 156-159. Verleumdung.

b. Der Zeugenbeweis iſt beſchränkt. Es läßt ſich nämlich nicht

in Abrede ſtellen, daß in einem Verleumdungsprozeſſe über den Zweck

der gewährten Einrede der Wahrheit hinaus Mißbrauch mit der Vor-

führung von Zeugen getrieben werden kann, indem ſie nicht benutzt

werden, um eine relevante Thatſache zu beweiſen, ſondern um Verlegen-

heiten und Aergerniß zu bereiten. In Frankreich iſt man durch dieſe

Erwägung veranlaßt worden, jedes andere Beweismittel, als Urtheile

und authentiſche Urkunden, auszuſchließen, l) — eine Beſchränkung der

Vertheidigung, welche nicht gebilligt werden kann, und in der ſpäteren

Franzöſiſchen Geſetzgebung auch nicht konſequent feſtgehalten worden iſt.

In England wird, wenn wegen einer Schmähſchrift (libel) ein Kri-

minalverfahren eingeleitet worden iſt, die Einrede der Wahrheit nur

dann geſtattet, wenn der Angeklagte nachweiſt, daß die Verbreitung im

öffentlichen Intereſſe (for the public benefit) geſchehen ſei. m) In

Nachahmung dieſer Beſtimmung hatte der Entwurf von 1850. §. 186.

die Vorſchrift aufgeſtellt, daß der Zeugenbeweis nicht zuläſſig ſein ſolle,

wenn nicht zugleich der Beweis beſtimmter Thatſachen erboten werde,

aus welchen hervorgeht, daß die Behauptung oder Verbreitung zur

Beförderung des öffentlichen Wohls oder zum Vortheile des Publikums

geſchehen iſt. — In der Kommiſſion der zweiten Kammer fand man

aber dieſe Vorſchrift willkührlich und unangemeſſen, und begnügte ſich,

die Zuläſſigkeit des Zeugenbeweiſes von der Erheblichkeit der zum Beweis

verſtellten Thatſachen, worüber ein beſonderer Beſchluß des Gerichts zu

befinden hat, abhängen zu laſſen (§. 157. Abſ. 2.). n)

c. Iſt die dem Anderen beigemeſſene Handlung mit Strafe bedroht

und eine definitive Freiſprechung erfolgt, ſo ſoll gegen das rechtskräftige

Urtheil der Beweis der Wahrheit überhaupt nicht zugelaſſen werden

(§. 157. Abſ. 3.).

d. Der Beweis der Wahrheit ſchließt, wenn er erbracht worden,

das Vorhandenſein der Verleumdung aus. Dagegen kann in der

Aeußerung, welche als Verleumdung nicht zu ahnden iſt, doch eine

Ehrenkränkung durch Beleidigung liegen, welche von der Wahrheit oder

Unwahrheit der betreffenden Thatſachen unabhängig iſt, wenn z. B.

jemand von einem Anderen, der geſtohlen hat, behauptet, er ſei ein

l) Code pénal. Art. 370. — Ne sera considerée comme preuve lé-

gale, que celle qui résultera d'un jugement, ou de tout autre acte

authentique.

m) Geſetz vom 24. Aug. 1843. Vgl. Kritiſche Zeitſchrift für Rechtswiſſen-

ſchaft und Geſetzgebung des Auslandes, herausgeg. von Mittermaier und R. von

Mohl XVI. 3. S. 481-84.

n) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O. — Bericht

der Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ.

22*

[332/0342]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIII. Verletzungen der Ehre.

niederträchtiger Dieb. Es wird hier beſonders auf die Form der Aeuße-

rung und auf die Unterbreitung von Motiven, welche nicht nothwendig

in der dem Andern nachgeſagten Handlung liegen, ankommen, um die

Abſicht der Beleidigung feſtzuſtellen (§. 158.).

II. Iſt der Verleumdungsprozeß in ſeinem Ausgange bedingt von

einem Kriminalverfahren über die behaupteten oder verbreiteten That-

ſachen, indem dieſe ſich als ſtrafbare Handlungen darſtellen, und iſt

wegen derſelben bei der zuſtändigen Behörde Anzeige gemacht worden,

ſo ſoll, bis es feſtſteht, daß eine Unterſuchung nicht eröffnet wird, oder

bis zur Beendigung der eingeleiteten Unterſuchung der Verleumdungs-

prozeß ſiſtirt werden (§. 159.).

III. Bei der Beſtrafung der Verleumdung (§. 156.), welche nach

den Vorſchriften der Verordnung vom 30. Juni 1849. über die Preſſe

§. 28. 29. 31. (G.-S. S. 232.) normirt iſt, wird die einfache und die

öffentliche Verleumdung unterſchieden, und die letztere wie die öffent-

liche Beleidigung (§. 152.) beſtraft. Doch kann auch bei dieſer im

Fall mildernder Umſtände eine Geldbuße eintreten. — Der im Entwurf

von 1850. §. 145. gemachte Zuſatz, daß in allen Fällen wegen Ver-

leumdung zugleich auf zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte

ſolle erkannt werden können, wurde in der Kommiſſion der zweiten

Kammer aus allgemeinen Gründen und mit Rückſicht auf die beſondere

Natur des Vergehens verworfen. o) Eine ähnliche Beſtimmung des

Entwurfs von 1843. §. 259. war ebenfalls auf den Vorſchlag des

Miniſteriums für die Geſetz-Reviſion wieder entfernt worden. p)

§. 160.

Die Beſtrafung einer Ehrverletzung erfolgt nur auf den Antrag des Be-

leidigten.

Im Falle der Privatklage kann der Antrag auf Beſtrafung bis zum An-

fange der Vollſtreckung des Erkenntniſſes zurückgenommen werden.

§. 161.

Iſt bei wechſelſeitigen Ehrverletzungen von einem Theile binnen drei Mo-

naten auf Beſtrafung angetragen worden, ſo kann der andere Theil auch nach

Ablauf jener Friſt bis zur Verhandlung der Sache auf Beſtrafung antragen.

§. 162.

Sind Ehefrauen oder unter väterlicher Gewalt ſtehende Kinder beleidigt

o) Kommiſſions bericht a. a. O.

p) Reviſionvon 1845. II. S. 92.

[333/0343]

§§. 160-162. Privatklage.

worden, ſo haben ſowohl die Beleidigten, als deren Ehemänner oder Väter

das Recht, auf Beſtrafung des Beleidigers anzutragen.

Die in dieſem Titel unter Strafe geſtellten Ehrverletzungen ſollen

nur auf den Antrag des Beleidigten beſtraft werden. Durch dieſe Vor-

ſchrift wird im Gegenſatz zu den Beleidigungen der Kammern u. ſ. w.

(§§. 102. 103.), ſo wie zu den leichten Körperverletzungen und Miß-

handlungen (§. 189.) der Charakter der Ehrverletzung als eines Privat-

delikts anerkannt, wenn derſelbe auch in anderen Beziehungen nicht

ſtreng durchgeführt worden iſt. Doch iſt ungeachtet der allgemein ge-

faßten Vorſchrift des §. 160. im Einführungsgeſetz vom 14. Apr. 1851.

Art. XVI. auch in den Fällen der §§. 152-56. ein Einſchreiten der

Staatsanwaltſchaft zugelaſſen, und nur wegen der einfachen Beleidigung

(§. 343.) unbedingt ausgeſchloſſen. Ein ſolches Einſchreiten von Amts

wegen wird aber nach dem Geſetz vom 11. März 1850. §. 5. (G.-S.

S. 174.) nur im Intereſſe der öffentlichen Ordnung ſtattfinden können.

I. Der Strafantrag des Verletzten iſt als eine Privatklage be-

zeichnet worden, welche nach dem angeführten Geſetz vom 11. März

1850. und dem gemeinen Deutſchen Recht im Wege des Civilprozeſſes

zu verfolgen iſt. Nach dem Rheiniſchen Recht, welches die Privat-

Injurienklage nicht kennt, wird der Anſpruch des Verletzten durch eine

Klage bei dem Strafrichter geltend zu machen ſein. Eine gleichmäßige

Normirung des Verfahrens in Injurienſachen iſt in der Strafprozeß-

ordnung zu erwarten. q)

II. Gegen die allgemeine Vorſchrift des §. 53. kann im Fall der

Privatklage wegen Ehrverletzung der Strafantrag bis zum Anfange der

Vollſtreckung des Erkenntniſſes zurückgenommen werden (§. 160. Abſ. 2.)

III. Ueber die Friſt, welche für den Strafantrag gegeben iſt, ent-

ſcheidet die Vorſchrift des §. 50. Doch kann, analog der Beſtimmung

des §. 51., bei wechſelſeitigen Ehrverletzungen der Theil, welcher den

Strafantrag verſäumt hat, denſelben bis zur Verhandlung der Sache

nachholen, wenn der andere Theil binnen drei Monaten darauf ange-

tragen hat (§. 161.).

IV. Der Hausvater und der Ehemann ſind befugt, wegen einer

Ehrverletzung, welche einem noch in der Gewalt ſtehenden Kinde oder

der Ehefrau zugefügt worden, ſelbſtändig auf Beſtrafung des Beleidigers

anzutragen. Es liegt in einem ſolchen Fall eine ſ. g. mittelbare Be-

leidigung vor, welche von dem Vater oder Ehegatten kraft eigenen

q) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 157. Vgl. oben.

S. 206. 207.

[334/0344]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIII. Verletzungen der Ehre.

Rechtes, und nicht bloß in Vertretung der Kinder oder der Ehefrau

gerügt werden kann. r) Der Entwurf von 1843., welcher den Sinn

dieſer Beſtimmung nicht deutlich ausgedrückt hatte, enthielt aber noch

eine andere, dem Allgemeinen Landrecht s) nachgebildete Vorſchrift, indem

er verfügte:

§. 282. „Bei Verleumdungen oder Ehrenkränkungen ganzer Stände,

Korporationen, Geſellſchaften oder Familien iſt jedes Mitglied derſelben,

und bei verleumderiſchen oder ehrenkränkenden Aeußerungen über Ver-

ſtorbene ſind deren Ehegatte, Verwandte in auf- und abſteigender Linie

(§. 74.), Geſchwiſter und Erben zu dem Strafantrage berechtigt.“

„Iſt die gegen einen Stand, gegen eine Korporation, Geſellſchaft

oder Familie verübte Verleumdung oder Ehrenkränkung auf den Antrag

eines der zu dem betheiligten Stande u. ſ. w. gehörigen Mitglieder

beſtraft worden, ſo findet eine weitere Rüge von Seiten der übrigen

Mitglieder nicht ſtatt.“

Gegen eine ſolche Vorſchrift in dieſer Faſſung erklärte ſich aber

mit vielen Monenten das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion.

„Zuvörderſt kann es nicht zweifelhaft ſein, daß jede Ehrverletzung

eine beſtimmte phyſiſche oder juriſtiſche Individualität des Beleidigten

vorausſetzt, denn es können zwar politiſche Geſichtspunkte die Beſtra-

fung der Nichtachtung und Herabwürdigung politiſcher Organismen

rechtfertigen, ſo im Staate als in der Kirche und den untergeordneten

Verfaſſungs-Elementen, allein dieſe Herabwürdigung ſolcher ideeller Ge-

genſtände kann nie eine eigentliche Ehrverletzung ſein. Dieſe tritt nur

ein, wenn eine beſtimmte Perſönlichkeit verletzt wird, ſie ſei phyſiſch oder

juriſtiſch, und hierbei verſteht es ſich wieder von ſelbſt, daß die Belei-

digung einer juriſtiſchen Perſon nur durch den Vorſtand, nicht von

jedem Einzelnen gerügt werden kann, es ſei denn, daß dieſer eine indi-

viduelle Ehrenkränkung für ſich zu rügen hat.“

„Hieraus folgt aber nothwendig, daß es zwar eine Ehrverletzung

gegen Korporationen und andere juriſtiſche Perſonen, nicht aber gegen

ganze Stände, Familien oder Geſellſchaften giebt. Geſchloſſene, als

juriſtiſche Perſonen konſtituirte Stände giebt es nicht, als ſolche wür-

den ſie einer beſonderen Aufzählung nicht bedürfen, im Uebrigen aber

iſt der Begriff eines Standes zu allgemein und unbeſtimmt, als daß

demſelben als ſolchem eine Perſönlichkeit zugeſchrieben werden könnte.

Man denke nur an den Stand der Gelehrten, Künſtler, Kaufleute,

r) Reviſion von 1845. II. S. 100.

s) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 564. „Beleidigungen, welche einer ganzen

Gemeine, Korporation oder Familie zugefügt worden, können von den einzelnen Mit-

gliedern, ſo weit auch ſie die Injurie trifft, gerügt werden.“

[335/0345]

§§. 160-162. Privatklage.

Handwerker, Bürger, Bauern, um ſich davon zu überzeugen, daß von

einer beſtimmten Perſönlichkeit, welche Gegenſtand einer möglichen In-

jurie wäre, hier nicht geſprochen werden kann, wie denn auch das Allg.

Landrecht ihrer nicht erwähnt.“

„Auch Geſellſchaften ſind entweder juriſtiſche Perſonen, oder ſie

beſtehen aus Einzelnen, deren Ehre individuell verletzt ſein kann, ohne

daß von einer Verletzung der Ehre der Geſellſchaft als ſolcher die Rede

zu ſein braucht. Daſſelbe gilt von einer Familie, als der Geſammtheit

von Blutsverwandten, etwa mit der Begrenzung auf diejenigen, welche

denſelben Namen führen; die Beleidigungen gegen Ehefrauen und Kinder

zu rügen, haben die Ehegatten und Väter die Befugniß, und es iſt

alſo nicht abzuſehen, wie irgend ein Mitglied der Familie noch, abge-

ſehen von individueller Beleidigung, befugt ſein ſoll, die Ehre der Fa-

milie im Ganzen zu ſchützen.“ t)

Es wurde demnach vorgeſchlagen, die betreffende Beſtimmung ſo

zu faſſen:

Revid. Entwurf von 1845. §. 192. „Ehrverletzungen gegen

Korporationen und andere juriſtiſche Perſonen können nur auf den An-

trag des Vorſtandes, und Ehrverletzungen gegen Verſtorbene nur auf

den Antrag des überlebenden Ehegatten, der ehelichen Blutsverwandten

in aufſteigender oder abſteigender Linie, der ehelichen Geſchwiſter oder

der Erben beſtraft werden.“

In der Staatsraths-Kommiſſion fand dieſer Vorſchlag jedoch keinen

Anklang. „Man verkannte die theoretiſchen Gründe nicht, welche für den

Vorſchlag der Reviſion ſprechen; allein man war der Anſicht, daß die

politiſchen Gründe überwiegend ſeien, aus denen es bei der beſtehenden

Geſetzgebung bewenden müſſe.“ u)

Der Entwurf von 1847. §. 201. wiederholte daher im Weſent-

lichen die frühere Beſtimmung, welche auch in dem vereinigten ſtändi-

ſchen Ausſchuß angenommen ward, obgleich gegen alle einzelnen Vor-

ſchriften erhebliche Bedenken erhoben wurden. v)

In der Kommiſſion der zweiten Kammer, welche die §§. 160-62.

als Zuſätze zu dem Entwurf von 1850. in Vorſchlag gebracht hat,

ſind jene Vorſchriften aber nicht wieder hergeſtellt worden. Auch die

Frage, ob die Beleidigung einer juriſtiſchen Perſon, durch welche nicht

zugleich beſtimmte Individuen verletzt werden, anzunehmen und mit

Strafe zu bedrohen ſei, und ob der Vorſtand ſie von Amts wegen zu

rügen habe, iſt nicht ſo unbedingt zu bejahen, wie es in der Revi-

t) Reviſion von 1845. II. S. 100. 101.

u) Verhandlungen der Staatsrath-Kommiſſion von 1846. S. 107.

v) Verhandlungen. III. S. 601-16.

[336/0346]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIII. Verletzungen der Ehre.

ſionsſchrift a. a. O. geſchehen iſt, und ebenſo verhält es ſich mit der

Beleidigung von Verſtorbenen, welche nicht zugleich die Hinterbliebenen

trifft und dieſe ſelbſt zu Strafanträgen berechtigt. Der Abgeordnete

Camphauſen hat hierüber in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß

ſehr gewichtige Worte geſprochen. Es iſt überhaupt nicht der richtige

Weg, wenn die Geſetzgebung den Begriff der Ehrverletzung durch Aus-

dehnung auf analoge Fälle zu ſehr verflüchtigt, und Veranlaſſung zu

der Anſicht giebt, als ob nicht andere Mittel als Strafanträge zu Ge-

bote ſtänden, um den üblen Eindruck kränkender Aeußerungen aufzu-

heben. Die Oeffentlichkeit bietet auch in dieſer Hinſicht für manche

Uebel das wahre Heilmittel dar. — Soweit die Sitte und Anſchauungs-

weiſe des Volkes den Schutz der Perſönlichkeit gegen Ehrverletzungen

erfordern, iſt auch in den beſtehenden Rechtsvorſchriften ein genügender

Anhalt geboten, denſelben durch den Richterſpruch zu verwirklichen.

Der Jurisprudenz liegt es ob, in dieſem Sinne den im Geſetzbuch

enthaltenen Rechtsſtoff zu bearbeiten, und die Anforderung der perſön-

lichen Ehre nach allen Seiten hin zu wahren. Selbſt das ſelbſtändige

Klagerecht des Hausvaters und Ehegatten hätte wohl füglich auf die

Fälle beſchränkt werden können, wo die eigene Ehre des Klägers verletzt

worden oder er als Vertreter der in ſeinem Schutze ſtehenden Perſon

den Strafantrag ſtellt. Es haben hier Grundſätze des Römiſchen Rechts

eingewirkt, welche in unſerem Rechtsleben keine Geltung mehr haben.

§. 163.

In allen Fällen, in denen wegen Ehrverletzung auf Strafe erkannt wird,

iſt dem Verletzten auf Koſten des Verurtheilten eine Ausfertigung des Erkennt-

niſſes zu ertheilen.

Bei öffentlichen Ehrverletzungen ſoll dem Verletzten in dem Erkenntniſſe

die Befugniß ertheilt werden, die Verurtheilung öffentlich bekannt zu machen.

Die Art und Weiſe der Bekanntmachung, welche ſtets auf Koſten des Verur-

theilten erfolgt, ſo wie die Friſt zu derſelben, iſt vom Richter in dem Erkennt-

niſſe zu beſtimmen.

Iſt die Ehrverletzung in einer Zeitung oder Zeitſchrift geſchehen, ſo muß

der verfügende Theil des Urtheils auf Antrag des Verletzten durch die öffent-

lichen Blätter, und zwar wo möglich durch dieſelbe Zeitung oder Zeitſchrift,

bekannt gemacht werden.

Die Vorſchriften dieſes Paragraphen ſind der letzte Reſt der Pri-

vatgenugthuung, welche dem Beleidigten bei der Beſtrafung der Ehr-

verletzung gewährt wird. — Mit der Bezeichnung „der verfügende Theil

des Urtheils“, den die Kommiſſion der zweiten Kammer im 3. Abſatz

[337/0347]

§§. 164-174. Zweikampf.

anſtatt des Ausdrucks „die Beſtrafung“ wählte, ſoll angegeben werden,

daß die Entſcheidungsgründe auf Koſten des Verurtheilten nicht mit

abzudrucken ſind.

Vierzehnter Titel.

Zweikampf.

§. 164.

Die Herausforderung zum Zweikampfe mit tödtlichen Waffen, ſowie die

Annahme einer ſolchen Herausforderung, wird mit Einſchließung bis zu ſechs

Monaten beſtraft.

§. 165.

Einſchließung von zwei Monaten bis zu zwei Jahren tritt ein, wenn die

Herausforderung ausdrücklich dahin gerichtet iſt, daß einer von beiden Theilen

das Leben verlieren ſoll, oder wenn dieſe Abſicht aus der gewählten Art des

Zweikampfes erhellet.

§. 166.

Diejenigen, welche den Auftrag zu einer Herausforderung übernehmen und

ausrichten (Kartellträger), werden mit Einſchließung bis zu ſechs Monaten

beſtraft.

§. 167.

Die Strafe der Herausforderung und der Annahme derſelben, ſowie die

Strafe der Kartellträger fällt weg, wenn die Parteien den Zweikampf vor

deſſen Beginne aus eigener Bewegung aufgegeben haben.

§. 168.

Der Zweikampf wird mit Einſchließung von drei Monaten bis zu fünf Jah-

ren beſtraft.

Iſt einer von beiden Theilen getödtet worden, ſo tritt Einſchließung von

zwei bis zu zwölf Jahren ein.

§. 169.

Wer ſeinen Gegner in einem Zweikampfe tödtet, welcher den Tod eines

von beiden Theilen herbeiführen ſollte (§. 165.), wird mit Einſchließung von

drei bis zu zwanzig Jahren beſtraft.

§. 170.

Iſt ein Zweikampf ohne Sekundanten vollzogen worden, ſo kann die ſonſt

begründete Strafe um die Hälfte, jedoch niemals über die Dauer von zwan-

zig Jahren, geſchärft werden.

§. 171.

Iſt eine Tödtung oder körperliche Verletzung mittelst vorſätzlicher Uebertre-

tung der vereinbarten Regeln des Zweikampfes bewirkt worden, ſo iſt der

[338/0348]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIV. Zweikampf.

Uebertreter, ſofern nicht nach den vorhergehenden Beſtimmungen eine härtere

Strafe begründet iſt, nach den allgemeinen Vorſchriften über das Verbrechen

der Tödtung oder der Körperverletzung zu beſtrafen.

§. 172.

Die Sekundanten, ſowie die zum Zweikampfe zugezogenen Zeugen, Aerzte

und Wundärzte ſind ſtraflos; auch ſind dieſelben nicht verpflichtet, über den

beabſichtigten oder ausgeführten Zweikampf der Staatsbehörde anders, als auf

deren Aufforderung Anzeige zu machen.

§. 173.

Die Kartellträger bleiben ſtraffrei, wenn ſie ernſtlich bemüht geweſen ſind,

den Zweikampf zu verhindern.

§. 174.

Wer einen Anderen zum Zweikampfe mit einem Dritten abſichtlich, inſon-

derheit durch Bezeigung oder Androhung von Verachtung, anreizt, wird, wenn

der Zweikampf ſtattgefunden hat, mit Gefängniß von drei Monaten bis zu

zwei Jahren beſtraft.

Aus dem gerichtlichen Zweikampfe, deſſen Ausgang die Germanen

als ein Gottesurtheil betrachteten, hervorgegangen, hat ſich das Duell

in der Ritterzeit zu einem Mittel umgebildet, die verletzte perſönliche

Ehre wiederherzuſtellen und an dem Gegner zu rächen. Dieſer Gedanke,

daß es der Würde des freien Mannes entſpreche, ſich ſelbſt in Ehren-

ſachen ſein Recht zu verſchaffen, hat ſich in weiten Kreiſen der germa-

niſchen und romaniſchen Völker erhalten, und was auch vom Stand-

punkte der Sittlichkeit und der Vernunft gegen die Zuläſſigkeit des

Duells angeführt worden iſt, wie ſtrenge Verbote von Staatswegen

dagegen ergangen ſind, — das zur Sitte gewordene Vorurtheil hat ſich

dadurch nicht unterdrücken laſſen. Eine gerechte und weiſe Behandlung

dieſes Gegenſtandes, welche der Würde der Strafrechtspflege nichts ver-

giebt und doch die eigenthümlichen Beziehungen, deren Vorhandenſein

nicht in Abrede zu ſtellen iſt, in geeigneter Weiſe berückſichtigt, iſt ein

ſchwer zu löſendes Problem der modernen Geſetzgebung. Das Allge-

meine Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 667-90.) verſuchte es mit har-

ten Strafſatzungen, und erreichte damit ebenſowenig, wie die älteren

grauſamen Duellmandate mit ihren Beſtimmungen, indem beide nicht

zur Ausführung kamen. Ein anderer Weg, den Zweikampf als ſelbſt-

ſtändiges Verbrechen nicht anzuerkennen, und es in der Geſetzgebung

ganz zu ignoriren, hat in Frankreich, wo man ihn verſucht hat, zu kei-

nem erwünſchten Ziele geführt. Das eigene Beiſpiel des Kaſſations-

hofs, der ſelbſt in ſeinen Ausſprüchen einer verſchiedenen Anſicht gefolgt

iſt, hat es zu keiner feſten Jurisprudenz kommen laſſen, und während

[339/0349]

§§. 164-174. Zweikampf.

die Gerichtshöfe Bedenken tragen, im Fall eines unglücklichen Ausgangs

die allgemeinen Grundſätze des Strafrechts über Mord, Todtſchlag und

Körperverletzung zur Anwendung zu bringen, muß auf der anderen Seite

die thatſächliche Strafloſigkeit der Duellanten auf das gemeine Rechts-

gefühl einen ungünſtigen Eindruck machen. Der Verſuch einer Vermitt-

lung durch Ehrengerichte, wenn auch in gewiſſen korporativ zuſammen-

geſchloſſenen Kreiſen ausführbar und von heilſamer Wirkung, iſt als

allgemeine Einrichtung kaum irgendwo ernſtlich unternommen worden

und würde ſich auch nicht bewähren.

Bei der Reviſion der Strafgeſetze iſt der Zweikampf zum Gegen-

ſtand ſorgfältiger Erwägungen gemacht, und die verſchiedenen Syſteme,

welche die Geſetzgebung dabei in Anwendung bringen kann, ſind wie-

derholt in Betracht gezogen worden. w) Doch hat ſich von Anfang an die

Anſicht mit überwiegendem Nachdruck geltend gemacht, daß der Zweikampf

als ein ſelbſtändiges Delikt zu behandeln ſei, welches ſeine beſondere

Normirung erheiſche; daß namentlich die Strafmittel ſo zu wählen ſeien,

daß ihre Anwendung nicht im Widerſpruch mit der Natur des Verbre-

chens und der öffentlichen Meinung ſtehe, zugleich aber die Würde des

Staatswillens, welcher die Eigenmacht in dieſer Form nicht ſanktioniren

kann, durch den Ernſt der Ahndung gewahrt werde. In dieſem Sinne

iſt namentlich auch in der Kommiſſion der zweiten Kammer beſchloſſen

worden, die Einſchließung als die ordentliche Strafe des Duells auf-

zuſtellen, in den Fällen aber, wo die Berückſichtigung der Sitte nicht

eine mildere Behandlung angemeſſen erſcheinen läßt — alſo bei der vor-

ſätzlichen Verletzung der Duellregeln und bei dem leichtfertigen Anhetzen

zum Duell — die gewöhnlichen Strafmittel eintreten zu laſſen. Wenn

in dieſem Verfahren und in der Verſchonung der Sekundanten, Zeugen

und Aerzte mit aller Strafe ein Nachgeben gegen Vorurtheile gefunden

werden kann, ſo läßt ſich doch erwiedern, daß es der Geſetzgebung wür-

diger iſt, da wo ſie einer beſtehenden Sitte die ſtrenge Durchführung

allgemeiner Rechtsprincipien mit Bewußtſein zum Opfer bringt, dieß

auch offen und konſequent zu thun, als den Schein des Rigorismus

zu bewahren, ohne ihre Satzungen in der Wirklichkeit darnach einzurichten.

w) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 67-90. — (v. Kamptz)

Revidirter Entwurf des Strafgeſetzbuchs. I. S. 101-203. — Bera-

thungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 112-24. —

Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 31. März, 3. April, 7. April und

14. April 1841. — Reviſion von 1845. II. S. 108-12. — Verhandlun-

gen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 111. — Verhandlun-

gen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III. S. 632-87. — Be-

richt der Kommiſſion der zweiten Kammer zu dieſem Titel. — Bericht

der Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ.

[340/0350]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIV. Zweikampf.

In den ſpäteren Stadien der Berathung wurde dann noch beſon-

dere Rückſicht darauf genommen, die allgemeinen Strafvorſchriften über

den Zweikampf möglichſt in Einklang zu bringen mit den für das Mi-

litair beſtehenden, im Allgemeinen für angemeſſen gehaltenen geſetzlichen

Beſtimmungen, damit nicht, namentlich bei Duellen zwiſchen Militair-

perſonen und Civiliſten, die verſchiedene Beſtrafung Anſtoß errege. —

Ueber die Stellung des Titels, welcher von dem Zweikampf handelt,

war man ſtets der Anſicht, daß er ſich in natürlicher Anordnung an

die Beſtimmungen über die Ehrverletzungen anſchließe; denn wenn man

auch nicht, nach einem früheren Vorſchlage, die Beilegung einer Ehren-

ſache als weſentlichen Theil des Thatbeſtandes aufſtellen wollte, ſo war

man doch darüber einig, daß nur in Verbindung mit den Ehrverletzun-

gen das Vergehen eine ſelbſtändige Bedeutung habe. x) Die neueren

Deutſchen Strafgeſetzbücher weichen in der Anordnung des Syſtems hier

ab, indem ſie den Zweikampf durchweg bei der Selbſthülfe abhandeln,

was doch, ſtreng genommen, nur für den Ausforderer zutreffend iſt.

Das Badiſche Strafgeſetzbuch ſchließt denſelben jedoch an die Ehrver-

letzungen und das Heſſiſche an die Tödtung und Körperverletzung an. y)

Dagegen beſteht darin Uebereinſtimmung, daß nur der Kampf mit tödt-

lichen Waffen als Zweikampf betrachtet wird.

A. Die Duellanten.

I. Die Herausforderung zum Zweikampf ſo wie die Annahme

einer ſolchen Herausforderung wird mit Einſchließung bis zu ſechs Mo-

naten beſtraft (§. 164.), und wenn die Herausforderung ausdrücklich

darauf gerichtet iſt, daß einer von beiden Theilen das Leben verlieren

ſoll, oder wenn dieſe Abſicht aus der gewählten Art des Zweikampfs

erhellt, mit Einſchließung von zwei Monaten bis zu zwei Jahren

(§. 165.).

II. Die Herausforderung ſo wie die Annahme derſelben iſt an ſich

nur eine vorbereitende Handlung, und würde nach allgemeinen Rechts-

grundſätzen (§. 31.) nicht zu beſtrafen ſein. Dieſelbe iſt aber als eine

beſondere Form des Delikts hier ſelbſtändig unter Strafe geſtellt. Ha-

ben jedoch die Parteien den Zweikampf vor deſſen Beginn aus eigener

x) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 114. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 3. April 1841.

y) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 206-10. — Württemb. Strafge-

ſetzb. Art. 201-5. — Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 174-77. — Braun-

ſchweig. Criminalgeſetzbuch. §. 119-22. — Heſſiſch. Strafgeſetzbuch.

Art. 292-95. — Badiſch. Strafgeſetzb. §. 326-34. — Thüring. Straf-

geſetzb. Art. 197-201.

[341/0351]

§§. 164-174. Zweikampf.

Bewegung aufgegeben, ſo fällt die Strafe weg (§. 167.), wie bei dem

Verſuch, der nicht durch äußere Umſtände gehindert iſt.

III. Iſt der Zweikampf vollzogen worden, ſo tritt Einſchließung

von drei Monaten bis zu fünf Jahren ein. Dieſe Strafe wird auf

zwei bis zwölf Jahre erhöht, wenn einer von beiden Theilen getödtet

worden (§. 168.). Iſt die Tödtung aber in einem Zweikampfe erfolgt,

in welchem einer von beiden Theilen fallen ſollte (§. 165.), ſo ſoll auf

Einſchließung von drei bis zu zwanzig Jahren erkannt werden (§. 169.).

IV. Sind keine Sekundanten zum Zweikampfe zugezogen worden,

ſo kann die ſonſt begründete Strafe um die Hälfte erhöht werden; das

höchſte Maaß ſoll jedoch die Dauer von zwanzig Jahren nicht über-

ſteigen (§. 170.).

V. Iſt mittelſt vorſätzlicher Uebertretung der vereinbarten Regeln

des Zweikampfs eine Tödtung oder körperliche Verletzung bewirkt wor-

den, ſo ſollen die allgemeinen Vorſchriften über Mord, Todtſchlag

oder Körperverletzung zur Anwendung kommen, — es ſei denn,

daß die vorher erwähnten Beſtimmungen über das Duell eine härtere

Strafe begründen (§. 171.). — Zu den vereinbarten Regeln ſind auch

ſolche zu zählen, welche für hergebracht angeſehen werden können, und

über deren Anwendung für das einzelne Duell man ſtillſchweigend

übereingekommen iſt. z)

B Die Theilnehmer.

I. Die Kartellträger werden mit Einſchließung bis zu ſechs Mo-

naten beſtraft (§. 166.); jedoch fällt die Strafe weg, wenn die Par-

teien vor dem Beginn des Zweikampfs denſelben aus eigener Bewegung

aufgegeben haben (§. 167.), ſo wie, wenn die Kartellträger ſelbſt ernſt-

lich bemüht geweſen ſind, den Zweikampf zu hindern (§. 173.).

II. Sekundanten, Zeugen, Aerzte und Wundärzte werden nicht

beſtraft, die erſteren beſonders deswegen nicht, weil ein ohne Sekundan-

ten vollzogenes Duell ſeiner größeren Gefährlichkeit wegen ſtrenger ge-

ahndet wird, a) doch iſt dabei vorauszuſetzen, daß die Sekundanten ſich

nach den Regeln des Duells benommen haben; eine Ueberſchreitung der-

ſelben im Sinne des §. 171. wird auch ſie unter Strafe bringen. —

Die genannten Perſonen ſind nicht zur Anzeige verpflichtet (vgl. §. 39.),

z) Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 119. — Heſſiſches Strafge-

ſetzbuch Art. 295. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 198. — Das Badiſche

Strafgeſetzbuch (§. 330. 331.) unterſcheidet, ob die Uebertretung durch die Duel-

lanten oder die Sekundanten geſchehen iſt.

a) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. III.

S. 683-85.

[342/0352]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

wenn ſie nicht von der Staatsbehörde beſonders dazu aufgefordert wer-

den (§. 172.).

C. Die Anhetzer.

Die Vorſchrift des §. 174. iſt beſonders gegen Perſonen gerichtet,

welche es ſich zum Geſchäft machen, andere zum Zweikampf zu reizen,

und wenn ſie nicht ſelbſt Händel ſuchen, andere darin zu verwickeln.

Die Strafvorſchrift mußte indeſſen allgemein gefaßt werden; ſie bezieht

ſich aber nur auf den Fall, wenn der Zweikampf ſtatt gefunden hat.

— Aehnliche Beſtimmungen finden ſich in andern Geſetzgebungen. b)

Funfzehnter Titel.

Verbrechen und Vergehen wider das Leben.

§. 175.

Wer vorſätzlich und mit Ueberlegung einen Menſchen tödtet, begeht einen

Mord, und wird mit dem Tode beſtraft.

Neben der Todesſtrafe iſt zugleich auf Verluſt der bürgerlichen Ehre zu er-

kennen, wenn der Mord an einem leiblichen Verwandten der aufſteigenden Linie

oder an dem Ehegatten begangen wird.

Die Anordnung dieſes Titels iſt im Weſentlichen ſo geblieben,

wie ſie bei der erſten Reviſion vorgeſchlagen wurde: c)

Mord (§. 175.),

Todtſchlag (§§. 176-79.),

Kindesmord (§. 180.),

Abtreibung der Leibesfrucht (§§. 181. 182.),

Ausſetzung (§. 183.),

Fahrläſſige Tödtung (§. 184.),

Allgemeine Beſtimmungen über den Thatbeſtand der Tödtung

(§. 185.),

Heimliche Beerdigung (§. 186.).

Ein allgemeines Verbrechen der Tödtung ohne nähere Feſtſtellung

des Thatbeſtandes, wodurch es zu einem beſtimmten Verbrechen oder

Vergehen wird, iſt alſo ſo wenig im Strafgeſetzbuch aufgeſtellt worden,

als es im Allg. Landrecht geſchehen war. Zu Anfang der Reviſion

b) Sächſiſch. Criminalgeſetzb. Art. 210. — Württemberg. Straf-

geſetzb. Art. 203. — Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 122. — Thü-

ring. Strafgeſetzb. Art. 201.

c) Motive zum erſten Entwurf. III. S. 93.

[343/0353]

§. 175. Der Mord.

glaubte man freilich, durch eine allgemeine Begriffsbeſtimmung der

Tödtung die richtige Auffaſſung der einzelnen Verbrechen und Vergehen

zu fördern, und der Entwurf von 1830. beſtimmte daher

§. 222. „Wer durch eine rechtswidrige Handlung oder Unter-

laſſung den Tod eines Menſchen verurſacht, iſt des Verbrechens

der Tödtung ſchuldig.“

Aber man überzeugte ſich bald, daß die Beſtimmtheit der Rechts-

begriffe durch eine ſolche Abſtraktion, mit der ſich die Geſetzgebung am

Wenigſten zu befaſſen hat, bedroht werde, und ließ ſie daher aus den

ſpäteren Entwürfen weg. d)

Die Vorſchriften dieſes Titels umfaſſen aber nicht alle Fälle, in

denen wegen Tödtung eines Menſchen eine Strafe angedroht wird. Die

Tödtung des Königs iſt ſchon bei dem Hochverrath (§. 61.) erörtert

worden; außerdem kommen die Fälle in Betracht, wo die Tödtung,

ohne daß die Abſicht des Thäters darauf gerichtet geweſen iſt, als die

Folge eines anderen Verbrechens ſich darſtellt, und auf deſſen Beſtrafung

von Einfluß wird, wie bei der Nothzucht (§. 144.), der vorſätzlichen

Mißhandlung oder Körperverletzung (§. 194.), der Theilnahme an einem

Raufhandel (§. 195.), der Vergiftung (§. 197.) und bei den im 27.

Titel aufgeführten gemeingefährlichen Verbrechen und Vergehen. Wenn

dagegen die Abſicht zu tödten der Handlung zum Grunde lag, ſo kom-

men die im 15. Titel aufgeſtellten Regeln zur Anwendung, und das

beſondere Verbrechen, durch deſſen Verübung jene Abſicht erreicht werden

ſollte, verliert ſeine ſelbſtändige Bedeutung. In dieſem Sinne ſind na-

mentlich die Vorſchriften über die Tödtung im Duell im Fall des

§. 171., über die Ausſetzung (§. 183. Abſ. 3.), über Theilnahme an

einem Raufhandel (§. 195. Abſ. 3.) und die Vergiftung (§. 197. Abſ. 4.)

abgefaßt worden.

Zuerſt iſt nun von der vorſätzlichen Tödtung zu handeln, und zwar

von derjenigen Form des Verbrechens, welche ſich als Mord darſtellt.

Die Grundzüge dieſer Lehre, wie ſie in dem gemeinen Deutſchen Kri-

minalrecht und auch in der Preußiſchen Geſetzgebung durchgeführt ſind,

finden ſich ſchon als Ausdruck altgermaniſcher Rechtsanſchauungen in

der Karolina, indem nur ſtatt der Heimlichkeit, welche das ältere Recht

mit dem Begriff des Mordes verband, die Ueberlegung des Thäters

d) (v. Kamptz) Revid. Entwurf des Strafgeſetzbuchs. I. S. 205. —

Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 179. 180.

[344/0354]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

hervorgehoben wird. e) In dieſem Sinne beſtimmte auch das Allgem.

Landrecht:

Th. II. Tit. 20. §. 826. „Derjenige, welcher mit vorher über-

legtem Vorſatze zu tödten einen Todtſchlag wirklich verübt, ſoll als ein

Mörder mit der Strafe des Rades von oben herab belegt werden.“

Auch der Code pénal ſtimmt mit dieſer Auffaſſung überein, indem

er das, was im Deutſchen Strafrechte Mord heißt, als Aſſaſſinat be-

bezeichnet, und zu deſſen Thatbeſtand die Prämedidation verlangt. Das

Auflauern (guet-apens), welches daneben noch angeführt wird, iſt nur

als eine beſtimmte Handlungsweiſe, in welcher ſich die Prämeditation

offenbart, hinzugefügt und hätte in dem Geſetzbuch füglich weggelaſſen

werden können. f)

Zu dem Vorſatze der Tödtung muß alſo noch eine beſondere Be-

ſchaffenheit des verbrecheriſchen Willens hinzukommen, welche das we-

ſentliche Merkmal für den Thatbeſtand des Mordes bildet, und den-

ſelben namentlich vom Todtſchlage, bei welchem gleichfalls die Abſicht

zu tödten vorliegt, unterſcheidet. Für die Bezeichnung dieſer beſonderen

Willensbeſtimmung hat man in den verſchiedenen Stadien der Reviſion

des Strafrechts verſchiedene Ausdrücke gewählt. Während der Entwurf

von 1830. §. 223. ſich genau an das Allgem. Landrecht anſchloß, und

den Mord als die Tödtung mit vorher überlegtem Vorſatz zu tödten

definirte, wählte man in der Staatsraths-Kommiſſion g) den Ausdruck

„Tödtung mit Vorbedacht,“ an deſſen Stelle der Staatsrath wieder die

Worte „mit überlegtem Vorſatze“ treten ließ, der ſich auch in dem Ent-

e) P. G. O. Art. 137. Item eyn jeder mörder oder todtſchläger wo er deß-

halb nit rechtmeſſig entſchuldigung außführen kan, hat das leben verwürckt. Aber

nach gewonheyt etlicher gegent, werden die fürſetzlichen mörder und die todtſchleger

eynander gleich mit dem radt gericht, darinnen ſoll underſcheydt gehalten werden, und

alſo daß der gewonheyt nach, ein fürſetzlicher mutwilliger mörder mit dem rade,

vund eyn ander der eyn todtſchlag, oder aus gecheyt vnd zorn gethan, vnd ſunſt auch

gemelte entſchuldigung nit hat, mit dem ſchwert vom leben zum todt geſtrafft werden

ſollen. Und man mag inn fürgeſetztem mordt, ſo der an hohen trefflichen perſonen,

des thetters eygen herrn, zwiſchen eheleuten oder nahend geſipten freunden geſchicht,

durch etlich leibſtraff als mit zangen reiſſenn oder außſchleyffung vor der entlichen

tödtung umb größer forcht willen die ſtraff meren. — Vgl. Wilda, das Strafrecht

der Germanen. S. 706-18.

f) Code pénal. Art. 296. Tout meurtre commis avec préméditation

ou de guet-apens, est qualifié assassinat. cf. Chauveau et Hélie Fau-

stin, Théorie du Code pénal. III. chap. XLIII. p. 67. 68.

g) Berathungs-Protokolle. II. S. 180. 181. — Es ſei hier nur gele-

gentlich bemerkt, daß v. Kamptz in den Entwürfen von 1833. und 1836. einen

eigenthümlichen Weg ging, indem er ſtets, wenn die Abſicht zu tödten vorliegt, einen

Mord annahm, und unter Todtſchlag die Tödtung eines Menſchen verſtand, die er-

folgt, wenn die Abſicht des Thäters nur auf Beſchädigung geht. Die Staatsraths-

Kommiſſion beſeitigte dieſe, auf einem Mißverſtändniß des Allgemeinen Landrechts

beruhende Theorie.

[345/0355]

§. 175. Der Mord.

wurfe von 1843. §. 298. findet. h) Das Miniſterium für die Geſetz-

Reviſion hielt aber auch dieſe Bezeichnung nicht für die richtige. Es

finden ſich darüber folgende Bemerkungen: i)

„Was den Begriff des Mordes anlangt, ſo muß es gegen Abegg

mit Zachariä für einen Fortſchritt angeſehen werden, daß ſtatt des

Ausdrucks Vorbedacht, der Ausdruck: überlegter Vorſatz gebraucht

worden iſt. Es iſt dadurch der Irrthum beſeitigt, als ſei es noth-

wendig, daß die Ueberlegung der Ausführung eine längere Zeit voran

gehe, während ſie auch gleichzeitig mit derſelben ſich offenbaren kann.

Nach den Grundſätzen des Germaniſchen und des Preußiſchen Rechts

beruht nämlich der Unterſchied zwiſchen Mord und Todtſchlag ganz

einfach auf dem Daſein oder Mangel beſonnener ruhiger Ueberlegung.

Derjenige, welcher zu überlegten Zwecken, mit vorbereiteten oder zweck-

mäßig gewählten Mitteln tödtet, wer den Tod herbeiführen will, nach-

dem er Erfolg, Zweck, Mittel, Gelegenheit und die Umſtände der That

erwogen hat, iſt ein Mörder; wer ohne Ueberlegung tödtet, iſt Todt-

ſchläger. Dieſen Unterſchied haben die §§. 298. und 299. im Ganzen

richtig ausgedrückt, doch ſind auch hier einige Modifikationen anzura-

then. In der Definition des §. 298. „wer mit überlegtem Vorſatze

einen Menſchen tödtet, begeht einen Mord“ — ſind verſchiedenartige

Fälle enthalten, welche klarer unterſchieden werden müſſen, um die

Anwendung vor Mißgriffen zu ſichern und den Richter vor Zweifeln

zu ſchützen. Es kann ſich nämlich jener Zuſtand ruhiger Ueberlegung,

jener erwogene Vorſatz auf zweierlei Weiſe kund geben. Erſtlich können

uns die Umſtände der That, die Art der Ausführung überzeugen, daß

die That nothwendig als das Produkt beſonnener Ueberlegung hervor-

gegangen ſein müſſe. Dieſes iſt anzunehmen, wenn jemand im Schlafe

erdroſſelt, wenn Gift gemiſcht und eingegeben wird, oder wenn bei der

Tödtung ausgeſuchte Qualen angewendet werden. Zweitens kann es

geſchehen, daß zwar die Art der Ausführung hierüber kein Licht gewährt,

indem dieſelbe ebenſo bei einer Tödtung im Affekt (ohne Ueberlegung)

hätte ſtatt finden können, z. B. bei einem einfachen Schuß oder Stich;

es erhellt aber außerdem, daß früherhin eine ruhige Ueberlegung ſtatt

gefunden hat, als deren Produkt die gegenwärtige That erſcheint, wie

z. B. längere Vorbereitungen, Drohungen u. ſ. w. dieſes Reſultat

ergeben können. Hierbei verſteht es ſich nun von ſelbſt, daß die frühere

Ueberlegung, der frühere mörderiſche Vorſatz im Kauſal-Zuſammenhange

h) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 14. April 1841.

i) Reviſion von 1845. II. S. 113. 114.

Beſeler Kommentar. 23

[346/0356]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

mit der ausführenden Handlung ſtehen, und daß er fortdauernd den

Willen zur Ausführung beſtimmt haben müſſe. Denn wer vor Jahren

einen Mord beſchloſſen, aber ſpäter den Vorſatz aufgegeben oder nicht

verfolgt hat, und dann zu einer anderen Zeit ohne Ueberlegung dieſelbe

Perſon tödtet, iſt kein Mörder; ſo z. B. wenn der Verbrecher in frü-

herer Zeit einen Giftmord beabſichtigte, dann aber entſchieden aufgab,

und nun ſpäterhin denſelben Menſchen, den er hatte vergiften wollen,

im Zorn über empfangene Beleidigungen mit einem zufällig aufgegrif-

fenen Werkzeug tödtet.“

„Der Ausdruck „wer mit überlegtem Vorſatz tödtet“ enthält nun

zwar beide Fälle, allein er macht dieſe in ihrer verſchiedenen Beſchaf-

fenheit nicht anſchaulich. Dieſes aber iſt nothwendig, weil außerdem

die Vorausſetzung leicht Raum gewinnen könnte, daß bei der Ausfüh-

rungs-Handlung die Prämeditation jederzeit ſichtbar hervorgetreten ſein

müſſe, und dieſes Zuſammentreffen beider Momente zum Thatbeſtande

gehöre. Allerdings iſt der fortwirkende, früher gefaßte Entſchluß immer

auch vorhanden bei der Ausführung, allein er giebt ſich nicht nothwen-

dig dabei auf ſichtbare Weiſe kund. Der regelmäßige und gewöhnliche

Fall des Mordes iſt aber der, daß der Vorſatz in einer früheren Zeit

gefaßt iſt, indem der Menſch in der Regel erſt nach langen Kämpfen

und Erwägungen zum Morde getrieben wird; die ſeltenen Fälle ſind

die, in welchen die kalte ruhige Ueberlegung mit der Ausführung des

Mordes zuſammenfällt, wie etwa bei einem Raubmörder. Dennoch iſt

für die häufigeren Fälle nicht nöthig, daß die Art der Ausführung das

Daſein einer ruhigen Ueberlegung außer Zweifel ſetze. Der Richter

könnte daher durch Mißdeutung des §. 298. leicht dahin geführt wer-

den, einen bloßen Todtſchlag anſtatt eines Mordes nur deswegen an-

zunehmen, weil ihm der Zuſtand ruhiger Ueberlegung gerade nicht aus

den beſonderen Umſtänden bei der Ausführung der That erhellt. Das

Bedürfniß, dieſe Unterſcheidung in der Aufſtellung des Begriffs anſchau-

lich zu machen, haben auch die neueren Geſetzbücher gefühlt und an-

erkannt.“ k)

Demnach wurde folgende Faſſung der Geſetzesſtelle vorgeſchlagen:

Rev. Entwurf von 1845. §. 212. „Wer in Folge eines mit

Ueberlegung vorher gefaßten Entſchluſſes die Tödtung eines Menſchen

bewirkt, oder bei Ausführung derſelben mit überlegtem Vorſatze zu

k) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 121. — Württemb. Strafgeſetzb.

Art. 237. — Hannov. Criminalgeſetzbuch Art. 227. — Braunſchw. Cri-

minalgeſetzb. §. 145. — Heſſiſches Strafgeſetzb. Art. 252. — Badiſches

Strafgeſetzb. §. 205. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 119.

[347/0357]

§. 175. Der Mord.

Werke geht, macht ſich des Mordes ſchuldig, und iſt mit dem Tode zu

beſtrafen.“

In der Staatsraths-Kommiſſion war man jedoch der Anſicht, daß

die früher gegebene Definition den Begriff des Verbrechens hinreichend

bezeichne, und entſchloß ſich nur mit Rückſicht auf die an die Geſchwo-

renen zu ſtellenden Fragen zu der formellen Abänderung, daß ſtatt

„mit überlegtem Vorſatze“ geſagt werde „vorſätzlich und mit Ueberle-

gung.“ l) Dieſe Faſſung iſt in dem Geſetzbuche auch beibehalten worden.

I. Der Ausdruck „mit Ueberlegung“ iſt alſo nicht weſentlich ver-

ſchieden von dem entſprechenden „mit Vorbedacht,“ durch welchen das

Rheiniſche Recht das Weſen des Mordes bezeichnet; m) es wird bei

jener Bezeichnung nur nicht alles Gewicht auf die Zeit, welche zwiſchen

dem Entſchluß zur That und der That ſelbſt verfloſſen iſt, gelegt, ſon-

dern die beiden oben unterſchiedenen Fälle der Ueberlegung vor der

That und bei der That werden gleichmäßig unter dem Begriff des

Mordes befaßt. Daher beſteht auch kein Unterſchied zwiſchen dem That-

beſtand des Mordes nach dem Strafgeſetzbuch und nach den anderen

Deutſchen Geſetzgebungen; im Staatsrathe wurde dieß bei der Wahl

jenes Ausdrucks beſonders hervorgehoben, und nur die weitere Exem-

plifikation, welche ſpäter der Entwurf von 1845. doch vorſchlug, für

überflüſſig erachtet. n)

II. Die Strafe des Mordes iſt der Tod; bei dem Verwandten-

morde ſoll zugleich auf den Verluſt der bürgerlichen Ehre erkannt

werden. Zu den Verwandten werden aber hier nur die leiblichen Aſcen-

denten und der Ehegatte gerechnet, während der Begriff des parricidium

nach gemeinem Rechte ein weiterer iſt.

III. In den älteren Entwürfen waren mehrere beſondere Fälle, in

denen über die Anwendung der geſetzlichen Strafe Zweifel zu beſtehen

ſchienen, zum Gegenſtand eigener Vorſchriften gemacht worden. Die-

ſelben ſind aber in Folge weiterer Erwägung ſpäter aus dem Straf-

geſetzbuche weggelaſſen worden.

a. Der Entwurf von 1836. beſtimmte:

§. 427. „Wer eine Mißgeburt eigenmächtig tödtet, hat ſechswö-

chentliche bis ſechsmonatliche Gefängnißſtrafe verwirkt.“

l) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 113. — Fernere Verhandlungen von 1847. S. 43.

m) Code pénal. Art. 296-98. Ergänzend kommt hierbei noch in Be-

tracht die Beſtimmung des Art. 303. Seront punis comme coupables d'assas-

sinat, tous malfaiteurs, quelle que soit leur dénomination, qui pour l'exé-

cution de leurs crimes emploient des tortures ou commettent des actes

de barbarie.

n) Vgl. Motive zum Entwurf von 1850. §. 161. 162.

23*

[348/0358]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

Die Staatsraths-Kommiſſion hatte in Beziehung auf dieſe Vor-

ſchrift nur eine Modifikation vorgeſchlagen; o) im Staatsrathe wurde

aber dagegen bemerkt, daß es nach den von dem Medizinal-Departement

bei der Reviſion des Allg. Landrechts Th. I. Tit. 1. §§. 17. und 18.

gemachten und jetzt wiederholten Bemerkungen lebendige Leibesfrüchte,

welche gar keine menſchliche Form und Bildung haben, nicht gebe;

dergleichen Leibesfrüchte bezeichne die Wiſſenſchaft gegenwärtig mit dem

Namen Molen oder Mondkälber, wogegen ſie unförmliche Leibes-

früchte, welche im Einzelnen von der menſchlichen Form und Bildung

abweichen, ſolche aber im Allgemeinen beſitzen, Mißgeburten nenne.

Mißgeburten dieſer Art ſtänden in rechtlicher Beziehung den wohlgebil-

deten Geburten völlig gleich und könnten deswegen hier nicht beſonders

in Betracht kommen; in Anſehung der Mißgeburten im Sinne des Allg.

Landrechts fehle aber, da ſie niemals ein ſelbſtändiges Leben haben,

den Beſtimmungen des Entwurfs ein reales Fundament. Die Vor-

ſchrift des Allgem. Landrechts Th. II. Tit. 20. §§. 718. 719. ſei auch

noch niemals zur Anwendung gekommen. — In Folge dieſer Bemer-

kungen wurde die Aufnahme der vorgeſchlagenen Beſtimmungen ab-

gelehnt. p)

b. Andere Vorſchriften finden ſich noch in dem Entwurf von 1843.

Hier heißt es nämlich:

§. 310. „Wer einen Todtkranken oder tödtlich Verwundeten auf

deſſen Verlangen tödtet, iſt mit Gefängniß nicht unter drei Monaten

oder mit Strafarbeit nicht unter drei Jahren zu belegen.“

Das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion beantragte aber in Ueber-

einſtimmung mit vielen Monenten das Wegfallen des Paragraphen. q)

„Abgeſehen davon, daß für die höchſt ſeltenen Fälle der möglichen An-

wendung ein praktiſches Bedürfniß nicht vorliegt, fehlt es auch an

einem wahren Rechtsgrund, da der Grundſatz: volenti non fit injuria

hier gewiß nicht anwendbar iſt. Außerdem iſt dieſer Satz gefährlich

für die öffentliche Sicherheit, indem er zur Entſchuldigung für die

ſchwerſten Verbrechen mißbraucht werden kann. Er iſt endlich für die

Anwendung unbrauchbar, da weder der Verlangende noch der Tödtende

in der Regel wiſſen kann, ob die Krankheit oder Verwundung tödtlich

ſei, und da ſich dies hinterher gewiß nicht feſtſtellen läßt. Für die

äußerſt ſeltenen Fälle, die vielleicht auf dem Schlachtfelde vorkommen

könnten, wird es faſt nie zur Unterſuchung kommen, und ſollte ein

o) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 224.

p) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 24. April 1841.

q) Reviſion von 1845. II. S. 127.

[349/0359]

§. 175. Der Mord.

Bedürfniß vorhanden ſein, die Strafe des Mordes zu mildern, ſo wird

dann am Zweckmäßigſten die Gnade des Landesherrn für dieſe völlig

ungewöhnlichen Fälle ausreichen.“

Die Staatsraths-Kommiſſion erklärte ſich mit dieſer Anſicht ein-

verſtanden; r) daſſelbe geſchah

c. in Beziehung auf den Fall der Beihülfe zum Selbſtmorde,

worauf der Entwurf von 1843. §. 311. ein- bis fünfjährige Straf-

arbeit geſetzt hatte. Auch hier trug das Miniſterium für die Geſetz-

Reviſion a. a. O. auf Streichung des Paragraphen an. Die Beſtim-

mung werde nur für ſehr ſeltene Fälle zur Anwendung kommen können;

es laſſe ſich aber überhaupt nicht rechtfertigen, daß der Selbſtmörder bei

nicht vollführter That ſtraflos bleiben, der Gehülfe dagegen ſtrafbar

ſein ſolle. Dieſer begehe eine irreligiöſe und unſittliche Handlung, aber

ein Kriminalverbrechen liege in ſeiner Handlung nicht. Ganz anders

freilich verhalte es ſich mit dem Fall, wenn Einer den Andern auf

deſſen Verlangen tödte, um ihm den Selbſtmord zu erſparen. Dieſes

falle unter die gewöhnliche Regel des Mordes, indem die Einwilligung

und die nicht feindliche Abſicht das Weſen der Handlung nicht ändere,

wie ſo eben ausgeführt worden.

Von derſelben Anſicht, welche hier über die Beihülfe zum Selbſt-

morde ausgeſprochen worden, iſt der Pariſer Kaſſationshof in mehreren

Urtheilen ausgegangen; doch hat es in Beziehung auf den zweiten Fall,

namentlich bei der wechſelſeitigen verabredeten Tödtung, an Widerſpruch

unter den Franzöſiſchen Juriſten nicht gefehlt. s) Vom Standpunkte

des Rechts aus betrachtet, hat die ſtrengere Anſicht aber die Konſe-

quenz für ſich.

§. 176.

Wer vorſätzlich, jedoch nicht mit Ueberlegung, einen Menſchen tödtet, begeht

einen Todtſchlag, und ſoll mit lebenslänglichem Zuchthaus beſtraft werden.

§. 177.

War der Todtſchläger ohne eigene Schuld durch eine ihm ſelbſt oder ſeinen

Angehörigen zugefügte Mißhandlung oder ſchwere Beleidigung von dem Ge-

tödteten zum Zorne gereizt und dadurch auf der Stelle zur That hingeriſſen

worden, ſo bleibt die lebenslängliche Zuchthausſtrafe ausgeſchloſſen, und es ſoll

auf Gefängniß nicht unter zwei Jahren erkannt werden.

r) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 116.

s) cf. Chauveau et Hélie Faustin, I. c. chap. XLIII. p. 73-80.

[350/0360]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

§. 178.

Wer bei Unternehmung eines Verbrechens oder Vergehens, um ein der

Ausführung deſſelben entgegentretendes Hinderniß zu beſeitigen, oder um ſich

der Ergreifung auf friſcher That zu entziehen, vorſätzlich einen Menſchen tödtet,

wird mit dem Tode beſtraft.

§. 179.

Der Todtſchlag an einem leiblichen Verwandten der aufſteigenden Linie

wird mit dem Tode beſtraft.

Die Definition des Todtſchlags iſt in einen beſtimmten Gegenſatz

zu der des Mordes gebracht worden; in beiden Fällen liegt eine vor-

ſätzliche Tödtung vor, und der Unterſchied beſteht darin, ob dieſelbe mit

Ueberlegung oder nicht mit Ueberlegung begangen worden iſt.

Das Allg. Landrecht hat ſcheinbar einen anderen Begriff mit dem

Todtſchlage verbunden, indem es beſtimmte:

Th. II. Tit. 20. §. 806. „Wer in der feindſeligen Abſicht, einen

Anderen zu beſchädigen, ſolche Handlungen unternimmt, woraus, nach

dem gewöhnlichen allgemein, oder ihm beſonders bekannten Laufe der

Dinge, der Tod deſſelben erfolgen mußte, und ihn dadurch wirklich

tödtet; der hat als ein Todtſchläger die Strafe des Schwertes verwirkt.“

Vergleicht man aber dieſen Paragraphen mit den folgenden, na-

mentlich mit §. 815., ſo ergiebt ſich, daß es nicht in der Abſicht des

Geſetzgebers lag, den animus nocendi in Verbindung mit dem einge-

tretenen tödtlichen Erfolg zum Thatbeſtande des Todtſchlags für ge-

nügend zu halten, ſondern daß er eigentlich den animus occidendi

vorausſetzte, denſelben aber nicht ausdrücklich verlangte, um auch nach

der damals herrſchenden Theorie den dolus indeterminatus treffen zu

können. t)

Der Code pénal ſetzt in ſeiner Begriffsbeſtimmung die Abſicht zu

tödten voraus, und hebt auch den Gegenſatz zum Aſſaſſinat nicht

unmittelbar hervor, indem er nicht angiebt, daß der Todtſchlag (le

meurtre) ohne Prämeditation begangen wird. u) Dieſer erſcheint viel-

mehr als das allgemeinere Verbrechen, von welchem der Mord eine

geſetzlich ausgezeichnete Art iſt.

I. Wenn es für den Todtſchlag weſentlich iſt, daß er nicht mit

Ueberlegung begangen wird, ſo fragt es ſich doch, ob damit noth-

wendig geſetzt iſt, daß die That im Affekt verübt werde. Dieß wurde

t) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 133-44. — Berathungs-

Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 183. 184.

u) Code pénal. Art. 295. L'homicide commis volontairement est

qu alifié meurtre.

[351/0361]

§§. 176-179. Todtſchlag.

in Folge der oben angeführten Verhandlungen des Staatsraths ange-

nommen, und der Entwurf von 1843. alſo gefaßt:

§. 299. „Wer vorſätzlich, jedoch nicht mit Ueberlegung, ſondern

im Affekte (Leidenſchaft) einen Menſchen tödtet, begeht einen Todtſchlag

und hat zehnjährige bis lebenswierige Strafarbeit oder Zuchthausſtrafe

verwirkt.“

Allein gegen dieſe Auffaſſung hat man ſich ſpäter mit Recht er-

klärt. Zunächſt errege es Bedenken, daß hier Affekt durch Leidenſchaft

erklärt werde, da dieſe doch mehr in einer geſteigerten Thätigkeit des

Begehrungsvermögens beſtehe, während der Affekt mehr ein geſteigertes

Gefühl bezeichne. Wichtiger aber ſei es, daß durch die Aufnahme des

Affekts in den Begriff des Todtſchlags die ganze Strafbeſtimmung des

§. 299. mehr, als es in der Abſicht gelegen, beſchränkt werde. Denn

wenn der Richter weder Ueberlegung noch Affekt in der Handlung finde,

obgleich er dieſe als eine vorſätzliche anerkenne, ſo würde weder ein

Mord noch ein Todtſchlag in dem geſetzlichen Sinne vorliegen, und es

überhaupt an einem Strafgeſetz für dieſen Fall fehlen. Jener Zuſatz

müſſe daher weggelaſſen werden. v) — In der That beſteht auch kein ſol-

cher Gegenſatz zwiſchen der Handlung mit Ueberlegung und im Affekt,

daß dadurch jede andere mögliche Gemüthsſtimmung ausgeſchloſſen

würde. Der Richter hat vielmehr zu erwägen, ob die Tödtung, ſei es

bei der Faſſung des Entſchluſſes oder bei der Ausübung, mit Ueber-

legung verübt worden iſt, und wenn weder das Eine noch das Andere

der Fall iſt, ſo wird er einen Todtſchlag annehmen müſſen, ohne daß

es in Beziehung auf den Thatbeſtand darauf ankommt, ob der Thäter

in einer beſonderen leidenſchaftlichen Aufregung ſich befunden. Das

Strafgeſetzbuch ſteht in dieſer Hinſicht mehr auf dem Standpunkt der

Franzöſiſchen Geſetzgebung, während die neueren Deutſchen Strafgeſetz-

bücher den Todtſchlag nur dann annehmen, wenn er „im Affekt“ oder

„in aufwallender Leidenſchaft“ begangen worden iſt. w)

II. In Einem Falle ſoll jedoch der Affekt bei dem Todtſchlage

berückſichtigt werden, und zwar als Milderungsgrund, wenn derſelbe

nämlich ein gerechter war, indem der Getödtete den Thäter zum Zorne

gereizt hatte (§. 177.). Es iſt dieß ein Fall der geſetzlichen Entſchul-

digung (excuse), welche die Franzöſiſche Jurisprudenz zu einem allge-

meinen Rechtsbegriff ausgebildet hat, ſo daß die Zulaſſung derſelben

wegen Provokation bei dem Todtſchlage und der Körperverletzung nur

v) Reviſion von 1845. II. S. 115. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 113.

w) Ueber das Geſchichtliche vgl. Mittermaier in der Note zu Feuerbach's

Lehrbuch. §. 215.

[352/0362]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

als die Anwendung einer Regel erſcheint. x) Das Strafgeſetzbuch hat

dieſen Milderungsgrund nur bei dem Todtſchlage und bei der Miß-

handlung und der Körperverletzung (§. 196.), und auch nur in be-

ſchränkter Weiſe, ausdrücklich anerkannt, während er in andern Fällen

allerdings unter den mildernden Umſtänden in Betracht gezogen werden

kann. — Folgende Punkte ſind hier zu erwägen.

a. Der Thäter muß ohne eigene Schuld zur That gereizt

worden ſein. Dieſe beſchränkende Beſtimmung, welche ſchon in dem

vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß Anſtoß erregt hatte, y) ſollte nach einem

in der Kommiſſion der erſten Kammer geſtellten Antrage entfernt wer-

den, indem man dem Richter die Befugniß geben wollte, eine Milderung

der Strafe auch dann eintreten zu laſſen, wenn der Todtſchläger zu der

ihm oder ſeinen Angehörigen von dem Getödteten zugefügten Mißhand-

lung einen obwohl entfernten oder unzureichenden Anlaß gegeben habe.

Die Kommiſſion glaubte aber, daß das Princip des Paragraphen an

ſich begründet ſei, und daß dabei dem richterlichen Urtheil die volle

Freiheit gelaſſen werde, zu ermeſſen, ob nach Beſchaffenheit der Umſtände

eine Schuld des Todtſchlägers in Bezug auf die ihm widerfahrene pro-

vokatoriſche Behandlung anzunehmen ſei oder nicht. z) Hat derſelbe eben

nur einen entfernten oder unzureichenden Anlaß zum Streite gegeben,

ſo wird ihm unter Umſtänden keine Schuld beizumeſſen ſein.

b. Die Mißhandlung oder ſchwere Beleidigung, durch welche der

Thäter gereizt worden, braucht nicht gegen ſeine Perſon gerichtet ge-

weſen zu ſein; es hat dieſelbe Bedeutung, wenn ſie ſeinen Angehö-

rigen zugefügt worden iſt. Statt dieſes allgemeinen Ausdrucks waren

in dem Entwurf von 1843. §. 300. Eltern, Kinder und Ehegatten

genannt worden. Die Aenderung iſt in der Abſicht geſchehen, damit

der Richter im Stande ſei, um ſo freier den Einfluß des gerechten

Affekts zu würdigen, der auch bei Geſchwiſtern, bei Brautleuten, bei

dem Verhältniß der Adoption und Pflege Rückſicht verdienen könne. a)

c. Der Fall, wo ein Ehegatte den Anderen im Ehebruch ertappt

und ſich dadurch hinreißen läßt, dieſen und den Buhlen zu erſchlagen,

iſt nicht beſonders hervorgehoben worden; es hat aber darüber kein

Zweifel beſtanden, daß auch dieſer Fall unter der ſchweren Beleidigung

mitbefaßt ſei. b)

x) Code pénal. Art. 321-26. — Chauveau et Hélie Faustin.

l. c. chap. XLVII.

y) Verhandlungen. IV. S. 13.

z) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 177.

a) Reviſion von 1845. II. S. 117.

b) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 152. — Berathungs-

Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 190. — Reviſion a. a. O.

[353/0363]

§. 176-179. Todtſchlag.

d. Der zur That Gereizte muß ſie „auf der Stelle“ begangen

haben, ohne daß er ſich zur Ueberlegung Zeit ließ: denn nur für den

Todtſchlag und nicht für den Mord ſoll hier ein Entſchuldigungsgrund

geboten werden. Es darf alſo zwiſchen der Anreizung und dem Todt-

ſchlage kein ſolcher Zwiſchenraum liegen, daß die unmittelbare Wirkung

der erſteren auf die Handlung des Todtſchlägers ihre Kraft verliert.

„Auf der Stelle“ (illico) bezeichnet nicht ſo wohl denſelben Ort, als die

Kontinuität der Handlungen.

e. Auf den an einem leiblichen Aſcendenten verübten Todtſchlag

bezieht ſich die Beſtimmung des §. 177. überhaupt nicht, wie ſich ſchon

aus der Stellung des §. 179. und aus den Worten „ſo bleibt die

lebenslängliche Zuchthausſtrafe ausgeſchloſſen“ ergiebt; ſ. auch unten

§. 196.

f. Die Strafmilderung iſt erheblich; ſtatt der abſoluten Strafe

des §. 176. tritt Gefängniß von zwei bis fünf Jahren ein. Auch iſt

dabei die Beſtimmung des §. 196. ins Auge zu faſſen: ging die Ab-

ſicht nicht auf Tödtung, ſondern trat dieſe nur in Folge einer Miß-

handlung oder Körperverletzung ein, ſo findet noch eine weitere Ermäßi-

gung der Strafe ſtatt.

III. Den Gegenſatz zu dieſer Strafmilderung bildet die Vorſchrift

des §. 178., nach welcher ſtatt der gewöhnlichen Strafe des lebens-

länglichen Zuchthauſes die Todesſtrafe eintreten ſoll, wenn der Todt-

ſchlag bei Unternehmung eines Verbrechens oder Vergehens verübt

worden iſt. Auch die Quelle dieſer Beſtimmung iſt das Franzöſiſche

Recht; doch iſt die Härte deſſelben, welche auch nach der Milderung im

Geſetz vom 28. April 1832. nicht zu verkennen iſt, in das Strafgeſetz-

buch nicht übergegangen. c) Dieſes hält nämlich allgemein an dem

Grundſatze feſt, daß der Todtſchlag, welcher gleichzeitig mit einem an-

deren Delikt verübt worden, noch nicht die Todesſtrafe begründe, ſondern

daß ein innerer Zuſammenhang zwiſchen den verſchiedenen Handlun-

gen beſtehen müſſe, indem vorausgeſetzt wird, daß der Todtſchlag

bei Unternehmung eines Verbrechens oder Vergehens verübt worden,

entweder

c) Code pénal. Art. 304. Le meurtre emportera la peine de mort,

lorsqu'il aura précédé, accompagné ou suivi un autre crime ou délit. —

Loi 28 Avril 1832. Le meurtre emportera la peine de mort, lorsqu'il

aura précédé, accompagné ou suivi un autre crime. — Le meurtre

emportera également la peine de mort, lorsqu'il aura eu pour objet, soit

de préparer, faciliter ou exécuter un délit, soit de favoriser la fuite ou

d'assurer l'impunité des auteurs ou complices de ce délit. cf. Chauveau

et Hélie Faustin. l. c. chap. XLIII. §. VII. p. 112-16.

[354/0364]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

1) um ein der Ausführung derſelben entgegen tretendes Hinderniß

zu beſeitigen, oder

2) um ſich der Ergreifung auf friſcher That zu entziehen.

In dieſer Beſchränkung war die Vorſchrift des §. 178. zuerſt von

der Staatsraths-Kommiſſion in Vorſchlag gebracht worden, d) und fand

auch die Billigung des Staatsrathes, e) indem gegen die Einwendung,

daß man dadurch von dem allgemeinen Syſtem des Geſetzbuchs über

die Konkurrenz von Verbrechen und die Beſtrafung der Tödtung ab-

weiche, auf die Gefährlichkeit eines Menſchen hingewieſen wurde, welcher

bei der Ausführung eines verbrecheriſchen Unternehmens oder um ſich

vor den Folgen deſſelben zu ſchützen, vor keinem Mittel zurückſchrecke.

Selbſt das Allgemeine Landrecht, welches den Todtſchlag überhaupt mit

dem Tode beſtrafe, habe für beſondere Fälle (Th. II. Tit. 20. §. 1194.

1196.) durch die Androhung einer geſchärften Todesſtrafe auf jene

Momente Rückſicht genommen. — Das Miniſterium für die Geſetz-

Reviſion, welches den ſingulären Charakter der ganzen Vorſchrift be-

ſonders hervorhob, ſchlug die Streichung deſſelben vor, fand darin aber

keine Unterſtützung, f) und auch der Antrag, welchen die vorberathende

Abtheilung des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes in demſelben Sinne

ſtellte, wurde nur in Beziehung auf die Worte „oder um ſich der Er-

greifung auf friſcher That zu entziehen“ angenommen. g) Später iſt

jedoch, aus den im Staatsrathe angeführten Gründen und namentlich

mit Rückſicht auf die Sicherung der Perſon und des Eigenthums gegen

Diebe und Räuber, die frühere Faſſung wieder hergeſtellt worden. h)

IV. Der Todtſchlag, welcher an leiblichen Eltern verübt wird,

ſoll mit dem Tode beſtraft werden (§. 179.). Es widerſpricht dem

Syſteme des Strafgeſetzbuchs, für die möglichen Fälle einer geringeren

Verſchuldung neben der Todesſtrafe ein Minimum aufzuſtellen, und die

Natur des Verbrechens geſtattet es nicht, hier, wie der vereinigte ſtän-

diſche Ausſchuß es gethan hat, die Berückſichtigung mildernder Umſtände

zuzulaſſen. i) Nur die Gnade kann in einem ſolchen Fall das ſtrenge

Recht mit den Anforderungen der Billigkeit ausgleichen.

d) Berathungs-Protokolle. II. S. 184. 185.

e) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 14. und 17. April 1841.

f) Reviſion von 1845. II. S. 118. 119. — Verhandlungen der

Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 113.

g) Verhandlungen IV. S. 20-24.

h) Motive zum Entwurf von 1850. §. 164. 165. Vgl. Württemb.

Strafgeſetzb. Art. 245.

i) Verhandlungen. IV. S. 13-20.

[355/0365]

§. 180. Kindesmord.

§. 180.

Eine Mutter, welche ihr uneheliches Kind in oder gleich nach der Geburt

vorſätzlich tödtet, wird wegen Kindesmordes mit Zuchthaus von fünf bis zu

zwanzig Jahren beſtraft.

Wird die vorſätzliche Tödtung des Kindes von einer anderen Perſon als

der Mutter verübt, oder nimmt eine andere Perſon an dem Verbrechen des

Kindesmordes Theil, ſo kommen gegen dieſelbe die Beſtimmungen über

Mord oder Todtſchlag, ſowie über die Theilnahme an dieſem Verbrechen zur

Anwendung.

Das Allgemeine Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 887-991.) handelt

von dem Verbrechen des Kindesmordes und von der Verheimlichung

der Schwangerſchaft und der Niederkunft in einer Ausführlichkeit, welche

ſelbſt in dieſem Geſetzbuch beiſpiellos iſt, und jedenfalls eine formelle

Aenderung unabweislich machte. k) Aber auch die materiellen Beſtim-

mungen bedurften dringend einer Reviſion, indem die Härte der Straf-

vorſchriften mit dem Rechtsgefühl der Gegenwart in Widerſpruch ſtand,

und außerdem die Beſtimmungen über die Verheimlichung der Schwanger-

ſchaft und der Niederkunft nach richtigen Grundſätzen der Geſetzgebung

überhaupt nicht anerkannt werden konnten. In letzterer Beziehung ent-

ſchloß man ſich, die bezeichneten Handlungen nicht mehr als ſelbſtändige

Delikte aufzuſtellen, indem namentlich in dem Staatsrathe nachgewieſen

wurde, daß die frühere Geſetzgebung aus einer unhaltbaren Vermiſchung

einzelner Momente des Indizienbeweiſes mit gewiſſen polizeilichen An-

forderungen hervorgegangen ſei, und den richtigen Grundſätzen der

Strafrechtspflege nicht entſpreche. l) Nur der Fall, wenn der Leichnam

des unehelichen Kindes ohne Vorwiſſen der Behörden beerdigt oder bei

Seite geſchafft worden, blieb einer beſonderen Strafvorſchrift unterwor-

fen (§. 186.).

Bei der Abfaſſung der Strafvorſchriften über den Kindesmord

wurde aber von der Anſicht ausgegangen, daß das Verbrechen aus zwei

Gründen von dem gewöhnlichen Morde unterſchieden und milder beur-

theilt werden müſſe. Einmal müſſe man auf die beſonderen Motive

k) Die Beſtimmungen des Allgem. Landrechts beruhen im Weſentlichen auf dem

Edikt vom 8. Febr. 1765., über welches ſchon Friedrich II., als es ihm zur Voll-

ziehung vorgelegt wurde, das Bedenken äußerte: „ob ein dergleichen weitläuftiges und

vagues, auch auf zu viele partikuläre Fälle eingerichtetes Edikt von denen Obrig-

keiten, ſo es obſerviren ſollen, werde geleſen, geſchweige denn denen gemeinen Leuthen,

die es eigentlich angeht, da die mehrſten, ſo zu dergleichen Unthaten ſchreiten, Dienſt-

und Bauermädchen ſeynd, werde bekannt werden.“ S. Motive zum erſten Ent-

wurf. III. 2. S. 168.

l) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 198-201. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 17. April 1841.

[356/0366]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

Rückſicht nehmen, welche zur Verübung des Kindesmordes führen. Die

gewöhnlichen Beweggründe, welche eine unehelich Geſchwängerte ver-

anlaſſen, ein neugeborenes Kind zu tödten, ſeien die Furcht vor der

Schande über die verlorene Geſchlechtsehre, und die Beſorgniß, aus

Mangel an Unterhalt das Kind nicht ernähren zu können. Außerdem

komme aber auch der phyſiſche und pſychiſche Zuſtand der Kindesmör-

derin zur Zeit der That in Betracht. m) Legt nun die Geſetzgebung

dieſen Momenten nicht das ihnen gebührende Gewicht bei, ſo tritt ſie

in Widerſpruch mit dem gemeinen Rechtsgefühl, und führt zu einem

gewaltſamen Zwieſpalt zwiſchen der Rechtsanwendung und der Rechts-

regel, von welchem man in Frankreich und in Preußen bei einem ganz

verſchiedenen Strafprozeßrechte die Beiſpiele geſehen hat. n)

I. Nur inſofern die Mutter die Thäterin iſt, kommen die Vor-

ſchriften des Geſetzbuchs über den Kindesmord zur Anwendung; ſonſt

gelten die Beſtimmungen über Mord und Todtſchlag, mag die andere

Perſon das Verbrechen ſelbſt verübt oder an dem von der Mutter be-

gangenen Kindesmord nur Theil genommen haben (§. 180. Abſ. 2.):

denn die Gründe für die beſondere Behandlung des Verbrechens treffen

nur bei der Mutter zu. Auch für dieſe iſt es aber

II. nur dann der Fall, wenn ſie ihr uneheliches Kind getödtet

hat. Welches Kind für ein uneheliches zu halten, bedurfte keiner ge-

naueren geſetzlichen Vorſchrift, wie das Allg. Landrecht (II. 20. §. 982.

983.) ſie aufgeſtellt hat.

III. Das Kind muß in oder gleich nach der Geburt getödtet ſein.

Die Bezeichnung „neugeborenes Kind“ hat man an dieſer Stelle (ſie

findet ſich §. 186. Abſ. 2.) nur deswegen nicht gewählt, weil die Töd-

tung auch während der Geburt geſchehen kann; ein anderer Grund, jene

hergebrachte Terminologie zu verlaſſen, lag nicht vor, und eine materielle

Aenderung hat daher durch die Wahl des Ausdrucks nicht bewirkt wer-

den ſollen. — Wann aber der Thatbeſtand im Sinne des Ausdrucks

„gleich nach der Geburt“ vorliegt, iſt nach den Umſtänden zu ermeſſen.

Der Vorſchlag, eine beſtimmte Friſt, etwa von 24 Stunden nach der

Geburt anzunehmen, wurde als willkührlich und das richterliche Er-

meſſen in ungeeigneter Weiſe beſchränkend verworfen. o)

m) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 177-79.

n) Code pénal. Art. 300. Est qualifié infanticide le meurtre d'un

enfant nouveau-né. — Art. 302. Tout coupable d'assassinat, de parricide,

d'infanticide et d'empoissonnement, sera puni de mort.

o) Motive zum erſten Entwurf a. a. O. S. 182-84. — Berathungs-

Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 193. 194. — Proto-

kolle des Staatsraths, Sitzung vom 17. April 1841.

[357/0367]

§. 180. Kindesmord.

IV. Eine für die Praxis ſehr wichtige Frage iſt es, ob die Le-

bensfähigkeit des Kindes zum Thatbeſtand des Kindesmordes erforderlich

ſein ſoll. Die Staatsraths-Kommiſſion wollte, wenn das Kind noch

nicht lebensfähig war, in ungeeigneter Weiſe die mildere Strafe des

nicht beendigten Verſuchs anwenden; p) allein der Staatsrath erklärte

ſich gegen die ganze Unterſcheidung, indem er zum Thatbeſtande des

Verbrechens den Umſtand, daß das Kind wirklich gelebt habe, für genü-

gend hielt. Damit ſtimme auch das Allg. Landrecht überein, und wenn

die Rechtslehrer das Erforderniß der Lebensfähigkeit ſo häufig aufſtellten,

ſo erkläre ſich dieß aus dem Beſtreben, die Strafen der Karolina zu

mildern, und insbeſondere die Todesſtrafe bei dem Kindesmord zu be-

ſeitigen. Das gedachte Erforderniß ſei aber unzuläſſig, weil es a. gegen

das Rechtsprinzip verſtoße, und b. zur Willkühr führe.

ad a.Dem Geſetze müſſe jedes Leben heilig ſein, ohne Rückſicht

auf die Möglichkeit ſeiner längeren oder kürzeren Dauer und auf die

Früchte, welche es bringen werde. Wäre der Umſtand, daß ein unreif

geborenes Kind ſein Leben nur ſehr kurze Zeit fortſetzen könne, entſchei-

dend, ſo würde auch die Tödtung eines völlig ausgetragenen Kindes,

welches wegen eines organiſchen Fehlers nur ſehr kurze Zeit nach der

Geburt hätte leben können, nicht als ein Kindesmord zu behandeln ſein,

was noch niemand zu behaupten gewagt habe. Daß bei der Frage, ob

eine Tödtung als Mord zu betrachten ſei, die Gewißheit einer nur ſehr

kurzen Lebensdauer des Getödteten nicht in Betracht kommen könne,

ſei bei der, dem Staatsrathe vorgelegten Hauptfrage Nr. 40. ent-

ſchieden worden.

ad. b. Eine ſolche Annahme ſei aber nicht bloß inkonſequent, ſon-

dern ſie führe auch zur Willkühr. Ueber den Zeitpunkt, mit welchem

die Lebensfähigkeit eines Kindes beginnt, ſeien die Meinungen der Ge-

lehrten und die Vorſchriften der Geſetze nicht übereinſtimmend. Als die-

ſen Zeitpunkt nehme das Römiſche Recht den 182ſten, das Allg. Land-

recht aber den 210ten Tag nach der Empfängniß an; der Zeitpunkt der

letzteren ſei aber meiſtens ſelbſt für die Mutter ungewiß, und kein Arzt

vermöge in zweifelhaften Fällen zu beſtimmen, ob das ihm vorgezeigte

Kind einige Tage vor oder nach jenem Zeitpunkte geboren ſei. Die

Regel des Civilrechts über die Lebensfähigkeit beziehe ſich auch nur auf

die Frage wegen der Paternität, und diene nur dazu, um für letztere

zur Feſtſtellung der Legitimität eine Vermuthung zu begründen. Sollte

das Erforderniß der Lebensfähigkeit für den Thatbeſtand des Kindes-

mordes aufgeſtellt werden, ſo würde man die Entſcheidung darüber ganz

p) Berathungs-Protokolle. II. S. 194. 195.

[358/0368]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

dem Urtheile der Aerzte überlaſſen müſſen, was nur zu Schwankungen

und Willkühr führen werde. q)

In Folge dieſer Entſcheidung des Staatsraths wurde es im Ent-

wurf von 1843. §. 308. neben dem überlegten Vorſatz der Mutter nur

als ein Strafzumeſſungsgrund aufgeführt, ob das Kind lebensfähig ge-

weſen oder nicht, — eine Beſtimmung, welche ſpäter mit den übrigen

Zumeſſungsgründen weggelaſſen worden iſt.

V. Die Tödtung des Kindes muß vorſätzlich geſchehen ſein, ohne

daß ein Unterſchied gemacht wird, ob eine Ueberlegung dabei ſtattgefun-

den hat oder nicht. Man glaubte, es werde zu unentwirrbaren Schwie-

rigkeiten führen, wenn in jedem einzelnen Fall die Unterſuchung hier

auf die beſondere Beſchaffenheit des Dolus gerichtet werden müſſe. Da-

gegen wurde es als ſich von ſelbſt verſtehend angenommen, daß die

vorſätzliche Tödtung durch Unterlaſſungen von Seiten der Mutter, indem

ſie das Kind z. B. verbluten, erſticken, verſchmachten läßt, der poſitiven

Handlung gleich ſtehe, während die fahrläſſige Tödtung nach den Grund-

ſätzen des §. 184. zu beſtrafen ſei. r)

VI. Das aufgeſtellte Strafmaaß iſt weit genug, um die verſchie-

denen Grade der Verſchuldung durch das richterliche Ermeſſen berück-

ſichtigen zu laſſen. Einfaches Gefängniß hat man aber bei einem Ver-

brechen, deſſen ganze Behandlung ſchon eine Abweichung vom ſtrengen

Rechtsprincip darſtellt, nicht zur Anwendung bringen wollen, was jeden-

falls auch nur in der Art hätte geſchehen können, daß die Berückſichti-

gung mildernder Umſtände zugelaſſen worden wäre. Der Entwurf von

1847. §. 231. gab übrigens dem Richter die Wahl zwiſchen Strafarbeit

und Zuchthaus.

§. 181.

Eine Schwangere, welche durch äußere oder innere Mittel ihre Frucht vor-

ſätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf

Jahren beſtraft.

Derjenige, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel angewen-

det oder verabreicht hat, wird mit der nämlichen Strafe belegt.

§. 182.

Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne deren Wiſſen oder Willen

vorſätzlich abtreibt oder tödtet, wird mit Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig

Jahren beſtraft.

q) Protokolle des Staatsraths. Sitzung vom 21. April 1841.

r) Motive zum erſten Entwurf III. 2. S. 184-91. — Berathungs-

Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 195. 197. 198. — Pro-

tokolle des Staatsraths, Sitzung vom 17. April 1841. — Reviſion von

1845. II. S. 125.

[359/0369]

§§. 181. 182. Abtreibung der Leibesfrucht.

Wird dadurch der Tod der Schwangeren herbeigeführt, ſo tritt lebensläng-

liche Zuchthausſtrafe ein.

Dem Verbrechen des Kindesmordes nahe verwandt iſt die Abtrei-

bung der Leibesfrucht. In beiden Fällen wird ein menſchliches Weſen

zerſtört; der Umſtand, ob der Akt der Geburt ſchon eingetreten iſt, un-

terſcheidet ſie von einander. Während aber die Vorſchriften über den

Kindesmord nur die Handlungen der unehelichen Mutter treffen, und

mit Rückſicht auf deren Zuſtand von allgemeinen Rechtsgrundſätzen ab-

weichen, ſind die über die Abtreibung der Leibesfrucht allgemeiner ge-

halten; auch die Handlungen der ehelichen Mutter und dritter Per-

ſonen fallen darunter, und wenn die Strafen nicht die für die Tödtung

überhaupt aufgeſtellten ſind, ſo beruht dieß auf der Erwägung, daß,

wenn der Frucht im Mutterleibe auch der Schutz der Strafgeſetze ge-

währt werden ſoll, doch der Unterſchied zwiſchen dem nach der Geburt

als ſelbſtändiges Weſen lebenden Menſchen und zwiſchen dem Embryo

zu berückſichtigen iſt. Die Zeit während der Geburt wird aber nach

dem Geſetze ſo beurtheilt, als ob dem Kinde ſchon ein ſelbſtändiges Le-

ben gegeben ſei, und der Begriff des Kindesmordes daher in der oben

angegebenen Erweiterung des Thatbeſtandes aufgefaßt.

I. Das Verbrechen der Abtreibung der Leibesfrucht, mit welchem

in früherer Zeit manche abergläubiſche Vorſtellungen ſich verbanden, iſt

in dem Strafgeſetzbuch ſeinem Thatbeſtande nach ſehr allgemein gehalten

worden. s) Es kommt namentlich nicht darauf an, ob äußere oder innere,

gewaltſame oder nicht gewaltſame Mittel zur Verübung des Verbrechens

angewandt worden ſind, ob der Zweck erreicht iſt durch Abtreibung im

eigentlichen Sinne oder durch Tödtung der Frucht im Mutterleibe; es

kommt endlich nicht auf den Grad der Ausbildung und Reife an, wel-

chen dieſelbe erlangt hat. Nur in Beziehung auf die Strafzumeſſung

iſt auf dieſe verſchiedenen Momente ein Gewicht zu legen. t)

II. Die Schwangere, welche ſich des Verbrechens ſchuldig gemacht

hat, wird mit Zuchthaus von zwei bis zu fünf Jahren beſtraft. Vor-

ſätzliches Handeln wird hier aber immer vorausgeſetzt; die Fahrläſſigkeit

wird an der Mutter nicht beſtraft; die Analogie der Tödtung iſt ſchon,

s) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 985-91. — Code pénal Art. 317.

Die Faſſung dieſes Artikels hat in Frankreich Veranlaſſung zu vielen Kontroverſen

gegeben, namentlich in Beziehung auf die Frage, in wie fern ein ſtrafbarer Verſuch

dieſes Verbrechens anzunehmen ſei; ſ. Chauveau et Hélie Faustin, I. c.

chap. XLV. §. II. — Nach dem Strafgeſetzbuch wird im Fall des §. 181. Abſ. 1.

von einem ſtrafbaren Verſuche nicht die Rede ſein können.

t) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 207-12. — Reviſion von

1845. II. S. 129.

[360/0370]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider. d. Leben.

da das Geſetzbuch ſie nicht ausdrücklich angewandt hat, nach allgemei-

nen Rechtsgrundſätzen unzuläſſig.

III. In Beziehung auf dritte Perſonen wird unterſchieden:

a. Jemand hat mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel der

Abtreibung oder Tödtung angewandt oder verabreicht. Dann trifft ihn

die Strafe, welche auch der Mutter angedroht iſt, zwei bis fünfjähriges

Zuchthaus (§. 181. Abſ. 2.).

b.Er hat die Leibesfrucht ohne Wiſſen und Willen der Schwan-

geren abgetrieben oder getödtet. Auf dieſe Handlung, welche auch ein

Verbrechen gegen die Mutter enthält, ſteht Zuchthaus von fünf bis zu

zwanzig Jahren, und wenn der Tod der Schwangeren dadurch herbei-

geführt worden iſt, lebenslängliche Zuchthausſtrafe (§. 182.). u

IV. Auch bei dem Dritten wird vorſätzliches Handeln voraus-

geſetzt, und zwar nach dem Princip des ſtrafrechtlichen Dolus. Der Arzt,

welcher, um der Mutter das Leben zu erhalten, ihr die Leibesfrucht ab-

nimmt oder tödtet, handelt in der Pflicht ſeines Berufs. Aber auch

ein fahrläſſiges Begehen dieſes Verbrechens iſt in dem Geſetzbuch nicht

beſonders unter Strafe geſtellt. Eine Beſtimmung, welche nach dem

Vorgange des Allg. Landrechts (Th. II. Tit. 20. §. 733-36.) in den

älteren Entwürfen hierüber vorkommt (Entwurf von 1843. §. 316.),

fand von Anfang an Widerſpruch und wurde ſpäter aufgegeben, da im

Allgemeinen die Vorſchriften über fahrläſſige Tödtungen, Körperverletzun-

gen und Mißhandlungen ausreichen, und über dieſe hinaus die Vorſicht

des Geſetzgebers ſich als kleinlich und läſtig erweiſen würde. v)

§. 183.

Wer ein Kind unter ſieben Jahren oder eine wegen Gebrechlichkeit oder

Krankheit hülfloſe Perſon ausſetzt, oder ein ſolches Kind oder eine ſolche Per-

ſon, wenn ſie unter ſeiner Obhut ſtehen, in hülfloſer Lage vorſätzlich verläßt,

wird mit Gefängniß nicht unter drei Monaten beſtraft.

Iſt in Folge der Handlung der Tod der ausgeſetzten oder verlaſſenen Per-

ſon eingetreten, ſo trifft den Schuldigen Zuchthaus bis zu zehn Jahren.

Iſt die Handlung mit dem Vorſatze zu tödten verübt, ſo kommen die Stra-

fen des Mordes oder Kindesmordes, oder des Verſuches dieſer Verbrechen zur

Anwendung.

Das Allgemeine Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 969-71.) han-

u Dieſe Beſtimmung macht die Bezugnahme auf eine ſtattgefundene Vergiftung,

welche man im Staatsrathe (Sitzung vom 21. April 1841.) für nöthig hielt, über-

flüſſig.

v) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 203-4. — Reviſion von 1845. II. S. 130.

[361/0371]

§. 183. Ausſetzung hülfloſer Perſonen.

delt von der Ausſetzung der Kinder beim Kindesmord, und faßt das

Verbrechen noch enger auf, als das gemeine Recht, indem es nur die

Ausſetzung durch die Mutter und zwar, wie der Zuſammenhang zeigt,

des neugeborenen Kindes durch die uneheliche Mutter darunter begreift.

Das Strafgeſetzbuch dagegen hat nach dem Vorgange anderer Geſetz-

gebungen den Thatbeſtand des Verbrechens ſehr weit genommen.

I. Das Verbrechen wird begangen durch „Ausſetzen“ oder „vor-

ſätzliches Verlaſſen in hülfloſer Lage.“ Erſteres bezeichnet ein in be-

ſtimmter Abſicht vorgenommenes, vorſätzliches Handeln; es iſt ein tech-

niſcher Ausdruck, der allerdings nur in Beziehung auf neugeborene oder

doch noch ganz hülfloſe Kinder gebraucht zu werden pflegt. Die An-

wendung auf Kinder unter ſieben Jahren und andere wegen Krankheit

oder Gebrechlichkeit hülfloſe Perſonen iſt nach dem Vorgange anderer

Deutſcher Geſetzgebungen geſchehen. w) Doch hielt man ſo ſehr an die-

ſer Erweiterung des Thatbeſtandes feſt, daß ſelbſt der Vorſchlag, wie

bei dem vorſätzlichen Verlaſſen nur für den Fall eine Strafbeſtimmung

aufzuſtellen, wenn die ausgeſetzte Perſon ſich unter der Obhut des Thä-

ters befinde, abgelehnt wurde, weil doch ein Anderer auch ein Intereſſe

bei der That haben und dieſelbe aus Haß und Bosheit begangen wer-

den könnte. x)

II. Wenn auch im Allgemeinen anzunehmen iſt, daß die Aus-

ſetzung wie das Verlaſſen in hülfloſer Lage beſonders deswegen mit

Strafe bedroht iſt, weil Leben oder Geſundheit eines Menſchen dadurch

gefährdet wird, ſo iſt dieß doch nicht der einzige Grund der Strafvor-

ſchrift. Die Verletzung der Pflicht zur Obhut und Unterhaltung, der

Eigennutz, der ſich in einer ſolchen Handlung ausſprechen kann, ſind

Momente, die auch zu berückſichtigen, und die von der Geſetzgebung be-

ſtimmt ins Auge gefaßt ſind. Man erkennt dieß aus den Strafvor-

ſchriften und Zumeſſungsgründen der älteren Entwürfe, namentlich des

von 1843. Hier heißt es:

§. 317. „Wer eine wegen jugendlichen Alters, Krankheit oder Ge-

brechlichkeit hülfloſe Perſon an einen ſolchen Ort oder unter ſolchen

Umſtänden ausſetzt, daß die Lebensrettung des Ausgeſetzten mit Wahr-

ſcheinlichkeit nicht erwartet werden kann, ſoll, wenn das Verbrechen in

der Abſicht zu tödten verübt worden iſt, mit den Strafen des vollbrach-

ten oder verſuchten Mordes belegt werden.

w) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 213-16. — Der Code

pénal (Art. 149-53.) handelt nur von der Ausſetzung von Kindern unter ſieben

Jahren.

x) Reviſion von 1845. II. S. 130. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 117. 118. — Fernere Verhandlungen

von 1847. S. 43.

Beſeler Kommentar. 24

[362/0372]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

Lag die Abſicht zu tödten nicht vor, ſo tritt

1) wenn der Ausgeſetzte um das Leben gekommen iſt, zehnjäh-

rige bis lebenswierige,

2) wenn der Ausgeſetzte an der Geſundheit beſchädigt worden iſt,

fünf- bis zehnjährige, und

3) wenn derſelbe keinen Schaden erlitten hat, zwei- bis fünf-

jährige Strafarbeit oder Zuchthausſtrafe

ein.“

§. 318. „Geſchah die Ausſetzung an einem ſolchen Ort oder un-

ter ſolchen Umſtänden, daß zwar Gefahr für das Leben oder die Ge-

ſundheit des Ausgeſetzten vorhanden war, die baldige Rettung deſſelben

aber von dem Thäter mit Wahrſcheinlichkeit gehofft werden konnte, ſo

iſt im Fall des §. 317. Nr. 1. auf Zuchthaus oder Strafarbeit von

fünf bis zehn Jahren, im Falle von Nr. 2. auf Strafarbeit von zwei

bis fünf Jahren, und im Fall von Nr. 3. auf Strafbarkeit von ſechs

Monaten bis zu drei Jahren zu erkennen.“

§. 319. „Geſchah die Ausſetzung an einem ſolchen Ort und un-

ter ſolchen Umſtänden, daß keine Gefahr für das Leben oder die Ge-

ſundheit des Ausgeſetzten zu fürchten war, ſo tritt Gefängnißſtrafe nicht

unter zwei Monaten, und wenn wider Erwarten der Ausgeſetzte den-

noch dadurch beſchädigt oder um das Leben gekommen iſt, Gefängniß-

ſtrafe nicht unter vier Monaten oder Strafarbeit bis zu drei Jah-

ren ein.“

§. 320. „Die vorſtehenden Beſtimmungen (§§. 317-19.) kom-

men auch dann zur Anwendung, wenn derjenige, welchem eine hülfloſe

Perſon zur Fürſorge anvertraut iſt, ſich von derſelben entfernt und ſie

in einem hülfloſen Zuſtande verläßt.“

Mit Recht wurde dieſe kaſuiſtiſche Faſſung des Geſetzes ſpäter ver-

laſſen, y) aber die verſchiedenen, in den angeführten Paragraphen auf-

geſtellten Fälle der Verſchuldung ſind unter den Strafbeſtimmungen des

Geſetzbuchs noch begriffen.

III. Die regelmäßige Strafe iſt Gefängniß von drei Monaten bis

fünf Jahren, welche nur dann bis zur Zuchthausſtrafe geſteigert wird,

wenn der Tod der ausgeſetzten oder verlaſſenen Perſon eingetreten iſt

(§. 183. Abſ. 2.). Iſt aber die Handlung mit dem Vorſatze zu tödten

verübt worden, ſo daß die Ausſetzung oder das Verlaſſen nur als ein

Mittel zu dieſem Zweck ſich darſtellt, ſo kommen die allgemeinen Regeln

über den Mord und beziehungsweiſe den Kindesmord zur Anwendung

(§. 183. Abſ. 3.). Nachtheilige Folgen für die Geſundheit der aus-

y) Reviſion a. a. O. S. 130-32.

[363/0373]

§. 184. Fahrläſſige Tödtung.

geſetzten oder verlaſſenen Perſon ſind nur als Strafzumeſſungsgründe

zu berückſichtigen.

§. 184.

Wer durch Fahrläſſigkeit den Tod eines Menſchen herbeiführt, wird mit

Gefängniß von zwei Monaten bis zu zwei Jahren beſtraft.

Wenn der Thäter zu der Aufmerkſamkeit oder Vorſicht, welche er bei der

fahrläſſigen Tödtung aus den Augen ſetzte, vermöge ſeines Amtes, Berufes

oder Gewerbes beſonders verpflichtet war, ſo kann derſelbe zugleich auf eine

beſtimmte Zeit, welche die Dauer von fünf Jahren nicht überſteigen darf, oder

für immer zu einem ſolchen Amte für unfähig oder der Befugniß zur ſelbſtän-

digen Betreibung ſeiner Kunſt oder ſeines Gewerbes verluſtig erklärt werden.

Es war bei Gelegenheit der Verhandlungen über die Beſtrafung

der fahrläſſigen Tödtung, als das oben (S. 50-56.) abgedruckte Gut-

achten des Juſtizminiſters v. Savigny erſtattet wurde, in welchem ſich

umfaſſende Erörterungen über die Grade des Verſehens finden, und der

Standpunkt, welchen das Strafgeſetzbuch in dieſer Lehre eingenommen hat,

feſtgeſtellt worden iſt. Die dort vertretene Anſicht, daß nur das geringe

Verſehen, zu deſſen Vermeidung eine beſondere Aufmerkſamkeit gehört,

dem Thäter nicht anzurechnen iſt, hat übrigens gerade in Beziehung

auf die fahrläſſige Tödtung ſchon in den früheren Stadien der Reviſion

Anerkennung gefunden, z) und der Zweck des Gutachtens war es na-

mentlich, von beſonderen Beſtimmungen über den Grad der ſtrafbaren

Fahrläſſigkeit in dem Geſetzbuch abzuhalten. Daß die Zumeſſung der

geſetzlichen Strafe von der größeren oder geringeren Verſchuldung auch

in dieſem Falle hauptſächlich abhängt, verſteht ſich von ſelbſt.

Eine beſondere Rückſicht iſt aber noch auf den Fall genommen,

wenn der Thäter zu der Aufmerkſamkeit oder Vorſicht, welche er bei der

fahrläſſigen Tödtung aus den Augen ſetzte, vermöge ſeines Amtes, Be-

rufes oder Gewerbes beſonders verpflichtet war. Einige allgemeine Be-

ſtimmungen in Beziehung auf das Benehmen der Hebeammen, Bau-

meiſter und Bauhandwerker ſo wie der Eiſenbahnbeamten werden ſpäter

noch zu erwähnen ſein; a) hier handelt es ſich zunächſt nur um die

Tödtung durch die Fahrläſſigkeit der oben bezeichneten Perſonen. Das

Allgemeine Landrecht beſtimmte hierüber:

Th. II. Tit. 20. §. 779. „Iſt die ſchwere Beſchädigung eines

Menſchen durch grobe Vernachläſſigung gewiſſer beſonderer Amts- oder

Berufspflichten veranlaßt worden, ſo ſoll der Uebertreter, noch außer

z) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 217-20. — Verhandlun-

gen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 116.

a) §§. 201. 202. 295. Vgl. oben S. 50.

24*

[364/0374]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XV. Verbr. u. Verg. wider d. Leben.

der nach vorſtehender Anordnung ihn treffenden Strafe, zu einem ſol-

chen Amte oder Gewerbe auf immer für unfähig erklärt werden.“

Es iſt hierbei zu bemerken, daß das Landrecht a. a. O. (§. 777.

bis 81.) die fahrläſſige Tödtung und Körperverletzung als Ein Delikt

(Verletzung an Geſundheit oder Leben) auffaßt, und die Verſchiedenheit

der Fälle nur bei der Strafzumeſſung berückſichtigen läßt. Jene Straf-

ſchärfung aber wegen Vernachläſſigung der Amts- und Berufspflichten

wurde in der Reviſion als zu hart befunden. Nur bei beſonders er-

ſchwerenden Umſtänden und bei einem vorzüglich hohen Grade der Fahr-

läſſigkeit dürfte einem Arzte, einem Apotheker u. ſ. w. auf eine Zeitlang

die Ausübung ihrer Kunſt oder ihres Gewerbes zu unterſagen ſein,

außerdem nur wenn ein Rückfall vorliege. Auch gehöre der Fall nicht

hierher, wenn nicht aus Nachläſſigkeit, ſondern aus Unwiſſenheit das

Verſehen begangen worden. b)

In dieſem Sinne wurde auch die geſetzliche Vorſchrift getroffen,

deren angemeſſene Beſchränkung nach der jetzigen Faſſung des Geſetz-

buchs als eine Verbeſſerung anzuſehen iſt. Da die Strafſchärfung von

dem Ermeſſen des Richters abhängen ſoll, ſo wird nur in den Fällen

einer größeren Verſchuldung und mit Rückſicht auf die Gefahr, welcher

das Publikum ausgeſetzt iſt, darauf erkannt werden. Nach dieſen Ge-

ſichtspunkten wird es ſich denn auch entſcheiden, wie es bei dem Rück-

fall zu halten iſt.

§. 185.

Bei Feſtſtellung des Thatbeſtandes der Tödtung kommt es nicht in Be-

tracht, ob der tödtliche Erfolg einer Verletzung durch zeitige oder zweckmäßige

Hülfe hätte verhindert werden können, oder ob eine Verletzung dieſer Art in

anderen Fällen durch Hülfe der Kunſt geheilt worden, ingleichen ob die Ver-

letzung nur wegen der eigenthümlichen Leibesſchaffenheit des Getödteten, oder

wegen der zufälligen Umſtände, unter welchen ſie zugefügt wurde, den tödt-

lichen Erfolg gehabt hat.

Daß es bei der Feſtſtellung des objektiven Thatbeſtandes der Töd-

tung nur darauf ankommen kann, ob die Tödtung wirklich ſtattgefunden

hat, und daß die weiteren Fragen, ob die Verletzung unbedingt oder

bedingt tödtlich u. ſ. w., nur für den ſ. g. ſubjektiven Thatbeſtand, für

die Zurechnung und den Grad der Verſchuldung von Bedeutung ſind,

— das ſcheint ſich ſo unzweifelhaft aus allgemeinen Rechtsgrundſätzen

zu ergeben, daß eine beſondere geſetzliche Vorſchrift darüber wohl für

überflüſſig gehalten werden konnte. Wenn ſie nichts deſtoweniger zu

b) Motive a. a. O. S. 221. 222.

[365/0375]

§. 185. Thatbeſtand d. Tödtung im Allg. §. 186. Heimliche Beerdigung.

Anfang der Reviſion aufgeſtellt c) und ſpäter beibehalten worden iſt, ſo

erklärt ſich das aus dem Bedürfniß, der früheren Geſetzgebung mit einer

beſtimmten Satzung entgegenzutreten, und die Kontinuität der Praxis

in dieſer Beziehung zu verhindern. — Das Nähere über die Lethalität

der Verletzungen gehört dem Strafprozeß und der Wiſſenſchaft an.

§. 186.

Wer ohne Vorwiſſen der Behörde einen Leichnam beerdigt oder bei Seite

ſchafft, wird mit Geldbuße bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß

bis zu ſechs Monaten beſtraft.

Die Strafe iſt Gefängniß bis zu zwei Jahren, wenn eine Mutter den

Leichnam ihres unehelichen neugeborenen Kindes ohne Vorwiſſen der Behörde

beerdigt oder bei Seite ſchafft.

Unter den Uebertretungen iſt es mit Strafe bedroht, wenn jemand

den polizeilichen Vorſchriften über voreilige Beerdigung entgegen han-

delt (§. 345. Nr. 1.); hier iſt der Fall vorgeſehen, wenn jemand ohne

Vorwiſſen der Behörde einen Leichnam beerdigt oder bei Seite ſchafft.

Meiſtens wird eine ſolche Handlung heimlich geſchehen, d. h. allein

durch den Thäter oder nur mit Zuziehung einzelner, vertrauter Perſo-

nen; aber nothwendig iſt dieß zum Thatbeſtand des Vergehens nicht.

Es kommt nur darauf an, ob die Behörde Kenntniß von der beabſich-

tigten Beerdigung oder Beſeitigung der Leiche erhalten hat. Daß dieß

gerade durch eine Anzeige der Betheiligten geſchehen muß, iſt nicht vor-

geſchrieben worden, wenn beſondere polizeiliche Anordnungen ſie auch

wohl faſt allenthalben erheiſchen, und deren Uebertretung daher beſon-

ders geahndet werden kann; jedenfalls wird eine ſolche Anzeige regel-

mäßig allein davor ſicher ſtellen, daß nicht die Abſicht angenommen

wird, die Handlung habe vor der Behörde verheimlicht werden ſollen.

In dem Ausdruck „bei Seite ſchaffen“ iſt übrigens eine ſolche beabſich-

tigte Verheimlichung ſchon ausgedrückt, ſo daß die Worte „ohne Vor-

wiſſen der Behörde“ kaum darauf bezogen zu werden brauchen.

Eine allgemeine Beſtimmung, wie ſie §. 186. Abſ. 1. enthält, iſt

übrigens im Intereſſe der Rechtsſicherheit unerläßlich; von beſonderer

Bedeutung wird ſie aber für den Fall, wenn die Mutter die Handlung

an dem Leichnam ihres unehelichen neugeborenen Kindes verübt. Die

Erfahrung lehrt es, daß mit dem Kindesmord meiſtens die Beſeitigung

der Leiche (partus abolitio) verbunden iſt, und wenn in dieſer Hand-

lung bei dem jetzigen Strafverfahren auch nicht mehr ein geſetzliches

c) Motive a. a. O. S. 94-101.

[366/0376]

Th. II. B. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

Indicium des Kindesmordes gefunden werden kann, ſo rechtfertigt ſich

doch für dieſen Fall die im Geſetz vorgeſchriebene Straferhöhung unter

Ausſchließung der Geldbuße, zumal da bei der Gefängnißſtrafe kein Mi-

nimum vorgeſchrieben iſt (§. 186. Abſ. 2.). Der Begriff des Leichnams

ſetzt übrigens voraus, daß die Geburt eines Kindes ſtatt gefunden hat;

auf den Abortus bezieht ſich die Vorſchrift des Geſetzbuchs nicht.

Sechszehnter Titel.

Körperverletzung.

§. 187.

Wer vorſätzlich einen Anderen ſtößt oder ſchlägt, oder demſelben eine andere

Mißhandlung oder Verletzung des Körpers zufügt, wird mit Gefängniß bis

zu zwei Jahren beſtraft.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo iſt auf Geld-

buße bis zu dreihundert Thalern zu erkennen.

§. 188.

Wenn leichte körperliche Verletzungen oder Mißhandlungen auf der Stelle

erwiedert werden, ſo ſoll der Richter ermächtigt ſein, für beide Theile oder für

einen derſelben eine, der Art oder dem Maaße nach mildere Strafe, oder gar

keine Strafe eintreten zu laſſen.

§. 189.

Wenn wegen vorſätzlich zugefügter leichter Körperverletzungen oder Miß-

handlungen die Privatklage erhoben iſt, ſo kommen die im zwölften *) Titel bei

den Ehrverletzungen über den Antrag auf Beſtrafung und die Zurücknahme

des Strafantrages gegebenen Beſtimmungen zur Anwendung.

In dieſen Paragraphen ſind die Beſtimmungen über leichte Kör-

perverletzungen oder Mißhandlungen, d) welche nach dem Syſteme des

Strafgeſetzbuchs die Stelle der Realinjurien einnehmen, enthalten. Was

über dieſe Auffaſſung im Allgemeinen zu ſagen war, iſt bereits oben

S. 321-23. angeführt worden; hier find nur noch folgende Punkte

hervorzuheben.

I. Wenn in §. 187. nur das vorſätzliche Handeln zum That-

*) Dieß iſt ein offenbarer Druckfehler in der offiziellen Ausgabe des Geſetzbuchs;

es muß „dreizehnten“ heißen.

d) Daß neben den Körperverletzungen die Mißhandlungen aufgeführt werden,

beruht auf einem Beſchluß des Staatsraths, Sitzung vom 21. April 1841. — Es

iſt durch dieſe allgemeinen Ausdrücke eine nicht unweſentliche Abweichung vom Code

pénal begründet, welcher immer nur von Verwundungen, Schlägen oder Stößen han-

delt; ſ. Art. 309. 311. 321.

[367/0377]

§§. 187-189. Körperverletzungen und Mißhandlungen.

beſtande des Vergehens erfordert wird, ohne eine nähere Beſtimmung

des Begriffs, ſo ſind doch auch hier die allgemeinen Bedingungen des

ſtrafrechtlichen Dolus vorauszuſetzen. Es kommt nicht bloß auf die be-

wußte Vornahme einer äußeren Handlung an, ſondern ſie muß auch in

einer beſtimmten Willensrichtung begangen ſein. Wenn alſo z. B. je-

mand den Anderen ſtößt, um ihn von einem gefährlichen Ort wegzu-

bringen, etwa vor einer Verletzung durch einen fallenden Körper zu

bewahren, ſo wird darin keine ſtrafbare Mißhandlung zu erkennen ſein.

Es kommt alſo auf die Abſicht an, welche der Handlung zum Grunde

lag; ob dieſelbe eine wohlwollende oder doch harmloſe war, welche das

Strafgeſetz nicht hat treffen wollen, oder ob ſie der Willensbeſtimmung

den Charakter des Dolus aufdrückt. Die Uebergänge werden auch hier

freilich oft ſehr allmählich ſein; die Handlung kann ſich als Ausfluß

einer muthwilligen Laune darſtellen, welche von dem frevelhaften Ueber-

muth, der luxuria, noch weit entfernt iſt, aber ſich doch ſchon auf der

ſchmalen Grenze zwiſchen dem Erlaubten und Unerlaubten bewegt. Re-

gelmäßig wird ſich bei den leichten Körperverletzungen und Mißhand-

lungen im Sinne der Realinjurie die Abſicht zu beleidigen, der animus

injuriandi als weſentliches Merkmal des Dolus herausſtellen, ſo daß

die allgemeinen Bemerkungen, welche über dieſe Abſicht in Beziehung

auf wörtliche Beleidigungen gemacht worden ſind, auch hier ihre An-

wendung finden. Aber freilich kann das doch nur in beſchränkter Weiſe

geſchehen. Denn einmal kann die Körperverletzung und Mißhandlung

auch ſchon an ſich, ohne Rückſicht auf die Abſicht zu beleidigen, ſtraf-

bar ſein, während das Wort ohne den beſtimmten Sinn, auf den es

ankommt, bedeutungslos bleibt, und dann wird die Thätlichkeit noch

eher als die an ſich beleidigende Rede eine weitere Unterſuchung über

die damit verbundene Abſicht überflüſſig machen, und das Delikt in ſei-

nem vollen Thatbeſtande darſtellen.

Daß aber das Geſetzbuch bei den leichten Körperverletzungen und

Mißhandlungen den Begriff der Ehrverletzung nicht ganz hat zurück-

drängen wollen, ergiebt ſich deutlich aus den folgenden Beſtimmungen;

es wird auch bei Feſtſtellung der mildernden Umſtände beſonders darauf

Rückſicht genommen werden müſſen. Denn wenn ſelbſt im Fall ſchwerer

Körperverletzungen der gerechte Affekt eine weſentliche Milderung der

Strafe herbeiführt, ſo wird in den leichteren Fällen, welche den Real-

injurien entſprechen, die Provokation überhaupt als mildernder Umſtand

zu betrachten ſein, ja es hätte ſich unter Umſtänden wohl die Ausglei-

chung der Verbalinjurie und der Mißhandlung, z. B. eines Schimpf-

wortes und einer Maulſchelle, rechtfertigen laſſen.

II. Die Vergleichung der Körperverletzungen und Mißhandlungen

[368/0378]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

mit den Realinjurien darf aber nicht zu der Anſicht führen, als ob in

dem §. 187. nur die leichten Fälle eines ſolchen Delikts unter Strafe

geſtellt ſind. Es wird hier vielmehr das Vergehen im Allgemeinen

behandelt, ſo daß nur die geſetzlich ausgezeichneten Fälle der ſchweren

Verſchuldung (§§. 190-94.) beſonderen Strafvorſchriften unterworfen

ſind. Eine Körperverletzung oder Mißhandlung alſo, welche an ſich

vielleicht bedeutend, nicht in beſtimmter geſetzlicher Weiſe erſchwert iſt,

muß nach dem §. 187. beurtheilt werden. Daher iſt auch die geſetzliche

Strafe Gefängniß bis zu zwei Jahren, und es bedarf der Feſtſtellung

beſonderer mildernder Umſtände, wenn die Geldbuße für zuläſſig erklärt

werden ſoll (§. 187. Abſ. 2.). Nimmt man nun an, daß, entſprechend

den Vorſchriften über die Ehrverletzungen, in den leichteren Fällen der

Realinjurien die Geldbuße eintreten ſoll, ſo hat der Richter hierin einen

Fingerzeig, daß außer dem ſo eben angeführten Umſtande der Provoka-

tion auch in der Beſchaffenheit der ſtrafbaren Handlung ſelbſt ein Mil-

derungsgrund liegen kann.

III. In Beziehung auf die wechſelſeitige Zufügung leichter Kör-

perverletzungen und Mißhandlungen (§. 188.) ſind die Vorſchriften des

§. 153. über wechſelſeitige Beleidigungen wörtlich wiederholt. Was

unter „leichten“ Verletzungen und Mißhandlungen zu verſtehen, ergiebt

ſich aus dem vorher Geſagten; es ſind ſolche Thätlichkeiten, in denen

der Charakter der Ehrverletzung überwiegt, und die Gewaltthätigkeit mehr

als Mittel zum Zweck der Beleidigung erſcheint.

IV. Es iſt oben gezeigt worden, daß ſelbſt bei der Privatehrver-

letzung das Einſchreiten von Amtswegen nicht unbedingt ausgeſchloſſen

iſt; um ſo weniger kann es bei Körperverletzungen und Mißhandlungen

der Fall ſein, deren Beſtrafung, auch wenn ſie nicht zu den geſetzlich

ausgezeichneten Arten gehören, im Intereſſe der öffentlichen Ordnung

unter Umſtänden wünſchenswerth iſt. Aber auch nur aus allgemeinen

Rückſichten wird die Staatsanwaltſchaft einſchreiten; die Wahrung der

Privatehre an ſich wird der Privatklage des Verletzten zu überlaſſen

ſein. In dieſem Sinne iſt der §. 189. zu verſtehen, welcher, wenn es

zur Privatklage gekommen iſt, die Vorſchriften des §§. 160-62. für

maaßgebend erklärt. e)

e) Dieſen Sinn des Geſetzes hatte auch wohl der Abgeordnete Kisker im Auge,

als er in der Sitzung der erſten Kammer vom 12. April 1851. es tadelnd bemerkte,

daß es lediglich der Staatsanwaltſchaft überlaſſen ſei, wegen Realinjurien einzuſchrei-

ten. Geſchieht dieß nämlich, ſo wird die Privatklage des Verletzten ausgeſchloſſen,

und er muß, vielleicht wider Willen, über die ihm zugefügte Beleidigung verhandeln

laſſen. Im Allgemeinen wird aber wohl bei der Staatsanwaltſchaft die Neigung

nicht vorherrſchen, ohne ganz beſondere Veranlaſſung Injurienprozeſſe aufzunehmen.

[369/0379]

§§. 190-194. Geſetzlich ausgezeichnete Fälle.

V. Die Vorſchrift, welche noch der Entwurf von 1847. §. 244.

hatte, daß Thätlichkeiten, welche in Ausübung eines vorhandenen Rechts

der Zucht vorgenommen worden, ſtraflos ſein ſollen, wurde ſchon in

dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß beinahe einſtimmig verworfen. f)

Es liegt hier ein ähnlicher Fall vor, wie bei der widerrechtlichen Frei-

heitsberaubung (ſ. unten §. 211.); wo ein Recht der Zucht wirklich

beſteht, darf es auch ausgeübt werden, ohne daß es einer allgemeinen

geſetzlichen Anerkennung bedarf, die leicht mißbraucht werden kann.

§. 190.

Die vorſätzliche Mißhandlung oder Körperverletzung, welche mit Ueberlegung

verübt wird, iſt mit Gefängniß bis zu drei Jahren zu beſtrafen.

§. 191.

Vorſätzliche, gegen leibliche Eltern oder Großeltern verübte Mißhand-

lung oder Körperverletzung ſoll Gefängnißſtrafe nicht unter drei Monaten

nach ſich ziehen.

§. 192.

Wer gegen ein Mitglied der Kammern, einer anderen politiſchen Körper-

ſchaft oder einer öffentlichen Behörde, einen öffentlichen Beamten, einen Reli-

gionsdiener, ein Mitglied der bewaffneten Macht, einen Geſchworenen, einen

Zeugen oder Sachverſtändigen, während ſie in der Ausübung ihres Berufs

begriffen ſind, oder in Beziehung auf ihren Beruf einer vorſätzlichen Mißhand-

lung oder Körperverletzung ſich ſchuldig macht, wird mit Gefängniß von vier

Wochen bis zu drei Jahren beſtraft.

§. 193.

Hat eine vorſätzliche Mißhandlung oder Körperverletzung eine Krankheit oder

Arbeitsunfähigkeit von einer längeren als zwanzigtägigen Dauer zur Folge

gehabt, oder iſt der Verletzte verſtümmelt, oder der Sprache, des Geſichts, des

Gehörs oder der Zeugungsfähigkeit beraubt, oder in eine Geiſteskrankheit ver-

ſetzt worden, ſo tritt Zuchthaus bis zu funfzehn Jahren ein.

§. 194.

Hat die vorſätzliche Mißhandlung oder Körperverletzung den Tod des

Verletzten zur Folge gehabt, ſo iſt die Strafe Zuchthaus von zehn bis zu

zwanzig Jahren.

Die allgemeine Verwandtſchaft, welche zwiſchen dem Verbrechen der

Tödtung und der Körperverletzung beſteht, zeigt ſich nicht bloß in Be-

ziehung auf den Gegenſtand der Handlungen, welche gegen den menſch-

f) Verhandlungen. IV. S. 57-59.

[370/0380]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

lichen Leib gerichtet ſind, ſondern auch in der Art der Verübung, ſo

daß beide Delikte oft ſchwer aus einander zu halten ſind.

Es hat dieſe Verwandtſchaft aber auch auf die allgemeine Be-

handlung derſelben im Strafrecht ihren Einfluß ausgeübt, indem zum

Theil dieſelben Umſtände bei der Tödtung wie bei der Körperverletzung

maaßgebend ſind, um eine Erſchwerung der verbrecheriſchen That zu

begründen oder eine Milderung der geſetzlichen Strafe herbeizuführen,

und in einzelnen Fällen (bei dem Raufhandel und der Vergiftung)

beide Delikte faſt nur als die dem Grade der Verſchuldung nach ver-

ſchiedenen Formen deſſelben Verbrechens erſcheinen. — Bei der Darſtel-

lung der Fälle, in denen die Körperverletzung und Mißhandlung wegen

beſonderer Qualifikation mit einer härteren Strafe als der gewöhnlichen

bedroht ſind, tritt die Verwandtſchaft derſelben mit der Tödtung ſogleich

hervor.

A. Wenn die vorſätzliche Mißhandlung oder Körperverletzung mit

Ueberlegung verübt wird, ſoll Gefängnißſtrafe bis zu drei Jahren

eintreten (§. 190.). Dieſe Vorſchrift entſpricht der Unterſcheidung zwi-

ſchen Mord und Todtſchlag, und die Ueberlegung wird auch in dieſem

Fall ſowohl auf den Vorbedacht bei der Faſſung des Entſchluſſes, wie

auf die Art und Weiſe der Vollführung zu beziehen ſein. Hauptſächlich

iſt aber an den Fall gedacht, wenn der Thäter dem Andern auflauert,

indem er ihn an einem Orte abwartet, wo derſelbe nicht leicht Hülfe

erhalten kann. g) In den älteren Entwürfen war dieß auch beſonders

hervorgehoben; ſo heißt es im Entwurf von 1830. §. 264. „mit vorher

überlegtem Vorſatz oder mittelſt Auflauerns,“ im Entwurf von 1843.

§. 325. „mittelſt Auflauerns oder hinterliſtigen Anfalls.“ Später hielt

man es nicht für nöthig, dieſen Umſtand beſonders hervorzuheben. h)

Die Ueberlegung ſteigert die gewöhnliche Strafe der einfachen Körper-

verletzung in der angegebenen Weiſe, während ſie in andern Fällen und

namentlich bei der ſchweren Körperverletzung nur die Bedeutung eines

Zumeſſungsgrundes bei der Beſtrafung hat.

B. Iſt die vorſätzliche Mißhandlung oder Körperverletzung gegen

leibliche Eltern oder Großeltern verübt worden, ſo iſt die Strafe Ge-

fängniß von drei Monaten bis zu drei Jahren (§. 191.); vgl. §. 179.

C. So wie die Beleidigung, welche einem Mitgliede der Kam-

mern, einer anderen öffentlichen Körperſchaft oder einer öffentlichen Be-

hörde, ſo wie einem öffentlichen Beamten und anderen in §. 192.

g) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 230. — Berathungs-Pro-

tokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 210. — Protokolle des

Staatsraths, Sitzung vom 21. April 1841. Vgl. Code pénal. Art. 311.

h) Reviſion von 1845. II. S. 136.

[371/0381]

§§. 190-194. Geſetzlich ausgezeichnete Fälle.

genannten Perſonen zugefügt worden iſt, härter als die Privatehrver-

letzung beſtraft werden ſoll, ſo iſt auch wegen Thätlichkeit gegen eine

der bezeichneten Perſonen die Strafe des §. 187. auf Gefängniß von

vier Monaten bis zu drei Jahren erhöht worden (§. 192.).

I. Dieſe Beſtimmung bezieht ſich nur auf den Fall, wenn die

Thätlichkeit begangen worden iſt, während der Verletzte in der Aus-

übung ſeines Berufs begriffen war, oder in Beziehung auf ſeinen Beruf.

Es iſt hier, wie ſchon aus der Faſſung des Paragraphen verglichen

mit der des §. 102. hervorgeht, zunächſt die Ehrverletzung durch Thät-

lichkeiten, alſo die Realinjurie unter Strafe geſtellt worden, und daraus

folgt, daß, wenn ein Einſchreiten von Amts wegen nicht erfolgt, auch

in dieſem Fall die Privatklage des Verletzten zuläſſig ſein muß.

II. Bei der Aufſtellung des Strafmaaßes geſchieht der Berückſich-

tigung mildernder Umſtände keine Erwähnung. Wenn dieſe nur in

§. 187. zugelaſſen wären, ſo würden ſie im Fall des §. 192. ohne

Zweifel nicht in Betracht kommen können. Aber auch der §. 196.

erkennt ſie ſogar bei der ſchweren Körperverletzung an, und ſchließt ſie

nur aus, wenn das Verbrechen gegen leibliche Aſcendenten begangen

worden iſt; es ſcheint daher kein Grund vorzuliegen, weswegen ſie nicht

auch bei Thätlichkeiten gegen Beamte u. ſ. w., ähnlich wie bei Belei-

digungen derſelben (§. 102.), eine Berückſichtigung finden ſollten. Das

einzige Bedenken, welches entgegen ſteht, beruht darin, daß das Geſetz-

buch bei der Feſtſtellung mildernder Umſtände ſtets genau angiebt, wel-

chen Einfluß dieſelben auf die Beſtrafung haben ſollen. Die Milderung

könnte im vorliegenden Fall durch das Weglaſſen des Minimum von

vier Wochen und durch die Zulaſſung einer Geldbuße ſtatt des Gefäng-

niſſes erreicht werden; allein es fehlt eben eine ſolche Vorſchrift, wie ſie

§§. 187. und 196. gegeben iſt, und aus dieſem Grunde ſcheint die

Berückſichtigung mildernder Umſtände in dieſem Falle wie in dem des

vorhergehenden Paragraphen unzuläſſig.

D. Von beſonderer Wichtigkeit iſt die Aufſtellung des Begriffs

der ſchweren Körperverletzung und Mißhandlung. Dieſer Ausdruck,

der im Strafgeſetzbuch in einer beſtimmten, techniſchen Bedeutung ge-

braucht wird, i) bezieht ſich auf die in §. 193. normirten Fälle, und

bezeichnet eine ſolche Handlung, welche einen im Geſetz bezeichneten

dauernden körperlichen Schaden oder einen beſtimmten Nachtheil für die

Geſundheit des Verletzten hervorgebracht hat, ohne daß die Tödtung

i) S. §§. 196. 197. 198. 210. 233. 294. 301. 316. 317. Zuweilen wird

unter der ſchweren Körperverletzung auch der Fall der Tödtung mit begriffen, z. B.

§. 195. Abſ. 3.

[372/0382]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

deſſelben erfolgt iſt. — Das Allg. Landrecht enthält hierüber folgende

Vorſchrift:

Th. II. Tit. 20. §. 797. „Hat aber Jemand dem Andern

ſchwere Beſchädigungen, woraus für deſſelben Geſundheit oder Glied-

maaßen ein erheblicher Nachtheil hätte entſtehen können, vorſätzlich zu-

gefügt, ſo ſoll allemal verhältnißmäßige Feſtungs- oder Zuchthausſtrafe

ſtatt finden.“

Schon der erſte Reviſor hat es ſehr gut nachgewieſen, daß das

Allg. Landrecht, welches den ſchweren Beſchädigungen des angeführten

Paragraphen nur die als Realinjurien behandelten geringen Verletzungen

entgegenſtellt, in ſeiner Klaſſifizirung unvollſtändig iſt und kein feſtes

fundamentum diviſionis hat. k) Aber auch die Unbeſtimmtheit der

Vorſchrift an ſich, namentlich in den Worten: „woraus ein erheb-

licher Nachtheil hätte entſtehen können,“ lag auf der Hand und

bedurfte einer weſentlichen Verbeſſerung, welche denn auch in den ver-

ſchiedenen Entwürfen mit manchen Abweichungen verſucht wurde, bis

es zu der Feſtſtellung in §. 193. kam. Die einzelnen Fälle ſind hier

beſonders zu betrachten.

I. Die vorſätzliche Mißhandlung oder Körperverletzung hat eine

Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit von einer längeren als zwanzigtägigen

Dauer zur Folge gehabt. Gegen dieſe dem Rheiniſchen Recht entlehnte

Beſtimmung l) hat ſich lange eine entſchiedene Oppoſition gezeigt, indem

dagegen beſonders angeführt wurde, daß ein rein äußerlicher und völlig

zufälliger Unterſchied in den Folgen der Handlung für die Strafbarkeit

derſelben nicht maaßgebend ſein könne. m) Noch in dem Entwurf von

1847. §. 238. wurde daher nur allgemein beſtimmt, daß eine ſchwere

Körperverletzung anzunehmen ſei, wenn dieſelbe „mit erheblichen Nach-

theilen für die Geſundheit oder die Gliedmaaßen des Verletzten verbun-

den iſt, oder eine länger andauernde Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.“

Die zur Staatsraths-Kommiſſion zugezogenen Rheiniſchen Juriſten hatten

es jedoch durchgeſetzt, daß in dem Einführungsgeſetz für die Rheinpro-

vinz §. XXI. die beſtimmte Friſt einer Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit

von mehr als zwanzig Tagen als Merkmal der ſchweren Körperver-

letzung angenommen war, indem ſie beſonders auf die Nothwendigkeit

k) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. 225-27.

l) Code pénal. Art. 309. Sera puni de la peine de la reclusion, tout

individu qui aura fait des blessures ou porté des coups, ſ'il est résulté de

ces actes de violence une maladie ou incapacité de travail personnel pen-

dant plus de vingt jours.

m) Motive a. a. O. S. 230-32. — Reviſion von 1845. II. S. 133.

— Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 120.

Vgl. Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 176. (193.)

[373/0383]

§§. 190-194. Geſetzlich ausgezeichnete Fälle.

beſtimmter äußerer Kennzeichen für die Feſtſtellung der Kompetenzver-

hältniſſe aufmerkſam machten, und das Unbeſtimmte in den Bezeich-

nungen des Geſetzentwurfs hervorhoben. n) — In dem vereinigten

ſtändiſchen Ausſchuß trug die vorberathende Abtheilung darauf an, daß

die für die Rheinprovinz beſtimmte Vorſchrift in das Geſetzbuch aufge-

nommen, und nur ſtatt der Friſt von mehr als zwanzig Tagen eine

von dreißig Tagen beliebt werden möge. Dieſer Antrag wurde im

Ausſchuß beinahe einſtimmig angenommen. o)

Später iſt man, geſtützt auf die in den Rheiniſchen Gerichten

gemachten Erfahrungen, zu der Friſt von mehr als zwanzig Tagen zurück-

gekehrt; dagegen iſt der im Code pénal (ſ. Note l) gebrauchte Ausdruck

„Unfähigkeit zur perſönlichen Arbeit“ (travail personnel) vermieden

worden. Es kann darunter allgemein die körperliche Arbeit verſtanden

werden, aber auch die Berufsarbeit des Verletzten. p) Schon der ver-

einigte ſtändiſche Ausſchuß vermied hierüber eine Entſcheidung, indem er

nur „die Arbeitsunfähigkeit“ als ein Kriterium der ſchweren Körper-

verletzung anerkannte, nachdem im Allgemeinen geäußert war, daß eine

Ausgleichung, eine Verſtändigung darüber, ob es ſich nur von der

Fähigkeit, körperliche Arbeit zu verrichten, oder von der Berufsarbeit

handeln ſolle, wahrſcheinlich würde herbeigeführt werden können. Auch

das Geſetzbuch hat die Frage nicht unmittelbar entſchieden; da aber die

Bezeichnung der „perſönlichen“ Arbeit weggelaſſen worden, ſo iſt wohl

anzunehmen, daß es bei der Arbeitsunfähigkeit nur auf die Berufsarbeit

ankommen ſoll. In Frankreich legen die Gegner dieſer Anſicht das

meiſte Gewicht gerade auf den Zuſatz „perſönlich,“ wodurch ſie die

„körperliche“ Arbeit bezeichnet glauben. — Daß unter Krankheit der

ärztlich zu beſtimmende Zuſtand des Krankſeins, und nicht das Vor-

handenſein einzelner Spuren der Krankheit, namentlich der Narben, zu

verſtehen iſt, wird wohl nicht leicht bezweifelt werden. q)

II. Der Verletzte iſt verſtümmelt worden. Darauf nimmt ſchon

das Allg. Landrecht a. a. O. §. 799. Rückſicht, indem es aber voraus-

ſetzt, daß die Abſicht des Thäters auf dieſen Erfolg gerichtet geweſen.

Dieß iſt nach der gegenwärtigen Faſſung des Geſetzbuchs nicht erfor-

derlich. Wo übrigens eine Verſtümmelung oder eine andere Folge der

n) Fernere Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1847.

S. 13. 43. — Ebendaſ. Vierte Beilage. S. 7. 36. 37.

o) Verhandlungen. IV. S. 43-49.

p) Die letztere Auffaſſung findet ſich in dem Vorſchlage der Rheiniſchen Juriſten

a. a. O., doch ſcheinen für die entgegenſtehende Anſicht überwiegende Gründe zu

ſprechen. Vgl. Chauveau et Hélie Faustin, Théorie. chap. XLVIII.

III. p. 127-29.

q) Chauveau l. c. p. 129.

[374/0384]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

ſchweren Körperverletzung eingetreten iſt, da wird regelmäßig auch eine

Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit von mehr als zwanzigtägiger Dauer

ſtatt finden, ſo daß dieſe Häufung der Merkmale, welche der Code pénal

auch nicht kennt, meiſtens nur in Beziehung auf die Beweisführung

und die Strafzumeſſung von Wichtigkeit ſein wird.

III. Der Verletzte iſt der Sprache, des Geſichts, des Gehörs oder

der Zeugungsfähigkeit beraubt werden. Auch hier ſind die dauernden

nachtheiligen Folgen der Verletzung gemeint, im Gegenſatz zu der Ar-

beitsunfähigkeit und Krankheit. — Ueber die Entmannung hat der Code

pénal (Art. 316.) eine beſondere Vorſchrift.

IV. Daß auch die Verſetzung des Verletzten in eine Geiſteskrank-

heit als ein Merkmal der ſchweren Körperverletzung angeführt wird,

beruht auf der Beſtimmung des Allgem. Landrechts Th. II. Tit. 20.

§. 801. Anfangs wurde jedoch nur eine ſolche Geiſteskrankheit, bei

der keine gegründete Hoffnung zur Wiederherſtellung vorhanden iſt,

hierher gerechnet; r) allein ſpäter ließ man dieſe Unterſcheidung fallen,

da dieſelbe weder praktiſch noch in ſich gerechtfertigt erſchien. s)

V. Die Strafe der ſchweren Körperverletzung und Mißhandlung

iſt Zuchthaus von zwei bis zu funfzehn Jahren. In der Kommiſſion

der zweiten Kammer war man Anfangs geneigt, die verſchiedenen Fälle

des Verbrechens bei der Beſtrafung zu unterſcheiden, und namentlich

dann, wenn eine mehr als zwanzigtägige Krankheit oder Arbeitsunfä-

higkeit vorliegt, auch die Gefängnißſtrafe neben dem Zuchthaus zuzu-

laſſen. Von dieſer Anſicht kam jedoch die Kommiſſion bei genauerer

Erwägung der einzelnen, die Strafbarkeit begründenden Momente zurück,

indem ſie annahm, daß mögliche Härten durch die in §. 196. freige-

laſſene Berückſichtigung mildernder Umſtände ausgeglichen werden

könnten. t) — Bei der Anwendung der Strafe iſt aber dem richterlichen

Ermeſſen ein ſo weiter Spielraum gelaſſen, daß die verſchiedenen Zu-

meſſungsgründe in gehöriger Weiſe dabei in Betracht gezogen werden

können. Namentlich iſt der Fall hierher zu rechnen, wenn das Ver-

brechen mit Ueberlegung begangen iſt, und wenn bei der Verübung die

Abſicht des Thäters auf die Herbeiführung des beſtimmten Schadens,

der die Körperverletzung zu einer ſchweren macht, gerichtet war. Liegt

eine ſolche Abſicht bei der Verſtümmelung, der Entmannung u. ſ. w.

vor, ſo ſteigert ſich natürlich dadurch die Strafbarkeit der Handlung.

r) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 234-36. — Entwurf von

1830. §. 264. — Entwurf von 1843. §. 436. — Reviſion von 1845. II.

S. 136.

s) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 119.

t) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 176. (193.)

[375/0385]

§. 195. Theilnahme an einem Kaufhandel.

E. Die vorſätzliche Körperverletzung oder Mißhandlung hat den

Tod des Verletzten zur Folge gehabt; dann tritt Zuchthausſtrafe von

zehn bis zu zwanzig Jahren ein (§. 194.) Hier wird aber voraus-

geſetzt, daß die Abſicht nicht auf die Herbeiführung eines ſolchen Aus-

gangs gerichtet iſt; denn iſt dieſes der Fall, ſo liegt entweder ein Mord

oder ein Todtſchlag vor.

§. 195.

Wenn bei einer Schlägerei oder bei einem von Mehreren verübten Angriff

ein Menſch getödtet wird, oder eine ſchwere Körperverletzung (§. 193.) er-

leidet, ſo iſt jeder Theilnehmer an der Schlägerei oder dem Angriff ſchon

wegen dieſer Theilnahme mit Gefängniß nicht unter drei Monaten zu beſtra-

fen, inſofern nicht feſtgeſtellt wird, daß er ohne ſein Verſchulden hineingezogen

worden.

Sind mehreren Theilnehmern ſolche Verletzungen zuzuſchreiben, welche nicht

einzeln für ſich, ſondern nur in ihrer Geſammtheit den Tod oder die ſchwere

Körperverletzung zur Folge gehabt haben, ſo iſt jeder dieſer Theilnehmer mit

Zuchthaus bis zu zehn Jahren zu beſtrafen.

Die Anwendung der Geſetze gegen diejenigen, welche als Anſtifter oder

Urheber eines Mordes, oder eines Todtſchlages, oder einer ſchweren Körper-

verletzung, oder als Theilnehmer an dieſen Verbrechen ſchuldig ſind, iſt hier-

durch nicht ausgeſchloſſen.

Wenn ein Mord, ein Todtſchlag oder eine ſchwere Körperverletzung

von mehreren Theilnehmern begangen worden iſt, und es wird feſt-

geſtellt, wie die Einzelnen ſich bei dem Verbrechen betheiligt haben, ſo

kommen die allgemeinen Grundſätze über die Theilnahme an Verbrechen

und Vergehen (§§. 34. 35.) zur Anwendung. Nur der Vollſtändigkeit

wegen und zur richtigen Begränzung der vorangehenden Beſtimmungen

iſt dieß in §. 195. Abſ. 3. ausdrücklich ausgeſprochen worden.

Es geſchieht nämlich nicht ſelten, daß bei einer Schlägerei oder

einem von Mehreren verübten Angriff ein Menſch getödtet wird oder

eine ſchwere Körperverletzung erleidet, ohne daß beſtimmt nachgewieſen

werden kann, welchem von den Theilnehmern die That beizumeſſen iſt.

Schon die Karolina (Art. 148.) ſtellte über Fälle dieſer Art nach dem

Vorgange älterer Deutſcher Rechtsquellen beſondere Beſtimmungen auf,

deren mangelhafte Faſſung aber die Ausbildung feſter Rechtsgrundſätze

in der gemeinrechtlichen Doktrin verhindert hat. Die neueren Deutſchen

Geſetzgebungen haben den Gegenſtand aber wieder aufgenommen, und

in beſonderen Vorſchriften über die Tödtung und über die Körperver-

[376/0386]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

letzungen in Raufhändeln, u) oder durch die Aufſtellung einer eigenen

Klaſſe von Verbrechen v) die ſchwierigſten Fragen erledigt. Nur das

Hannoverſche Kriminalgeſetzbuch (Art. 232. und 245.) hat auch in

dieſem Fall das Princip ſtrenge feſtgehalten, daß jedem Einzelnen nur

die Schuld zur Strafe angerechnet werden kann, deren er nach allge-

meinen Rechtsregeln überwieſen worden iſt. Auch der Entwurf von 1850.

enthielt den jetzigen §. 195. nicht; derſelbe iſt aber in der Kommiſſion

der zweiten Kammer auf den Antrag der Staatsregierung, welche von

vielen Seiten auf das dringende praktiſche Bedürfniß ſolcher Beſtim-

mungen aufmerkſam gemacht worden war, wieder hergeſtellt worden,

und zwar im Weſentlichen nach der aus den Beſchlüſſen der Staats-

raths-Kommiſſion w) hervorgegangenen Faſſung des Entwurfs von 1847.

§§. 230. und 241. Nur ſind beide Paragraphen, welche geſondert von

der Tödtung und der Körperverletzung handelten, in Einen zuſammen

gezogen worden.

I. Die Beſtimmungen des §. 195. handeln nur von der Tödtung

und der ſchweren Körperverletzung, wie dieſelbe in §. 193. beſtimmt iſt;

eine analoge Ausdehnung derſelben iſt nicht zuläſſig.

II. Dieſelben beziehen ſich nur auf die Fälle, wenn ein ſolches

Verbrechen bei einer Schlägerei (in turba) oder bei einem von Mehreren

verübten Angriff begangen worden iſt. Gewöhnlich wird die Art des

gewaltſamen Zuſammentreffens, welche das Geſetzbuch vorausſetzt, mit

dem Ausdruck Raufhandel, den die neueren Deutſchen Geſetzgebungen

dafür gebrauchen, richtig bezeichnet ſein. Doch liegt in dem Worte

„Angriff“ noch eine weitere Bedeutung. Es wird dabei freilich die

Verübung durch Mehrere verlangt, nicht durch zwei oder Mehrere, ſo

daß anzunehmen iſt, auch hier ſei, wie bei dem Aufruhr und Tumult,

eine größere Anzahl von Perſonen erforderlich, um die Anwendung der

geſetzlichen Beſtimmungen zu begründen. x) Während aber bei der

Schlägerei eine Betheiligung Mehrerer auf beiden Seiten gewöhnlich iſt

(f. Allg. Landr. II. 20. §. 844.), kommt es bei dem Angriff auf die

Zahl der Angegriffenen nicht an.

u) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 124. 136. — Württemb. Straf-

geſetzb. Art. 248. 266. — Thüringiſches Strafgeſetzbuch. Art. 124. 132.

— Das Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 153. behandelt nur den Fall der

Tödtung. Vgl. A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 844-47.

v) Heſſiſch. Strafgeſetzb. Tit. XXXI. §. 273-75. — Bad. Strafge-

ſetzb. Tit. XI. §. 239-42.

w) Berathungs-Protokolle. II. S. 186. 211. — Reviſion von 1845.

II. S. 121-23. — Verhandlungen von 1846. S. 115. 122. — Fernere

Verhandlungen von 1847. S. 43.

x) S. oben S. 260.

[377/0387]

§. 195. Theilnahme an einem Raufhandel.

III. Der Getödtete oder Beſchädigte hat mehrere Verletzungen

empfangen, welche beſtimmte Perſonen ihm beigebracht haben; die Ver-

letzungen haben aber nicht einzeln den Erfolg der Tödtung oder der

ſchweren Körperverletzung hervorgebracht, ſondern nur in ihrer Geſammt-

heit: dann ſoll jeder Theilnehmer mit Zuchthaus von zwei bis zu zehn

Jahren beſtraft werden. Andere Geſetzbücher ſtellen hier noch weitere

kaſuiſtiſche Unterſcheidungen auf, welche aber nach Preußiſchem Recht

nur bei der Strafzumeſſung zu berückſichtigen ſind.

IV. Jeder Theilnehmer an der Schlägerei oder dem Angriff iſt

ſchon wegen dieſer Theilnahme mit Gefängniß von drei Monaten bis

zu fünf Jahren zu belegen.

a. Es kommt alſo nicht darauf an, ob die eigentlichen Thäter

bekannt geworden ſind und zur Strafe gezogen werden können; die

Theilnahme als ſolche iſt ein Delikt.

b. Auch wird dabei nicht vorausgeſetzt, daß der Theilnehmer der

Schlägerei gegen den Getödteten oder Verletzten Partie genommen, daß

er mit ihm ſelbſt gerauft, daß er zum Streite angereizt habe, bewaffnet

geweſen ſei. Dieſe in den anderen Strafgeſetzbüchern beſonders hervor-

gehobenen Momente haben für den Thatbeſtand keine weitere Berück-

ſichtigung gefunden, und kommen nur bei der Zumeſſung in Betracht.

Namentlich erſchien es ungeeignet, auf den Gebrauch von Waffen oder

tödtlichem Gewehr (vgl. A. L. R. a. a. D. §. 847.) für den Thatbe-

ſtand ein Gewicht zu legen. y)

c. Die Strenge der geſetzlichen Vorſchrift hat jedoch durch einen

in der Kommiſſion der zweiten Kammer gemachten Zuſatz eine in der

Billigkeit begründete Milderung gefunden. z) Wenn nämlich feſtgeſtellt

wird, daß ein Theilnehmer ohne ſein Verſchulden hineingezogen iſt, ſo

ſoll er ſtraffrei bleiben. Das „Hineinziehen“ geht zunächſt auf die

Betheiligung an der Schlägerei; doch ließen ſich auch wohl Fälle den-

ken, daß jemand unſchuldig in einen Angriff verwickelt wird. Jedenfalls

ſollte die Möglichkeit der Entſchuldigung auch hier nicht ausgeſchloſſen

werden. — Von einem eigentlichen Entſchuldigungsbeweis kann nach

dem jetzigen Verfahren dabei nicht die Rede ſein; es kommt darauf an,

daß die Verhandlungen die Ueberzeugung von der Unſchuld des Ange-

klagten liefern, indem er z. B. ſelbſt angegriffen worden, einen Ver-

wundeten hat davon tragen wollen u. dgl. Die geſetzliche Vorſchrift

wird durch dieſen Zuſatz ihres rein polizeilichen Charakters entkleidet,

y) Reviſion von 1845. II. S. 123.

z) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 178. (195.)

Beſeler Kommentar. 25

[378/0388]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

und den allgemeinen Rechtsgrundſätzen über Zurechnung, Nothwehr u. ſ. w.

die Geltung geſichert. Allerdings können bei der gegenwärtigen Faſſung

des Geſetzes die Verhandlungen ſehr ſchwierig und verwickelt werden;

aber darin iſt doch kein Grund zu ſuchen, die Anforderungen der Ge-

rechtigkeit zu verletzen. Will man einmal die Vorſchrift überhaupt, ſo

muß man auch die nothwendigen Folgen derſelben hinnehmen.

§. 196.

War bei einer Mißhandlung oder Körperverletzung der Thäter ohne eigene

Schuld durch eine ihm ſelbſt oder ſeinen Angehörigen zugefügte Mißhandlung

oder ſchwere Beleidigung von dem Verletzten zum Zorne gereizt, und dadurch

auf der Stelle zur That hingeriſſen worden, oder wird feſtgeſtellt, daß andere

mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo iſt im Falle einer ſchweren Körper-

verletzung (§. 193.) auf Gefängniß nicht unter ſechs Monaten und im Falle

der Tödtung (§. 194. und §. 195.) auf Gefängniß nicht unter Einem Jahre

zu erkennen.

Dieſe Ermäßigung der Strafe bleibt aber ausgeſchloſſen, wenn das Ver-

brechen gegen leibliche Verwandte in aufſteigender Linie begangen wird.

Die Vorſchriften dieſes Paragraphen über die im gerechten Affekt

verübte ſchwere Mißhandlung oder Körperverletzung entſprechen genau

den, §. 177. für den Todtſchlag aufgeſtellten Beſtimmungen. Im Fall

das Verbrechen gegen leibliche Aſcendenten begangen worden, iſt die

Milderung hier ausdrücklich ausgeſchloſſen; ſonſt iſt dieſelbe nach dem

Verhältniß der gewöhnlichen geſetzlichen Strafe normirt. — Nur in

Einer Hinſicht beſteht ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen den Beſtim-

mungen der beiden Paragraphen; bei der Körperverletzung ſind nämlich

außer der Anreizung durch den Verletzten noch andere mildernde Um-

ſtände zur Berückſichtigung zugelaſſen, was bei dem Todtſchlage nicht

geſchehen iſt. Die Kommiſſion der zweiten Kammer hat dieſen Zuſatz

mit beſonderer Rückſicht auf die in §. 193. vorgeſchriebene Beſtrafung

der ſchweren Körperverletzung für nöthig gehalten, da man bei der Feſt-

ſtellung dieſes Begriffs fand, daß ohne eine ſolche Beſchränkung der

geſetzlichen Regel in gewiſſen Fällen eine unbillige Härte ſich nicht werde

vermeiden laſſen. a)

§. 197.

Wer vorſätzlich einem Anderen Gift oder andere Stoffe beibringt, welche

die Geſundheit zu zerſtören geeignet ſind, wird mit Zuchthaus bis zu zehn

Jahren beſtraft.

a) Bericht a. a. O. zu §. 179. (196.)

[379/0389]

§. 197. Vergiftung.

Hat die Handlung eine ſchwere Körperverletzung (§. 193.) zur Folge ge-

habt, ſo beſteht die Strafe in Zuchthaus von zehn bis zu zwanzig Jahren.

Hat die Handlung den Tod zur Folge gehabt, ſo tritt lebenslängliche

Zuchthausſtrafe ein.

Dieſe Beſtimmungen berühren nicht den Fall, wo der Thäter die Abſicht

zu tödten hatte.

Das Allg. Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 856-72.) ſtellt nach

dem Vorgange der Karolina b) die Vergiftung als ein ſelbſtändiges

Verbrechen auf, deſſen Beſtrafung nicht allein nach der Abſicht des

Thäters und dem Erfolge der Handlung, ſondern auch nach der Ge-

fährlichkeit des gewählten Mittels beſtimmt wird. In ähnlicher Weiſe

behandelt der Code pénal das Verbrechen, nur daß er die Abſicht der

Tödtung (attentat à la vie) zu dem Thatbeſtande deſſelben verlangt. c)

Bei der Reviſion des Strafrechts haben verſchiedene Anſichten über

die Behandlung dieſes Verbrechens obgewaltet. Anfangs ſchloß man

ſich im Weſentlichen an die Vorſchriften des Allgem. Landrechts an; d)

der Entwurf von 1836. enthielt dagegen nichts über die Vergiftung;

die Staatsraths-Kommiſſion nahm aber die früheren Beſtimmungen

wieder auf und faßte die Strafſatzung in erhöhter Strenge. e) Demgemäß

verfügte der Entwurf von 1843.

§. 307. „Wer einem Andern vorſätzlich Gift beigebracht und da-

durch den Tod deſſelben bewirkt hat, ſoll mit dem Tode beſtraft wer-

den, ohne Rückſicht ob er die Tödtung beabſichtigt hatte, oder nicht.“

Gegen dieſe Auffaſſung machten ſich aber ſpäter verſchiedene Be-

denken geltend. Es wurde namentlich dagegen angeführt, daß weder

die Schlechtigkeit des Motivs noch die Gefährlichkeit des Verbrechens

eine ſo anomale Beſtimmung rechtfertige; daß eine Vergiftung im Affekt

nicht gerade undenkbar ſei; daß der Arzt oft nur Wahrſcheinlichkeit,

nicht Gewißheit des Thatbeſtandes bezeugen könne. Die gehörige Be-

rückſichtigung des dolus indeterminatus reiche vollkommen hin, die-

b) P. G. O. Art. 130. Item wer jemandt durch gifft oder venen, an leib

oder leben beſchedigt, iſt es ein mannßbild, der ſoll eynem fürgeſatztem mörder gleich

mit dem rath zum todt geſtrafft werden. Thet aber eyn ſolche mißthat eyn weibß-

bild, die ſoll man erdrencken, oder inn andere weg vom leben zum todt richten. — —

c) Code pénal. Art. 301. Est qualifié empoisonnement tout attentat

à la vie d'une personne, par l'effet de substances qui peuvent donner la

mort plus ou moins promptement, de quelque manière que ces substances

aient été employées ou administrées, et quelles qu'en aient été les suites.

— Art. 302. Tout coupable — — d'empoisonnent sera puni de mort —

d) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 114-24. — Entwurf von

1830. §. 225-29.

e) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 182. 211. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 14. April 1841.

25*

[380/0390]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

jenigen Fälle zu treffen, die man bei Aufſtellung des §. 307. eigentlich

im Auge gehabt habe. f) Aus dieſen Gründen wurde der Giftmord als

ein ſelbſtändiges Verbrechen ganz aufgegeben, und nur die Giftmiſcherei,

die Vergiftung ohne die Abſicht zu tödten unter Strafe geſtellt, und

zwar nach der Vorſchrift des Entwurfs von 1843. in folgender Weiſe:

§. 327. „Wer vorſätzlich, jedoch ohne die Abſicht zu tödten, einem

Anderen Gift beigebracht hat, ſoll, wenn demſelben hierdurch ein Scha-

den an ſeiner Geſundheit, zu deren Heilung keine Wahrſcheinlichkeit iſt,

zugefügt worden, mit zehn- bis lebenswieriger, ſonſt aber mit fünf- bis

zehnjähriger Zuchthausſtrafe belegt werden.“

Der Entwurf von 1847. hatte nach dem Vorſchlage des Miniſte-

riums für die Geſetz-Reviſion dieſe Beſtimmung alſo gefaßt:

§. 242. „Wer in der Abſicht zu ſchaden, jedoch ohne die Abſicht

zu tödten, einem Anderen Gift beibringt, ſoll mit Zuchthaus bis zu

zwanzig Jahren beſtraft werden.“

In dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß fand dieß keinen Wider-

ſpruch, nur ſchlug die vorberathende Abtheilung, unter Zuſtimmung der

Staatsregierung, vor, hinter Gift die Worte „oder andere der Geſund-

heit ſchädliche Subſtanzen“ einzuſchalten, und nach den Worten „Gift

beibringt“ hinzuzufügen: „und dadurch der Geſundheit deſſelben Schaden

zufügt.“ g)

Aus dieſen Verhandlungen iſt der §. 197. in ſeiner gegenwärtigen

Faſſung hervorgegangen.

I. Die Beſtimmungen ſollen den Fall nicht berühren, wo der

Thäter die Abſicht zu tödten hatte. Hält man eine Tödtung durch Gift

ohne Ueberlegung für möglich, h) — und die Möglichkeit läßt ſich doch

wohl nicht in Abrede ſtellen, — ſo kommt alſo entweder die Strafe

des Mordes oder die des Todtſchlags zur Anwendung.

II. Die Beibringung von Gift, ohne Rückſicht auf den Erfolg,

wird mit Zuchthaus von zwei bis zu fünf Jahren beſtraft. Die Hand-

lung muß vorſätzlich geſchehen ſein, und zwar in dem allgemeinen Sinn

des ſtrafrechtlichen Dolus. Eine auf die Erreichung eines beſtimmten

rechtswidrigen Erfolgs gerichtete Abſicht wird freilich nicht verlangt;

f) Reviſion von 1845. II. S. 123-25.

g) Verhandlungen. IV. S. 54.

h) In Frankreich hat der Kaſſationshof freilich erkannt, daß die Annahme einer

Vergiftung unter Ausſchließung der Prämeditation einen logiſchen Widerſpruch ent-

halte, ſ. Chauveau et Hélie Faustin, Théorie. chap. XLIII. III. p. 104.,

aber ein a. a. O. nach Roſſi angeführtes Beiſpiel zeigt die Möglichkeit der Ver-

giftung im Affekt. Ein Bedienter, welcher ſeinem Herrn einen Trank bereitet, wird

von dieſem ſchwer beleidigt, und ſchüttet das Gift, welches er zufällig unter Händen

hat, in die Taſſe.

[381/0391]

§. 198. Fahrläſſige Körperverletzung.

allgemeine Rechtsgrundſätze aber, ſo wie der Begriff der Vergiftung und

die Bezeichnung der Subſtanzen, welche dem Gift gleichgeſtellt ſind,

endlich die Fälle der beſonderen Erſchwerung des Verbrechens weiſen

beſtimmt darauf hin, daß es in der Abſicht des Thäters gelegen haben

muß, die Geſundheit des Vergifteten zu zerſtören oder wenigſtens zu

beſchädigen.

III. Der Begriff des Giftes iſt bis jetzt wiſſenſchaftlich nicht ſo feſt-

geſtellt worden, daß die Jurisprudenz daraus für die praktiſche Anwen-

dung beſtimmte Folgerungen ableiten kann. Nur wird von allen

Sachverſtändigen ein beſonderes Gewicht auf die kleinen Doſen, in denen

es ſchon ſeine tödliche Wirkung zeigt, gelegt. In jedem einzelnen Falle

muß aber durch Sachverſtändige feſtgeſtellt werden, ob die Beibringung

von Gift erfolgt iſt oder nicht. Um indeſſen durch die Bezeichnung

den Richter nicht unnöthig zu binden, iſt der Zuſatz gemacht worden:

„oder andere Stoffe, welche die Geſundheit zu zerſtören geeignet ſind,“

— ein Ausdruck, der offenbar richtiger iſt, als der früher in Vorſchlag

gebrachte „zu beſchädigen.“

IV. Die geſetzliche Strafe ſteigert ſich auf Zuchthaus von zehn

bis zu zwanzig Jahren, wenn die Vergiftung eine ſchwere Körperver-

letzung im Sinne des §. 193., und auf lebenslängliches Zuchthaus,

wenn ſie den Tod zur Folge gehabt hat. — Daß aber überhaupt eine

nachtheilige Einwirkung auf die Geſundheit des Vergifteten ſtattgefunden

hat, iſt zum Thatbeſtande des Verbrechens nicht erforderlich; wer alſo

ohne einen ſolchen Erfolg das Gift beigebracht hat, iſt, wenn der böſe

Vorſatz feſtgeſtellt worden, des vollendeten Verbrechens ſchuldig, und die

Beſchädigung iſt nur für die Strafzumeſſung von Bedeutung.

V. Die Vergiftung von Brunnen u. ſ. w. iſt als ein beſonderes

Delikt unter den gemeingefährlichen Verbrechen (§. 304.) aufgeführt

worden.

§. 198.

Wer durch Fahrläſſigkeit einen Menſchen körperlich verletzt, oder an der

Geſundheit beſchädigt, ſoll mit Geldbuße von zehn bis zu Einhundert Thalern

oder mit Gefängniß bis zu Einem Jahre beſtraft werden.

Dieſe Beſtrafung ſoll nur auf den Antrag des Verletzten ſtattfinden, inſo-

fern nicht eine ſchwere Körperverletzung (§. 193.) vorliegt, oder die Verletzung

mit Uebertretung einer Amts- oder Berufspflicht verübt worden iſt.

Die Vorſchrift entſpricht der in §. 184. über die fahrläſſige Töd-

tung aufgeſtellten; die geringere Verſchuldung der Körperverletzung,

welcher (wohl mit beſonderer Rückſicht auf die Vergiftung) die Beſchä-

[382/0392]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

digung an der Geſundheit gleichgeſtellt worden, iſt theils in der niedri-

geren Strafe, theils in der Ausſchließung des Verfahrens von Amts

wegen anerkannt. Für die zwei Fälle, in denen daſſelbe nach Abſatz 2.

zugelaſſen iſt, erſcheint ſchon im Intereſſe der öffentlichen Ordnung

und Sicherheit eine Ausnahme nöthig.

§. 199.

Wer, ohne vorſchriftsmäßig approbirt zu ſein, gegen Belohnung, oder einem

beſonderen, an ihn erlaſſenen polizeilichen Verbote zuwider, die Heilung einer

äußeren oder inneren Krankheit oder eine geburtshülfliche Handlung unter-

nimmt, wird mit Geldbuße von fünf bis zu funfzig Thalern oder mit Ge-

fängniß bis zu ſechs Monaten beſtraft.

Dieſe Beſtimmung findet keine Anwendung, wenn eine ſolche Handlung in

einem Falle vorgenommen wird, in welchem zu dem dringend nöthigen Bei-

ſtande eine approbirte Medizinalperſon nicht herbeigeſchafft werden kann.

Das Allgemeine Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 702-10.) ſtellt

das unbefugte Kuriren und die unbefugte Ausübung der Geburtshülfe

nur dann unter Strafe, wenn es gewerbsmäßig geſchieht. Statt deſſen

wählte man ſpäter den Ausdruck „gegen Entſchädigung.“ Mehrere

Landtage beantragen nun noch den Zuſatz „oder Geſchenke,“ weil ſonſt

das Geſetz zu leicht umgangen werden könne. Aber darauf wurde nicht

eingegangen, weil eine an ſich unſträfliche Handlung dadurch nicht

ſtrafbar werde, daß hinterher etwa bei glücklichem Erfolg ein weder ge-

fordertes noch erwartetes Geſchenk aus bloßer Dankbarkeit gegeben und

auch angenommen wird. i) — Die Ausdrücke „gewerbsmäßig“ und

„gegen Entſchädigung“ ſind aber doch nicht, wie die Motive zum Ent-

wurf von 1850. annehmen, für gleichbedeutend zu halten. Denn wer

nach ausdrücklichem oder ſtillſchweigendem Uebereinkommen gegen eine

Belohnung unbefugt kurirt, iſt ſchon ſtrafbar, wenn nur Ein Fall dieſer

Art vorliegt, während in dem Begriff des Gewerbsmäßigen die Wie-

derholung ſolcher Fälle und zwar in einer gewiſſen Regelmäßigkeit geſetzt

iſt. — Hat jemand ſich aber auch ohne Rückſicht auf den Gelderwerb

durch ſein unberufenes Kuriren der öffentlichen Sicherheit gefährlich ge-

zeigt, ſo ſteht es der Behörde zu, ihm dieſes ausdrücklich zu verbieten,

und die Uebertretung eines ſolchen Verbotes wird mit derſelben Strafe

geahndet, wie das Kuriren gegen Entſchädigung.

Während aber einerſeits die Beſtimmungen dieſes Paragraphen

durch die Vorſchriften über den Betrug, welche bei den ſ. g. Wunder-

doktoren häufig anwendbar ſind, ergänzt werden, treten ſie andererſeits

i) Reviſion von 1845. III. S. 92

[383/0393]

§§. 200-203. Pflichtverletzung von Medizinalperſonen u. ſ. w.

außer Wirkſamkeit, wenn zu dem dringend nöthigen Beiſtande eine

approbirte Medizinalperſon, beziehungsweiſe eine Hebamme nicht her-

beigeſchafft werden kann. Dieß bezieht ſich denn auch auf die Kuren

ſolcher Medizinalperſonen, denen nur eine beſchränkte Praxis eingeräumt

iſt. Sie zur Anzeige des Falls geſetzlich zu verpflichten, wie der Ent-

wurf von 1843. es that, hielt man ſpäter nicht für nöthig. k)

§. 200.

Medizinalperſonen, welche in Fällen einer dringenden Gefahr ohne hinrei-

chende Urſache ihre Hülfe verweigern, ſollen mit Geldbuße von zwanzig bis zu

fünfhundert Thalern beſtraft werden.

§. 201.

Hebammen, welche verabſäumen, einen approbirten Geburtshelfer herbei-

rufen zu laſſen, wenn bei einer Entbindung Umſtände ſich ereignen, die eine

Gefahr für das Leben der Mutter oder des Kindes beſorgen laſſen, oder wenn

bei der Geburt die Mutter oder das Kind das Leben einbüßt, werden mit

Geldbuße bis zu funfzig Thalern oder mit Gefängniß bis zu drei Monaten

beſtraft.

§. 202.

Baumeiſter und Bauhandwerker, welche bei der Ausführung eines Baues

wider die allgemein anerkannten Regeln der Baukunſt dergeſtalt gehandelt ha-

ben, daß hieraus für Andere Gefahr entſteht, ſollen mit Geldbuße von funfzig

bis zu dreihundert Thalern oder mit Gefängniß von ſechs Wochen bis zu ſechs

Monaten beſtraft werden.

Im Rückfalle können ſie zugleich der Befugniß zur ſelbſtändigen Betrei-

bung ihrer Kunſt oder ihres Gewerbes verluſtig erklärt werden.

§. 203.

Wenn bei einer vorſätzlich verübten Körperverletzung der Thäter die ihm

vermöge ſeines Amtes, Berufes oder Gewerbes obliegenden beſonderen Pflich-

ten übertreten hat, ſo ſoll derſelbe zugleich auf eine beſtimmte Zeit, welche die

Dauer von fünf Jahren nicht überſteigen darf, oder für immer zu einem ſolchen

Amte für unfähig, oder der Befugniß zur ſelbſtändigen Betreibung ſeiner

Kunſt oder ſeines Gewerbes verluſtig erklärt werden.

Auch bei fahrläſſig verübten Körperverletzungen kann der Thäter wegen

Vernachläſſigung der beſonderen Amts-, Berufs- oder Gewerbspflichten, wenn

ſich derſelbe im Rückfalle befindet, zugleich auf eine beſtimmte Zeit, welche die

k) S. im Allgemeinen Entwurf von 1836. §. 445-47. — Entwurf von

1843. §. 569. — Entwurf von 1847. §. 250. — Berathungs-Protokolle

der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 220-22. 293. — Protokolle des

Staatsraths, Sitzung vom 24. April 1841. — Verhandlungen des ver-

einigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV. S. 62-72.

[384/0394]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVI. Körperverletzung.

Dauer von fünf Jahren nicht überſteigen darf, oder für immer zu einem ſolchen

Amte für unfähig, oder der Befugniß zur ſelbſtändigen Betreibung ſeiner

Kunſt oder ſeines Gewerbes verluſtig erklärt werden.

Die vorſtehenden Beſtimmungen, welche im Weſentlichen dem All-

gemeinen Landrecht entlehnt ſind, finden ſich in dem Entwurf von 1843.

größtentheils unter den Verbrechen der Gewerbtreibenden, für welche die

Staatsraths- Kommiſſion einen beſonderen Titel (26.) gebildet hatte.

Man hatte ſich in dieſer Beziehung hauptſächlich von der Anſicht leiten

laſſen, daß die ganz unbeſtimmte Hinweiſung, welche das Allg. Land-

recht Th. II. Tit. 20. §. 508. auf die beſonderen Verordnungen ent-

halte, nicht wiederholt werden könne, daß aber doch einige allgemeinen

Vorſchriften über die Vergehen der Gewerbtreibenden und über die Ent-

ziehung der Befugniß zur Fortführung des Gewerbebetriebs in das

Strafgeſetzbuch aufzunehmen ſeien. Namentlich ſei dieß in Anſehung

zweier Klaſſen von Gewerbetreibenden wünſchenswerth. Zuvörderſt ſei

hier derjenigen Perſonen zu erwähnen, denen öffentlicher Glaube in

gewiſſen Geſchäften beigelegt ſei, wie z. B. den Mäklern, Taxatoren,

Güterbeſtätigern und Feldmeſſern. Dieſe müßten, wenn ſie das bei ihrer

Anſtellung in ſie geſetzte Vertrauen täuſchen und ſich einer Verletzung

der meiſtens eidlich übernommenen Verpflichtung ſchuldig machen, ſtrenger

beſtraft und nach Bewandniß der Umſtände ſchon im erſten Kontraven-

tionsfall mit Entziehung der Gewerbebefugniß beſtraft werden. Dem-

nächſt kämen diejenigen Perſonen in Betracht, denen zwar kein öffent-

licher Glaube beigelegt iſt, die aber zum Dienſt des Publikums für

gewiſſe Geſchäfte öffentlich ernannt oder ermächtigt und deshalb beſonders

verpflichtet werden, weil dieſe Geſchäfte einen beſtimmten Umfang von

Kenntniſſen oder Fähigkeiten vorausſetzen. Zu dieſen Perſonen, welche

vor ihrer Anſtellung eine Prüfung beſtehen müſſen, ſeien — nach Inhalt

des Geſetzes vom 7. September 1811. (G. S. S. 263.) — außer den

Aerzten und Wundärzten, namentlich die Apotheker, Hebammen, Roß-

und Viehärzte, Verfertiger von chirurgiſchen Inſtrumenten, Architekten

und Baumeiſter, Auktions-Kommiſſarien und Kommiſſionärs zu rechnen.

Auch für dieſe Klaſſe, die, gleich der erſten, dem Beamtenverhältniſſe ſehr

nahe ſtehe, ſei es erforderlich, mehrere Vorſchriften aufzunehmen. Für die

übrigen Gewerbtreibenden liege ein gleiches Bedürfniß nicht vor; aber

Einzelnes ſei doch in Beziehung auf ihren Gewerbebetrieb und den

Verluſt deſſelben zu beſtimmen, namentlich im Fall wiederholter Ver-

übung gewiſſer Polizei-Kontraventionen. l)

l) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 233. 234.

[385/0395]

§§. 200-203. Pflichtverletzung von Medizinalperſonen u. ſ. w.

Später iſt, offenbar wegen der inzwiſchen eingeführten Gewerbe-

ordnung vom 17. Januar 1845. ein beſonderer Titel über die Verbrechen

der Gewerbetreibenden (im rev. Entwurf von 1845. findet er ſich noch)

nicht mehr für nöthig gehalten worden; m) die einzelnen Beſtimmungen

deſſelben, welche beibehalten werden ſollten, ſind an verſchiedenen Orten

untergebracht, und nur mit Rückſicht auf einzelne Arten der Beſchäfti-

gung z. B. der Aerzte, der Phyſici, Architekten, die Ausdrücke „Amt,

Beruf, Gewerbe,“ „ſelbſtändige Betreibung der Kunſt und des Gewer-

bes“ gewählt worden. Vgl. oben S. 87.

I. Medizinalperſonen verweigern in Fällen dringender Gefahr ohne

hinreichende Urſache ihre Hülfe (§. 200.); dann trifft ſie eine Geldbuße

von zwanzig bis zu fünfhundert Thalern. Der Zuſatz des Entwurfs

von 1850. §. 183. „wenn in Folge der verweigerten Hülfe ein erheb-

licher Nachtheil für den Kranken entſteht,“ ſchien der Kommiſſion der

zweiten Kammer nicht annehmbar, da er die ganze Vorſchrift illuſoriſch

machen würde. Beſſer wäre es dann geweſen, ſie gar nicht aufzu-

ſtellen. n)

II. Hebeammen verſäumen in den aufgeführten Fällen einen ap-

probirten Geburtshelfer herbeirufen zu laſſen (§. 201.). Die Strafe iſt

alternativ Geldbuße oder Gefängniß. o)

III. Baumeiſter und Bauhandwerker handeln bei der Ausführung

eines Baues dergeſtalt wider die allgemein anerkannten Regeln der Bau-

kunſt, daß hieraus für andere Gefahr entſteht (§. 202.) Zu der geſetz-

lichen Strafe von Geldbuße oder Gefängniß kann im Rückfall die

Entziehung der Befugniß zur ſelbſtändigen Betreibung des Gewerbes

treten. p)

IV. Bei Verübung einer Körperverletzung hat der Thäter die ihm

m) Die Rechtsſicherheit hat durch dieſe Aenderung nicht gewonnen; auch iſt das

Verhältniß zwiſchen der durch richterliches Erkenntniß auszuſprechenden Entziehung

des Gewerbebetriebes u. ſ. w. und der in der Gewerbeordnung von 1845. §. 71.

erwähnten Zurücknahme der Konzeſſion u. ſ. w. auf dem Verwaltungswege vor Miß-

verſtändniß nicht geſichert. Nur in Beziehung auf den Gewerbebetrieb der Buch-

händler, Buchdrucker u. ſ. w. iſt das Verhältniß beſtimmt geordnet, indem das Geſetz

über die Preſſe vom 12. Mai 1851. §. 1. den §. 48. der Gewerbeordnung aufge-

hoben hat, dieſe alſo nicht mehr zum geltenden Recht gehört und demnach auch nicht

die Anwendung des §. 71. der Gewerbeordnung auf Konzeſſionen der Buchhändler

u. ſ. w. vermitteln kann. §. 71. iſt durch Aufhebung des §. 48. ſo zu ſagen ein

referens sine relato geworden. Für jene Konzeſſionen iſt alſo das Preßgeſetz und

für deren Entziehung namentlich der §. 54. deſſelben das allein geltende Spezialrecht.

n) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 183. (200.)

— Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 72-89.

o) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 712-15. — Verhandlungen a. a. O.

S. 89-91.

p) A. L. R. a. a. O. §. 768-72. — Verhandlungen a. a. O. S. 91-93.

[386/0396]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

vermöge ſeines Amtes, Berufes oder Gewerbes obliegenden beſonderen

Pflichten übertreten. Iſt dieß

a. vorſätzlich geſchehen, ſo ſoll der Thäter zugleich auf immer

oder auf die Dauer von höchſtens fünf Jahren zu einem ſolchen Amte

für unfähig oder der Befugniß zur ſelbſtändigen Betreibung ſeiner Kunſt

oder ſeines Gewerbes verluſtig erklärt werden (§. 203. Abſ. 1.). Dieſe

Nebenſtrafe tritt alſo zu der allgemeinen geſetzlichen Strafe des Verbre-

chens oder Vergehens hinzu.

b. Iſt die Handlung eine fahrläſſige geweſen, ſo kann die Neben-

ſtrafe nur, wenn der Thäter ſich im Rückfall befindet, auferlegt werden;

auch iſt es nur dem Richter freigelaſſen, auf dieſelbe zu erkennen

(§. 203. Abſ. 2.). q)

Siebenzehnter Titel.

Verbrechen und Vergehen wider die perſönliche Freiheit.

§. 204.

Wer einen Menſchen durch Liſt oder Gewalt entführt, um ihn entweder

in hülfloſer Lage auszuſetzen, oder ihn in Sklaverei oder Leibeigenſchaft, oder

in auswärtige Kriegsdienſte oder Schiffsdienſte zu bringen, begeht einen

Menſchenraub und ſoll mit Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig Jahren be-

ſtraft werden.

§. 205.

Wer einen Menſchen unter ſechszehn Jahren durch Liſt oder Gewalt ent-

führt, um ihn zum Betteln oder zu gewinnſüchtigen oder unſittlichen Zwecken

oder Beſchäftigungen zu gebrauchen, wird mit Zuchthaus bis zu funfzehn

Jahren beſtraft.

§. 206.

Wer eine minderjährige Perſon durch Liſt oder Gewalt ihren Eltern oder

Vormünden entführt, wird mit Gefängniß nicht unter Einem Jahre beſtraft.

§. 207.

Wer eine Frauensperſon durch Liſt oder Gewalt entführt, um ſie zur Un-

zucht oder zur Ehe zu bringen, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren

beſtraft.

§. 208.

Wer eine minderjährige unverehelichte Frauensperſon mit ihrem Willen,

q) A. L. R. a. a. O. §. 779. Vgl. oben §. 184.

[387/0397]

§§. 204-209. Die Entführung.

jedoch ohne die Einwilligung ihrer Eltern oder ihres Vormundes entführt,

um ſie zur Unzucht oder zur Ehe zu bringen, wird mit Gefängniß nicht unter

drei Monaten beſtraft.

§. 209.

Hat der Entführer (§§. 207., 208.) die Entführte geheirathet, ſo kann

gegen denſelben nur auf den Antrag derjenigen Perſonen verfahren werden,

welche auf die Ungültigkeitserklärung der Ehe anzutragen befugt ſind; auch

darf derſelbe nicht eher verurtheilt werden, als bis die Ehe vorher für ungültig

erklärt worden iſt.

In dieſem Titel, welcher dem 13. Abſchnitt des Allg. Landrechts

Th. II. Tit. 20. „Von Beleidigungen der Freiheit“ entſpricht, finden

ſich folgende Verbrechen und Vergehen zuſammengeſtellt: die Entführung

mit Einſchluß des Menſchenraubes (§§. 204-9.), die widerrechtliche

Freiheitsberaubung (§§. 210. 211.), die Nöthigung (§. 212.), der Land-

zwang (§. 213.), die Verletzung des Hausrechts (§. 214.). Wenn

auch die Verletzung der perſönlichen Freiheit vorzugsweiſe den Gegen-

ſtand der hier unter Strafe geſtellten Handlungen bildet, ſo iſt dieß

doch nicht ausſchließlich der Fall. Es kommt dabei theils noch auf die

beſondere verbrecheriſche Abſicht des Thäters an, z. B. bei dem Men-

ſchenraub, theils ſind hier Vergehen aufgeführt, bei denen die Verletzung

der elterlichen oder vormundſchaftlichen Gewalt den eigentlichen That-

beſtand bildet.

Die Entführung, von welcher hier zunächſt zu handeln iſt, hat im

Strafgeſetzbuch eine viel weitere Bedeutung erhalten, als ihr bisher bei-

gelegt zu werden pflegte. Es ſind daher die einzelnen Arten dieſes

Delikts, welche ſowohl in Beziehung auf den Thatbeſtand als auch auf

die Beſtrafung ſehr von einander abweichen, einer geſonderten Erörte-

rung zu unterziehen, die, obgleich das Verbrechen zu den ſeltneren ge-

hört, doch wegen der Schwierigkeiten, welche der Gegenſtand darbietet, in

größerer Ausführlichkeit gegeben werden muß.

A. Der Menſchenraub (plagium).

Die im Allgemeinen Landrecht Th. II. Tit. 20. §§. 1083-94.

unter dem Marginale „Menſchenraub“ enthaltenen Strafvorſchriften

wurden bei der Reviſion in dem Sinne redigirt, daß das Eigenthüm-

liche des Verbrechens darein geſetzt wurde, daß der ſeiner Freiheit Be-

raubte entweder für immer oder doch auf längere Zeit, gänzlich einer

fremden Willkühr unterworfen und dem Schutze des Vaterlands, oder,

bei Kindern, dem Schutze und der Leitung ſeiner Angehörigen entzogen

[388/0398]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

werde. r) Dabei hatte der Entwurf von 1830. das im Allg. Landrecht

durchgeführte Princip der Talion verlaſſen, und auch die Staatsraths-

Kommiſſion erklärte ſich, im Gegenſatz zu dem Entwurf von 1836.,

hiermit einverſtanden. Dieſelbe kehrte aber auch in Beziehung auf den

Thatbeſtand des Verbrechens im Weſentlichen zu den Beſtimmungen

jenes früheren Entwurfes zurück. s) Es wurde demnach folgende Faſ-

ſung gewählt:

Entwurf von 1843. §. 356. „Wer ſich unbefugterweiſe eines

Menſchen entweder durch Liſt oder Gewalt, oder vor deſſen zurückge-

legtem ſechszehnten Jahre ohne die Einwilligung ſeiner Eltern oder

Vormünder bemächtigt, und ihn entweder dem Schutze des Staats

durch Entfernung aus dem Staatsgebiete, oder dem Schutze derjenigen

entzogen hat, unter deren Aufſicht oder Gewalt er ſteht, ſoll beſtraft

werden:

1) mit zwanzigjähriger bis lebenslänglicher Zuchthausſtrafe, wenn

dabei beabſichtigt wurde, den Geraubten in entfernte Weltgegen-

den auszuſetzen, oder ihn in Sklaverei oder Leibeigenſchaft zu

bringen;

2) mit Zuchthausſtrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren, wenn der

Geraubte in auswärtige Kriegs- oder Schiffsdienſte gebracht

werden ſollte, oder wenn ein noch nicht volle ſechszehn Jahre

altes Kind geraubt worden iſt, um daſſelbe zum Betteln oder zu

andern unſittlichen Zwecken zu gebrauchen, oder wenn das Ver-

brechen gegen ein ſolches Kind von Seiltänzern, Kunſtreitern,

Marionettenſpielern oder Gauklern verübt worden iſt;

3) mit Strafarbeit oder mit Zuchthausſtrafe von fünf bis zu zehn

Jahren, wenn das Verbrechen zu andern Zwecken verübt wurde.“

Zugleich hatte man es in Erwägung gezogen, ob nicht nach dem

Vorgange des Sächſiſchen Strafgeſetzbuchs (Art. 146.) eine Strafvor-

ſchrift aufzuſtellen ſei gegen Eltern, Vormünder und Erzieher, welche die

ihrer Pflege anvertrauten Kinder zu unſittlichen Zwecken oder zu einer

leichtfertigen Beſchäftigung Anderen überließen. Dieß führte zu folgen-

der Beſtimmung:

Entwurf von 1843. §. 357. „Ueberlaſſen Eltern oder Vor-

münder ein noch nicht volle ſechszehn Jahre altes Kind einem Ande-

ren zu den im §. 356. Nr. 1. und 2. bezeichneten Zwecken, ſo ſoll ſo-

r) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 282-86. — Entwurf von

1830. §. 311. 312. — Entwurf von 1836. §. 529. 530.

s) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 282-84. 335. 336. Vgl. Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom

28. April 1841.

[389/0399]

§§. 204-209. Die Entführung.

wohl gegen den letzteren, als gegen die Eltern oder Vormünder in den

Fällen Nr. 1. fünf- bis zehnjährige Zuchthausſtrafe, und in den Fällen

Nr. 2. Strafarbeit bis zu fünf Jahren eintreten. — Die Strafe fällt

jedoch weg, wenn die Ueberlaſſung an Seiltänzer, Kunſtreiter, Mario-

nettenſpieler oder Gaukler mit obrigkeitlicher Genehmigung erfolgt iſt.“

Dieſe Vorſchriften wurden aber in dem Miniſterium für die Geſetz-

Reviſion einer Kritik unterworfen, welche zu erheblichen Abänderungen

führte. Die Reviſionsſchrift hebt in dieſer Beziehung namentlich fol-

gende Geſichtspunkte hervor: t)

„Der §. 356. wird dadurch undeutlich, daß das Charakteriſtiſche

der hier zuſammengefaßten Handlungen, die dabei verfolgten Zwecke nicht

vorweg aufgeſtellt, und daß der §. ſelbſt nicht in verſchiedene Sätze auf-

gelöſt worden iſt. Es ſind nämlich als völlig gleichartig zuſammen zu

ſtellen die (in Nr. 1. und 2. des §. aufgeſtellten) Fälle, wobei Men-

ſchenverkauf (Seelenverkäuferei) und ähnliche ſchändliche Handlungen

beſtraft werden ſollen, nämlich der Menſchenraub, um den geraubten ent-

weder in entfernten Weltgegenden auszuſetzen, oder in Sklaverei oder

Leibeigenſchaft, oder in auswärtige Kriegs- oder Schiffsdienſte zu brin-

gen. Auf das Alter des Geraubten kommt es in allen dieſen Fällen

nicht an.“

„Ganz verſchieden davon ſind die (in Nr. 2. und 3. des §. auf-

geſtellten) Fälle, welche nur bei Kindern eintreten können, da für ſel-

tene, etwa auch bei Erwachſenen vorkommende Fälle ähnlicher Art, die

anderweiten Strafbeſtimmungen über die Nöthigung und das widerrecht-

liche Gefangenhalten genügenden Schutz gewähren. Bei vielen Fällen

dieſer Art iſt mit der Handlung noch die Abſicht verbunden, die Kinder

zu unſittlichen Zwecken zu gebrauchen, namentlich zum Betteln oder zu

unſittlichen Gewerben. In dieſen Fällen der an Kindern verübten Frei-

heitsberaubung, welche in Nr. 2. des §. erwähnt werden, kann die

Einwilligung der Eltern oder Vormünder von keinem mildernden Ein-

fluß auf die Strafbarkeit ſein.“

„Andere Fälle, in welchen ein Angriff auf die Freiheit des Kindes

geſchieht (Nr. 3. des §.), ſind zwar mit einer ſolchen abſichtlichen Ge-

fährdung der Sittlichkeit des Kindes nicht verbunden, ſie erſcheinen aber

dennoch inſoweit ſtrafbar, als dadurch das Erziehungsrecht der Eltern

oder Vormünder gekränkt, oder der Familienſtand gefährdet wird. Dieß

iſt der Fall 1) wenn das Kind zur Befriedigung des Eigennutzes, wenn

auch nicht zu unſittlichen Zwecken gebraucht werden ſoll; 2) wenn daſ-

ſelbe fremdem Einfluß in Beziehung auf Erziehung, religiöſes Bekennt-

t) Reviſion von 1845. II. S. 146-48.

[390/0400]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

niß und Lebensbeſtimmung unterworfen werden ſoll; in dieſen Fällen

muß die Einwilligung der Eltern oder Vormünder jede Strafbarkeit

ausſchließen. Denn hier wird eigentlich nicht das Kind in ſeiner Per-

ſon gekränkt, ſondern vielmehr die Rechte der Erziehungsgewalt und der

Familie überhaupt. Wenn z. B. ein Kind mit Einwilligung der Eltern

in ein Kloſter, oder in anderweite Erziehungsanſtalten gebracht wird, ſo

iſt von einem Menſchenraube nicht die Rede. Dies Verbrechen liegt

aber vor, wenn ein Kind auch in wohlwollender oder vermeintlich guter

Abſicht entführt wird, um es in einem andern Glauben erziehen zu

laſſen, oder um es im Widerſpruch mit den Verhältniſſen der Familie,

worin es geboren wurde, zum Tagelöhner oder Handwerker zu machen.

Ebenſo, wenn das Kind in beſter Abſicht den Eltern entriſſen wird, aus

Wohlgefallen an demſelben, oder um Rechte des Familienſtandes zu

kränken, ſoweit hier der §. 478. (§. 138. des Strafgeſetzbuchs) keine

Anwendung findet.“

„Andere Fälle als die angeführten, werden nicht leicht vorkommen,

und wenn ſie vorkommen, ſo würden ſie zu anderen Verbrechen gehö-

ren, ſo daß auf dieſe Weiſe die negative Beſtimmung der Nr. 3. des

§. ſich erledigt. Es muß dabei nur der Geſichtspunkt feſtgehalten wer-

den, daß diejenigen Fälle zuſammen zu ſtellen ſind, in welchen die Ein-

willigung der Eltern jedes Verbrechen ausſchließt. — Die Definition

im Eingang des §. 356. ſcheint aber auch inſofern unrichtig, als bei

dem Begriff des Menſchenraubes keineswegs auf die Entfernung aus

dem Staatsgebiet ſo viel Gewicht zu legen iſt, da ein Menſchenraub

auch außerhalb der Grenzen unſeres Staats ſowohl an einem Preußen,

als an einem Ausländer verübt werden könnte. — Hiernächſt muß an-

genommen werden, daß zum Thatbeſtand dieſes Verbrechens nicht die

Erreichung der verbrecheriſchen Abſicht, alſo des Menſchenverkaufs, der

Ausſetzung u. ſ. f. gehört. Das Verbrechen iſt vollendet, ſobald die

Freiheitsberaubung und zwar in jener verbrecheriſchen Abſicht erfolgt iſt;

ob dieſe Abſicht erreicht worden, iſt hier, wie beim Raube und der Ent-

führung, zum Begriff nicht gehörig, und dieſer Umſtand bildet nur einen

Zumeſſungsgrund. Dies iſt auch die Meinung des Entwurfs, u) und

es muß dieſelbe feſtgehalten werden, wenngleich ſie nicht die der ande-

ren Deutſchen Geſetzbücher iſt.

v) Wenn ſonach aber die Erreichung des

u) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 283. Es wird hier beſonders

hervorgehoben, daß, wenn man auf die Folgen des Verbrechens ein beſonderes Ge-

wicht lege, man die Größe der Strafe eigentlich vom Zufall abhängen laſſe, während

es doch hauptſächlich der Wille und die Abſicht des Thäters ſei, worauf es bei Feſt-

ſtellung der Strafe ankomme.

v) Das gilt doch nur für das Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 250-51.

[391/0401]

§§. 204-209. Die Entführung.

Zwecks nicht zum Thatbeſtande gehört, ſo ſind die Strafmaaße zu hoch,

wie Temme und Abegg richtig bemerken.“ — Nachdem mit Bezug-

nahme auf andere Geſetzgebungen eine Ermäßigung der Strafſätze vor-

geſchlagen worden, heißt es weiter:

„Die beſonderen Beſtimmungen in Nr. 2. des §. 356., daß die

Strafe auch eintrete, wenn das Verbrechen von Seiltänzern, Kunſtrei-

tern, Marionettenſpielern oder Gauklern verübt werde, iſt entbehrlich

und unzweckmäßig, weil es überhaupt nur auf den Zweck des an dem

Kinde verübten Raubes, nicht auf den Stand und Beruf des Verbre-

chers ankommt, und weil es für die richtige Auffaſſung und Anwendung

ſicherer iſt, allgemein von unſittlichen Zwecken und Beſchäftigungen zu

reden, als eine Aufzählung derſelben zu unternehmen, welche doch nie-

mals vollſtändig ſein kann.“

„Die Rheiniſchen Stände haben übrigens mit vollem Recht die

Anſicht aufgeſtellt, daß die Einwilligung der Eltern und Vormünder für

die erſten beiden Klaſſen des Menſchenraubes ganz unerheblich iſt, und

daß die Eltern und Vormünder nicht nur nicht milder als die Räuber

zu ſtrafen ſind, ſondern ſogar moraliſch noch ſtrafbarer erſcheinen. Die

Vorſchrift des §. 357., welcher, im Fall der Einwilligung der Eltern

und Vormünder, beide Theile milder und gleichmäßig beſtraft, ſcheint,

wie auch Temme richtig bemerkt, nicht gerechtfertigt; die Eltern und

Vormünder ſind zu jener Ueberlaſſung der Kinder für unſittliche Zwecke

nicht nur nicht berechtigt, ſondern ſie vergehen ſich gleich den Räubern,

wo nicht ſchwerer. Die erſte Hälfte des §. 357. erſcheint daher als

unbegründet und entbehrlich. Auch für die zweite Hälfte iſt kein Be-

dürfniß vorhanden; denn wenn die bei einzelnen Seiltänzern u. ſ. w.

wahrzunehmenden Zwecke und Beſchäftigungen unſittlich wären, ſo könnte

eine obrigkeitliche Genehmigung gar nicht als denkbar vorausgeſetzt wer-

den.“ Ueberhaupt ſei die zweite Hälfte des §. 357. nur durch die

Aufzählung der einzelnen Gewerbe in §. 356. veranlaßt worden, und

falle mit dieſer Aufzählung weg.

Auf Grund dieſer Bemerkungen iſt ſpäter bei der Feſtſtellung der

hierher gehörigen Vorſchriften verfahren, und namentlich die Sonderung

der einzelnen Verbrechen und Verbrechen durchgeführt worden. Im Ein-

zelnen ſind freilich noch manche Aenderungen beliebt worden.

I. Der Thatbeſtand des Verbrechens wird ſeit dem Entwurfe von

v)

v) — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 299. 300. — Bad. Strafgeſetzb. §. 267-74.

Dagegen ſtimmen mit dem Preußiſchen Strafgeſetzbuch überein: Sächſ. Criminal-

geſetzb. Art. 145. — Württemberg. Strafgeſetzbuch. Art. 274. — Thü-

ringſch. Strafgeſetzb. Art. 140-43. — Braunſchweig. Criminalgeſetz-

buch. §. 169.

[392/0402]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

1850. mit den Worten bezeichnet: „wer einen Menſchen durch Liſt

oder Gewalt entführt“, während es früher hieß „ſich bemächtigt“.

Die Motive von 1850. rechtfertigen dieſe Veränderung mit der Be-

merkung, daß die Beraubung der Freiheit vollſtändig bewirkt ſein müſſe,

um das vollendete Verbrechen zu konſtatiren. Durch „entführen“ werde

dieſe vollendete Bemächtigung der Perſon bezeichnet. Aber wenn es

überhaupt ſchon bedenklich iſt, Ausdrücke, welche einmal zur Bezeich-

nung beſtimmter Rechtsbegriffe gebraucht werden, in einem weiteren

Sinn zu nehmen, als nach der gewöhnlichen Vorſtellung damit ver-

bunden wird, ſo hätten in dem vorliegenden Fall auch noch andere

Erwägungen von dem allgemeinen Gebrauch des Wortes „entführen“

abhalten ſollen. Daſſelbe wird nämlich gewöhnlich gebraucht von

der Entfernung von Frauensperſonen aus der Gewalt ihrer Ange-

hörigen zum Zweck der Unzucht oder der Ehe, ſo daß bei der Entfüh-

rung im engern Sinn eine zwiefache Rechtsverletzung vorzuliegen pflegt,

— die gegen die Frauensperſon und die gegen den Inhaber der Gewalt.

Der Letztere kann daher nicht wohl als ſelbſt die Entführung verübend

oder auch nur daran Theil nehmend gedacht werden. w) Bei dem Men-

ſchenraube nun ſoll nach der oben angeführten Auffaſſung, welche bei

der Reviſion vorherrſchte, die Betheiligung der Eltern und Vormünder

mit der vollen Strafe geahndet werden, und wegen des in §. 205.

vorgeſehenen Verbrechens hatte noch der Entwurf von 1847. §. 257.

dieß ausdrücklich vorgeſchrieben. Wenn es nun in den Motiven von

1850. heißt, der §. 257. ſei deswegen nicht beſonders aufgenommen

worden, weil im Weſentlichen die allgemeinen Vorſchriften des §. 31.

(34.) von der Theilnahme genügten; ſo muß der Richter, um der Ab-

ſicht des Geſetzgebers zu entſprechen, in einem ſolchen Fall erſt von dem

gewöhnlichen Begriff der Entführung ganz abſehen, und das allgemeine

Unrecht, welches in dem Zwecke des Verbrechens liegt, ſich vergegenwär-

tigen, um gegen Eltern und Vormünder zu einem Strafurtheile gelan-

gen zu können. Es ſoll nicht behauptet werden, daß dieß an ſich

rechtlich unmöglich ſei, da eine ſolche Geſetzesanwendung noch auf dem

Gebiete der Auslegung ſich bewegt, und die Grenze noch nicht zu über-

ſchreiten braucht, welche daſſelbe von dem der Analogie ſcheidet. Aber

eine Verdunkelung an ſich klarer Begriffe iſt durch die weitere Bedeu-

w) Den Begriff der Entführung in dem bezeichneten engeren Sinne beſtimmt der

Code pénal. Art. 354. Quiconque aura, par fraude ou violence, enlevé

ou fait enlever des mineurs, ou les aura entraînés, détournés ou déplacés,

ou les aura fait entrainer, détourner ou déplacer des lieux où ils étaient

mis par ceux à l'autorité ou à la direction desquels ils étaient soumis ou

confiés, subira la peine de la reclusion.

[393/0403]

§§. 204-209. Die Entführung.

tung, welche das Geſetzbuch mit dem Worte „entführen“ verbindet, doch

veranlaßt worden.

II. Die Entführung muß durch Liſt oder Gewalt geſchehen ſein.

Es ſind darunter alle Mittel argliſtiger Täuſchung, ſo wie Drohungen

und die Ueberwindung körperlichen Widerſtandes zu denken, durch welche

der Thäter die Herrſchaft über den Entführten erlangt, und namentlich

ſeine Wegſchaffung von dem einen Orte zum andern bewirkt. Streng

genommen reicht alſo die Thatſache der Bemächtigung, der Freiheits-

beraubung noch nicht aus, um den Thatbeſtand des Verbrechens zu

begründen; es erſcheint dieß erſt als ein ſtrafbarer Verſuch, und nur

wenn die Entfernung vom Orte hinzugekommen, liegt das vollendete

Verbrechen vor.

III. Die Erreichung der verbrecheriſchen Abſicht gehört dagegen,

wie auch in den Motiven von 1850. hervorgehoben iſt, nicht zu dem

Thatbeſtande des Verbrechens, ſondern kommt nur bei der Strafzumeſ-

ſung in Betracht.

IV. Das in dem Geſetzbuch allein als Menſchenraub bezeichnete

Verbrechen iſt in §. 204. näher feſtgeſtellt, indem die verſchiedenen Fälle

der Verübung nach der Abſicht des Thäters beſtimmt werden. Auf das

Alter des Entführten iſt dabei keine Rückſicht genommen worden.

a. Die Abſicht geht dahin, den Entführten in hülfloſer Lage aus-

zuſetzen. Der Entwurf von 1843. §. 356. Nr. 1. ſagte ſtatt deſſen:

„in entfernte Weltgegenden auszuſetzen“; die Staatsraths-Kommiſſion

beſchloß aber die angeführte Veränderung, weil dieſer letzte Ausdruck zu

unbeſtimmt und zu eng ſei. Es wurde dabei noch beſonders bemerkt,

daß das Verbrechen der Ausſetzung (§. 183.) für die in §. 204. be-

griffenen Fälle nicht ausreiche, da einerſeits dort nur von der Ausſetzung

der wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hülfloſen

Perſonen die Rede ſei, andererſeits aber die Handlung in ein viel ſchwe-

reres Verbrechen übergehe, wenn ſich der Thäter der Perſon, die er

ausſetzen wolle, zuvor durch Liſt oder Gewalt bemächtigt habe. x) Es

hätte noch hinzugefügt werden können, daß die Ausſetzung im engern

Sinn meiſtens von der Mutter an einem unehelichen Kinde verübt wird,

wobei an eine vorhergehende Bemächtigung oder Entführung nicht zu

denken iſt.

b. Der Entführte ſoll in Sklaverei oder Leibeigenſchaft oder in

auswärtige Kriegsdienſte oder Schiffsdienſte gebracht werden. Darunter

iſt das Verbrechen verſtanden, welches früher als Seelenverkäuferei be-

x) Verhandlungen der Staatsrath-Kommiſſion von 1846. S. 125.

Beſeler Kommentar. 26

[394/0404]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

zeichnet zu werden pflegte, und wohl hauptſächlich für die Holländiſchen

Dienſte in Oſtindien verübt wurde.

V. Ein zweites Verbrechen, dem Menſchenraube nahe verwandt

und früher auch ausdrücklich darunter befaßt, iſt in §. 205. normirt;

es kann aber nur an Kindern unter ſechszehn Jahren begangen werden

(Kinderdiebſtahl). — Statt der „eigennützigen“ (nicht „eigenmächtigen“,

wie es in den Motiven von 1850. heißt) Zwecke und Beſchäftigungen,

welche der Entwurf von 1847. §. 256. neben den unſittlichen auf-

geführt hatte, ſind jetzt „gewinnſüchtige“ genannt worden, — wohl um

die beabſichtigte Erlangung von Vermögensvortheilen beſonders hervor-

zuheben. — Die Strafe iſt Zuchthaus von zwei bis funfzehn Jahren,

während der eigentliche Menſchenraub mit Zuchthaus von fünf bis

zwanzig Jahren bedroht iſt.

VI. An dieſe Verbrechen ſchließt ſich noch als ein verwandtes

Vergehen der Fall an, wenn minderjährige Perſonen ihren Eltern oder

Vormündern mit Liſt oder Gewalt entführt werden. Im Sinne der

oben angeführten Bemerkungen der Reviſionsſchrift war in dem Ent-

wurf von 1847. auch hier die Abſicht des Thäters näher bezeichnet; es

hieß nämlich:

§. 258. „Wer ſich unbefugter Weiſe eines Menſchen unter ſechs-

zehn Jahren durch Liſt oder Gewalt bemächtigt, um ihn mit Kränkung

der Erziehungsrechte ſeiner Eltern oder Vormünder, oder mit Gefährdung

ſeines Familienſtandes, einem fremden Einfluſſe in Betreff der Erzie-

hung, des religiöſen Bekenntniſſes oder der Lebensbeſtimmung zu unter-

werfen, ſoll mit Gefängniß nicht unter ſechs Monaten oder mit Straf-

arbeit von ſechs Monaten bis zu fünf Jahren beſtraft werden.“

Nach der gegenwärtigen Faſſung wird nicht das ſechszehnjährige

Alter, ſondern die Minderjährigkeit des Entführten zum Thatbeſtande

verlangt, dieſer iſt alſo weſentlich erweitert worden; außerdem iſt alles

Gewicht auf die Verletzung der väterlichen oder vormundſchaftlichen Ge-

walt, die ſich freilich im Weſentlichen als Kränkung der Erziehungs-

rechte darſtellen wird, gelegt; die weiteren Abſichten des Thäters ſind

bei der Strafzumeſſung zu berückſichtigen. Die Strafe iſt Gefängniß von

Einem bis zu fünf Jahren.

B. Die Entführung (crimen raptus).

Bei der Entführung im engeren Sinne wird ebenſo wie bei dem

Menſchenraube unterſchieden, ob die Handlung als eine Gewaltthat ge-

gen die entführte Perſon begangen wird, oder ob ſie nur als eine Ver-

letzung der Rechte der Eltern oder des Vormundes zu ahnden iſt. Im

erſten Fall liegt ein Verbrechen vor, bei welchem es auf das Alter der

Entführten nicht ankommt, in dem andern ein Vergehen, welches nur

[395/0405]

§§. 204-209. Die Entführung.

an Minderjährigen verübt werden kann. Nur darin beſteht ein Unter-

ſchied zwiſchen dieſer Klaſſifizirung des Menſchenraubes und der Ent-

führung, daß bei jenem das Vergehen ohne Rückſicht auf die Abſicht

des Thäters beſtraft wird, bei dieſer aber der Zweck derſelbe iſt, Unzucht

oder Ehe, mag nun das Verbrechen oder das Vergehen vorliegen.

Der Begriff des in §. 206. normirten Vergehens iſt daher weiter, als

der in §. 208. vorgeſehene Fall.

I. Die Entführung einer Frauensperſon geſchieht durch Liſt oder

Gewalt, um ſie zur Unzucht oder zur Ehe zu bringen (§. 207.) Auch

hier liegt in der Thatſache der Entführung zu dem im Geſetz angege-

benen Zweck das vollendete Verbrechen; die Erreichung des Zwecks hat

nur für die Strafzumeſſung eine Bedeutung, falls nicht ein anderes

ſelbſtändiges Verbrechen, z. B. die Nothzucht hinzutritt. y) — Voraus-

geſetzt wird aber immer, daß die That wider den Willen der Entführ-

ten geſchah; denn hat ſie eingewilligt, und war verheirathet, ſo liegt

ein Ehebruch vor, welcher durch die Entführung geſetzlich nicht qualifi-

zirt wird; war ſie unverheirathet, ſo iſt die Vorſchrift des §. 208.

maaßgebend.

In Beziehung auf das Strafmaaß iſt wiederholt der Antrag ge-

macht worden zu unterſcheiden, ob der Zweck des Verbrechens Unzucht

oder Ehe war, und im letzteren Fall eine geringere Strafe eintreten zu

laſſen. Allein mit Recht iſt man hierauf nicht eingegangen, denn eine

erzwungene Ehe wird ſich ſogar unter Umſtänden als eine Entehrung

unter dem Schutz heiliger Formen darſtellen. z) — Ebenſo wenig iſt

das in der Karolina a) aufgeſtellte Erforderniß beibehalten worden, daß

die Frauensperſon unverleumdet ſein muß; es kommt hier nämlich, wie

bei der Nothzucht (§. 144.), nicht allein der Schutz weiblicher Ehre,

ſondern noch mehr der der perſönlichen Freiheit gegen Vergewaltigung

in Betracht. b)

II. Eine minderjährige unverehelichte Frauensperſon iſt mit ihrem

Willen entführt worden (§. 208.) Der Zuſatz „jedoch ohne die Ein-

y) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 289. — Berathungs-Pro-

tokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 285.

z) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 286. — Protokolle des

Staatsraths, Sitzung vom 28. April 1841. — Verhandlungen des verei-

nigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV. S. 98-102. — Bericht der Kom-

miſſion der zweiten Kammer zu §. 190. 191. (§. 207. 208.)

a) P. G. O. Art. 118. Item ſo eyner jemandt ſein eheweib oder eyn unver-

leumbte jungkfrawen wider des ehemanns oder des ehelichen vatters willen, eyner un-

ehrlichen weiß entpfüret, darumb mag der ehemann oder vatter, unangeſehen ob die

ehefraw oder jungkfrawe iren willen darzu giebt, peinlich klagen, und ſoll der thetter,

nach ſatzung unſer vorfahrn, und unſer Keyſerlichen recht darumb geſtrafft — — werden.

b) Reviſion von 1845. II. S. 149.

26 *

[396/0406]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

willigung ihrer Eltern oder ihres Vormundes“, erſcheint faſt als über-

flüſſig; denn wenn auch dieſe Einwilligung vorliegt, ſo läßt ſich nicht

recht abſehen, wozu es noch einer Entführung bedurfte.

a. Nur die Entführung Minderjähriger wird in dieſem Fall be-

ſtraft; es iſt dieſe Altersbeſtimmung, welche freilich in den verſchiedenen

Theilen der Monarchie verſchieden iſt, beibehalten worden, weil hier

eben die Verletzung der Rechte der Eltern oder des Vormundes zu ahn-

den iſt. c) — Wenn die mit ihrem Willen Entführte großjährig, ob-

gleich noch in der Gewalt ihrer Eltern iſt, ſo fehlt es an dem geſetz-

lichen Thatbeſtande des Vergehens.

b. Unter Eltern ſind hier alle diejenigen zu verſtehen, welche elter-

liche Rechte ausüben, alſo auch Adoptiveltern, wenn ſie in einer ſolchen

Lage ſind. d)

c. Liſt oder Gewalt als die bei der Entführung angewandten

Mittel gehören in dieſem Fall nicht zu dem geſetzlichen Thatbeſtande;

bei der Zuſtimmung der Frauensperſon wird es deren auch ſelten zur

Verübung des Vergehens bedürfen. Die Entführte wird aber nicht be-

ſtraft; nach der Faſſung der Geſetzesvorſchrift iſt nicht anzunehmen, daß

ſie als Theilnehmerin angeſehen werden ſoll; ihre Handlung ſtellt ſich

vielmehr als die Verletzung einer ſittlichen Familienpflicht dar. e)

III. Die Entführung wird ſowohl in den Fällen des §. 207. wie

in denen des §. 208. von Amtswegen beſtraft; die entgegenſtehende

Vorſchrift der früheren Entwürfe iſt in dem von 1850. aufgegeben wor-

den. „Es iſt dies“, ſagen die Motive, „eine Konſequenz des im vor-

liegenden Entwurfe überhaupt befolgten Prinzips, die Beſtrafung ſo

ſchwerer Verbrechen nicht von dem Willen einer einzelnen Privatperſon

abhängig zu machen.“ Aber das würde doch nur für die Fälle des

§. 207. zutreffend ſein. — Dagegen iſt die dem Code pénal (Art. 357.)

entlehnte Beſtimmung beibehalten worden, daß, wenn der Entführer die

Entführte geheirathet hat, nur auf den Antrag derjenigen Perſonen ver-

fahren werden kann, welche auf die Ungültigkeitserklärung der Ehe an-

zutragen befugt ſind; auch darf derſelbe nicht eher verurtheilt werden,

als bis die Ehe für ungültig erklärt worden iſt. Dieſe Präjudizial-

frage muß alſo vorher durch die Civilgerichte erledigt ſein, ehe die

Staatsanwaltſchaft mit Erfolg einſchreiten kann.

f)

c) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 126.

d) Verhandlungen des vereinigten ſtänd. Ausſchuſſes. IV. S. 103.

bis 105. — Motive von 1850. zu §. 191.

e) Code pénal. Art. 356. — Das Sächſiſche Criminalgeſetzb. Art. 150.

beſtraft auch die Entführte.

f) Vgl. überhaupt wegen des Prozeſſualiſchen Chauveau et Hélie Fau-

stin, Théorie du Code pénal. chap. LIV. III. p. 126-28. und wegen der

[397/0407]

§§. 210. 211. Widerrechtliche Freiheitsberaubung.

§. 210.

Wer vorſätzlich und widerrechtlich einen Menſchen einſperrt, oder auf andere

Weiſe des Gebrauchs der perſönlichen Freiheit beraubt, wird mit Gefängniß

nicht unter drei Monaten beſtraft.

Die Strafe iſt Zuchthaus bis zu funfzehn Jahren:

1) wenn für den der Freiheit Beraubten die Freiheitsentziehung oder die

ihm während derſelben widerfahrene Behandlung eine ſchwere Körper-

verletzung (§. 193.) zur Folge gehabt hat;

2) wenn die Freiheitsberaubung über einen Monat gedauert hat;

3) wenn das Verbrechen gegen leibliche Verwandte in aufſteigender Linie

verübt worden iſt.

§. 211.

Eine widerrechtliche Freiheitsberaubung iſt nicht vorhanden, wenn eine Per-

ſon vorläufig ergriffen und feſtgenommen wird, welche, bei Ausführung einer

ſtrafbaren Handlung oder gleich nach derſelben betroffen oder verfolgt, die

Flucht ergreift oder der Flucht dringend verdächtig iſt, oder wenn in einem

ſolchen Falle Grund zu der Beſorgniß vorliegt, daß die Identität der Perſon

ſonſt nicht feſtzuſtellen ſein werde. Der Ergriffene muß ſofort einer Polizei-

behörde oder einem anderen Beamten, welchem nach den Geſetzen die Pflicht

obliegt, Verbrechen oder Vergehen nachzuforſchen, behufs der Beſtimmung über

die vorläufige Feſtnahme übergeben, oder einer Wachtmannſchaft zugeführt

werden.

Ebenſo iſt eine widerrechtliche Freiheitsberaubung nicht vorhanden, wenn

die Fürſorge für einen Geiſteskranken die Beſchränkung ſeiner Freiheit noth-

wendig macht. Verſäumt in einem ſolchen Falle derjenige, welcher dieſe

Maaßregel trifft, der Polizeibehörde ohne Verzug von der getroffenen Maaß-

regel Anzeige zu machen, ſo ſoll er mit Gefängniß bis zu ſechs Monaten oder

mit Geldbuße bis zu Einhundert Thalern beſtraft werden.

Das Charakteriſtiſche der in §. 210. mit Strafe bedrohten Hand-

lungen iſt in den Worten angedeutet „einſperrt oder auf andere Weiſe

des Gebrauchs der perſönlichen Freiheit beraubt.“ Die vorſätzliche und

widerrechtliche Verübung einer ſolchen Handlung findet ſich auch bei

anderen Verbrechen, z. B. dem Menſchenraub, der Entführung; aber bei

dieſen muß noch etwas Anderes hinzukommen, wodurch der That-

beſtand erſt hergeſtellt wird, und zwar iſt es die beſtimmte Abſicht, der

Zweck, zu deſſen Erreichung die That begangen wird. In dem vorlie-

genden Fall iſt es die Verletzung der perſönlichen Freiheit an ſich, die

geahndet werden ſoll, und die eben ſo als ein ſtrafbares Unrecht be-

f)

f) Verjährung des Strafantrags, die erſt von dem Zeitpunkte an zu laufen beginnt, wo

der Berechtigte Kenntniß von der Heirath erhalten hat, — Bericht der Kommiſ-

ſion der erſten Kammer zu dieſem Titel.

[398/0408]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

trachtet wird, wie die Verletzung eines anderen, unter den Schutz der

Geſetze geſtellten Rechtes. g)

I. Die Strafe der einfachen Freiheitsberaubung iſt Gefängniß von

drei Monaten bis zu fünf Jahren; das Vergehen ſteigert ſich jedoch

zum Verbrechen und wird mit Zuchthaus von zwei bis zu funfzehn

Jahren beſtraft, wenn einer der in §. 210. angeführten erſchwerenden

Umſtände hinzugekommen iſt.

a. Die Beſchädigungen an Leib oder Geſundheit, welche für den,

der Freiheit Beraubten eingetreten ſind und die Straferhöhung bewirken,

ſind durch Bezugnahme auf §. 193. jetzt genau bezeichnet. Die frühe-

ren Entwürfe konnten ſich in dieſer Hinſicht weniger beſtimmt aus-

drücken.

b. In Beziehung auf die Dauer der ſtattgefundenen Freiheits-

entziehung iſt zu bemerken, daß in der Staatsraths-Kommiſſion Einige

für das Strafmaaß unterſcheiden wollten, ob dieſelbe ſich über acht Tage

erſtreckt habe oder nicht, wogegen ſich aber die Majorität der Kommiſſion

und der Staatsrath erklärten; h) der revidirte Entwurf von 1845. §. 248.

nahm dann die Dauer über ein Jahr, der Entwurf von 1847. §. 262.

die Dauer über drei Monate als Erſchwerungsgrund an. Die jetzt ge-

wählte Zeitbeſtimmung iſt dem Code pénal (Art. 342.) entnommen.

II. In der Praxis wird es oft nicht leicht ſein genau feſtzuſtellen,

welche Handlung als eine ſolche zu betrachten iſt, durch welche die ſtraf-

bare Freiheitsberaubung begangen wird, und doch muß eine beſtimmte

Handlung den Thatbeſtand des Vergehens oder Verbrechens begründen,

da eben auf das Einſperren ein beſonderes Gewicht gelegt wird, und

die Dauer der Gefangenhaltung regelmäßig nur als ein Strafzumeſſungs-

grund erſcheint. i) Im Allgemeinen kann hier nur die Analogie der ge-

ſetzlichen Beſtimmungen über Verhaftung und vorläufige Ergreifung und

Feſtnahme entſcheiden, indem derjenige, welcher vorſätzlich und wider-

rechtlich eine ſolche Handlung vornimmt, und den Verletzten dadurch

ſeiner Freiheit beraubt, ſich des Vergehens ſchuldig macht. In dieſem

Sinne hat auch das Geſetzbuch die Sache aufgefaßt, indem es, ohne

ſich auf eine weitläufige Kaſuiſtik einzulaſſen, gewiſſe Ausnahmen zu-

läßt, in welchen eine widerrechtliche Freiheitsberaubung nicht angenom-

men werden ſoll; die erſte bezieht ſich eben auf die Feſthaltung eines

g) Reviſion von 1845. II. S. 152.

h) Berathungs-Protokolle II. S. 281. — Protokolle des Staats-

raths, Sitzung vom 24. April 1841.

i) Der in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß geſtellte Antrag, die Strafbarkeit

erſt dann anzunehmen, wenn die Freiheitsentziehung zweimal vier und zwanzig Stun-

den gedauert habe (vgl. A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 381.) löſt den Knoten nicht,

ſondern durchſchneidet ihn; ſ. Verhandlungen. IV. S. 106. 107.

[399/0409]

§. 210. 211. Widerrechtliche Freiheitsberaubung.

Verbrechers oder eines Menſchen, der eines verbrecheriſchen Unterneh-

mens verdächtig iſt, die andere auf die Freiheitsbeſchränkung eines Gei-

ſteskranken. Von dieſen Ausnahmen handelt §. 211.

a. Die im erſten Abſatz aufgeführten Fälle einer rechtmäßigen Er-

greifung oder Feſtnahme ſind ſchon in den früheren Entwürfen im We-

ſentlichen übereinſtimmend bezeichnet worden; ſie finden ſich auch in

dem Geſetze zum Schutze der perſönlichen Freiheit vom 12. Februar

1850. §. 2. 3. (G.-S. S. 45. 46.), und zwar mit der weiteren Be-

ſtimmung über die ſofortige Ablieferung an eine zuſtändige Behörde.

Geſchieht die Ablieferung nicht ſofort, ſo wird die an ſich rechtmäßige

Handlung der Ergreifung den Charakter der rechtswidrigen Freiheits-

beraubung annehmen.

b. In Beziehung auf die Maaßregeln, welche in Fürſorge für

einen Geiſteskranken getroffen werden, und die Beſchränkung ſeiner Frei-

heit mit ſich bringen, iſt vorgeſchrieben, daß der Polizeibehörde ohne

Verzug Anzeige davon zu machen iſt, ohne daß, wie früher für den

leiblichen Vater, eine Ausnahme zugelaſſen worden. Eine Verletzung

dieſer Vorſchrift wird mit Geldbuße oder Gefängniß geahndet. Natür-

lich wird hier aber vorausgeſetzt, daß die in Sicherheit gebrachte Per-

ſon wirklich geiſteskrank war; wurde gegen ſie nur unter dem Vor-

wande der Geiſteskrankheit verfahren, ſo kommen die Vorſchriften des

§. 210. zur Anwendung. k)

c. Mit dieſen geſetzlich zugelaſſenen Ausnahmen von der Regel

iſt die Möglichkeit weiterer kaſuiſtiſcher Erwägungen noch lange nicht

abgeſchloſſen; ſchon das Beiſpiel der Nothwehr, welches der Entwurf

von 1843. §. 355. noch ausdrücklich aufführte, weiſt auf ſolche weitere

Fälle erlaubten Handelns gegen die perſönliche Freiheit Anderer hin,

und es laſſen ſich allerdings im Kreiſe der Erziehungsgewalt Maaß-

regeln als erlaubt denken, welche unter anderen Umſtänden ſtrafbar ſein

würden, die aber doch auch in jener beſchränkten Anwendung nicht all-

gemein von dem Geſetz ſanktionirt werden können (der Entwurf von

1836. §. 523. ſchlug es für Kinder unter achtzehn Jahren vor), wenn

nicht die Freiheit der Kinder ſchutzlos der Willkühr Preis gegeben wer-

den ſoll. Die Gründe gegen eine ſolche kaſuiſtiſche Faſſung des Ge-

ſetzes ſind ſchon früher entwickelt worden; l) in der Kommiſſion der er-

ſten Kammer kam die Sache noch einmal zur Sprache, indem die Be-

fürchtung geäußert wurde, daß die im Geſetz bezeichneten Fälle nicht

ausreichend und zu enge gefaßt ſeien. Es würde z. B. ungerecht ſein,

k) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 280.

l) Ebendaſelbſt S. 278. 279. — Reviſion von 1845. II. S. 153.

[400/0410]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

denjenigen zu ſtrafen, welcher einen trunkenen oder von einer rohen

Maſſe verfolgten oder mißhandelten Menſchen in deſſen eigenem Intereſſe

oder im Intereſſe der Sitte oder der öffentlichen Ordnung in einen

ſichernden Gewahrſam brächte. Es ward deshalb beantragt, um et-

waige Mißbräuche und ungerechte Beſtrafungen zu vermeiden, dem Pa-

ragraphen eine theils veränderte Faſſung zu geben, beſonders aber die

Worte „ſofort“ und „ohne Verzug“ im erſten und zweiten Abſatz

zu ſtreichen.

Die Mehrheit der Kommiſſion trat jedoch dieſen Anſichten und Vor-

ſchlägen nicht bei; ſie ſah in dem Paragraphen keine Ausſchließung

aller andern Fälle, außer den darin bezeichneten; ſie befürchtete nicht,

daß die Einſperrung eines hülfsbedürftigen oder gefährlichen Menſchen,

welche bona mente zur Verhinderung von Aergerniſſen und Freveln er-

folgt, durch die Gerichte zu den vorſätzlichen und widerrechtlichen Ein-

ſperrungen im Sinne des §. 210. werde gerechnet werden; auch beſorgte

ſie nicht, daß das Erforderniß einer ſofort oder ohne Verzug der Po-

lizei zu machenden Anzeige in Ermangelung einer genaueren Friſt-

beſtimmung zu einer mißbräuchlichen Deutung führen werde; vielmehr

hegte ſie die Erwartung, daß die Gerichte auf die jedesmal obwaltenden

beſonderen Umſtände billige Rückſicht nehmen würden. m)

III. Die Vorſchriften der §§. 210. und 211. beziehen ſich nur

auf die durch Privatperſonen vorgenommene widerrechtliche Freiheits-

beraubung; liegt ein Amtsverbrechen oder Amtsvergehen vor, ſo kommen

die Beſtimmungen des §. 317. zur Anwendung.

§. 212.

Wer einen Anderen zu einer Handlung oder Unterlaſſung dadurch zwingt,

oder zu zwingen verſucht, daß er denſelben ſchriftlich oder mündlich mit der

Verübung eines Verbrechens oder Vergehens bedroht, hat Gefängniß bis zu

Einem Jahre verwirkt.

§. 213.

Wer einen Anderen mit Brand oder Ueberſchwemmung bedroht, wird mit

Gefängniß von zwei Monaten bis zu Einem Jahre beſtraft.

Drohungen, durch welche jemand den freien Willen eines Anderen

zu beſtimmen, und ihn ſeinen Abſichten dienſtbar zu machen ſucht, ſind

in verſchiedener Weiſe Gegenſtand ſtrafrechtlicher Vorſchriften geworden.

Es gehört hierher der Fall, wenn jemand einen Anderen durch Dro-

m) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 211.

[401/0411]

§§. 212. 213. Nöthigung. Landzwang.

hungen zur Begehung eines Verbrechens oder Vergehens beſtimmt

(§. 34.), oder von der Ausübung ſtaatsbürgerlicher Rechte abhält

(§§. 83. 84.); ferner die Nöthigung einer Behörde oder eines Beamten

zu der Vornahme oder Unterlaſſung von Amtshandlungen (§. 90.), der

Mißbrauch der Amtsgewalt, um jemanden zu einer Handlung, Dul-

dung oder Unterlaſſung widerrechtlich zu nöthigen (§. 315.). Außerdem

kann die Anwendung von Drohungen durch die Abſicht, welche der Han-

delnde dadurch zu erreichen ſucht, in ein beſtimmtes Verbrechen — Ent-

führung, Nothzucht, Raub, Erpreſſung — übergehen. Aber in den

hierüber aufgeſtellten Strafvorſchriften iſt noch nicht allen Fällen vor-

geſehen, in welchen Drohungen ſich als ſtrafbare Handlungen darſtellen

können, und wenn auch nach den Grundſätzen, welche das Geſetzbuch

in Beziehung auf die Selbſthülfe befolgt hat, (ſ. oben S. 279-81.) und

nach der in demſelben durchgeführten Auffaſſung des Vorſatzes und des

Verſuchs, eine ganz allgemeine Beſtimmung über die Strafbarkeit jeder

Drohung inkonſequent geweſen ſein würde, wie ſie ſich auch nach all-

gemeinen Rechtsprincipien nicht rechtfertigen ließe: ſo durfte man doch

auf der andern Seite es bei der Normirung jener beſonderen Fälle nicht

bewenden laſſen.

Bei der Reviſion ſuchte man nun die vagen Vorſchriften des Allg.

Landrechts (Th. II. Tit. 20. §. 44. 533-37. 1077.) zu beſtimmten

Rechtsſätzen zu formuliren, indem ein beſonderes Gewicht auf die An-

ordnung geeigneter polizeilicher Maaßregeln gegen Perſonen, welche durch

Drohungen die öffentliche Sicherheit gefährden, gelegt wurde. n) Man

gelangte demnach zu folgenden Beſtimmungen:

Entwurf von 1847. §. 264. „Wer unbefugter Weiſe gegen

einen Anderen Gewalt oder Drohungen anwendet, um denſelben zu

einer Handlung, Duldung, oder Unterlaſſung zu nöthigen, ſoll, wenn

ſeine That nicht ein anderes ſchwereres Verbrechen in ſich ſchließt, auf

den Antrag des Genöthigten mit Gefängniß oder Strafarbeit bis zu

zwei Jahren beſtraft werden.“

§. 265. „Wer auch ohne den Zweck der Nöthigung einen Anderen

mit einem ſtrafbaren Angriffe unter Umſtänden bedroht, welche die Aus-

führung der Drohung beſorgen laſſen, ſoll auf den Antrag des Be-

droheten mit Geldbuße bis zu dreihundert Thalern, oder mit Gefängniß

bis zu ſechs Monaten beſtraft werden. Zugleich kann derſelbe nach

richterlichem Ermeſſen unter beſondere Polizei-Aufſicht geſtellt oder zur

Leiſtung einer Kaution angehalten werden.“

n) Motive zum erſten Entwurf. III. 2. S. 290-95. — Berathungs-

Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II. S. 288. 289. — Reviſion

von 1845. II. S. 154. 155.

[402/0412]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

Die vorberathende Abtheilung des vereinigten ſtändiſchen Aus-

ſchuſſes äußerte ſich über dieſe Vorſchriften in ihrem Gutachten: o)

„Der §. 264. belegt als Nöthigung die Anwendung von Gewalt

oder Drohungen mit Strafe, ſelbſt für den Fall, daß die angedrohte

Handlung als eine ſtrafbare nicht zu erachten wäre. Es iſt beſtritten

worden, ob überhaupt dergleichen Drohungen mit Strafen zu belegen,

indem nicht abzuſehen, wie eine an ſich ſtrafloſe Handlung dadurch

ſtrafbar werden könne, wenn man die Abſicht, ſie auszuüben, ausge-

ſprochen. Andererſeits ward die Beſtimmung des Paragraphen dadurch

vertheidigt, daß ein praktiſches Bedürfniß den Paragraphen rechtfertige,

indem die perſönliche Schwäche häufig zur Befriedigung ſchlechter Zwecke

gemißbraucht werde, und die bisherige Geſetzgebung zur Abſtellung

ſolcher Uebelſtände nicht im Stande geweſen. Den letztgedachten Grün-

den beipflichtend, hat die Abtheilung den Antrag, den Paragraphen zu

ſtreichen, mit 8 gegen 7 Stimmen abgelehnt.“

„Mit gleicher Majorität und aus ähnlichen Gründen iſt der An-

trag, auch den §. 265. zum Wegfall in Vorſchlag zu bringen, von der

Abtheilung zurückgewieſen, indem ſie namentlich berückſichtigte, daß es

ſich bei der Drohung noch um ein Mehreres handle, als wie bei dem

im vorhergehenden Paragraphen gedachten Vergehen, und hier keines-

weges ein ſtrafloſes Beginnen, ſondern ein ſtrafbarer Angriff den Inhalt

der angedrohten Handlung bilde.“

Der Ausſchuß trat der Majorität der Abtheilung bei; die Staats-

regierung hat aber in dem Entwurf von 1850. die angeführten Be-

denken im Allgemeinen für begründet gehalten, p) und nur nach dem

Vorgange des Rheiniſchen Rechts q) die Drohung mit der Verübung

eines Verbrechens oder Vergehens unter Strafe geſtellt.

A. Jemand zwingt einen Anderen zu einer Handlung oder Un-

terlaſſung, indem er ihn ſchriftlich oder mündlich mit der Verübung

eines Verbrechens oder Vergehens bedroht. Die Strafe dieſes Ver-

gehens, welche auch den Verſuch trifft, iſt Gefängniß bis zu Einem

Jahre (§. 212.).

B. Jemand bedroht einen Anderen mit Brand oder Ueberſchwem-

mung (§. 213.).

Dieſes Vergehen, welches in dem Entwurf von 1847. §. 366. mit

o) Verhandlungen. IV. S. 115-19.

p) Motive zum Entwurf von 1850. §. 195. 196.

q) Code pénal. Art. 305-308. Nur Drohungen mit einem Attentat ge-

gen die Perſon werden hier unter Strafe geſtellt, und dabei unterſchieden, ob ſie

ſchriftlich oder mündlich geſchehen, ob ſie von einem Befehl oder einer Bedingung be-

gleitet ſind oder nicht.

[403/0413]

§. 214. Verletzung des Hausrechts.

einer höheren Strafſatzung am Schluß des Titels von den gemeinge-

fährlichen Verbrechen vorkommt, wird in dem gemeinen Deutſchen

Kriminalrecht als Landzwang bezeichnet. r) Auf die Abſicht der

Drohung kommt es hierbei nicht an; die Thatſache, daß ſie gemacht

worden, begründet ſchon an ſich eine Strafe, welche in Gefängniß von

zwei Monaten bis zu Einem Jahre beſteht.

§. 214.

Wenn mehrere Perſonen ſich zuſammenrotten und in die Wohnung, das

Geſchäftszimmer oder das befriedigte Beſitzthum eines Anderen, oder in abge-

ſchloſſene Räume, welche zum öffentlichen Dienſte beſtimmt ſind, widerrechtlich

eindringen, ſo werden dieſelben mit Gefängniß von Einer Woche bis zu Einem

Jahre beſtraft.

Es iſt ein weſentliches Verdienſt des Allgemeinen Landrechts, daß

es manche Grundſätze und Inſtitute des Deutſchen Rechts, welche unter

den Händen der Juriſten verkommen waren, wieder zur Anerkennung

und Geltung gebracht hat. Aus dieſer Richtung des Geſetzbuchs ſind

namentlich auch die Beſtimmungen hervorgegangen, welche es (Th. II.

Tit. 20. §. 525-32.) zum Schutz des Hausrechts gegen rechtswidrige

Verletzungen deſſelben durch Privatperſonen (Heimſuchung) aufgeſtellt

hat, indem es ſich mit der erhöhten Strafe des mittelſt Einbrechens oder

Einſteigens verübten Diebſtahls nicht begnügte. Die Reviſion hat dieſes

Princip, daß das Haus, die Wohnung unter einen beſonderen Frieden

zu ſtellen ſei, feſtgehalten und weiter ausgeführt, indem namentlich auch

die zum öffentlichen Dienſt beſtimmten abgeſchloſſenen Räume deſſelben

Schutzes theilhaftig wurden. s) Der Entwurf von 1843. beſtimmte

hierüber:

§. 365. „Wer widerrechtlich in das Haus, die Wohnung, das

Geſchäftszimmer oder das befriedigte Beſitzthum eines Andern, oder in

abgeſchloſſene Räume, welche zum öffentlichen Dienſte beſtimmt ſind,

eindringt, oder, wenn er ohne Befugniß darin verweilt, auf geſchehene

Aufforderung ſich nicht entfernt, iſt auf Antrag des Beleidigten mit

Geldbuße bis zu einhundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu drei

r) P. G. O. Art. 128. Jtem, nachdem ſich vielfeltig begibt, daß mutwillige perſon,

die leut wider recht unnd billicheit betröhen, entweichen und außtretten, — — des-

halb ſolche für recht landtzwinger gehalten werden ſollen. — —

s) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. II.

S. 289. 290. — Frieden im Sinne des älteren Deutſchen Rechts iſt der geordnete

und geſicherte Rechtszuſtand unter der Herrſchaft des Rechts; es wird aber auch der

beſondere Schutz, der einzelnen Perſonen, Sachen und Verhältniſſen durch das Recht

gewährt wird, darunter verſtanden.

[404/0414]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.

Monaten zu beſtrafen. Dieſe Strafe kann auf Strafarbeit bis zu zwei

Jahren erhöht werden, wenn ſich Mehrere vereint dieſes Verbrechens

ſchuldig gemacht haben. War der Thäter bei Verübung des Verbrechens

mit Waffen verſehen, oder iſt Gewalt an Sachen verübt worden, ſo

tritt Gefängniß nicht unter drei Monaten oder Strafarbeit bis zu vier

Jahren ein.“

Dieſe Beſtimmungen wurden ſpäter verändert, indem man ein

eigenes Verbrechen des Landfriedensbruchs wieder annahm (Entwurf von

1847. §. 111.), und unter demſelben alle Fälle begriff, wo mehrere

Perſonen ſich zuſammenrotten, und öffentlich mit vereinten Kräften

Gewaltthätigkeiten gegen Perſonen und Sachen verüben. Schwerere

Verletzungen des Hausrechts glaubte man unter dieſes Verbrechen oder

unter das der Nöthigung, des Diebſtahls u. ſ. w. befaſſen zu können,

und ſetzte daher nur eine Strafe für den einfachen Hausfriedensbruch

feſt. t) Der Entwurf von 1850. hat dieſe Auffaſſung wieder verlaſſen,

indem der Begriff des Landfriedensbruchs in den des qualifizirten Auf-

ruhrs (§. 91.) und der Plünderung und Verwüſtung durch zuſammen-

gerottete Haufen (§. 284.) aufgelöſt wurde. Die einfache Verletzung

des Hausrechts iſt nun unter die Uebertretungen geſtellt worden

(§. 346.); außerdem handelt §. 318. von dem Fall, wo ſich Beamte

des Vergehens ſchuldig machen; die Vorſchriften des §. 214. haben

daneben ihre ſelbſtändige Bedeutung.

I. Das Vergehen wird in dem hier vorgeſehenen Fall verübt durch

mehrere Perſonen, welche ſich zuſammen rotten und in die Wohnung

u. ſ. w. eindringen. Die Qualifikation wird alſo begründet durch die

Anzahl der Thäter und die Art, wie ſie zuſammen gekommen ſind.

II. Das unberechtigte Verweilen in der Wohnung iſt nicht, wie

in §. 346., beſonders unter Strafe geſtellt; bei dem tumultuariſchen

Charakter der Handlung konnte alles Gewicht auf das Eindringen ge-

legt werden.

III. Außer der Wohnung und dem Geſchäftszimmer ſind auch das

befriedigte Beſitzthum und die zum öffentlichen Dienſte beſtimmten ab-

geſchloſſenen Räume unter den Schutz des Geſetzes geſtellt. Unter dem

befriedigten Beſitzthum iſt der zur Wohnung gehörige Hof und Garten,

aber auch ein getrennt liegender umſchloſſener Raum, z. B. ein einge-

hegter Garten, zu verſtehen. u) Im Allgemeinen iſt über dieſe Bezeich-

t) Reviſion von 1845. II. S. 156.

u) Das ältere Deutſche Recht bezeichnete den Raum, welcher unter dem beſon-

deren Hausfrieden ſtand, als die Were, welche die Wohnung mit dem eingehegten

Hof und Garten befaßte; ſ. Cropp in den criminaliſtiſchen Beiträgen von Hudt-

walker und Trummer. II. 1. S. 18 ff. — Albrecht, die Gewere. S. 12. 13.

[405/0415]

§. 215. Begriff des Diebſtahls.

nungen §. 221. zu vergleichen; doch ſind einzelne dort vorkommende

Beſtimmungen mit beſonderer Rückſicht auf den Diebſtahl aufgeſtellt, ſo

daß ihre Ausdehnung auf andere Verhältniſſe unzuläſſig iſt.

Achtzehnter Titel.

Diebſtahl und Unterſchlagung.

§. 215.

Einen Diebſtahl begeht, wer eine fremde bewegliche Sache einem Anderen

in der Abſicht wegnimmt, dieſelbe ſich rechtswidrig zuzueignen.

Mit dieſem Titel beginnen die Vorſchriften über diejenigen Ver-

brechen und Vergehen, welche gegen das Eigenthum gerichtet ſind.

Denn wenn dieſer Geſichtspunkt auch nicht in allen Beziehungen allein

maaßgebend iſt, wenn z. B. bei dem Raube auch das angewandte

Mittel, die Gewalt gegen die Perſon, bei dem einfachen Bankerutt der

Leichtſinn des Gewerbtreibenden in Betracht kommt, ſo iſt doch der

Schutz, welcher dem Eigenthum gewährt werden ſoll, der letzte entſchei-

dende Grund bei der Aufſtellung dieſer Strafſatzungen und ihrer Be-

handlung an dieſer Stelle des Geſetzbuchs. Unter dem Eigenthum iſt

hier aber das Vermögensrecht in ſeiner weiteren Bedeutung zu verſtehen,

denn in dem beſtimmten, techniſchen Sinne des Civilrechts aufgefaßt,

würde der Ausdruck viel zu enge ſein, um den Inbegriff der darunter

befaßten Rechte zu bezeichnen. Es kommt hier auf das Mein und Dein

an, auf die Wahrung der Rechtsſphäre, welche ſich in dieſer Beziehung

der Einzelne im Staate geſchaffen hat, und welche der Staat, ohne

ſeine eigene Rechtsordnung in Frage zu ſtellen, nicht ungeahndet verletzen

laſſen darf.

Mit dem Diebſtahl iſt die Unterſchlagung (§§. 225-27.) zuſam-

mengeſtellt worden, wie mit dem Raube die Erpreſſung. Dieſe Ein-

theilung beruht auf den im Deutſchen Strafrecht von jeher feſtgehaltenen

Begriffsbeſtimmungen, während das Rheiniſche Recht ein beſonderes

Vergehen der Unterſchlagung nicht kennt, und auch den Raub nur als

eine geſetzlich ausgezeichnete Art des Diebſtahls behandelt. Zu einer

Abweichung von der Deutſchrechtlichen Auffaſſung dieſer Delikte, welche

deren Natur beſtimmt hervortreten läßt, lag aber keine Veranlaſſung

[406/0416]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

vor, die Zweckmäßigkeit rechtfertigt vielmehr das im Geſetzbuch befolgte

Syſtem. v)

Was nun zuvörderſt die Definition des Diebſtahls betrifft, ſo hat

kaum irgend ein anderes Verbrechen oder Vergehen einer genauen Be-

griffsbeſtimmung ſolche Schwierigkeiten bereitet, ſo daß der Vorſchlag

gemacht werden konnte, die Definition des Diebſtahls aus dem Straf-

geſetzbuch ganz fortfallen zu laſſen, indem man ſie bei dem Richter aus

der Doktrin vorausſetzen müſſe, andererſeits aber das Bemühen, dieſelbe

vollkommen richtig und vollſtändig zu faſſen, ein vergebliches ſei, wie

aus den bisher vorgenommenen Verſuchen ſich ergebe. Indeſſen fand

dieſer Vorſchlag doch keine Unterſtützung, indem namentlich darauf hin-

gewieſen wurde, daß das Allgemeine Landrecht den Begriff des Dieb-

ſtahls unrichtig und den Principien des Deutſchen Strafrechts entgegen

beſtimmt habe, und daß der Einwirkung des früheren Rechts auf die

Praxis durch eine poſitive Satzung entgegen getreten werden müſſe. w)

Wenn aber die Definition des Diebſtahls in den verſchiedenen

Entwürfen verſchieden gefaßt worden iſt, ſo hatte dieß weniger in einer

abweichenden Anſicht über den Begriff des Verbrechens ſeinen Grund,

als in dem Beſtreben, durch die Wahl der richtigen Ausdrücke den

Thatbeſtand ſo vollſtändig und beſtimmt als möglich hinzuſtellen. Man

erkannte jedoch im Laufe der Reviſion immer mehr, daß dieß am Sicher-

ſten durch die Ausſcheidung unweſentlicher Merkmale erreicht werde.

Folgende Ueberſicht der in Vorſchlag gebrachten Beſtimmungen, aus

welcher zuletzt die des Geſetzbuchs hervorgegangen iſt, wird dieß dar-

thun.

x)

v) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu dieſem Titel.

w) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 133.

x) Zur Vergleichung mögen folgende Anführungen dienen. L. 1. §. 3. D. de

furtis. Furtum est contrectatio rei fraudulosa lucri faciendi gratia, vel

ipsius rei, vel etiam usus possessionisve: quod lege naturali prohibitum

est admittere. — Code pénal. Art. 379. Quiconque a soustrait fraudu-

leusement une chose qui ne lui appartient pas, est coupable de vol. —

Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 223. „Wer eine fremde bewegliche Sache ohne

Einwilligung des Eigenthümers oder Inhabers, jedoch ohne Gewalt an einer Perſon,

mit der Abſicht an ſich nimmt, ſich dieſelbe anzueignen, und dadurch ſich oder einem

Anderen einen unrechtmäßigen Gewinn zu verſchaffen, iſt, wenn der Diebſtahl ohne

die Art. 227. bis 234. angegebenen erſchwerenden Umſtände begangen worden, fol-

gender Maaßen zu beſtrafen“ u. ſ. w. — Württemb. Strafgeſetzb. Art. 316.

„Wer wiſſentlich eine fremde bewegliche Sache ohne Einwilligung des Eigenthümers

oder Inhabers, jedoch ohne Gewalt an einer Perſon, in ſeinen Beſitz nimmt, um ſich

dieſelbe rechtswidrig zuzueignen, begeht einen Diebſtahl.“ — Hannov. Criminal-

geſetzb. Art. 279. „Wer wiſſentlich eine fremde bewegliche Sache, ohne Einwilli-

gung des Berechtigten, jedoch ohne Gewaltthätigkeit an einer Perſon, in ſeinen Beſitz

nimmt, um ſich dieſelbe rechtswidrig zuzueignen, begeht einen Diebſtahl.“ — Braun-

ſchweig. Criminalgeſetzbuch. §. 213. „Wer wiſſentlich eine fremde, in dem

[407/0417]

§. 215. Begriff des Diebſtahls.

Entwurf von 1830. §. 335. „Wer eines unrechtmäßigen Vor-

theils wegen eine bewegliche Sache dem Eigenthümer, Inhaber oder

zur Beſitzergreifung Berechtigten ohne deſſen Einwilligung entzieht und

an ſich nimmt, begeht, ſelbſt wenn es ſeine eigene Sache iſt, einen

Diebſtahl.“

§. 336. „Der Diebſtahl iſt vollendet, ſobald der Dieb die Sache

an ſich genommen, und kommt es nicht darauf an, ob er den beabſich-

tigten Erfolg erreicht hat oder nicht.“

Entwurf von 1836. §. 539. „Wer eine fremde bewegliche

Sache, in der Abſicht, ſich dieſelbe zuzueignen und dadurch ſich oder

einem Dritten einen unrechtmäßigen Gewinn zu verſchaffen, aus der

Gewahrſam eines Andern, ohne deſſen Einwilligung wegnimmt, begeht

einen Diebſtahl.“

§. 541. „Der Diebſtahl iſt vollendet, ſobald der Dieb die Sache

weggenommen hat, es mag der beabſichtigte Gewinn erlangt ſein oder

nicht.“

Entwurf von 1843. §. 402. „Einen Diebſtahl begeht, wer eine

fremde bewegliche Sache ihrem Eigenthümer oder Inhaber ohne deſſen

Einwilligung in der Abſicht wegnimmt, dieſelbe ſich oder einem Andern

rechtswidrig zuzueignen.“

„Der Diebſtahl iſt vollendet, ſobald der Thäter die Sache an ſich

genommen hat.“

Entwurf von 1847. §. 267. „Einen Diebſtahl begeht, wer aus

der Gewahrſam eines Anderen ohne deſſen Einwilligung eine fremde

bewegliche Sache in der Abſicht wegnimmt, dieſelbe ſich oder einem

Dritten rechtswidrig zuzueignen.“

„Der Diebſtahl iſt vollendet, ſobald der Thäter die Sache an ſich

genommen hat.“

I. Der Diebſtahl wird begangen an einer fremden, beweglichen

x)

x) Gewahrſam eines Andern befindliche, bewegliche Sache ohne Einwilligung des Be-

rechtigten, jedoch ohne Gewalt an einer Perſon, an ſich nimmt, um ſich dieſelbe in

gewinnſüchtiger Abſicht zuzueignen, ſoll folgendermaaßen beſtraft werden“ u. ſ. w. —

Heſſiſch. Strafgeſetzbuch. Art. 354. „Wer von einer fremden beweglichen

Sache, ohne Einwilligung des Eigenthümers oder Inhabers, jedoch ohne Gewalt an

einer Perſon, Beſitz ergreift, um dieſelbe rechtswidrig zu gewinnen, macht ſich des

Diebſtahls ſchuldig.“ — Badiſch. Strafgeſetzb. §. 376. „Wer eigenmächtig

von einer fremden beweglichen, in der Inhabung eines Anderen befindlichen, Sache

in der Abſicht Beſitz ergreift, durch deren Zueignung ſich oder einem Dritten einen

unrechtmäßigen Gewinn zu verſchaffen, iſt des Diebſtahls ſchuldig.“ — Thüring.

Strafgeſetzb. Art. 213. „Des Diebſtahls macht ſich ſchuldig, wer eine fremde

bewegliche Sache ohne Einwilligung des Eigenthümers und, wenn die Sache im

Beſitze eines Dritten iſt, zugleich ohne die Einwilligung dieſes Dritten aus dem

Beſitze des Eigenthümers oder des dritten Inhabers mit der Abſicht an ſich nimmt,

ſich dieſelbe zuzueignen und dadurch ſich oder einem Andern einen unrechtmäßigen

Gewinn zu verſchaffen.“

[408/0418]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

Sache. Durch dieſe Beſtimmung wird die Gebrauchs- und Beſitzent-

wendung, das furtum usus und possessionis im Sinne des Römiſchen

Rechts, von dem Begriff des Diebſtahls ausgeſchloſſen, indem für die

Fälle, welche darunter befaßt zu werden pflegen, die beſondere Vorſchrift

des §. 271. aufgeſtellt iſt. Man entſchloß ſich um ſo eher, den That-

beſtand des Verbrechens in dem engeren Sinne des Deutſchen Rechts

wieder herzuſtellen, da man ſich in der Praxis überzeugt hatte, daß die

entgegenſtehende Vorſchrift des Allg. Landrechts (Th. II. Tit. 20. §. 1110.)

keinen eigentlichen Beſtand habe gewinnen können. y) — Daß aber nur

eine bewegliche Sache Gegenſtand eines Diebſtahls ſein kann, iſt von

keiner Seite bezweifelt worden; ſtrafbare Handlungen verwandter Art,

welche gegen das Eigenthum von Grundſtücken gerichtet ſind, wie das

Verrücken von Grenzſteinen (§. 243. Nr. 6.), das Abgraben und Ab-

pflügen (§. 349. Nr. 1.), haben ihre beſondere Normirung gefunden;

und wenn einzelne Beſtandtheile einer unbeweglichen Sache, z. B. Ziegel

von einem Dache entwendet werden, ſo fällt eine ſolche Handlung unter

den Begriff des Diebſtahls, da ſolche Beſtandtheile durch die Trennung

die Eigenſchaft beweglicher Sachen annehmen.

Als eine fremde Sache iſt übrigens auch eine ſolche anzuſehen, an

welcher der Dieb als Miteigenthümer oder Miterbe betheiligt iſt. Einer

ausdrücklichen Vorſchrift darüber, wie ſie in anderen Geſetzgebungen

vorkommt, z) ſchien es nicht zu bedürfen, da allgemeine Rechtsgrundſätze

mit Nothwendigkeit zu jener Annahme führen, und ſelbſt bei dem Be-

griff des Deutſchen Geſammteigenthums in ſeiner ſtrengſten Durchführung

das Recht des Einen Theils durch das des Anderen nicht aufgehoben

wird, wenn auch eine Beeinträchtigung des Genoſſen nicht leicht in der

Form des Diebſtahls ſich darſtellen wird. — Natürlich kann aber bei

dem Diebſtahl an einer gemeinſamen Sache der Werth derſelben nur ſo

beſtimmt werden, daß allein der auf die andern Mitbetheiligten fallende

Werthstheil zur Anrechnung kommt. a)

II. Bei Verübung des Diebſtahls wird die Sache einem Anderen

weggenommen. Daß dieß ohne Gewalt oder Drohungen geſchehen muß,

iſt nicht beſonders hervorgehoben worden, da gerade in dem Moment

der hinzutretenden Gewalt der Unterſchied zwiſchen dem Diebſtahl und

dem Raube liegt. Wenn andere Geſetzbücher es bei der Definition des

y) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 349. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 23. März 1842.

z) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 224. — Württemberg. Straf-

geſetzb. Art. 319. — Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 280. — Heſſ. Straf-

geſetzb. Art. 357.

a) Reviſion von 1845. III. S. 4. Vgl. A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 1130.

— Entwurf von 1836. §. 551.

[409/0419]

§. 215. Begriff des Diebſtahls.

Diebſtahls ausdrücklich beſtimmen, daß er ohne Anwendung von Gewalt

oder Drohungen begangen werde, ſo erklärt ſich das zum Theil daraus,

daß ſie den Raub vor dem Diebſtahle abhandeln, und daher eine Ver-

anlaſſung haben, den Gegenſatz bei der Begriffsbeſtimmung des letzteren

zu berückſichtigen. — Mit der erſt in dem Entwurf von 1850. vorkom-

menden Bezeichnung „einem Anderen wegnimmt“ iſt auf eine glückliche

Weiſe die das Weſen des Diebſtahls bildende Beſitzentziehung ausgedrückt

worden, ohne, wie das früher nie ganz vermieden wurde, in die Be-

griffsbeſtimmung eine Kaſuiſtik hineinzulegen, welche der richtigen Auf-

faſſung des Thatbeſtandes leicht gefährlich wird. Ob der Andere Eigen-

thümer, juriſtiſcher Beſitzer oder bloßer Inhaber war, iſt für den Begriff

des Verbrechens an ſich ohne Bedeutung; die rechtswidrige Zueignung

iſt das entſcheidende Moment, und darnach iſt es zu ermeſſen, ob die

Handlung als eine ſtrafbare anzuſehen iſt. Hat ſich der Thäter in der

Sache geirrt, indem er ſie für die Seinige hielt, oder iſt es ihm geſtattet

worden, die Sache wegzunehmen, ſo ſind das Gründe, welche den

Dolus und alſo auch die Strafbarkeit ausſchließen; ob ſie aber im ein-

zelnen Fall vorliegen, ob z. B. der Inhaber, welcher gegen den Willen

des Eigenthümers die Wegnahme geſtattete, ſich dadurch zum Theil-

nehmer am Diebſtahl machte, oder der Handlung des Dritten ihren

kriminellen Charakter nahm, und ſich etwa nur dem Eigenthümer gegen-

über zur Entſchädigung verpflichtete, — das ſind Fragen, deren Löſung

der praktiſchen Jurisprudenz zu überweiſen iſt. b)

III. Die Sache muß von dem Thäter in der Abſicht weggenom-

men ſein, um dieſelbe ſich rechtswidrig zuzueignen; daß dieß in gewinn-

ſüchtiger Abſicht (lucri faciendi gratia) geſchehen müſſe, iſt in dem

Geſetzbuch nicht zum Thatbeſtande des Diebſtahls gerechnet worden.

Dieſe Auffaſſung iſt von der Staatsraths-Kommiſſion und dem Staats-

rathe konſequent feſtgehalten, und auch von dem Miniſterium für die

Geſetz-Reviſion vertreten worden. Die dafür angeführten Gründe ſind

die folgenden. c)

„Es handelt ſich hier weniger um eine materielle Differenz, als

um die treffendſte und ſicherſte Bezeichnung deſſen, was von Allen

übereinſtimmend gemeint iſt. Es iſt nicht möglich, den Begriff des

Diebſtahls ſo zu beſtimmen, daß niemals Zweifel entſtehen könnte, ob

b) cf. Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. III.

chap. LIX. p. 185.

c) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 349. 350. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 23. März 1842.

— Reviſion von 1845. III. S. 3. 4.

Beſeler Kommentar. 27

[410/0420]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

eine einzelne Handlung unter den Begriff falle oder nicht. Wenn es

demnach nur darauf ankommt, die Begriffsbeſtimmung ſo zu geben, daß

zwar die Ausdehnung des Strafgeſetzes auf Fälle, wofür es nicht ge-

geben iſt, vermieden, aber auch die Anwendung auf die Fälle, welche

gemeint ſind, möglichſt geſichert wird, ſo muß man der Faſſung des

Entwurfs den Vorzug geben. Die Aufnahme der gewinnſüchtigen Ab-

ſicht in den Thatbeſtand des Diebſtahls erzeugt einerſeits Verlegenheiten

rückſichtlich des Beweiſes, und führt dadurch zu der Nothwendigkeit,

nach dem Vorgange des Allg. Landrechts (II. 20. §. 1112 ff.) Prä-

ſumtionen aufzuſtellen, welche im Strafgeſetzbuche immer ſehr mißlich

und daher ſo viel als möglich zu beſchränken ſind, wenn ſie ſich auch

nicht ganz vermeiden laſſen; andererſeits ruft ſie wiederum manche

Zweifel darüber hervor, was unter einer gewinnſüchtigen Abſicht, die

neben der Abſicht, das fremde Gut ſich zuzueignen, als etwas Beſon-

deres und Verſchiedenes erfordert wird, zu verſtehen ſei. — Dieſe

Unſicherheit wird ohne Noth und ohne Vortheil herbeigeführt. Denn,

wie Temme und Abegg mit Recht bemerken, iſt auch bei der Faſſung

des Entwurfs nicht zu befürchten, daß eine Handlung als Diebſtahl

beſtraft werde, die nach den bisher angenommenen Grundſätzen nicht

Diebſtahl iſt. Indem der Entwurf vorausſetzt, daß der Entwendende

im Bewußtſein der Rechtswidrigkeit ſeiner Handlung einen Anderen um

das Seinige bringen und ſich daſſelbe zueignen wolle, fordert er eben

denjenigen Dolus, welcher nach dem gemeinen Strafrecht zum Weſen

des Diebſtahls gehört. Daß eigentliche Gewinnſucht, das heißt die

ſpeziell auf Bereicherung gerichtete Abſicht, das Motiv ſein müſſe,

läßt ſich nicht behaupten. Auch andere Beſtimmungsgründe, z. B. Neid,

Eitelkeit, können den Dieb leiten; es iſt möglich, daß er die Sache ha-

ben will, nur damit ſie der andere nicht habe. Wollte man in dieſem

Falle theoretiſch den Thatbeſtand des Diebſtahls bezweifeln, ſo hat doch

der Zweifel keine praktiſche Bedeutung; denn auch da, wo man die

gewinnſüchtige Abſicht erfordert, wird ſchwerlich jemals dem Entwen-

denden die Ausrede zu Statten kommen, daß er die Sache nur aus

Neid weggenommen habe. Will man dagegen auch die Befriedigung

jeder Leidenſchaft des Neides, der Eitelkeit, der Gaunerluſt u. ſ. w. als

einen ſolchen Gewinn betrachten, worauf die gewinnſüchtige Abſicht

gerichtet ſein könne, dann verliert ſich die letztere ſo ſehr ins Allgemeine,

daß ſie gar nicht mehr zu faſſen iſt und am wenigſten ausdrücklich er-

wähnt zu werden braucht; denn irgend eine Befriedigung ſucht jeder,

welcher ſich fremdes Gut zueignet. In der That bezwecken auch die

anderen Geſetzgebungen mit der Erwähnung der gewinnſüchtigen Abſicht

nur die Unterſcheidung des Diebſtahls von der bloßen Vermögensbe-

[411/0421]

§§. 216. 217. Einfacher Diebſtahl.

ſchädigung und von der Selbſthülfe. Allein dazu iſt der Zuſatz nicht

erforderlich. Wer die Sache nimmt, um ſie ſofort zu zerſtören, der hat

nicht die Abſicht der Zueignung, und wer Selbſthülfe verübt, der be-

trachtet die Zueignung nicht als eine widerrechtliche; in beiden Fällen

kann auch nach dem Entwurf kein Diebſtahl angenommen werden.“

Dieſe auch dem Rheiniſchen Recht entſprechende Anſicht über den

Dolus bei dem Diebſtahl iſt ſpäter feſtgehalten worden, obgleich ſie

namentlich in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß in dem Laufe einer

ſehr unklar geführten Verhandlung lebhaft bekämpft wurde. d) Geſchieht

aber überhaupt der gewinnſüchtigen Abſicht keine Erwähnung, ſo fällt

auch die Unterſcheidung, ob der Thäter die Sache für ſich oder einen

Anderen geſtohlen hat, von ſelbſt weg.

IV. Noch der Entwurf von 1847. §. 267. hatte eine Beſtimmung

über den Zeitpunkt, wann der Diebſtahl für vollendet zu halten iſt,

indem er dabei der ſ. g. Apprehenſionstheorie folgte. Das Geſetzbuch

hat dieſe Vorſchrift weggelaſſen, in der richtigen Anſicht, daß die Löſung

ſolcher Fragen der Jurisprudenz zu überlaſſen iſt, und weil bei der Be-

handlung, welche der Verſuch gegenwärtig gefunden hat, die praktiſche

Bedeutung einer ſolchen Beſtimmung nur gering iſt. e)

§. 216.

Der Diebſtahl und der Verſuch des Diebſtahls wird mit Gefängniß nicht

unter Einem Monate und mit zeitiger Unterſagung der Ausübung der bürger-

lichen Ehrenrechte beſtraft. Der Schuldige kann zugleich unter Polizei-Aufſicht

geſtellt werden.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo kann die

Strafe bis auf Eine Woche Gefängniß ermäßigt werden.

§. 217.

In folgenden Fällen ſoll die Gefängnißſtrafe nicht unter drei Mona-

ten ſein:

1) wenn Ackergeräthſchaften oder Thiere, welche zum Ackerbau gebraucht

werden, von dem Felde, Thiere von der Weide, Wild aus umzäunten

Gehegen, Fiſche aus Teichen oder Behältern, Bienenſtöcke von dem

Stande, Tuche, Linnen, Gewebe oder Garne von dem Rahmen oder

von der Bleiche geſtohlen werden;

2) wenn Früchte oder andere Bodenerzeugniſſe, welche bereits geerndtet ſind,

von Feldern oder Wieſen oder aus Gärten geſtohlen werden;

3) wenn geſchlagenes Holz aus dem Walde oder von der Ablage, oder

wenn Schwemm- oder Flößholz geſtohlen wird;

d) Verhandlungen. IV. S. 122 ff. — Vgl. Bericht der Kommiſſion

der zweiten Kammer zu §. 198. (215.) — Bericht der Kommiſſion der

erſten Kammer ebendaſ.

e) Motive zum Entwurf von 1850. §. 198.

27*

[412/0422]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

4) wenn eine Perſon, welche für Lohn oder Koſt dient, den Diebſtahl

gegen ihre Herrſchaft oder gegen einen Dritten verübt, welcher ſich in

der Wohnung der Herrſchaft befindet; ingleichen wenn ein Arbeiter,

Geſelle oder Lehrling den Diebſtahl in der Wohnung, der Werkſtätte

oder dem Waarenlager des Meiſters oder Arbeitgebers begeht, oder

wenn eine Perſon, welche in einer Wohnung gewöhnlich arbeitet, in

dieſer Wohnung ſtiehlt;

wenn ein Gaſtwirth oder ein Dienſtbote deſſelben Sachen eines auf-

genommenen Gaſtes, oder wenn ein aufgenommener Gaſt in dem Gaſt-

hauſe ſtiehlt.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo kann die

Strafe bis auf vierzehn Tage Gefängniß ermäßigt werden.

Bei der Feſtſtellung der Strafe für den einfachen Diebſtahl kam

es wiederholt zur Erörterung, ob nicht der Unterſchied, welcher bisher

nach dem Werth der entwendeten Sache zwiſchen dem großen und dem

kleinen Diebſtahl gemacht worden, beizubehalten ſei. Der Entwurf von

1830. §. 338. 339. hatte dieß vorgeſchlagen, aber ſowohl die Staats-

raths-Kommiſſion als auch der Staatsrath erklärten ſich dagegen, letz-

terer mit 33. gegen 7. Stimmen. Man ging dabei von der Anſicht

aus, daß der Werth der geſtohlenen Sache, deſſen Feſtſtellung ſchon mit

manchen Schwierigkeiten verbunden ſei, nicht als ein ſicherer Maaßſtab

für den Grad der Verſchuldung und daher für die Strafzumeſſung an-

geſehen werden könne. Wer einem armen Tagelöhner ſeinen Spar-

pfennig ſtehle, begehe eine ſchlechtere Handlung, als wer dem reichen

Manne eine beträchtliche Summe entwende; es ſei nöthig, durch ſtrenge

Strafſatzungen in dem einen wie dem andern Fall den Ernſt des Ge-

ſetzgebers gegen die Eigenthumsverletzung geltend zu machen. Die nur

polizeiliche Ahndung kleinerer Diebſtähle laſſe dieſelben als unbedeutende

Vergehen erſcheinen, und ſtumpfe das Rechtsgefühl des Volkes ab.

Man lege freilich ein beſonderes Gewicht darauf, daß das ſchnelle und

einfache Verfahren vor dem Einzelrichter große Vortheile mit ſich bringe,

und die Geſchäftslaſt der Gerichte erleichtere. Aber theils ergebe ſich

daraus nur die Nothwendigkeit einer allgemeinen Reform des Gerichts-

weſens, theils frage es ſich, ob die Berückſichtigung ſolcher Nützlichkeits-

gründe den höheren Anforderungen der Gerechtigkeit entſpreche. Wer

wegen Diebſtahls vor Gericht geſtellt ſei, und von dem Urtheilsſpruch

die Entſcheidung über ſeine künftige Stellung in der bürgerlichen Ge-

ſellſchaft erwarte, der habe einen Anſpruch auf Garantien des Verfah-

rens, welche die ſummariſche, polizeimäßige Verhandlung der Sache

nicht gewähre.

f)

f) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

[413/0423]

§§. 216. 217. Einfacher Diebſtahl.

Wenn aber aus dieſen Gründen die Unterſcheidung des großen und

kleinen Diebſtahls im Allgemeinen verworfen wurde, ſo bezweckte man

damit doch nicht, dem richterlichen Ermeſſen bei der Strafzumeſſung die

Berückſichtigung des Werthes der geſtohlenen Sache zu verwehren; ja

man erkannte es an, daß gerade bei der Entwendung geringfügiger

Sachen oft mehr ein gewiſſer Leichtſinn das Motiv der Handlung ſei

als die eigentliche diebiſche Abſicht, welche bei dieſem Vergehen das

Weſen des kriminellen Dolus beſtimme. Man glaubte, daß der von

jeher milder beurtheilte Diebſtahl aus Näſcherei nicht der einzige Fall

ſei, für welchen ſich eine Ausnahme von der geſetzlichen Regel rechtfer-

tige, und hielt deswegen allgemeinere Beſtimmungen für nöthig, welche

in dem Entwurf von 1847. alſo gefaßt waren: g)

§. 269. „Wenn der Diebſtahl an einer Sache von geringem

Werthe verübt wird, und zugleich keine Gründe einer höheren Straf-

zumeſſung vorhanden ſind, ſo ſoll der Richter ermächtigt ſein, die Frei-

heitsſtrafe bis auf Gefängniß von acht Tagen herabzuſetzen.“

„Dieſe Vorſchrift ſoll jedoch nicht zur Anwendung kommen bei

Diebſtählen an Sachen, welche nicht unter beſonderer Aufſicht und Ver-

wahrung gehalten werden können, wie Ackergeräthe auf dem Felde,

geerndtete Früchte auf dem Felde, Thiere auf der Weide“ u. ſ. w.

§. 279. „Wenn bei der Entwendung oder Unterſchlagung von

geringfügigen Gegenſtänden, z. B. von Eßwaaren, Getränken, Garten-

früchten oder Feldfrüchten, aus den Umſtänden erhellet, daß die Hand-

lung nicht in der Abſicht eines unredlichen Gewinnes geſchehen iſt, ſo

ſoll dieſelbe nicht mit der Strafe des Diebſtahls oder der Unterſchla-

gung, ſondern nur mit Geldbuße bis zu funfzig Thalern oder mit

Gefängniß bis zu vier Wochen, ohne Verluſt der Ehrenrechte, geahndet

werden.“

„Die Beſtrafung ſoll in dieſen Fällen nur auf den Antrag des

Verletzten (§. 70.) eintreten.“

Nach dem Syſteme des Strafgeſetzbuchs kommt die beſondere Be-

ſchaffenheit ſolcher Fälle, inſoweit ſie nicht §. 349. Nr. 2. 3. vorge-

ſehen ſind, bei der Berückſichtigung mildernder Umſtände in Betracht.

I. Die geſetzliche Strafe des einfachen Diebſtahls, welche auch den

Verſuch deſſelben trifft, iſt Gefängniß von Einem Monate bis zu fün

Jahren, verbunden mit der zeitigen Unterſagung der bürgerlichen Ehren-

f)

g) Reviſion von 1845. III. S. 22.

f) S. 354-58. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 30. März

1842. — Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 134.

[414/0424]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

rechte; auch kann auf Stellung unter Polizei-Aufſicht erkannt werden

(§. 216.).

II. Für gewiſſe Fälle iſt das Minimum der Strafe auf drei

Monate erhöht worden (§. 217.), indem theils die Beſchaffenheit des

geſtohlenen Gegenſtandes und der Ort, wo ſie ſich befinden (Nr. 1-3.),

theils die perſönlichen Beziehungen des Thäters (Nr. 4. 5.) als Grund

der Erſchwerung anzuſehen ſind. In Folge eines von dem Miniſterium

für die Geſetz-Reviſion gemachten Vorſchlags war dieſe ganze Beſtim-

mung in dem Entwurf von 1847. weggelaſſen worden, indem nur der

in §. 269. gemachte Vorbehalt auf die größere Strafwürdigkeit einzelner

Fälle hinwies. Man glaubte, daß es einer beſonderen Vorſchrift zur

Beſtimmung des richterlichen Ermeſſens nicht bedürfe, und trug Beden-

ken, eine Kaſuiſtik in das Geſetzbuch aufzunehmen, deren Unvollſtändig-

keit ſich ſpäter doch herausſtellen werde. h) „Gegenwärtig iſt man

jedoch,“ heißt es in den Motiven von 1850. §. 200., „freilich mit

nicht unerheblichen Abänderungen, wieder darauf zurückgekommen, indem

man von der Anſicht ausging, daß das richterliche Ermeſſen, ſobald

demſelben freigeſtellt bleibt, unter mildernden Umſtänden auf eine gerin-

gere Strafe zu erkennen, durch Feſtſetzung eines nicht zu niedrigen

Straf-Minimums einen feſteren Anhaltspunkt für die Entſcheidung ge-

winnt, ohne eine wirkliche Einſchränkung zu erleiden.“ — Dem ſonſt

im Strafgeſetzbuch befolgten Syſteme hätte es mehr entſprochen, wenn

dieſe ganze Kategorie weggeblieben wäre.

a. In Beziehung auf den vom Geſinde verübten Diebſtahl (Haus-

diebſtahl) wurde wiederholt die Anſicht geäußert, daß es wünſchenswerth

ſei, denſelben nur auf Antrag beſtrafen zu laſſen. Doch konnte hierauf

nicht eingegangen werden, zumal nachdem der Unterſchied zwiſchen dem

kleinen und dem großen Diebſtahl beſeitigt war. Uebrigens wird es

ſich thatſächlich doch ſo ſtellen, daß ohne Anregung von Seiten der

Herrſchaft ein Hausdiebſtahl ſelten zur Unterſuchung gelangt. i)

b. Unter Gaſtwirthen ſind ſolche Wirthe zu verſtehen, welche aus

der Beherbergung der Fremden ein Gewerbe machen. k)

c. Der Entwurf von 1843. §. 413. bedroht die Entwendung

einer Leiche mit Strafarbeit bis zu fünf Jahren. In Folge der Be-

merkung, daß in einem ſolchen Fall von einem Diebſtahl eigentlich nicht

h) Reviſion a. a. O. S. 6-8. — Verhandlungen der Staatsraths-

Kommiſſion von 1846. S. 145.

i) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 364. — Bericht der Kom-

miſſion der zweiten Kammer zu §. 200. (217.)

k) Vgl. A. L. R. Th. II. Tit. 8. §. 435. 436. Im Code pénal Art. 386.

werden aubergiste und hôtelier genannt.

[415/0425]

§§. 218-224. Schwerer Diebſtahl; Rückfall.

die Rede ſein könne, wurde die entſprechende Vorſchrift zu den Verge-

hen, welche ſich auf die Religion beziehen, geſtellt; l) ſ. §. 137.

III. Die geſetzliche Strafe des einfachen Diebſtahls kann von dem

Richter heruntergeſetzt werden, wenn das Vorhandenſein mildernder Um-

ſtände feſtgeſtellt worden, und zwar in den Fällen des §. 216. auf

Gefängniß von Einer Woche, in den Fällen des §. 217. auf Gefängniß

von vierzehn Tagen. Unter den mildernden Umſtänden können aber alle

Verhältniſſe befaßt werden, welche ſich auf die Perſon des Thäters, die

geſtohlene Sache und die Abſicht bei der Verübung des Diebſtahls be-

ziehen, inſofern ſie nur dem Richter die Ueberzeugung gewähren, daß ein

Fall beſonders geringer Verſchuldung vorliegt, in welchem die Auferle-

gung der vollen geſetzlichen Strafe und namentlich der Ehrenſtrafe ſich

nicht rechtfertigen würde. Denn daß bei dem Vorhandenſein mildernder

Umſtände auch die Ehrenſtrafe wegfallen kann, geht aus der Faſſung

des Geſetzbuchs deutlich hervor, da „die Strafe,“ welche ermäßigt wer-

den kann, das mit dem Vergehen verbundene volle geſetzliche Strafübel

bezeichnet, und nicht nur das Gefängniß ſondern auch die Nebenſtrafe

umfaßt. m) Auch würde in der That eine Ermäßigung der Strafe ohne

dieſe Wirkung für die verſchiedenen ſchon bezeichneten Ausnahmefälle

nur in ſehr ungenügender Weiſe ihren Zweck erfüllen.

§. 218.

Zuchthausſtrafe bis zu zehn Jahren und Stellung unter Polizei-Aufſicht

tritt in folgenden Fällen ein:

1) wenn aus einem zum Gottesdienſte beſtimmten Gebäude Gegenſtände

geſtohlen werden, welche dem Gottesdienſte gewidmet ſind;

2) wenn der Diebſtahl in einem bewohnten Gebäude entweder zur Nacht-

zeit oder von zwei oder mehreren Perſonen begangen wird;

3) wenn in einem Gebäude oder in einem umſchloſſenen Raume vermittelſt

Einbruchs oder Einſteigens geſtohlen wird;

4) wenn der Diebſtahl dadurch bewirkt wird, daß zur Eröffnung eines

Gebäudes oder der Zugänge eines umſchloſſenen Raumes, oder zur Er-

öffnung der im Innern befindlichen Thüren oder Behältniſſe falſche

Schlüſſel angewendet werden;

5) wenn auf einem öffentlichen Wege, einer Straße, einem öffentlichen

Platze, einer Waſſerſtraße oder Eiſenbahn, oder in einem Poſtgebäude

oder dem dazu gehörigen Hofraume, oder auf einem Eiſenbahnhofe,

eine zum Reiſegepäck oder zu anderen Gegenſtänden des Transports

l) Reviſion von 1845. III. S. 14.

m) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 199. (216.).

— Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 216. Vgl. Ver-

handlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV. S. 161. 164.

[416/0426]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

gehörende Sache, mittelſt Abſchneidens oder Ablöſens der Befeſtigungs-

oder Verwahrungsmittel oder durch Anwendung falſcher Schlüſſel ge-

ſtohlen wird;

6) wenn Sachen, welche eine blödſinnige Perſon oder ein Kind unter zwölf

Jahren an oder bei ſich führt, geſtohlen werden;

7) wenn der Dieb oder einer der Diebe, oder einer der Theilnehmer am

Diebſtahle Waffen bei ſich führt;

8) wenn zu dem Diebſtahle zwei oder mehrere Perſonen als Urheber oder

Theilnehmer mitwirken, welche ſich zur fortgeſetzten Verübung von Raub

oder Diebſtahl verbunden haben;

9) wenn der Diebſtahl während einer Feuers- oder Waſſersnoth an den

gefährdeten oder geflüchteten Sachen begangen wird.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo iſt auf Ge-

fängniß nicht unter Einem Jahre, ſowie auf zeitige Unterſagung der Ausübung

der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen.

§. 219.

Wer bereits zweimal oder mehrere Male rechtskräftig durch einen Preußi-

ſchen Gerichtshof wegen Diebſtahls oder Raubes verurtheilt worden iſt, ſoll

wegen neuen einfachen Diebſtahls (§§. 216. und 217.) mit Zuchthaus bis zu

funfzehn Jahren und wegen ſchweren Diebſtahls (§. 218.) mit Zuchthaus von

fünf bis zu zwanzig Jahren, ſowie in beiden Fällen mit Stellung unter Po-

lizei-Aufſicht beſtraft werden.

Die Straferhöhung tritt nicht ein, wenn ſeit dem Zeitpunkte, an welchem

die Strafe des zuletzt begangenen früheren Verbrechens oder Vergehens abge-

büßt oder erlaſſen worden iſt, zehn Jahre verfloſſen ſind.

§. 220.

Die ſtrengere Strafe des in einem bewohnten Gebäude begangenen Dieb-

ſtahls wird dadurch nicht ausgeſchloſſen, daß zur Zeit deſſelben die Bewohner

in dem Gebäude nicht anweſend waren.

§. 221.

Den bewohnten Gebäuden werden gleichgeſtellt:

1) Schiffe, welche bewohnt werden;

2) die zum Gottesdienſte beſtimmten Gebäude;

3) diejenigen öffentlichen Gebäude, welche zum Geſchäftsbetriebe oder zur

Aufbewahrung von Sachen beſtimmt ſind;

4) der zu einem bewohnten oder demſelben gleichgeſtellten (Nr. 2. und 3.)

Gebäude gehörige umſchloſſene Raum und alle darin befindliche Ge-

bäude jeder Art.

Ein Raum iſt umſchloſſen, wenn man in denſelben nur durch den Gebrauch

von Schlüſſeln oder durch Einbrechen oder Einſteigen gelangen kann.

§. 222.

Einſteigen iſt vorhanden, wenn der Eintritt in Gebäude oder umſchloſſene

Räume über Dachwerk, Thüren, Mauern, Hecken oder andere Einfriedigungen,

[417/0427]

§§. 218-224. Schwerer Diebſtahl; Rückfall.

oder durch Fenſter, Kellerlöcher oder andere nicht zum Eingang beſtimmte,

unter oder über der Erde befindliche Oeffnungen bewirkt wird.

§. 223.

Einbruch iſt vorhanden:

1) wenn der Thäter mittelſt Gewalt an den Einfriedigungen oder an Ge-

genſtänden oder Vorrichtungen, welche das Eindringen verhindern, einen

vorher nicht vorhanden geweſenen oder einen verſchloſſenen Eingang

ſich öffnet, oder eine ſchon vorhandene Oeffnung zum Eindringen

erweitert, oder ſonſt eine Oeffnung macht, mittelſt welcher er den Ein-

gang zum Eindringen ſich öffnet, oder auch ohne einzudringen, den

Diebſtahl vollbringen kann;

2) wenn der Thäter im Innern eines Gebäudes in vorſtehender Weiſe

Thüren, Wände, Eingänge oder Durchgänge, Schränke, Kiſten oder

andere Behältniſſe eröffnet.

§. 224.

Unter falſchen Schlüſſeln werden verſtanden: nachgemachte, veränderte

oder ſolche Schlüſſel, welche für das Schloß, bei welchem der Thäter ſie

anwendet, nicht beſtimmt ſind, ſowie Dietriche, Haken und andere zum Oeffnen

von Schlöſſern brauchbare Werkzeuge.

Nachdem in §. 218. die Fälle des ſchweren Diebſtahls aufgezählt

und §. 219. Beſtimmungen über den Rückfall beim Diebſtahle aufgeſtellt

ſind, folgen noch in §§. 220-24. einige Erläuterungen zu den in

§. 218. enthaltenen Vorſchriften, welche nothwendig mit dieſen zugleich

in Betracht zu ziehen ſind, und auch im Geſetzbuch offenbar beſſer mit

denſelben in unmittelbare Verbindung gebracht worden wären. Es

wird daher zunächſt von dem ſchweren Diebſtahl zu handeln ſein, ſo

daß die beſonderen Beſtimmungen über den Rückfall den Schluß der

Erörterung bilden.

Die in §. 218. aufgeführten Fälle des Diebſtahls, welche in §. 219.

ausdrücklich als ſchwerer Diebſtahl bezeichnet ſind, werden mit Zucht-

haus bis zu zehn Jahren und mit Stellung unter Polizei-Aufſicht be-

ſtraft; ſelbſt wenn mildernde Umſtände angenommen ſind, tritt Gefängniß

nicht unter Einem Jahre und zeitige Unterſagung der bürgerlichen Eh-

renrechte ein. Die Erhöhung der Strafe iſt alſo in Vergleich mit der

des einfachen Diebſtahls ſehr bedeutend, und macht die ſorgfältige

Erwägung der einzelnen in Betracht kommenden Momente, durch welche

die Qualifikation bedingt wird, unerläßlich. Es wird dabei die Rei-

henfolge der einzelnen in §. 218. vorkommenden Nummern einzuhalten

ſein. Im Allgemeinen iſt nur die Bemerkung voraufzuſchicken, daß,

abgeſehen von den Strafen des Rückfalls, die Häufung mehrerer Gründe

[418/0428]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

der geſetzlichen Straferhöhung nur für die Strafzumeſſung in Betracht

kommen, und nicht wie im Rheiniſchen Recht zu einer neuen Qualifi-

kation führen.

I. Es werden aus einem zum Gottesdienſte beſtimmten Gebäude

Gegenſtände geſtohlen, welche dem Gottesdienſte gewidmet ſind. Der

Begriff des Kirchendiebſtahls, oder, wie man gewöhnlich ſagt, des

Kirchenraubes iſt hier enger gefaßt, als nach dem gemeinen Recht und

namentlich nach der Karolina; n) denn es ſind zwei Bedingungen nöthig,

um die Qualifikation zu begründen: der Ort, wo die Entwendung verübt

wird, und der Gegenſtand derſelben. Dagegen iſt kein Unterſchied ge-

macht, ob die geſtohlene Sache eine heilige oder geweihte, ob ſie un-

mittelbar oder mittelbar dem Gottesdienſt gewidmet war; o) auch kommt

es darauf nicht an, ob die betreffende Religionsgeſellſchaft, um deren

Gottesdienſt es ſich handelt, Korporationsrechte hat oder nicht. Inſofern

iſt jedoch an frühere geſetzliche Beſtimmungen eine Annäherung erreicht,

als die Gebäude, welche zum Gottesdienſte beſtimmt ſind, in Beziehung

auf die in denſelben verübten Diebſtähle den bewohnten Gebäuden gleich-

geſetzt ſind (§. 221. Nr. 2.).

II. Der Diebſtahl wird in einem bewohnten Gebäude entweder

zur Nachtzeit oder von zwei oder mehreren Perſonen begangen.

a. Was unter einem bewohnten Gebäude zu verſtehen, iſt in

§. 221. näher angegeben; es werden nämlich unter dieſer Bezeichnung

mit begriffen:

1) Schiffe, welche bewohnt ſind. Bedenken, welche in Beziehung

auf die Frage, wann Schiffe für bewohnt zu halten ſind, geäußert

wurden, p) können nur nach den beſonderen Verhältniſſen des einzelnen

Falles erledigt werden.

2) Die zum Gottesdienſte beſtimmten Gebäude.

3) Diejenigen öffentlichen Gebäude, welche zum Geſchäftsbetriebe

oder zur Aufbewahrung von Sachen beſtimmt ſind. Die Ausdehnung

dieſer Vorſchrift auf Speicher, Magazine und Kaufmannsgewölbe

wurde in der vorberathenden Abtheilung des vereinigten ſtändiſchen Aus-

ſchuſſes beantragt, aber abgelehnt, weil gerade für öffentliche Gebäude

n) P. G. O. Art. 171. Item ſtelen von geweichten dingen oder ſtetten iſt

ſchwerer dann ander Diebſtall, und geſchicht inn dreierlei weiß. Zum erſten, wann

eyner etwas heyligs oder geweichts ſtielt an geweichten ſtetten. Zum andern, wann

eyner etwas geweichtes an ungeweichten ſtetten ſtielt. Zum dritten, wann eyner un-

geweichte ding an geweichten ſtetten ſtielt.

o) Vgl. oben §. 135.

p) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 201.

[419/0429]

§§. 218-224. Schwerer Diebſtahl; Rückfall.

ein beſonderer Schutz ſich rechtfertige, welcher nur den nicht öffentlichen

zu Theil werde, wenn ſie bewohnt ſeien. q)

4) Der zu einem bewohnten oder demſelben gleichgeſtellten Ge-

bäude gehörige umſchloſſene Raum und alle darin befindlichen Gebäude

jeder Art. „Ein Raum iſt umſchloſſen, wenn man in denſelben nur

durch den Gebrauch von Schlüſſeln oder durch Einbrechen oder Ein-

ſteigen gelangen kann“ (§. 221.). — Durch dieſe Beſtimmung wird der

altgermaniſche Begriff der Wexe in der Bedeutung von Haus und Hof,

welchen auch das Rheiniſche Recht für den Diebſtahl wieder praktiſch

gemacht hat, wiederholt zur Anwendung gebracht. Der umſchloſſene

Raum wird hier aber in einem engeren Sinne aufgefaßt, als das be-

friedigte Beſitzthum in §. 214.; denn jener Raum wird §. 221. nur

inſofern unter denſelben Schutz wie das bewohnte Gebäude geſtellt,

wenn er dazu gehört, was nicht allein auf die Eigenſchaft der juriſti-

ſchen Zubehörung, ſondern namentlich auch auf die räumliche Verbin-

dung zu beziehen iſt. r) Auch die befriedigte Umgebung einer Kirche

wird in dieſem Sinne zu den umſchloſſenen Räumen zu rechnen ſein.

5) Das Gebäude iſt bewohnt, wenn es überhaupt Bewohner hat;

ob dieſe zur Zeit des Diebſtahls in demſelben gerade anweſend waren,

iſt für die Begründung der geſetzlichen Straferhöhung ohne Bedeutung

(§. 220.).

b. Die Nachtzeit iſt hier nicht genauer bezeichnet worden; es un-

terliegt aber keinem Bedenken, die §. 28. aufgeſtellte Begriffsbeſtimmung

auch auf den vorliegenden Fall zur Anwendung zu bringen. In dieſer

Allgemeinheit iſt übrigens das Stehlen bei Nachtzeit früher nicht qua-

lifizirt worden, indem beſonders nur das Einſchleichen des Diebes her-

vorgehoben wurde; ſ. Entwurf von 1847. §. 270. Nr. 7.

c. Die Verübung des Diebſtahls durch mehrere Theilnehmer wird

für den Fall, daß ſie in einem bewohnten Gebäude ſtattgefunden, als

Erſchwerungsgrund betrachtet, ohne daß die beſonderen Vorausſetzungen,

welche §. 218. Nr. 8. genannt ſind, vorzuliegen brauchen.

III. Es wird in einem Gebäude oder in einem umſchloſſenen

Raume vermittelſt Einbruchs oder Einſteigens geſtohlen. Für dieſen

Fall wird es nicht mehr, wie in den frühereren Entwürfen, erfordert,

daß das Gebäude ein bewohntes ſei, ja nicht einmal, daß es zur Woh-

nung beſtimmt iſt; auch Magazine, Speicher, Scheunen u. dgl. ſind alſo

gegen einen durch Einbruch oder Einſteigen verübten Diebſtahl unter

den beſonderen Schutz des Geſetzes geſtellt.

q) a. a. O. S. 201.

r) Chauveau et Hélie Faustin. Théorie du Code pénal. IV. chap.

LX. p. 38.

[420/0430]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

a. Bei dem Einbruch wird unterſchieden, ob derſelbe geſchehen iſt,

um erſt in das Gebäude zu gelangen, oder ob er im Innern des Ge-

bäudes vorgenommen worden. s) Wer jedoch ein verſchloſſenes Behältniß

ſtiehlt, und ſpäter, da er nicht mehr im Innern des Gebäudes iſt, das-

ſelbe mit Gewalt öffnet, macht ſich keines Einbruchs ſchuldig. Dagegen

gilt es als Einbruch, wenn der Thäter eine Oeffnung macht, vermit-

telſt welcher er, ohne in das Gebäude einzudringen, den Diebſtahl voll-

bringt, indem er durch dieſelbe die Sache herausholt t) (§. 223.).

b. Schwieriger noch als der Begriff des Einbrechens iſt der des

Einſteigens zu beſtimmen. Es kommt hier namentlich in Betracht, daß

auch die umſchloſſenen Räume zu den Gebäuden gezählt werden, und

daß das Geſetzbuch nach dem Vorgange des Code pénal dieſe letztere

Bezeichnung in einem ſehr weiten Sinne genommen hat, indem allge-

mein „Mauern, Hecken oder andere Einfriedigungen“ genannt werden,

deren Ueberſteigen ſchon die Qualifikation begründen ſoll. Das ältere

Recht hatte es in dieſer Hinſicht leichter, da gewiſſe herkömmliche Bau-

arten und Einrichtungen es in jedem einzelnen Fall beſtimmt erkennen

ließen, was zu der Wexe, zu Haus und Hof gehörte; gegenwärtig wird

dieß aber meiſtens nach den beſonderen Verhältniſſen erſt beſonders feſt-

geſtellt werden müſſen. — Der Entwurf von 1836. §. 552. Nr. 2.

nahm einen qualifizirten Diebſtahl an, wenn der Dieb „in Gebäude,

Schiffe oder Wohnungen oder in den umſchloſſenen Hof oder Garten

eines Hauſes, in der Abſicht, in letzterem zu ſtehlen, eingebrochen, oder

gefährlicher Weiſe eingeſtiegen iſt, insbeſondere, wenn er ſich zum Ein-

ſteigen Hülfsmittel bedient hatte, ohne welche das Einſteigen nicht hätte

geſchehen können.“ — Die Staatsraths-Kommiſſion, welche ſich in die-

ſem Fall beſonders das Heſſiſche Strafgeſetzbuch, Art. 366 ff. zum

Vorbilde nahm, war der Meinung, daß es hier auf einen Haus-

friedensbruch ankomme, daß ein „gefährliches“ Einſteigen nicht ge-

rade nothwendig ſei, um den Diebſtahl zu qualifiziren, und daß

dieſe Bezeichnung jedenfalls für die Praxis manche Schwierigkeiten und

Bedenken hervorrufen werde. u) Demnach wurde für den Entwurf von

1843. folgende Faſſung gewählt:

s) Der Code pénal. Art. 394-96. unterſcheidet in dieſer Beziehung aus-

drücklich effractions extérieures und intérieures.

t) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 359. 360. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 6. April 1842.

— Reviſion von 1845. III. S. 13. 14.

u) Berathungs-Protokolle. a. a. O. S. 359. 376. 377. — Im Staats-

rath, Sitzung vom 6. April 1842., wurde von Seiten der Kommiſſion noch beſon-

ders hervorgehoben, daß die Beſtimmung des A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 1163.

1164. in der Praxis ſich nicht bewährt habe.

[421/0431]

§§. 218-224. Schwerer Diebſtahl; Rückfall.

§. 409. „Als Einſteigen von Außen iſt anzuſehen, wenn einge-

drungen wird:

1) in Gebäude oder umſchloſſene Hofräume über Dachwerk, Thü-

ren, Mauern, oder andere zur Schutzwehr gegen das Eindringen

von Menſchen beſtimmte Einfriedigungen, oder

2) in Gebäude durch Fenſter, Kellerlöcher oder andere dergleichen

nicht zum Eingange beſtimmte, unter oder über der Erde befind-

liche Oeffnungen.“

Der Zuſatz „andere zur Schutzwehr gegen das Eindringen von

Menſchen beſtimmte Einfriedigungen“ zeigte hier deutlich an, daß der

Thäter gewiſſe Hinderniſſe zu überwinden haben muß, wenn er ſich

auch durch deren Beſeitigung noch nicht im Sinne der Karolina (Art.

159.) als einen gefährlichen Dieb darſtellt. Auch war dadurch ange-

deutet, daß Einfriedigungen, welche zu andern Zwecken, z. B. um die

Grenze zu bezeichnen, um fremdes Vieh abzuhalten, gemacht ſind, nicht

zu denjenigen gerechnet werden ſollten, deren Ueberſteigen einen Diebſtahl

qualifizire. Aber ſelbſt in dieſer Beſchränkung fand man ſpäter die

Beſtimmungen des §. 409. noch zu weit. Es müſſe darnach jedes

Ueberſchreiten einer niedrigen Einfriedigung, ſo wie jedes ungehinderte

Eintreten durch irgend eine, nicht gerade zum Eingang beſtimmte Oeff-

nung einer ſolchen Einfriedigung als Einſteigen beſtraft werden, und

das gehe über die Abſicht des Geſetzgebers hinaus. Die Staatsraths-

Kommiſſion habe jedes Eingehen auf einem nicht zum Eingange be-

ſtimmten Wege als Einſteigen behandeln wollen, weil ſie daſſelbe als

Hausfriedensbruch betrachtet und eben hierin den Charakter des gewalt-

ſamen Diebſtahls gefunden habe. Allein in dieſem Sinne könne man

auch das durch den gewöhnlichen Eingang in diebiſcher Abſicht geſche-

hene Eingehen als eine Verletzung des Hausfriedens betrachten. Am

Richtigſten ſei es, die nähere Erklärung des Einſteigens wie des Ein-

brechens aus dem Geſetzbuche ganz wegzulaſſen, und dem richterlichen

Ermeſſen auch in dieſer Hinſicht freien Spielraum zu gewähren. v)

In der That waren die betreffenden Beſtimmungen in dem Ent-

wurf von 1847. nicht enthalten, obgleich die Staatsraths-Kommiſſion

die für die Rheinprovinz vorgeſchlagene Vorſchrift des Einführungs-

geſetzes (§. XXIII.) zu generaliſiren und in das Geſetzbuch aufzunehmen

beſchloſſen hatte. w) Der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß wiederholte aber

v) Reviſion von 1845. III. S. 12. 13.

w) Fernere Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von

1847. S. 44. — Die vorgeſchlagene Beſtimmung lautete: „Einſteigen iſt vorhanden,

wenn der Eintritt in Gebäude durch Fenſter, Kellerlöcher oder andere nicht zum Ein-

gang beſtimmte unter oder über der Erde befindliche Oeffnungen bewirkt wird.“

[422/0432]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

faſt einſtimmig dieſen Beſchluß, x) welchen das Strafgeſetzbuch nach dem

Vorgange des Entwurfs von 1850. §. 201. im Sinne des Rheiniſchen

Rechts y) noch bedeutend erweitert hat. — In den Kommiſſionen beider

Kammern erregte dieſe Aenderung Bedenken. In der der zweiten

Kammer wurde es namentlich in Zweifel gezogen, ob auch Gräben zu

den Einfriedigungen zu rechnen ſeien, und wenn die Mehrheit eine

Faſſungsänderung nicht für erforderlich erachtete, ſo geſchah es in der

Erwägung, daß Gräben allerdings Einfriedigungen darſtellen können,

daß aber, ob dieß in einem konkreten Fall anzunehmen, nach den Um-

ſtänden beurtheilt werden müſſe. z) In der Kommiſſion der erſten

Kammer wurde dagegen das dem Strafgeſetzbuch zu Grunde liegende

Princip angefochten.

„Es iſt hervorgehoben worden, daß, wenn man als Strafgrund

für die erhöhte Strafe der ſogenannten gewaltſamen Diebſtähle den

Bruch oder die Verletzung des Hausfriedens allein oder vorzugsweiſe

aufſtellen wolle, dies zu Konſequenzen führen würde, welche ſich durch-

aus nicht rechtfertigen laſſen würden. Suche man dagegen, wie es rich-

tiger ſei, den Strafgrund in der größeren Gefährlichkeit für die Sicher-

heit, alſo in einer Art gemeiner Gefahr, ſo wie in dem durch Ueber-

windung von Hinderniſſen konſtatirten ſtärkeren Vorſatze zu dem Ver-

brechen, ſo folge von ſelbſt, daß es ſich bei der Aufſtellung des Begrif-

fes nur um ſolche Hinderniſſe handeln könne, die auch in der That im

gewöhnlichen Leben als ſolche gelten könnten. Hiernach alſo würde

beiſpielsweiſe ein zwei Fuß hohes Heck, oder ein von dem Diebe bereits

vorgefundenes Mauerloch, durch welches er ohne alle Mühe bequem

Eingang findet, niemals als ein ſolches Hinderniß anzuſehen ſein, und

gleichwohl ſtrafe der Entwurf nach der vorliegenden Faſſung das Ein-

ſteigen über jenes Heck oder den Eingang durch dieſe Oeffnung als

ſchwere (gewaltſame) Diebſtähle. Dieſe und ähnliche, zugleich die be-

ſchränkte Faſſung des §. 349. Nr. 3. im Auge habende Bedenken ha-

ben die Vorſchläge hervorgerufen:

a) entweder auf jede Begriffsbeſtimmung des „Einſteigens“

und folgerichtig auch des „Einbruchs“ in §. 222. zu ver-

zichten,

x) Verhandlungen. IV. S. 192-94.

y) Code pénal. Art. 397. Est qualifiée escalade, toute entrée dans

les maisons, bâtimens, cours, basses-cours, édifices quelconques, jardins,

parcs et enclos, exécutée par-dessus les murs, portes, toitures on toute autre

cloture. — L'entrée par une ouverture souterraine, autre que celle qui a

été établie pour servir d'entrée, est une circonstance de même gravité

que l'escalade.

z) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 205. (222.)

[423/0433]

§§. 218-224. Schwerer Diebſtahl; Rückfall.

b) oder jenen Begriff in der Art zu präziſiren, daß darunter

nur ein „gefährliches Einſteigen“ zu verſtehen ſei, alſo in

Hinſicht auf die Einfriedigung hinzuzufügen: „Iſt die über-

ſtiegene Einfriedigung unter 6 Fuß, ſo iſt ein gefährliches

Einſteigen nicht vorhanden.“

„Beide Vorſchläge ſind indeß abgelehnt worden. Die Begriffs-

beſtimmung an ſich iſt nämlich von der Kommiſſion unter allen Um-

ſtänden für erforderlich erachtet, damit aber auch anerkannt worden, daß

ſie ſich einfach nur auf die Bezeichnung des Objekts an ſich, alſo des

durch das Einſteigen zu überwindenden Hinderniſſes zu erſtrecken habe,

daß dagegen darauf zu verzichten ſei, irgend eine Qualifizirung ſowohl

in der Ausübung der Handlung, als in der Beſchreibung oder Bezeich-

nung des Hinderniſſes hinzuzufügen, weil beſonders in dieſer letzteren

Hinſicht eine paſſende objektive Grenze für die Merkmale gar nicht zu

finden ſei, ohne ſolche beſtimmte Merkmale aber wiederum die Bezeich-

nung der Handlung allein, etwa als einer „gefährlichen“ völlig vage

ſein müſſe. Man iſt jedoch der Ueberzeugung, daß ſich in der Praxis

der Begriff ſo genügend feſtſtellen und beſchränken werde, um den Vor-

wurf unnöthiger Härte auszuſchließen.“ a)

Die Schwierigkeit liegt hauptſächlich darin, daß im einzelnen Fall

feſtgeſtellt werden muß, wann das Ueberſteigen einer Befriedigung, welche

den betreffenden Raum umſchließt, als Einſteigen in dem Sinne zu be-

trachten iſt, daß der Diebſtahl dadurch zu einem ſchweren wird. Die

Gefährlichkeit der Handlung kann dabei nicht mehr den Ausſchlag ge-

ben; nach der Auffaſſung des Geſetzbuchs iſt es der Hausfriedensbruch,

welcher zu dem Diebſtahl hinzutretend, dieſen qualifizirt. Es wird da-

her jedesmal darauf ankommen, ob die Handlung des Einſteigens von

der Beſchaffenheit iſt, daß dadurch eine Verletzung des Hausrechts (das

Haus in dem weiteren Sinn von Haus und Hof genommen, ſ. oben

§. 214. Note u) bewirkt worden; das Ueberſteigen von Befriedigungen

wird daher nur dann geeignet ſein, den Diebſtahl zu einem ſchweren zu

machen, wenn dieſelben zur Schutzwehr gegen das Eindringen von

Menſchen beſtimmt ſind (Entwurf von 1843. §. 409.). Eine ſolche

Schutzwehr braucht aber nicht gerade von der Art zu ſein, daß ſie dem

Eindringenden ein ſchwer zu beſeitigendes phyſiſches Hinderniß bereitet;

es genügt, wenn aus der Art und Weiſe der Einrichtung der Zweck

erkannt werden kann. Daher wird auch bei der Entſcheidung ſolcher

Fragen die Berückſichtigung der beſonderen örtlichen Verhältniſſe von

Wichtigkeit ſein, und bei den Verhandlungen vor den Schwurgerichts-

a) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 218.

[424/0434]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

höfen wird man bis zur Ausbildung einer feſten Praxis wohl daran

thun, die Aufmerkſamkeit der Geſchworenen beſonders auf die Punkte

hinzulenken, welche bei der Auslegung des §. 222. und der daſelbſt ge-

brauchten Ausdrücke die entſcheidenden ſind.

IV. Der Diebſtahl wird in den §. 218. Nr. 4. bezeichneten Fäl-

len durch die Anwendung falſcher Schlüſſel bewirkt. Die Erklärung

des Ausdrucks „falſche Schlüſſel“ findet ſich §. 224.; rechte Schlüſſel,

welche der Dieb ſich vorher zur Verübung der That auf unrechtmäßige

Weiſe verſchafft hat, werden nicht zu denſelben gerechnet. Eine ſolche

Beſtimmung wurde im Gegenſatz zu früheren Beſchlüſſen b) ſpäter auf-

gegeben, weil der Thatbeſtand dadurch unſicher werde, indem ſich na-

mentlich ſchwer ermeſſen laſſe, wie viel Zeit zwiſchen der Wegnahme

des Schlüſſels und der Begehung des Diebſtahls verfloſſen ſein müſſe,

um anzunehmen, daß der Schlüſſel vorher entwandt ſei. Auch habe

ein ſolcher Fall mit dem durch Nachſchlüſſel bewirkten Diebſtahl keine

wahre innere Verwandtſchaft. c)

V. Diebſtahl an Sachen, die zum Reiſegepäck oder zu anderen

Gegenſtänden des Transports gehören, auf öffentlichen Wegen u. ſ. w.

Der Thatbeſtand des ſo erſchwerten Diebſtahls ergiebt ſich aus der ge-

nau gefaßten Vorſchrift des §. 218. Nr. 5.

VI. Sachen werden geſtohlen, welche eine blödſinnige Perſon oder

ein Kind unter zwölf Jahren an oder bei ſich führt. Der Grund des

Geſetzes hätte wohl eine Ausdehnung deſſelben auf andere, wegen Al-

ters oder Krankheit hülfloſe Perſonen gerechtfertigt. Gewalt oder Dro-

hungen, welche das Verbrechen zum Raube ſtempeln würden (§. 230.),

werden hier aber nicht vorausgeſetzt.

VII. Der Dieb oder einer der Diebe oder ein Theilnehmer am

Diebſtahle führt Waffen bei ſich. — Ueber die Faſſung der Strafvor-

ſchrift wegen des bewaffneten Diebſtahls hat man bei der Reviſion ſehr

geſchwankt. Der Entwurf von 1830. §. 343. Nr. 5. verlangte, daß

der Dieb ſich zur Verübung des Diebſtahls mit Waffen verſehen habe,

obſchon er davon keinen Gebrauch gemacht; die Staatsraths-Kommiſſion

entſchied ſich für die Annahme des Grundſatzes, daß ſchon das bloße

Verſehenſein mit Waffen beim Diebſtahl die Qualifikation des Verbre-

chens begründe, weil das Verbrechen dadurch ſchon zu einem gefähr-

lichen werde und jedenfalls zur Einſchüchterung des Beſtohlenen dienen

b) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 377. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 6. April 1842.

c) Reviſion von 1845. III. S. 14. — Motive zum Entwurf von

1850. §. 207.

[425/0435]

§§. 218-224. Schwerer Diebſtahl; Rückfall.

könne. d) Der Staatsrath beſchloß wiederum, in der Erwägung, daß

dieſes in den Fällen einer zufälligen Führung von Waffen zu einer un-

gerechten Strenge führen werde, eine Beſchränkung, e) welche der Ent-

wurf von 1843. §. 407. Nr. 5. ſo ausdrückte:

„Wenn der Dieb Waffen bei ſich führt, ſofern nicht aus be-

ſondern Umſtänden erhellet, daß derſelbe nicht die Abſicht ge-

habt habe, von den Waffen Gebrauch zu machen.“

Man kam aber ſpäter in der Staatsraths-Kommiſſion auf dieſen Ge-

genſtand zurück, und entſchied ſich für die Weglaſſung der beſchränken-

den Beſtimmung f) , womit ſich auch der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß

einverſtanden erklärte. Gegen die Faſſung, daß der Dieb zur Ausfüh-

rung der That ſich bewaffnet haben müſſe, wurde namentlich angeführt,

daß eine ſolche Abſicht ſich ſelten werde feſtſtellen laſſen, und daß doch

auch ohne eine ſolche ausdrückliche Beſtimmung im einzelnen Fall er-

wogen werden könne, ob ein Waffenführen im Sinne des Geſetzbuchs

vorliege. g) Jedenfalls werden gegenwärtig auch in dieſer Beziehung

mildernde Umſtände angenommen werden können.

a. Eine Definition von Waffen, welche andere Geſetzbücher auf-

geſtellt haben, h) iſt nicht gegeben worden; darüber alſo, ob der Dieb

Waffen bei ſich geführt hat, wird der Wahrſpruch der Geſchworenen

im einzelnen Fall entſcheiden.

b. Unter den Theilnehmern ſind hier nur ſolche zu verſtehen,

welche bei der That gegenwärtig geweſen. i) Für den Fall, daß nicht

alle Theilnehmer am Diebſtahle bewaffnet ſind, iſt in Beziehung auf

d) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 360.

e) Sitzung vom 6. April 1842.

f) Fernere Verhandlungen von 1847. S. 14.

g) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 175. 185. Juſtizminiſter v. Savigny: „Es iſt in einer der vorbereitenden

Diskuſſionen der Fall vorgebracht worden, wenn jemand ſeinen Uniformdegen zur Re-

paratur hinſchickt, ihn einem Dienſtmädchen giebt und dieſe im Vorübergehen aus

einem offenen Laden etwas wegnimmt, ſoll dies als bewaffneter Diebſtahl beſtraft

werden? Nein, gewiß nicht; ich glaube aber, daß der Richter ein ſolches Waffen-

führen nicht als Bedingung der ſchweren Strafe dieſes Paragraphen annehmen würde.“

h) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 1157. — Württemb. Strafgeſetzb.

Art. 139. „Unter Waffen werden in dem Geſetzbuche Werkzeuge verſtanden, mit wel-

chen, nach ihrer gewöhnlichen Wirkung, eine lebensgefährliche Verletzung zugefügt wer-

den kann.“ — Heſſiſch. Strafgeſetzb. Art. 370. „Unter Waffen verſteht das

Geſetz hier und überall nicht nur alle Gattungen eigentlicher Gewehre und Waffen,

ſondern auch alle anderen Werkzeuge, Maſchinen oder Geräthſchaften, mit welchen man

ſchießen, ſtechen, ſchneiden, hauen oder zerquetſchen kann. — Wurden dergleichen

Werkzeuge, Maſchinen oder Geräthſchaften nicht zum Angriff oder zur Vertheidigung,

ſondern zu einem andern Zwecke mitgeführt, ſo werden ſie nur dann als Waffen an-

geſehen, wenn ſie wirklich zum perſönlichen Angriff oder zur Vertheidigung gebraucht

worden ſind.“

i) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 201. (218.)

Beſeler Kommentar. 28

[426/0436]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

diejenigen, welche keine Waffen bei ſich führen, die Strafbarkeit nach

den Grundſätzen des §. 44. zu beurtheilen. Ueberhaupt wird dieſe Vor-

ſchrift für die meiſten Fälle des ſchweren Diebſtahls von Einfluß auf

die Beſtrafung werden können.

VIII. Es wirken zwei oder mehrere Perſonen als Urheber oder

Theilnehmer zum Diebſtahle mit, welche ſich zur fortgeſetzten Verübung

von Raub oder Diebſtahl verbunden haben. Hierunter iſt der Dieb-

ſtahl in Banden gemeint; die ausdrückliche Bezeichnung deſſelben und

die Erhöhung des geſetzlichen Strafmaaßes für den Anführer (der Staats-

rath hatte zehnjähriges bis lebenslängliches Zuchthaus angenommen)

hielt man ſpäter nicht für angemeſſen. k)

IX. Der Diebſtahl wird während einer Feuers- oder Waſſersnoth

an den gefährdeten oder geflüchteten Sachen begangen. Der Entwurf

von 1850. §. 200. hatte dieſen Erſchwerungsgrund, welchen ſchon das

A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 1142. in noch weiterem Umfange hervor-

hebt, nur inſoweit anerkannt, daß das niedrigſte Strafmaaß des ein-

fachen Diebſtahls dadurch auf drei Monate erhöht werden ſollte (§. 217.).

Die Kommiſſion der zweiten Kammer nahm aber in Uebereinſtimmung

mit dem Entwurf von 1847. §. 270. Nr. 9. auch in dieſem Fall einen

ſchweren Diebſtahl an, und beſchloß demgemäß die Verſetzung der be-

treffenden Beſtimmung. l)

Nach der Erörterung des ſchweren Diebſtahls in ſeinen verſchie-

denen Formen ſind noch die Beſtimmungen des Geſetzbuchs über die

Rückfallsſtrafen (§. 219.) in Erwägung zu ziehen. Daß für den Dieb-

ſtahl und die demſelben verwandten Verbrechen noch beſondere Vorſchrif-

ten neben den allgemeinen für den Rückfall angeordneten nothwendig

ſind, iſt niemals bezweifelt worden; die Beſtimmungen des früheren

Rechts über den zweiten, dritten und vierten Diebſtahl beruhen auf die-

ſer Anſicht. Es kommt hier nämlich vorzugsweiſe in Betracht, daß die

wiederholten Rückfälle den Grund zu einer geſteigerten Straferhöhung

gerade bei dieſem Verbrechen abgeben, welche nach dem Verhältniß der

größeren Gefährlichkeit und Verſchuldung zu beſtimmen ſind. Natürlich

k) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 362. 363. — Protokolle des

Staatsraths, Sitzung vom 13. April 1842. — Reviſion von 1845. III.

S. 14.

l) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 200. (207.)

Reviſion von 1845. III. S. 11. — Verhandlungen der Staatsraths-

Kommiſſion von 1846. S. 147. — Ob auch geſtrandete Sachen unter den aus

einer Waſſersnoth geretteten oder geflüchteten verſtanden werden ſollen, iſt aus den

Materialien nicht zu erſehen.

[427/0437]

§§. 218-224. Schwerer Diebſtahl; Rückfall.

werden aber bei der Normirung der Rückfallsſtrafen wegen Diebſtahls

die allgemeinen Grundſätze inſoweit maaßgebend ſein, als nicht be-

ſtimmte Ausnahmen von denſelben ausdrücklich vorgeſchrieben worden

ſind. m)

I. Für den erſten Rückfall, alſo den zweiten Diebſtahl kommen

die allgemeinen Vorſchriften des §. 58. zur Anwendung.

II. Haben weitere Rückfälle ſtattgefunden, ſo hat die Zahl derſel-

ben nur auf die Strafzumeſſung Einfluß; die geſetzliche Strafe für den

dritten und vierten Diebſtahl u. ſ. w. iſt daher die nämliche. n)

III. Von der Beſtimmung, daß die Rückfallsſtrafe nur dann ein-

tritt, wenn daſſelbe Verbrechen oder Vergehen wiederholt begangen

worden (§. 58.), findet eine Ausnahme ſtatt, wenn der Thäter bereits

zweimal oder mehrere Male rechtskräftig durch einen Preußiſchen Ge-

richtshof wegen Diebſtahls oder Raubes verurtheilt worden iſt. Beide

Delikte werden alſo, inſofern es ſich um die Beſtrafung des dritten und

weiteren Diebſtahls handelt, als gleiche betrachtet; über den Raub vgl.

§. 233. Nr. 1.

IV. Iſt der Diebſtahl, durch welchen die Strafe des wiederholten

Rückfalls verwirkt wird, ein einfacher (§§. 216. und 217.), ſo tritt

Zuchthaus von zwei bis zu funfzehn Jahren, iſt er ein ſchwerer im

Sinne des §. 218., ſo tritt Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig Jah-

ren ein; in beiden Fällen ſoll auch auf Stellung unter Polizei-Aufſicht

erkannt werden. Die lebenslängliche Zuchthausſtrafe, welche noch der

Entwurf von 1843. §. 415. beim dritten Rückfall zuließ, iſt in Folge

der dagegen erhobenen Bedenken auf den Vorſchlag des Miniſteriums

für die Geſetz-Reviſion in der angegebenen Weiſe ermäßigt worden: ſie

wurde unverhältnißmäßig hart gefunden; kein neueres Strafgeſetzbuch

habe ſie für dieſen Fall vorgeſchrieben. o)

V. Von welcher Beſchaffenheit die früheren bereits abgeurtheilten

Diebſtähle waren, kommt bei der Beſtrafung des wiederholten Rückfalls

nicht in Betracht; es genügt, daß überhaupt wegen Diebſtahls oder Rau-

bes bereits zweimal oder mehrere Male ein rechtskräftiges Erkenntniß

ergangen iſt.

VI. Im Uebrigen finden auch bei der Beſtrafung des wiederhol-

ten Rückfalls die allgemeinen Grundſätze Anwendung, namentlich auch

m) Vgl. Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 363. — Protokolle

des Staatsraths, Sitzung vom 13. April 1842. — Reviſion von 1845. III.

S. 15. — Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 149.

n) Da die lebenslängliche Zuchthausſtrafe beim vierten Diebſtahl aufgehoben iſt,

ſo kann nun allerdings ein fünfter Diebſtahl u. ſ. w. vorkommen.

o) Reviſion a. a. O. S. 16.

28*

[428/0438]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

die in §. 59. aufgeſtellten, welche nicht wie die des §. 60. an dieſem

Orte wiederholt ſind.

§. 225.

Wer eine fremde bewegliche Sache, deren Beſitz oder Gewahrſam er mit

der Verpflichtung erlangt hat, ſie zu verwahren, zu verwalten, zurückzugeben

oder abzuliefern, zum Nachtheile des Eigenthümers, Beſitzers oder Inhabers

veräußert, verpfändet, verbraucht oder bei Seite ſchafft, macht ſich einer Un-

terſchlagung ſchuldig.

§. 226.

Einer Unterſchlagung wird es gleich geachtet, wenn derjenige, welcher eine

fremde bewegliche Sache gefunden oder durch Zufall in ſeine Gewahrſam be-

kommen hat, dieſelbe zum Nachtheile des Eigenthümers, Beſitzers oder Inha-

bers veräußert, verpfändet, verbraucht oder bei Seite ſchafft, oder die Gewahr-

ſam derſelben der Obrigkeit wider beſſeres Wiſſen ableugnet.

§. 227.

Die Unterſchlagung, ſowie der Verſuch der Unterſchlagung wird mit Ge-

fängniß nicht unter Einem Monate und mit zeitiger Unterſagung der Aus-

übung der bürgerlichen Ehrenrechte beſtraft.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo kann die

Strafe bis auf Einen Tag Gefängniß ermäßigt werden.

Ueber die Unterſchlagung verfügte der Entwurf von 1836.

§. 594. „Wer eine fremde bewegliche Sache, die er in der

Gewahrſam hat, in der Abſicht, ſich oder Andern einen Gewinn

zu verſchaffen, widerrechtlich ſich zueignet, iſt der Unterſchlagung

ſchuldig.“

Bei Prüfung dieſer Beſtimmung kam es in der Staatsraths-Kom-

miſſion vor Allem zur Frage, ob jede rechtswidrige Zueignung einer

fremden beweglichen, in der Gewahrſam bereits befindlichen Sache un-

ter den Begriff der Unterſchlagung geſtellt oder dieſelbe auf die wider-

rechtliche Zueignung anvertrauter Sachen, d. h. ſolcher, welche der In-

haber auf den Grund eines die Rückgabe bedingenden Rechtsverhältniſſes

in Beſitz oder Gewahrſam erhalten hat, beſchränkt werden ſolle. Bei

der Abfaſſung des revidirten Entwurfs habe man ſich für die erſtere

Alternative entſchieden, indem zur Rechtfertigung dieſer Anſicht in den

Motiven (S. 315.) angeführt worden ſei, daß das Strafbare ſchon in

der widerrechtlichen Zueignung liege, ohne Rückſicht darauf, ob die

Sache eine anvertraute ſei oder nicht. Von gleichen Grundſätzen ſeien

die Strafgeſetzbücher von Sachſen (Art. 242.) und Braunſchweig (§. 220.)

ausgegangen. Dagegen ſeien in den Geſetzbüchern von Hannover

(Art. 304.) und Heſſen (Art. 379.) die entgegengeſetzten Principien

[429/0439]

§. 225-227. Unterſchlagung.

adoptirt und der Begriff der Unterſchlagung auf die rechtswidrige An-

eignung anvertrauter Sachen beſchränkt.

Die Staatsraths-Kommiſſion entſchied ſich für dieſe letztere Anſicht,

indem namentlich bemerkt wurde: „Das Strafrecht würde offenbar ſeine

Grenze überſchreiten, wenn es jede in Privatverhältniſſen unbefugte oder

rechtswidrige Handlung ſogleich als eine ſtrafbare und zum Verbrechen

ſteigende That bezeichnen wolle. Wer einem Andern ſein Eigenthum

vorenthalte, werde dadurch allerdings unter Umſtänden zum unredlichen

Beſitzer (A. L. R. Th. I. Tit. 7. §. 10.); er müſſe nach den Vorſchrif-

ten des Civilrechts die fructus percipiendos erſtatten, das geringſte

Verſehen vertreten und dem rechtmäßigen Beſitzer Alles erſetzen, was

derſelbe durch die Vorenthaltung des Beſitzes verloren habe (a. a. O.

§§. 239. 241. 244. ff.); allein die Strafe der Unterſchlagung könne nur

dann eintreten, wenn hierbei zugleich ein beſonderes Vertrauen verletzt

worden ſei. In der That würde der Staat die Sorge für das Eigen-

thum zu weit treiben, wenn er jeden Beſitzer, der ſeine Rechte über-

ſchreite, mit Strafe bedrohen wollte. Es ſei Sache des Eigenthümers,

das Seinige zuſammen zu halten, und es bedürfe außer dem Civil-

anſpruche auf Schadenerſatz und Bindikation nur dann des ſtrafrecht-

lichen Schutzes, wenn die Rechtsverhältniſſe des bürgerlichen Lebens es

mit ſich bringen, daß er ſein Eigenthum fremden Händen anvertraut

habe. Das Allg. Landrecht habe allerdings die Grenzen des Verbre-

chens dadurch zu ſehr beſchränkt, daß es die Unterſchlagung nirgends

unter Strafe geſtellt und ſich auf die Beſtrafung des Geſindes, der Pri-

vatverwalter, der Bevollmächtigten, der Depoſitarien und der Pfand-

inhaber (II. 20. §. 1345. ff.) beſchränkt habe; p) allein hieraus folge

noch nicht, daß man die Prinzipien, auf welchen die Vorſchriften des

Landrechts, in Uebereinſtimmung des gemeinen Deutſchen Kriminalrechts

(P. G. O. Art. 170.), im Weſentlichen beruhen, gänzlich verlaſſen, und

dem Verbrechen einen ſo weiten Umfang geben dürfe, als dies im re-

vidirten Entwurfe geſchehen ſei.“ q)

Der Staatsrath ſchloß ſich dieſer Ausführung durchaus an, und

erklärte es nur für nothwendig, daß für den Fall, daß jemand gefun-

dene Sachen ſich widerrechtlich aneignet, eine Strafbeſtimmung auf-

geſtellt werde. Dagegen wurde der Vorſchlag, die Unterſchlagung nur

auf den Antrag des Verletzten beſtrafen zu laſſen, nicht angenommen;

es wurde freilich zugegeben, daß es häufig von der Abſicht des Eigen-

thümers abhange, in welcher er einem Anderen eine Sache anvertraut

p) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 386. 387.

q) Code pénal. Art. 386. 408.

[430/0440]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

habe, ob dieſer zu einer Verfügung über dieſelbe und ſelbſt zu einer

vorläufigen Verwendung ſich berechtigt halten dürfe, und daß daher die

Erklärung des Eigenthümers über dieß Verhältniß von Wichtigkeit ſein

könne. Aber es gehöre dieß doch nur zu den thatſächlichen Umſtänden,

welche bei Erledigung der Frage, ob ein Dolus anzunehmen ſei, von

dem Richter erwogen werden müßten. Wenn überwiegende Gründe da-

für ſprächen, die Unterſchlagung dem Diebſtahle gleich zu ſtellen, ſo

dürfe man deren Beſtrafung nicht von einem Privatantrage abhängen

laſſen. Praktiſch werde ſich die Sache übrigens nach der Natur des

Vergehens ſo ſtellen, daß in der Regel eine Unterſuchung nur auf An-

trag des Verletzten werde eingeleitet werden. r)

In den angeführten Verhandlungen ſind nun die Grundzüge für

die Behandlung, welche die Unterſchlagung im Strafgeſetzbuch erhalten

hat, bereits feſtgeſtellt worden: das Vergehen wird nur an anvertrauten

Sachen verübt; es wird demſelben aber in gewiſſen Fällen die Aneigung

gefundener Sachen gleichgeſtellt. Die ſpäteren Verhandlungen zeigen

nur, wie dieſe Principien verſchieden ausgedrückt und im Einzelnen

modifizirt worden ſind. s)

I. Die früheren Entwürfe hatten zum Thatbeſtande der Unter-

ſchlagung die rechtswidrige Abſicht verlangt; namentlich beſtimmte der

Entwurf von 1847.

§. 272. „Wer eine fremde bewegliche Sache, deren Beſitz oder

Gewahrſam er mit der Verpflichtung erlangt hat, ſie zu verwahren, zu

verwalten, zurückzugeben oder abzuliefern, in rechtswidriger Abſicht ver-

äußert, verpfändet, verbraucht oder auf andere Weiſe ſich oder anderen

zueignet oder bei Seite ſchafft, macht ſich einer Unterſchlagung ſchuldig.“

Der Entwurf von 1850. §. 208., dem das Strafgeſetzbuch (§. 225.)

gefolgt iſt, hat ſtatt des Ausdrucks „in rechtswidriger Abſicht“ die

Worte „zum Nachtheile des Eigenthümers, Beſitzers oder Inhabers.“

Dieſe Faſſung, welche dem Rheiniſchen Recht entlehnt worden, t) iſt

r) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 13. und 23. April 1842.

s) Reviſion von 1845. III. S. 16-19. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 150. — Verhandlungen des vereinig-

ten ſtänd. Ausſchuſſes. IV. S. 206-23.

t) Code pénal. Art. 408. Quiconque aura détourné ou dissipé, au

préjudice du propriétaire, possesseur ou détenteur, des effets,

deniers, marchandises, billets, quittances ou tous autres écrits contenant

ou opérant obligation ou décharge, qui ne lui auraient été remis qu'a titre

de dépôt ou pour un travail salarié, à la charge de les rendre ou repré-

senter, ou d'en faire un usage ou un emploi déterminé, sera puni des

peines portées dans l'article 406. — Le tout sans préjudice de ce qui est

dit aux articles 254. 255. et 256., relativement aux soustractions et enlè-

vemens de deniers, effets ou pièces, commis dans les dépôts publics.

[431/0441]

§§. 225-227. Unterſchlagung.

aber in keinem Falle ſo zu verſtehen, als ob es nur auf den thatſäch-

lichen Erfolg der Handlung ankomme, und der Dolus dabei nicht in

Betracht zu ziehen ſei. Dieß wäre nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen,

deren Anwendung die Franzöſiſche Jurisprudenz gerade in dieſem Fall

mit der größten Entſchiedenheit verlangt, u) ganz unzuläſſig; auch hat

die Kommiſſion der erſten Kammer den Grund der Aenderung nur darin

gefunden, daß nicht allein der dolus directus, wie es nach der früheren

Faſſung habe ſcheinen können, ſondern auch der dolus indeterminatus

durch die geſetzliche Vorſchrift getroffen werden ſolle. v) Es kommt aber

außerdem noch in Betracht, daß gegenwärtig doch auf den Erfolg der

Handlung inſofern ein beſonderes Gewicht gelegt iſt, als angenommen

werden muß, daß die Handlung, auch wenn ſie an und für ſich rechts-

widrig iſt, nicht als Unterſchlagung beſtraft werden kann, wenn ſie dem

Eigenthümer u. ſ. w. nicht zum Nachtheile gereicht hat. Wenn jemand

z. B. auf einer Reiſe für einen Anderen Geld einkaſſirt und es zu ſei-

nem Nutzen verwendet, zur rechten Zeit aber die Zahlung macht, ſo

trifft ihn keine Strafe, in welcher Abſicht er auch gehandelt haben mag.

Schon im Staatsrathe wurde es angeregt, daß ſolche Fälle entſchuld-

barer Verwendung von der Unterſchlagung ausgeſchieden werden müßten,

und in Frankreich hat ſich die Jurisprudenz gleichfalls dafür erklärt. w)

— Natürlich bezieht ſich dieß aber weder auf die Verletzung amtlicher

Pflichten, deren ſich öffentliche Beamte ſchuldig machen, noch auf die

Verhältniſſe, für welche die Vorſchriften des Tit. XXII. über die Un-

treue maaßgebend ſind. In beiden Beziehungen kommen die beſonderen

Beſtimmungen zur Anwendung, welche im Intereſſe des Dienſtes und

des öffentlichen Vertrauens aufgeſtellt ſind.

II. Die Handlungen, durch welche eine Unterſchlagung begangen

wird, ſind bezeichnet als „veräußern, verpfänden, verbrauchen, bei Seite

ſchaffen“. Früher hieß es noch „auf andere Weiſe ſich oder Anderen

zueignen“; aber dieſer Zuſatz würde den Thatbeſtand unbeſtimmt ma-

chen, und doch nicht dazu dienen, eine erhebliche Lücke auszufüllen. Die

Weglaſſung deſſelben erſcheint demnach ganz angemeſſen. — In der

Kommiſſion der erſten Kammer wurde ein anderes Bedenken geäußert;

man fand nämlich, daß die Rechtsgeſchäfte, vermöge deren die Sachen

einem Dritten anvertraut werden, und welche alſo die Unterſchlagung

u) Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. IV.

chap. LXIII. p. 113.

v) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 225.

w) Chauveau l. c. p. 114. La règle générale en cette matière, est

qu'il n'y a délit susceptible d'une poursuite correctionnelle qu'après que

celui à qui des deniers ou des effets ont été confiés, a été mis en demeure

de les restituer.

[432/0442]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

bedingen, nicht vollſtändig bezeichnet worden ſeien; die Ausdrücke des

Geſetzbuchs „verwahren, verwalten“ u. ſ. w. paßten nicht auf die Ver-

arbeitung gelieferter Stoffe zu einem neuen Werke, es müſſe daher noch

hinzugefügt werden, „zu verarbeiten“. Die Kommiſſion war aber mit

Recht der Anſicht, daß der Fall der Spezifikation zur Genüge durch die

Worte „zurückzugeben oder abzuliefern“ bezeichnet ſei, und daß es daher

keines Zuſatzes bedürfe. x)

III. Der Unterſchlagung anvertrauter Sachen wird es gleichgeach-

tet, wenn jemand, der eine fremde Sache gefunden oder durch Zufall,

z. B. durch eine unrichtige Ablieferung, in ſeine Gewahrſam bekommen

hat, zum Nachtheile des Berechtigten darüber verfügt (§. 226.). Die

geſetzlichen Beſtimmungen ſind hier dieſelben wie bei der eigentlichen Un-

terſchlagung, während der Entwurf von 1847. eine nicht unweſentliche

Abweichung enthielt, indem er verfügte:

§. 273. „Einer Unterſchlagung wird es gleichgeachtet, wenn der-

jenige, welcher eine Sache gefunden oder durch bloßen Zufall in ſeine

Gewahrſam bekommen hat, dieſelbe dem Eigenthümer zu entziehen ſucht,

indem er ſie veräußert, verpfändet, verbraucht oder auf andere Weiſe ſich

oder Anderen zueignet, oder die Gewahrſam der Sache der Obrigkeit

wider beſſeres Wiſſen abläugnet.“

Gegen die Worte, „dem Eigenthümer zu entziehen ſucht“, wurden aber

bereits in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß gegründete Bedenken er-

hoben, und ſie konnten auch um ſo weniger beibehalten werden, weil

in denſelben der Thatbeſtand des Vergehens und der Verſuch in unkla-

rer Weiſe vermiſcht werden. — Aber auch in dieſer Faſſung wurde die

Beſtimmung in der Kommiſſion der zweiten Kammer angefochten, indem

beſonders hervorgehoben wurde, daß die Unterſchlagung den Mißbrauch

des Vertrauens in ſich ſchließe, was bei der Verfügung über gefundene

Sachen nicht der Fall ſei. Die Kommiſſion hielt jedoch ſo wenig wie

früher der Staatsrath dieſen Einwand für begründet, und ſtellte viel-

mehr die im Entwurf von 1850. weggebliebene Beſtimmung wieder her,

daß es der verbotenen Verfügung über die Sache gleich gelten ſolle,

wenn die Gewahrſam derſelben der Obrigkeit wider beſſeres Wiſſen ab-

geleugnet werde. y) Die Kommiſſion der erſten Kammer trat dieſem Be-

ſchluſſe bei und fand auch die Bemerkung, daß es doch ausgedrückt

werden müſſe, daß der Finder die Sache für eine verlorene und nicht für

eine herrenloſe gehalten habe, nicht begründet, weil die allgemeinen Grund-

ſätze über den Dolus auch bei dieſem Vergehen ihre Geltung behielten. z)

x) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 225.

y) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 209. (226.)

z) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 226.

[433/0443]

§§. 228. 229. Entwendungen unter Verwandten.

Neben den Vorſchriften des Strafgeſetzbuchs über den ſ. g. Fund-

diebſtahl kommen übrigens noch die civilrechtlichen Beſtimmungen über

das Finden verlorener Sachen und namentlich die im Allg. Landrecht

(Th. I. Tit. 9. §. 19-72.) angeordneten Verhaltungsmaaßregeln zur

Anwendung.

IV. Die Strafe der Unterſchlagung iſt die für den einfachen Dieb-

ſtahl ohne erſchwerende Umſtände vorgeſchriebene (§. 216.). Nur iſt die

Stellung unter Polizei-Aufſicht weggeblieben, weil dieſelbe bei der eigen-

thümlichen Beſchaffenheit der Unterſchlagung ohne praktiſche Bedeutung

ſein würde, a) und für den Fall, daß das Vorhandenſein mildernder Um-

ſtände feſtgeſtellt wird, iſt das niedrigſte Maaß der Strafe auf Einen

Tag Gefängniß heruntergeſetzt worden. Man glaubte, daß das Verge-

hen, wenn es an ganz geringfügigen Sachen verübt worden, namentlich

bei dem Finden verlorener Sachen, mit acht Tagen Gefängniß zu hart

geahndet würde. b)

§. 228.

Entwendungen oder Unterſchlagungen, welche von Eltern oder Großeltern

gegen ihre Kinder oder Enkel, oder von einem Ehegatten gegen den anderen

begangen werden, ſollen nicht beſtraft werden.

Dieſe Beſtimmung findet keine Anwendung auf andere Perſonen, welche

als Theilnehmer oder Hehler ſchuldig ſind.

§. 229.

Wer ſich eines Diebſtahls oder einer Unterſchlagung gegen Eltern oder

Großeltern, Stiefeltern oder Stiefkinder, gegen Schwiegereltern oder Schwie-

gerkinder, gegen Geſchwiſter, ingleichen gegen Pflegeeltern, Vormünder oder

Erzieher ſchuldig macht, iſt nur auf Antrag des Verletzten zur Unterſuchung

zu ziehen.

Daß bei der Beſtrafung des Diebſtahls, dem auch in dieſer Bezie-

hung die Unterſchlagung gleich zu ſetzen iſt, auf gewiſſe Bande der

Verwandtſchaft und Verſchwägerung Rückſicht genommen werden ſoll,

hat ſowohl das gemeine Deutſche c) als das Preußiſche d) und Rhei-

a) Motive zum Entwurf von 1850. §. 208-10. — Verhandlungen

des verein. ſtänd. Ausſch. IV. S. 222-23.

b) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 210. (227.)

c) P. G. O. Art. 165. Item ſo eyner aus leichtvertigkeyt oder unverſtandt

etwas heymlich nem von güttern, dar er ſunſt ein nechſter erb iſt, oder ob ſich der-

gleichen zwiſchen mann uund weib begeb, und eyn theil den andern derhalb anklagen

würd, ſollen Richter und urtheyler mit entdeckung aller umbſtende bei den rechtver-

ſtendigen, und an orten und enden, wie zu end diſer unſer ordnung angezeygt,

radts pflegen, auch erfarn, was in ſolchen fellen das gemeyn recht ſei, und ſich dar-

nach halten. Doch ſoll die oberkeyt oder Richter inn diſen fellen von ampts wegen

nit klagen noch ſtraffen.

d) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 1133. Entwendungen, welche unter Eltern

[434/0444]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

niſche Recht e) vorgeſchrieben; ein Gefühl der Billigkeit hat die unnach-

ſichtige Ausübung der Strafgerechtigkeit beſchränkt, um den Anforderun-

gen der Familie auf Schonung ihrer Verhältniſſe genügen zu können.

Auch bei der Reviſion des Strafrechts iſt dieſer Geſichtspunkt von

Anfang an feſtgehalten worden, und wenn darüber wiederholte und zum

Theil ſehr umfaſſende Verhandlungen ſtatt gefunden haben, ſo bezogen

dieſelben ſich weniger auf das Princip, als auf die Ausführung des-

ſelben im Einzelnen. Namentlich kam es dabei zur Frage, für welche

Verwandten eine Ausnahme von den allgemeinen Regeln über die Be-

ſtrafung gemacht werden ſolle, und wer ihnen ſonſt noch gleichzuſtellen

ſei; ferner ob für alle ausgenommenen Perſonen gleichmäßige Beſtim-

mungen zu erlaſſen ſeien, oder wieder eine Unterſcheidung zu machen

ſei, indem für einige volle Strafloſigkeit, für andere nur die Bedingung

des Strafantrags Behufs der Beſtrafung vorgeſchrieben werde; endlich

wie es mit denjenigen fremden Perſonen zu halten ſei, welche an einem

Diebſtahle unter Verwandten Theil genommen.

Die Reviſion hat bis in ihren letzten Stadien über die beſte Lö-

ſung dieſer Fragen geſchwankt, wie es überhaupt der Fall zu ſein pflegt,

wenn nach Rückſichten der Billigkeit anomale Vorſchriften über einen

Gegenſtand aufgeſtellt werden ſollen, deſſen allgemeine Normirung auf

ſtrengen Rechtsprincipien beruht. Auch boten die einzelnen Rechtsquellen,

an deren Stelle das Strafgeſetzbuch zu treten beſtimmt war, verſchiedene

Wege zur Erreichung des beabſichtigten Zieles dar, und die Geſetzgebung

hat ſich bald mehr auf dem einen, bald mehr auf dem anderen befun-

den. Anfangs entſchied man ſich dafür, Entwendungen unter Ver-

wandten nur auf den Antrag des Verletzten beſtrafen zu laſſen; f) ſpäter

d)

e) Code pénal. Art. 380. Les soustractions commises par des maris

au préjudice de leurs femmes, par des femmes au préjudice de leurs maris,

par un veuf ou une veuve quant aux choses qui avaient appartenu à l'époux

décédé, par des enfans ou autres descendans au préjudice de leurs pères

ou méres, par des pères et mères ou autres ascendans au préjudice de

leurs enfans ou autres descendans ou par des alliés aux mêmes degrés, ne

pourront donner lieu qu'à des réparations civiles. — A l'égard de tous

autres individus qui auraient recélé ou appliqué à leur profit tout ou partie

des objets volés, ils seront punis comme coupable de vol.

f) Motive zum erſten Entwurf. IV. S. 20-25. — Entwurf von

1830. §. 337.

d) und Kindern, unter Ehegatten, oder unter Geſchwiſtern vorgefallen ſind, ſollen als

Diebſtahl nicht angeſehen, noch von Amtswegen unterſucht und beſtraft werden.

§. 1134. Ein Gleiches gilt von Anverwandten, welche ſich in einer gemeinſchaftlichen

Hauswirthſchaft befinden. §. 1135. Nicht minder von Diebſtählen, welche von Pflege-

befohlenen und Zöglingen an ihren Vormündern, Pflegevätern und anderen Erzie-

hern, oder an deren Hausgenoſſen begangen worden. §. 1136. Wird aber die

Entwendung von demjenigen gerügt, unter deſſen Hauszucht der Verbrecher ſteht, ſo

muß dieſelbe an dem Thäter, gleich jedem anderen gemeinen Diebſtahle, beſtraft werden.

[435/0445]

§§. 228. 229. Entwendungen unter Verwandten.

wurde zwiſchen den verſchiedenen Arten der Verwandten unterſchieden,

und für einige jede Beſtrafung ausgeſchloſſen, für andere die Beſtrafung

nur auf Antrag zugelaſſen; g) der Entwurf von 1850. beſchränkte die

Zahl der ausgenommenen Perſonen, ſetzte für dieſe aber volle Straf-

loſigkeit feſt, indem er beſtimmte:

§. 211. „Entwendungen oder Unterſchlagungen, welche von einem

Ehegatten gegen den andern, oder von Eltern oder Großeltern gegen

ihre Kinder oder Enkel, oder von Kindern oder Enkeln gegen ihre Eltern

oder Großeltern begangen werden, ſind ſtraflos.“

„Dieſe Beſtimmung findet keine Anwendung auf andere Perſonen,

welche als Theilnehmer oder Hehler ſchuldig ſind.“

Die Kommiſſion der zweiten Kammer verließ wieder dieſen Stand-

punkt. Sie war freilich der Anſicht, daß es der Pietät widerſpreche,

Kinder zu Strafanträgen gegen ihre Eltern zuzulaſſen, und daß gleich-

falls unter Ehegatten ein ſolches Recht nicht beſtehen könne, ohne die

Bande der Ehe und manche beſondere Güterrechtsverhältniſſe zu verletzen.

Aber bei andern Verwandten glaubte ſie eine unbedingte Strafloſigkeit

nicht ausſprechen zu dürfen, war aber der Meinung, daß dieſe Kategorie

nach dem Vorgange der früheren Entwürfe auch auf Entwendungen

gegen Pflegeeltern, Vormünder und Erzieher auszudehnen ſei. Sie

kehrte daher im Weſentlichen zu den Vorſchriften des Entwurfs von

1847. §. 277. 278. zurück.

I. Entwendungen oder Unterſchlagungen, welche von Eltern oder

Großeltern gegen ihre Kinder oder Enkel, oder von einem Ehegatten

gegen den anderen begangen werden, bleiben ſtraflos (§. 228.).

a. Unter Eltern und Großeltern ſind nur die leiblichen zu ver-

ſtehen. Daß die Stiefeltern und Schwiegereltern hier nicht gemeint

ſind, ergiebt ſich aus der Faſſung des §. 229., in welchem ſie ſich auf-

geführt finden; Zweifel ſind daher nur wegen der Adoptiveltern möglich,

welche der Entwurf von 1847. §. 278. zugleich mit den Adoptivkindern

zwiſchen den Geſchwiſtern und Pflegeeltern aufgeführt hatte, das Geſetz-

buch aber gar nicht nennt. Dieſe Auslaſſung konnte auf zwei Gründen

beruhen; entweder wollte man die Adoptiveltern den leiblichen gleich-

ſtellen, was freilich den übrigen Beſtimmungen des Strafgeſetzbuchs

über die Berückſichtigung verwandtſchaftlicher Verhältniſſe nicht entſprechen

würde, oder man wollte ſie gar nicht zu den im Geſetz ausgenommenen

g) (v. Kamptz) Revidirter Entwurf. S. 291-94. — Entwurf von

1836. §. 544-48. — Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kom-

miſſion. III. S. 351-54. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom

23. März 1842. — Entwurf von 1843. §. 403. 404. — Reviſion von 1845.

III. S. 20. 21. — Entwurf von 1847. §. 277. 278.

[436/0446]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

Perſonen rechnen. Dieſe letztere Abſicht iſt bei der Faſſung des §. 229.

maaßgebend geweſen. Die Kommiſſion der zweiten Kammer entſchied ſich

dafür, die Worte „Adoptiveltern oder Kinder“ zu ſtreichen, weil, wenn

ſo verbundene Perſonen zuſammen leben, die Adoptiveltern jedenfalls

als Pflegeeltern anzuſehen ſind, ſonſt aber die Adoption nur die Ver-

mögensverhältniſſe berührt; h) und in der Kommiſſion der erſten Kammer

wurde ein Antrag auf die Wiederherſtellung jener Worte abgelehnt, weil

das rein civilrechtliche Verhältniß eine ſolche Begünſtigung nicht ver-

diene. i) Deutlicher wäre es allerdings geweſen, wenn in §. 228. die

Eltern und Großeltern ausdrücklich als leibliche bezeichnet worden

wären.

b. Für Ehegatten kommt die Beſtimmung des §. 228. auch dann

zur Anwendung, wenn die Entwendung oder Unterſchlagung vor der

ſpäter eingetretenen Scheidung ſtattgefunden hat. k)

c. Die civilrechtlichen Folgen der Vergehen werden durch die

Vorſchriften des Strafgeſetzbuchs nicht berührt; eines ausdrücklichen

Vorbehaltes der Civilklagen, welche die früheren Entwürfe in Bezie-

hung auf den Diebſtahl unter Verwandten hatten, bedurfte es da-

her nicht.

II. In den §. 229. bezeichneten Fällen wird der Diebſtahl und

die Unterſchlagung nur auf den Antrag des Verletzten beſtraft. Es

liegt darin eine Abweichung von dem Allg. Landrecht (II. 20. §. 1136.),

welches nur demjenigen, unter deſſen Hauszucht der Verbrecher ſteht,

das Recht auf den Strafantrag beilegt.

III. Eine ſchwierige und vielfach erörterte Frage iſt es, was über

die Theilnahme dritter Perſonen an den Diebſtählen und Unterſchla-

gungen unter Verwandten zu beſtimmen ſei. Einerſeits muß es be-

denklich erſcheinen, den Hauptſchuldigen ohne Strafe davon kommen zu

laſſen, den Gehülfen aber, vielleicht einen verführten Dienſtboten mit

der vollen Strenge des Geſetzes zu treffen, wobei noch zu erwägen iſt,

daß die Unterſuchung gegen den Letzteren meiſtens nur unvollſtändig

wird geführt werden können, und daß jedenfalls das gegen den Theil-

nehmer eingeleitete Verfahren das begangene Verbrechen zur Sprache

bringt, und den weſentlichen Zweck der Ausnahmebeſtimmung zu Gun-

ſten der Verwandten, nämlich die Schonung der Familienverhältniſſe,

vereitelt. Andererſeits kann es aber nicht verkannt werden, daß für die

h) Protokolle der Kommiſſion der zweiten Kammer vom 22. Fe-

bruar 1851.

i) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §§. 228. 229.

k) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 223. 224. Vgl. Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 23. März 1842.

[437/0447]

§§. 228. 229. Entwendungen unter Verwandten.

mildere Behandlung fremder Theilnehmer, denen die Gunſt der Fami-

lienbande nicht zu ſtatten kommt, der Grund des Geſetzes nicht unmit-

telbar geltend werden kann; daß die Strafloſigkeit derſelben eine immer

größere Abweichung von den allgemeinen Anforderungen der Straf-

rechtspflege herbeiführen würde, und daß der Einwand, die Unterſuchung

könne nicht vollſtändig geführt werden, wenn ſie ſich nicht gegen alle

Theilnehmer richte, nicht unbedingt zutreffend iſt. Denn wenn aus den

Verhandlungen nicht die vollſtändige Ueberzeugung von der Strafbarkeit

des Angeſchuldigten hervorgeht, ſo wird er nicht verurtheilt werden, und

der Umſtand, daß nicht alle Theilnehmer verfolgt werden, wird daher

wenigſtens ebenſo häufig der Anklage, als der Vertheidigung zum Nach-

theile gereichen.

Der Code pénal hat dieſe Frage in Uebereinſtimmung mit einem

allgemeinen Princip der Franzöſiſchen Jurisprudenz erledigt. Dieſe

nimmt nämlich an, daß der Theilnehmer an einem Verbrechen oder

Vergehen nicht verfolgt und beſtraft werden kann, wenn das Verfahren

ſich nicht auch gegen den Hauptſchuldigen richtet. In den, Art. 380.

vorgeſehenen Fällen wird daher überhaupt kein Diebſtahl, ſondern eine

ſtrafloſe Entwendung (soustraction) angenommen, und die Theilnahme

an demſelben vor oder während der That wird nicht beſtraft. Hat aber

eine dritte Perſon die geſtohlene Sache verhehlt oder zu ihrem Nutzen

verwandt, ſo tritt allerdings eine Strafe ein, und zwar die des Dieb-

ſtahls, indem angenommen wird, daß der Schuldige dieſes Verbrechen

ſelbſtändig begangen habe. l)

Bei der Reviſion des Strafrechts wurden die einzelnen, oben an-

geführten Momente, welche für und gegen die Beſtrafung der Theil-

nehmer ſprechen, in den wiederholten Verhandlungen, welche dieſem

Gegenſtande gewidmet waren, hervorgehoben und demgemäß die ent-

ſprechenden Anträge geſtellt. Sowohl in der Staatsraths-Kommiſſion

wie im Staatsrathe entſchied man ſich aber für die Anſicht, daß die

Beſtrafung der Theilnehmer unter allen Umſtänden zuläſſig ſein ſolle,

daß es aber dazu eines Antrags des Verletzten bedürfe. m) Es wurde

dabei jedoch der Fall, wo den Hauptſchuldigen gar keine Strafe treffen

ſoll, von demjenigen, wo er nur auf Antrag beſtraft wird, nicht genau

unterſchieden, und namentlich der Entwurf von 1843. §. 403., welcher

die Entwendungen unter Ehegatten für ſtraflos erklärte, beſtimmte über

die Theilnehmer nichts, während §. 404., welcher über die Strafanträge

des Beſtohlenen bei dem Diebſtahle unter Verwandten verfügt, in Abſ. 3.

die Beſtimmung enthielt:

l) Chauveau et Hélie Faustin. I. c. III. chap. LIX. p. 195-200.

m) S. oben Note g.

[438/0448]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XVIII. Diebſtahl u. Unterſchlagung.

„Wenn andere Mitſchuldige vorhanden ſind, iſt auch gegen dieſe

die Unterſuchung nur auf Antrag zu eröffnen.“

In Beziehung auf dieſe Vorſchrift äußerte der Juſtizminiſter von

Savigny in der Staatsraths-Kommiſſion: „Der Zweck dieſer Beſtim-

mung ſei offenbar, aus Schonung der Familienverhältniſſe die ganze

Sache der Kenntniß des Richters und des Publikums zu entziehen.

Hierbei werde ſtillſchweigend vorausgeſetzt, daß die Komplizität von

Anfang an ſowohl dem Beſtohlenen, als dem Richter völlig bekannt

ſei. In vielen Fällen komme dieſelbe aber erſt im Laufe der Unter-

ſuchung zur Sprache und insbeſondere könne auch der fremde Ange-

ſchuldigte die Komplizität blos vorgeben, um ſich dadurch der Unter-

ſuchung zu entziehen. Wenn alſo z. B. ein Hausdiebſtahl zur Anzeige

komme, ſo werde zunächſt der Richter unzweifelhaft die Unterſuchung

gegen den verdächtigen Dienſtboten einleiten müſſen, ohne Rückſicht

darauf, daß vielleicht ſpäterhin die Komplizität eines nahen Verwandten

des Beſtohlenen zur Sprache kommen könne. Wenn nun dies in der

That geſchehe, ſo könne man höchſtens dadurch zu helfen ſuchen, daß

man dem Beſtohlenen das Recht einräume, die Aufhebung der Unter-

ſuchung zu fordern. Dies liege aber nicht in der Vorſchrift des §. 404.,

müßte alſo erſt hinzugefügt werden. Angemeſſener dürfte es jedoch ſein,

den Schlußſatz des §. 404. ganz wegzulaſſen, ſo wie es in dem revi-

dirten Entwurfe geſchehen ſei. Werde dieſer Vorſchlag angenommen,

ſo würde im Fall eines Diebſtahls, welchen der Sohn des Beſtohlenen

gemeinſchaftlich mit dem Dienſtboten begehe, die Folge eintreten, daß

gegen den Dienſtboten der Richter von Amtswegen zu verfahren habe,

gegen den Sohn aber die Unterſuchung und Beſtrafung nur auf den

Antrag des Vaters eintrete. Die Ehre des Sohnes könne durch die

Unterſuchung gegen den Dienſtboten allerdings gefährdet werden; allein

gegen dieſe Gefahr gewähre auch die Maaßregel des §. 404., wie eben

gezeigt worden, keinen ſicheren Schutz. Faktiſch ſtelle ſich indeß auch in

dieſer Hinſicht die Sache weniger bedenklich, als es ſcheine. Denn bei

weitem die meiſten Hausdiebſtähle kämen ohnehin nur durch die An-

zeige des Beſtohlenen zur Kenntniß der Obrigkeit, ſo daß es in ſeiner

Macht ſtehe, die Anzeige zu unterlaſſen und dadurch alle Betheiligten

zu ſchonen. Der gegenwärtige Antrag ſei übrigens ganz unabhängig

von dem noch vorbehaltenen definitiven Beſchluß über den §. 75. des

revidirten Entwurfs“ (§. 52. des Strafgeſetzbuchs.). n)

Die Staatsraths-Kommiſſion erklärte ſich mit dieſer Ausführung

n) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 150-52.

[439/0449]

§. 230. Begriff des Raubes.

einverſtanden, und der Entwurf von 1847. enthielt daher keine Beſtim-

mung über die Beſtrafung fremder Theilnehmer am Diebſtahle unter

Verwandten. Der Entwurf von 1850. §. 211., welcher nicht nur

gegen die Ehegatten, ſondern auch gegen die näher bezeichneten Ver-

wandten überhaupt keine Beſtrafung eintreten ließ, hatte dagegen den

Satz hinzugefügt:

„Dieſe Beſtimmung findet keine Anwendung auf andere Perſonen,

welche als Theilnehmer oder Hehler ſchuldig ſind.“

Für die Fälle des §. 228. iſt dieſe Beſtimmung beibehalten worden,

für die des neugebildeten §. 229. erſchien ſie aber überflüſſig, indem die

allgemeinen Grundſätze über die Theilnahme und die Strafanträge der

Verletzten (§§. 50-54.) hier maaßgebend ſein ſollten.

a. Wenn ein Ehegatte oder ein leiblicher Aſcendent im Fall des

§. 228. der Thäter iſt, ſo bleibt er freilich ſtraflos, gegen andere Theil-

nehmer wird aber eingeſchritten, als wenn jene Ausnahmebeſtimmung

gar keine Geltung hätte.

b. Iſt in einem Falle des §. 229. ein Strafantrag erhoben, ſo

kommt die Regel des §. 52. zur Anwendung. Es kann alſo nicht,

wenn mehrere Kinder den Vater, mehrere Pflegebefohlene den Erzieher

beſtohlen haben, auf die Beſtrafung des Einen angetragen werden,

ohne daß nicht die Unterſuchung auch gegen die anderen eingeleitet

würde.

c. Iſt kein Strafantrag erhoben worden, ſo tritt eine Verfolgung

und Beſtrafung der in §. 229. genannten Perſonen nicht ein; anderen

Theilnehmern kommt aber dieſe Begünſtigung nicht zu ſtatten. Es ſtellt

ſich dann die Sache ſo, wie ſie nach §. 228. ohne Rückſicht auf Straf-

anträge ſich verhält. Die Vorſchrift des §. 52. kommt hier nicht in

Betracht, da es ſich nicht von den Folgen der Anbringung eines Straf-

antrags handelt, ſondern von der Befreiung einzelner Perſonen von der

Unterſuchung, weil kein Strafantrag geſtellt worden iſt.

Neunzehnter Titel.

Raub und Erpreſſung.

§. 230.

Einen Raub begeht, wer mit Gewalt gegen eine Perſon, oder unter An-

wendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben,

eine fremde bewegliche Sache einem Anderen in der Abſicht wegnimmt, ſich

dieſelbe rechtswidrig zuzueignen.

[440/0450]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIX. Raub und Erpreſſung.

Wer, bei einem Diebſtahl auf friſcher That betroffen, gegen eine Perſon

Gewalt verübt oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben

anwendet, um ſich im Beſitze des geſtohlenen Gutes zu erhalten, iſt einem

Räuber gleich zu achten.

Ueber die verſchiedenen Beſtimmungen, welche ſich über den Begriff

des Raubes in den neueren Geſetzgebungen finden, enthält die amtliche

Schrift des Miniſteriums für die Geſetz-Reviſion folgende überſichtliche

Darſtellung: o)

„Der Raub iſt ſeinem Zwecke nach ein Verbrechen gegen das Ver-

mögen, nach ſeiner Ausführung, alſo nach dem zu jenem Zweck ange-

wendeten Mittel, ein Verbrechen gegen die Perſon. Dieſe doppelte

Natur hat bekanntlich in den Geſetzgebungen eine verſchiedene Auffaſſung

des Raubes veranlaßt. Einerſeits hat man ihn lediglich nach dem

Zwecke aufgefaßt und klaſſifizirt; ſo der Code pénal, welcher den Raub

unter den Diebſtählen aufführt, und die Gewaltthätigkeit nur als einen

Erſchwerungsgrund behandelt. Andererſeits hat man gerade umgekehrt

das Mittel, die Gewaltthätigkeit, als das Hauptmoment aufgefaßt; ſo

die meiſten neuern Strafgeſetzbücher, welche den Begriff des Raubes

lediglich in die zum Zwecke der Verwendung verübte Gewaltthätigkeit

legen (crimen vis in diebiſcher Abſicht), nach welcher Auffaſſung der

Raub mit der Gewaltthätigkeit vollendet iſt, und die hinzutretende wirk-

liche Entwendung nur als Schärfungsgrund erſcheint. Zwiſchen beiden

Auffaſſungen in der Mitte ſteht eine andere, welche zwar den Raub als

ein beſonderes, vom Diebſtahl verſchiedenes Verbrechen betrachtet, aber

die Handlung in ihrer Totalität, nach beiden Seiten ihrer Strafbarkeit,

auffaßt, und den Raub als gewaltthätige Entwendung erklärt, wonach

er auch erſt mit der wirklichen Entwendung vollbracht iſt. Dieſes iſt

die Auffaſſung des gemeinen Rechts, des §. 1187. Tit. 20. Th. II. des

Allg. Landrechts, und unter den neuern Geſetzgebungen des Württem-

bergiſchen Strafgeſetzbuchs, ſo wie des Badenſchen Entwurfs.“

p)

Der Entwurf von 1830. §. 367. hatte ſich dieſer Auffaſſung an-

geſchloſſen; aber der Entwurf von 1836. §. 568. war der in der

Mehrzahl der neueren Strafgeſetzbücher vertretenen Anſicht gefolgt. In

der Staatsraths-Kommiſſion und dem Staatsrathe fanden beide Auf-

faſſungen ihre Vertretung, während die des Code pénal faſt ohne

o) Reviſion von 1845. III. S. 25. 26.

p) Württemb. Strafgeſetzb. Art. 311. — Bad. Strafgeſetzb. §. 410.

— Das Thüringiſche Strafgeſetzbuch. Art. 152. hat wieder die entgegenſte-

hende Auffaſſung.

[441/0451]

§. 230. Begriff des Raubes

Unterſtützung blieb. q) Man entſchied ſich jedoch ſchließlich, bei dem

Entwurf von 1836. ſtehen zu bleiben, und alſo das Hauptgewicht auf

die bei dem Raube vorkommende Gewaltthätigkeit zu legen; in dieſem

Sinne wurde der Entwurf von 1843. redigirt:

§. 436. „Einen Raub begeht derjenige, welcher gegen eine Perſon

Gewalt verübt, oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib

oder Leben anwendet, um entweder einen Diebſtahl auszuführen, oder

um ſich, bei dem Diebſtahl betroffen oder auf friſcher That verfolgt,

im Beſitze des geſtohlenen Guts zu erhalten.“

„Das Verbrechen iſt vollendet, ſobald in der erwähnten Abſicht

Gewalt oder Drohung angewandt iſt.“

In dem Miniſterium für die Geſetz-Reviſion wurde jedoch in

Uebereinſtimmung mit mehreren Monenten die entgegenſtehende Anſicht

wieder aufgenommen.

„Nach dem Wortſinne,“ heißt es in der Reviſionsſchrift, r) „und

nach der Auffaſſung des Volks, denen ſich das Strafgeſetzbuch ſo viel

wie möglich anſchließen ſollte, beſteht der Raub gerade in der mit Ge-

waltthätigkeit gegen die Perſon ausgeführten Bemächtigung der Sache.

Der Entwurf hat dieſen wirklichen Begriff künſtlich geſpalten; er hat

für Raub erklärt, was nur der Anfang oder Verſuch des Raubes iſt.“

Die gemiſchte Natur des Verbrechens mache es aber nothwendig, die

Gewaltthätigkeit als das Mittel zum Zweck der beabſichtigten Entwen-

dung zu bezeichnen, die Handlung als Eine aufzufaſſen und die Durch-

führung der Abſicht in die Definition des Verbrechens aufzunehmen.

Das ſei auch bei den Verbrechen wider die perſönliche Freiheit und bei

der Nothzucht geſchehen. Der Grund, warum man früher anders ver-

fahren ſei, liege in der Anſicht, daß die Gewaltthätigkeit, das Verbrechen

gegen die Perſon, die ſtrafbare Seite des Raubes ſei. Dieſes laſſe

ſich jedoch nicht unbedingt behaupten. Die Gewaltthätigkeit könne ſo

unbedeutend und die Entwendung ſo erheblich ſein, daß das größere

Gewicht auf die letztere falle. In allen Geſetzgebungen werde in der

That auch bei Beſtimmung der Strafe des Raubes auf die diebiſche

Abſicht unverkennbar eine überwiegende Rückſicht genommen, wie ſich

daraus ergebe, daß die Strafe des Raubes ſo ungleich höher, als die

Strafe der Gewaltthätigkeit in andern Fällen beſtimmt werde. Es

erſcheine daher nicht konſequent, bei der Frage über die Vollendung des

Verbrechens die Ausführung jener Abſicht als etwas Unerhebliches zu

bezeichnen.

q) Berathungs-Protokolle. III. S. 367-69. — Protokolle des

Staatsraths, Sitzung vom 23. April 1842.

r) a. a. O. S. 26. 27.

Beſeler Kommentar. 29

[442/0452]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIX. Raub und Erpreſſung.

Der Entwurf von 1843. hatte es aber auch zum Raube gerechnet,

wenn die Gewalt oder die Drohungen von dem Thäter angewandt

werden, um ſich, bei dem Diebſtahle betroffen oder auf friſcher That

verfolgt, im Beſitze des geſtohlenen Guts zu erhalten. Auch dieſes

werde, bemerkt die Reviſionsſchrift a. a. O., von denſelben Monenten

getadelt, weil hier nicht ein Raub, ſondern eine Konkurrenz zweier be-

ſonderer Verbrechen, des Diebſtahls und der Gewaltthätigkeit, vorliege.

Richtig ſei es, daß man dieſen Fall, nach der ſprachlichen Bedeutung

des Worts, nicht eigentlich einen Raub nennen könne; er werde, ſofern

es bei dem Inhalte des Entwurfs verbleiben ſolle, in einem beſonderen

Paragraphen dem Raube nur gleichzuſtellen ſein. „Ferner iſt anzuer-

kennen, daß es zu weit führt, wenn auch die Gewaltthätigkeit des „auf

friſcher That verfolgten“ Diebes als Raub beſtraft werden ſoll. Nach

dieſem ſo unbeſtimmten Ausdrucke würden hierher auch Fälle gerechnet

werden müſſen, bei denen die Entwendung und die Gewaltthätigkeit

weit aus einander liegen. Die Beſtimmung muß auf den „beim Dieb-

ſtahl betroffenen“ Dieb beſchränkt werden. In dieſer Beſchränkung aber,

alſo für den Fall, daß der unmittelbar nach der Ergreifung (I. Ent-

wendung) am Orte der That betroffene Dieb die Sache nicht wieder

herausgeben will, ſondern mit Gewalt oder Drohung das Fortbringen

derſelben durchſetzt, muß die Beſtimmung des Entwurfs für ganz an-

gemeſſen erachtet werden, zumal der Dieb, welcher ſolcher Geſtalt den

Beſitz zu behaupten ſucht, in der Regel ſchon von vorn herein auf die

Gewalt gefaßt geweſen ſein wird. Die Handlung iſt hier ebenſo ſtraf-

bar, wie Raub und Erpreſſung. Daß die Gleichſtellung des eben an-

geführten Falles mit dem Raube für die Führung der Unterſuchung

bedeutende praktiſche Vortheile gewährt, bedarf kaum der Erwähnung,

indem ohne dieſe Gleichſtellung es bei jeder mit Gewaltthätigkeit ver-

bundenen Entwendung auf die äußerſt ſchwierige Ermittlung ankommen

würde, ob der Verbrecher im Augenblicke, als er Gewalt oder Drohung

ausübte, die Sache ſchon an ſich genommen hatte (was die Angeſchul-

digten immer behaupten würden), oder nicht.“

Auf Grund dieſer Bemerkungen wurde die Annahme folgender Be-

ſtimmungen vorgeſchlagen:

Rev. Entwurf von 1845. §. 265. „Einen Raub begeht der,

welcher mit Gewalt gegen eine Perſon oder unter Anwendung von

Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben aus der

Gewahrſam eines Anderen eine fremde bewegliche Sache in der Abſicht

wegnimmt, dieſelbe ſich rechtswidrig zuzueignen.“

„Der Raub iſt vollendet, ſobald der Thäter die Sache an ſich

genommen hat.“

[443/0453]

§§. 231-233. Strafen des Raubes.

§. 267. „Wer bei einem Diebſtahl auf friſcher That betroffen,

gegen eine Perſon Gewalt verübt, oder Drohungen mit gegenwärtiger

Gefahr für Leib oder Leben anwendet, um ſich im Beſitze des geſtoh-

lenen Guts zu erhalten, iſt gleich einem Räuber zu beſtrafen.“

Die Staatsraths-Kommiſſion trat dieſem Vorſchlage jedoch nicht

bei, s) und die Faſſung des Entwurfs von 1843. ging in den von

1847. §. 280. über. Der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß erklärte ſich

jedoch mit mehr als zwei Drittel der Stimmen für die im Entwurf

von 1845. vertretene Anſicht, t) und die Beſtimmungen deſſelben ſind

im Weſentlichen in das Strafgeſetzbuch aufgenommen, indem nur die

beiden Paragraphen in Einen zuſammen gezogen, und einige Aenderun-

gen in der Faſſung gemacht worden ſind, welche die Gleichſtellung der

Definition des Raubes mit der des Diebſtahls bezweckten.

I. Im Staatsrath wurde die Frage aufgeworfen, ob es denn

zum Thatbeſtande des Raubes erfordert werde, daß die Gewalt oder

Drohung gegen die Perſon desjenigen, dem die Sache gehöre, angewandt

werde; es wurde aber erwiedert, daß gerade durch die allgemeine Faſ-

ſung der Worte „gegen eine Perſon“ dieſe Anſicht ausgeſchloſſen ſei. u)

II. Ein gleichzeitig erhobener Einwand, daß man nicht von dem

Wegnehmen der Sache ſprechen könne, wenn der Bedrohte ſie ſelbſt

ausliefere, fand durch die Bemerkung ſeine Erledigung, daß das er-

zwungene Herausgeben gleichbedeutend ſei mit dem gewaltſamen Weg-

nehmen.

III. Das Verbrechen des Raubes iſt vollendet, wenn der Thäter

die Sache an ſich genommen hat; bis dahin liegen nur Verſuchshand-

lungen vor. Einer ausdrücklichen Beſtimmung hierüber bedurfte es nach

dem geſetzlich feſtgeſtellten Begriff des Raubes nicht. Solche Vor-

ſchriften über den Zeitpunkt, wo ein Verbrechen für vollendet zu halten

iſt, ſind für eine wiſſenſchaftliche Jurisprudenz in der Regel entbehrlich;

das Strafgeſetzbuch hat ſie überhaupt vermieden, und deswegen auch

den letzten Satz des §. 265. im Entwurf von 1845. weggelaſſen.

§. 231.

Der Raub wird mit Zuchthaus von fünf bis zu funfzehn Jahren, ſowie

mit Stellung unter Polizei-Aufſicht beſtraft.

§. 232.

Der wird mit Zuchthaus von zehn bis zu zwanzig Jahren, ſowie

mit Stellung unter Polizei-Aufſicht beſtraft:

s) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 154.

t) Verhandlungen, IV. S. 231-41.

u) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 23. April 1842.

29*

[444/0454]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIX. Raub und Erpreſſung.

1) wenn der Räuber oder einer der Räuber oder Theilnehmer am Raube

Waffen bei ſich führt;

2) wenn zu dem Raube zwei oder mehrere Perſonen als Urheber oder

Theilnehmer mitwirken, welche ſich zur fortgeſetzten Verübung von Raub

oder Diebſtahl verbunden haben;

3) wenn der Raub auf einem öffentlichen Wege oder Platze verübt wird.

§. 233.

Der Raub wird mit lebenslänglichem Zuchthaus beſtraft:

1) wenn der Räuber ſchon einmal wegen Raubes oder gewaltſamer Er-

preſſung durch einen Preußiſchen Gerichtshof rechtskräftig verurtheilt

worden iſt; der §. 60. findet hier keine Anwendung;

2) wenn bei dem Raube ein Menſch gemartert oder verſtümmelt, der

Sprache, des Geſichts, des Gehörs oder der Zeugungsfähigkeit beraubt,

oder durch Mißhandlung oder Körperverletzung in eine Geiſteskrankheit

verſetzt, oder länger als zwanzig Tage krank oder arbeitsunfähig ge-

worden iſt;

3) wenn bei dem Raube der Tod eines Menſchen durch Mißhandlung oder

Körperverletzung verurſacht iſt.

I. Die früheren Entwürfe hatten die Strafe des Raubes ſehr

hoch gegriffen, und das höchſte Maaß derſelben, auch wenn keine geſetz-

lichen Erſchwerungsgründe vorliegen, auf lebenslängliches Zuchthaus

feſtgeſetzt. Nur der Entwurf von 1845. wich auch in dieſer Beziehung

von dem bisher befolgten Syſteme ab, indem er im §. 266. Zuchthaus

von zwei bis zu zehn Jahren als die gewöhnliche Strafe des Raubes

anordnete. Es wurde namentlich mit Bezugnahme auf mehrere Mo-

nenten bemerkt, daß die lebenslängliche Zuchthausſtrafe ſich in dieſem

Fall nicht rechtfertige, und daß der Spielraum zwiſchen fünfjährigem

und lebenslänglichem Zuchthaus auch deswegen zu groß erſcheine, weil

dadurch bei Schwurgerichten der Uebelſtand herbeigeführt würde, daß die

Entſcheidung in zu überwiegendem Maaße dem Richterkollegium zufalle. v)

Indeſſen wurden dieſe Bemerkungen in den nächſtfolgenden Stadien der

Reviſion nicht beachtet, und erſt der Entwurf von 1850. nahm darauf

in ſoweit Rückſicht, als es im Geſetzbuch (§. 231.) ausgeſprochen iſt. w)

II. In folgenden Fällen tritt Zuchthaus von zehn bis zu zwanzig

Jahren ein (§. 232.).

a. Wenn der Räuber oder einer der Räuber oder ein Theilnehmer

am Raube Waffen bei ſich führt. Die Beſtimmung entſpricht genau

der, §. 218. Nr. 7. über den Diebſtahl mit Waffen aufgeſtellten.

v) Reviſion a. a. O. S. 27. 28.

w) Motive zum Entwurf von 1850. §. 212-15.

[445/0455]

§§. 231-233. Strafen des Raubes

b. Wenn der Raub durch eine Bande verübt worden iſt; vgl.

§. 218. Nr. 8. Noch der Entwurf von 1843. verfügte in dieſer Be-

ziehung:

§. 438. „Raub in Banden zieht lebenswierige Zuchthausſtrafe

nach ſich.“

„Iſt einer der Theilnehmer als Anführer aufgetreten, ſo trifft den-

ſelben die Todesſtrafe.“

Die Herunterſetzung der Strafe und namentlich die Ausſchließung

der Todesſtrafe iſt von dem Miniſterium für die Geſetz-Reviſion bean-

tragt worden. x)

c. Wenn der Raub auf einem öffentlichen Wege oder Platze

verübt wird. In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde der An-

trag geſtellt, dem Straßenraube den auf Waſſerſtraßen verübten Raub

gleichzuſtellen. Es wurde ein ſolcher Zuſatz jedoch eben ſo wenig für

nöthig gehalten, als in der Kommiſſion der erſten Kammer die beſondere

Qualifikation des Seeraubes. y)

III. Mit lebenslänglichem Zuchthaus wird der Raub beſtraft

(§. 233.)

a. wenn der Räuber ſchon einmal wegen Raubes oder gewalt-

ſamer Erpreſſung durch einen Preußiſchen Gerichtshof rechtskräftig ver-

urtheilt worden iſt.

1) Die Strafe tritt ſchon nach dem erſten Rückfall ein, ſo daß

hier alſo eine Steigerung nach der Zahl der Rückfälle, wie beim Dieb-

ſtahle, nicht ſtatt findet.

2) Dem Raube iſt wie überhaupt, ſo auch in Beziehung auf den

Rückfall die gewaltſame Erpreſſung gleichgeſtellt; unter dieſer Art der

Erpreſſung iſt die §. 236. bezeichnete zu verſtehen.

3) Die Straferhöhung wegen Rückfalls wird bei dem Raube durch

die §. 60. vorgeſchriebene Verjährung nicht ausgeſchloſſen.

b. Wenn bei dem Raube ein Menſch gemartert oder ihm eine

ſchwere Körperverletzung im Sinne des §. 193. zugefügt worden iſt.

c. Wenn bei dem Raube der Tod eines Menſchen durch Miß-

handlung oder Körperverletzung verurſacht iſt. Es wird hier voraus-

geſetzt, daß die Abſicht zu tödten nicht vorliegt; denn iſt dieſes der Fall,

ſo findet die Beſtimmung des §. 178. ihre Anwendung. z)

x) Reviſion von 1845. III. S. 28. Vgl. Berathungs-Protokolle

der Staatsraths-Kommiſſion. III. S. 371. — Protokolle des Staats-

raths, Sitzung vom 23. April 1842. — Bericht der Kommiſſion der erſten

Kammer zu §. 232.

y) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 214. (232.)

— Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ.

z) Reviſion a. a. O. S. 28. — Bericht der Kommiſſion der erſten

Kammer zu §. 233.

[446/0456]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XIX. Raub und Erpreſſung.

§. 234.

Wer, um ſich oder Dritten einen rechtswidrigen Vortheil zu verſchaffen,

einen Anderen zu einer Handlung oder Unterlaſſung dadurch zwingt oder zu

zwingen verſucht, daß er denſelben ſchriftlich oder mündlich mit der Verübung

eines Verbrechens oder Vergehens bedroht, macht ſich der Erpreſſung ſchuldig.

§. 235.

Die Erpreſſung wird mit Gefängniß nicht unter drei Monaten und zeitiger

Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte beſtraft. Der Schul-

dige kann zugleich unter Polizei-Aufſicht geſtellt werden.

Beſteht das angedrohte Verbrechen in Mord, Brandſtiftung oder Verur-

ſachung einer Ueberſchwemmung, ſo wird der Thäter mit Zuchthaus bis zu

fünf Jahren und Stellung unter Polizei-Aufſicht beſtraft.

§. 236.

Geſchieht die Erpreſſung durch Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für

Leib oder Leben, oder durch Gewalt gegen eine Perſon, ſo iſt der Thäter

gleich einem Räuber (§§ 231., 232., 233.) zu beſtrafen.

In den verſchiedenen Verhandlungen, welche bei der Reviſion des

Strafrechts über die Erpreſſung ſtattgefunden haben, iſt beſonders die

Frage erörtert worden, ob die Erpreſſung durch unerlaubte Mittel, worunter

man namentlich die Androhung von Civilklagen und Denunciationen ver-

ſtand, mit Strafe zu bedrohen ſei. Gegen die Aufſtellung einer ſolchen

Strafbeſtimmung wurde in der Staatsraths-Kommiſſion bemerkt, es laſſe

ſich freilich nicht leugnen, daß ſchon die Anſtellung gewiſſer Klagen, wie

z. B. der Alimentationsklagen, unter Umſtänden für die bürgerlichen

Verhältniſſe des Bedroheten ſehr nachtheilige Folgen haben könne; allein

hieraus ergebe ſich noch nicht, daß man die Drohung mit Anſtellung

einer Klage beſtrafen dürfe. Es ließen ſich immer nur zwei Fälle den-

ken. Entweder der Anſpruch ſei begründet; dann mache der Drohende

nur von ſeinem Rechte Gebrauch und er könne deshalb niemals zur

Strafe gezogen werden (A. L. R. Th. I. Tit. 4. §. 38.); oder der An-

ſpruch ſei unbegründet, dann werde der Ausgang der Sache den Un-

grund der Klage erweiſen und den Bedrohten in den Augen der Welt

rechtfertigen. Es komme noch hinzu, daß bei an und für ſich begrün-

deten Klagen die Grenzen zwiſchen dem erlaubten und dem unrecht-

mäßigen Gewinn ſehr ſchwer zu beſtimmen ſein würden. Namentlich

komme dies bei Klagen über Gegenſtände in Betracht, die nicht wohl

nach Gelde zu ſchätzen ſeien.

Für die entgegengeſetzte Anſicht wurde angeführt: „die Verfolgung

eines Rechts könne nicht weiter gehen, als das Recht ſelbſt. Wer da-

her jemanden mit Klagen bedrohe, wenn er ſeine Verbindlichkeit nicht

[447/0457]

§§. 234-236. Erpreſſung.

erfülle, begehe allerdings dadurch nichts Strafbares; er bediene ſich ſei-

nes Rechtes. Wer dagegen mit Klagen drohe, um dadurch etwas zu

erpreſſen, worauf er gar kein Recht habe, was die Verbindlichkeit des

Verpflichteten überſteige, der bediene ſich des Rechts in geſetzwidriger

Weiſe und werde allerdings ſtrafbar. Unter Umſtänden könne durch die

Anſtellung einer Klage die ganze bürgerliche Exiſtenz des Bedroheten

gefährdet werden, ſelbſt die Zurückweiſung der Klage ſei nicht immer ge-

nügend, um den üblen Eindruck zu tilgen oder die entſtandenen Nach-

theile wieder gut zu machen; der Bedrohte würde Alles aufbieten, um

der Anſtellung der Klage vorzubeugen. Benutze alſo jemand dieſe Ver-

hältniſſe, um unrechtmäßiger Weiſe einen ſo großen Gewinn als mög-

lich zu erpreſſen, ſo mache er ſich offenbar einer hohen Immoralität

ſchuldig, welche der Geſetzgeber nicht dulden dürfe. Nach dieſen Grund-

ſätzen ſei auch bis jetzt, der mangelhaften Beſtimmungen des Allg. Land-

rechts ungeachtet, a) in der Praxis verfahren worden, und gleiche Prin-

zipien ſeien in ſämmtlichen neueren Deutſchen Strafgeſetzbüchern

adoptirt.“

Die Staatsraths-Kommiſſion entſchied ſich für dieſe Anſicht; b) der

Staatsrath, welcher die Frage wieder zum Gegenſtand einer ſehr um-

faſſenden Erörterung machte, beſchloß zu unterſcheiden, und die Drohung

mit einer Denunciation oder Civilklage nur dann, wenn der Drohende

weiß, daß ſie unbegründet iſt, unter Strafe zu ſtellen. c) Dieſer Beſtimmung,

welche der Entwurf von 1843. §. 443. ausſprach, trat aber wieder

das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion nur in bedingter Weiſe bei,

indem es darauf aufmerkſam machte, daß Drohungen mit wiſſentlich

falſchen Denunciationen unter den allgemeinen Begriff der Drohungen

mit Verbrechen fielen. Was die Drohungen mit Civilklagen betreffe,

ſo müſſe dieſer Fall unter eine allgemeinere Beſtimmung befaßt werden,

indem es auszuſprechen ſei, daß Erpreſſung durch Androhung einer an

ſich nicht ſtrafbaren Handlung mit Gefängniß oder Strafarbeit bis zu

zwei Jahren beſtraft werde. d) Mit dieſer Anſicht erklärte die Staatsraths-

Kommiſſion ſich einverſtanden, e) und der Entwurf von 1847. §. 286.

erhielt demnach eine entſprechende Faſſung. Der vereinigte ſtändiſche

a) A. L. R. Th. II. Tit. 20. §. 1254. „Wer durch Concuſſionen einen An-

dern zu einem nachtheiligen Vertrage nöthigt, hat willkührliche Geld- oder Gefäng-

nißſtrafe verwirkt.“ — §. 1255. „Iſt Jemand durch Concuſſion genöthigt worden,

Gelder oder Sachen ohne Vergeltung zu geben, ſo iſt dergleichen Erpreſſung, nach

Maaßgabe der dazu gebrauchten Mittel, gleich einem Diebſtahle oder Raube zu be-

ſtrafen.“

b) Berathungs-Protokolle III. S. 373. 374.

c) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 4. Mai 1842.

d) Reviſion von 1845. III. S. 30. 31. — Rev. Entwurf von 1845.

§. 274.

e) Verhandlungen von 1846. S. 155.

[448/0458]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XX. Hehlerei.

Ausſchuß verwarf aber auf Antrag der vorberathenden Abtheilung dieſe

Beſtimmung und entſchied daher die Principienfrage im Sinne der Mi-

norität der Staatsraths-Kommiſſion und des Staatsraths verneinend. f)

Der Entwurf von 1850. folgte denſelben Grundſätzen, welche auch die

des Rheiniſchen Rechts ſind, g) und beſchränkte demgemäß den That-

beſtand der Erpreſſung ſo, wie das Geſetzbuch es feſtgeſtellt hat.

I. Die Erpreſſung geſchieht durch die mündliche oder ſchriftliche

Bedrohung mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens (§. 234.).

In dieſem Fall unterſcheidet ſich die Erpreſſung von dem verwandten

Vergehen der Nöthigung (§. 212.) nur durch die beſtimmte Abſicht

des Thäters; er will nämlich ſich oder einem Anderen einen rechts-

widrigen Vortheil verſchaffen. Daß durch die Worte „oder Dritten“

die Zuwendung des Vortheils an eine dritte Perſon in die Begriffs-

beſtimmung mit aufgenommen worden iſt, rechtfertigt ſich durch die Na-

tur des Vergehens. Beim Diebſtahl nämlich war dieſer Zuſatz, den die

früheren Entwürfe auch dort hatten, überflüſſig, weil der Dieb die

Sache ſich erſt ſelbſt zueignen muß, bevor er ſie einem Anderen zuwen-

den kann. Bei der Erpreſſung dagegen kann der Zwang verübt wer-

den, damit der Vortheil unmittelbar einem Dritten zugewandt werde. h)

II. Die Strafe der Erpreſſung, welche in den früheren Entwürfen

unverhältnißmäßig hoch geſetzt war, iſt gegenwärtig die des einfachen

Diebſtahls, wie dieſelbe in §. 217. mit einem Minimum von drei Mo-

naten feſtgeſtellt worden iſt; jedoch iſt die Berückſichtigung mildernder

Umſtände bei der Erpreſſung nicht zugelaſſen worden. Auch wird die

Strafe auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren und Stellung unter Polizei-

Aufſicht erhöht, wenn das angedrohte Verbrechen in Mord, Brandſtif-

tung oder Verurſachung einer Ueberſchwemmung beſteht. Es entſpricht

dieß der Straferhöhung, welche im Fall des §. 213. für den Landzwang

vorgeſchrieben iſt. i)

III. Geſchieht die Erpreſſung durch Drohungen mit gegenwärtiger

Gefahr für Leib oder Leben, oder durch Gewalt gegen eine Perſon, ſo

liegen die weſentlichen Bedingungen eines Raubes vor, und der Thäter

ſoll in dieſem Fall der gewaltſamen Erpreſſung (vgl. §. 233. Nr. 1.)

gleich einem Räuber beſtraft werden (§. 236.). — Der Entwurf von

1836. §. 589. hatte auch die Androhung einer Vermögensbeſchädigung

mit gegenwärtiger Gefahr zu der dem Raube gleichgeſtellten Erpreſſung

f) Verhandlungen. IV. S. 247. 248.

g) Code pénal. Art. 305-8.

h) Reviſion von 1845. III. S. 29.

i) Vgl. Code pénal. Art. 436.

[449/0459]

§§. 237-239. Thatbeſtand; Strafe.

gerechnet; aber die Staatsraths-Kommiſſion entſchied ſich mit Recht ge-

gen dieſe Ausdehnung des Erſchwerungsgrundes, bei welcher die wahre

Bedeutung deſſelben verkannt war. k)

Zwanzigſter Titel.

Hehlerei

§. 237.

Wer Sachen, von denen er weiß, daß ſie geſtohlen, unterſchlagen oder mit-

telſt anderer Verbrechen oder Vergehen erlangt ſind, ankauft, zum Pfande

nimmt oder verheimlicht, ingleichen wer Perſonen, die ſich eines Diebſtahls,

einer Unterſchlagung oder eines ähnlichen Verbrechens oder Vergehens ſchuldig

gemacht haben, in Beziehung auf das ihm bekannte Verbrechen oder Vergehen

um ſeines eigenen Vortheils willen begünſtigt, iſt mit Gefängniß nicht unter

Einem Monate und mit zeitiger Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen

Ehrenrechte zu beſtrafen; auch kann derſelbe zugleich unter Polizei-Aufſicht ge-

ſtellt werden.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo kann die

Strafe bis auf Eine Woche Gefängniß ermäßigt werden.

§. 238.

Wer Sachen, von denen er weiß, daß ſie von einem Raube oder einerdem

Raube gleich zu achtenden Erpreſſung (§. 236.) oder einem ſchweren Dieb-

ſtahle (§. 218.) herrühren, ankauft, zum Pfande nimmt oder verheimlicht, in-

gleichen wer Perſonen, die ſich eines der genannten Verbrechen ſchuldiggemacht

haben, in Beziehung auf das verübte und ihm bekannte Verbrechen um ſeines

eigenen Vortheils willen begünſtigt, iſt mit Zuchthaus bis zu zehn Jahrenund

Stellung unter Polizei-Aufſicht zu beſtrafen.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo iſt auf Ge-

fängniß nicht unter Einem Jahre, ſowie auf zeitige Unterſagung der Aus-

übung der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen.

§. 239.

Wer die Hehlerei (§§. 237. und 238.) gewohnheitsmäßig betreibt, ſoll mit

Zuchthaus bis zu funfzehn Jahren und Stellung unter Polizei-Aufſicht be-

ſtraft werden.

Während die früheren Entwürfe, namentlich der von 1843. §. 417.

bis 419. 431. 441. die Hehlerei an verſchiedenen Stellen in Verbin-

dung mit dem Diebſtahle, der Unterſchlagung und dem Raube abgehan-

k) Berathungs-Protokolle. III. S. 373.

[450/0460]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XX. Hehlerei.

delt hatten, war in dem Entwurfe von 1847. auf den Vorſchlag des

Miniſteriums für die Geſetz-Reviſion l) für die Hehlerei ein eigener Ti-

tel (16.) gebildet worden, in welchem die für dieſelbe geltenden Vor-

ſchriften überſichtlich zuſammengeſtellt waren. Es war dabei jedoch hin-

ſichtlich der Strafbeſtimmungen die Unterſcheidung feſtgehalten worden,

ob die verhehlten Sachen geſtohlen oder unterſchlagen ſind, oder ob ſie

von einem Raube oder einer gewaltſamen Erpreſſung herrühren.

Dieſe Auffaſſung hatte der Entwurf von 1850. verlaſſen, indem

er über die Hehlerei folgende allgemeine Beſtimmung enthielt:

§. 34. „Wer geraubte, geſtohlene, unterſchlagene oder mittelſt

eines anderen Verbrechens oder Vergehens erlangte Sachen ganz oder

zum Theil wiſſentlich verhehlt, wird mit derſelben geſetzlichen Strafe wie

der Thäter beſtraft.“

„Iſt das Verbrechen geſetzlich mit zeitiger oder lebenswieriger Zucht-

hausſtrafe oder mit der Todesſtrafe bedroht, ſo ſoll die Strafe des Heh-

lers in Zuchthaus von höchſtens zehn Jahren nebſt Stellung unter

Polizei-Aufſicht beſtehen.“

Dieſe dem Rheiniſchen Recht m) nachgebildete Vorſchrift fand aber

in der Kommiſſion der zweiten Kammer lebhaften Widerſpruch, und es

wurde beſchloſſen, im Weſentlichen zu den Beſtimmungen und dem Sy-

ſteme des Entwurfs von 1847. wieder zurückzukehren. Folgende Er-

wägungen waren dabei maaßgebend. n)

„Der Entwurf behandelt die Hehlerei als Theilnahme an denjeni-

gen Verbrechen oder Vergehen, wodurch ſich jemand auf rechtswidrige

Weiſe eine fremde Sache zueignet, und verweiſt folgeweiſe die desfall-

ſigen Beſtimmungen in den allgemeinen Theil (§. 34.). Er will im

Allgemeinen die Hehlerei mit denſelben Strafen belegt wiſſen, welche

dem Hauptverbrecher angedroht ſind, ohne zu unterſcheiden, ob dem Heh-

ler die beſonderen erſchwerenden Umſtände, unter denen die Haupthand-

lung begangen worden, bekannt geweſen ſind oder nicht. So ſoll bei-

ſpielsweiſe der Hehler mit der Strafe des Raubes belegt werden, wenn

die verhehlte Sache auch ohne ſein Wiſſen von einem ſolchen Verbre-

chen herrührt.“

„Die Kommiſſion findet dieſe Beſtimmung weder mit den Grund-

prinzipien des Strafrechts überhaupt, noch mit denen des Entwurfs

vereinbar; nach ihrer Anſicht muß vielmehr, wenn das Hauptverbrechen

unter beſonders erſchwerenden Umſtänden begangen iſt, die Anwendung

l) Reviſion von 1845. III. S. 1. 31.

m) Code pénal. Art. 62. 63.

n) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Tit. 18. A.

[451/0461]

§§. 237-239. Thatbeſtand; Strafe.

der dadurch verwirkten Strafe auf den Hehler, durch deſſen Wiſſenſchaft

von dieſen beſonderen Verhältniſſen bedingt ſein. Auch läßt ſich im

Uebrigen nicht verkennen, daß der §. 34. in das Syſtem des Entwurfs

nicht hineinpaßt. Der Letztere unterſcheidet zwei Klaſſen von Nebenper-

ſonen, welche in Beziehung auf Verbrechen oder Vergehen mitwirken,

nämlich eigentliche Theilnehmer, d. h. ſolche welche entweder als intel-

lektuelle Urheber der That zu betrachten ſind, oder welche dem Thäter

bei der Verübung des Verbrechens hülfreiche Hand leiſten (§. 34. des

Strafgeſetzbuchs), und ferner diejenigen, welche erſt nach bereits voll-

führten Verbrechen dem Thäter beiſtehen, um ihm die errungenen Vor-

theile zu ſichern, oder ihn der Beſtrafung zu entziehen (§. 37.). Auf

die Hehlerei laſſen ſich aber in der That weder die Grundſätze von der

Theilnahme an einem Verbrechen oder Vergehen, noch die von der Be-

günſtigung ſolcher Handlungen anwenden. Denn die Theilnahme ſetzt

eine Thätigkeit voraus, welche die Haupthandlung erſt vorbereitet oder

an der Ausführung derſelben unmittelbar mitwirkt, die Mitwirkung des

Hehlers tritt dagegen erſt nach Vollendung der That ein.“

„Die Begünſtigung ſoll nach der Theorie des Entwurfs lediglich

den Vortheil des Thäters bezwecken, wogegen der Hehler in der Regel

nur ſeinen eigenen Vortheil beabſichtigt. Die Hehlerei, beſonders die

gewerbsmäßig betriebene reizt zu Diebſtählen und ähnlichen Verbrechen

dadurch an, daß ſie denjenigen, welche dazu überhaupt geneigt ſind, ei-

nen ſicheren Verſteck für ihre Perſonen und die auf rechtswidrige Weiſe

erworbenen Sachen darbietet. Gerade der Hehlerei iſt daher die Ent-

ſtehung eines großen Theils der Verbrechen gegen das Eigenthum zu-

zuſchreiben. — Wenn ſich nun auch nicht beſtreiten läßt, daß zwiſchen

der Hehlerei und denjenigen Handlungen, wovon die verhehlten Gegen-

ſtände herrühren, eine Verbindung und Konnexität beſteht, ſo kann man

der erſteren doch im Vergleiche zu den letzteren keine untergeordnete

Stellung im Strafgeſetze anweiſen, ſie iſt vielmehr als ein ganz ſelbſt-

ſtändiges Verbrechen oder Vergehen zu behandeln, und zwar um ſo

mehr, weil nur unter dieſer Vorausſetzung der beſonders gefährlichen

gewohnheitsmäßigen Hehlerei eine entſprechende höhere Strafe angedroht

werden kann.“

„Aus dieſen Gründen hält es die Kommiſſion für angemeſſen, den

§. 34. im allgemeinen Theile wegfallen zu laſſen, und in dem beſonde-

ren Theile einen ſich auf die Hehlerei beziehenden Titel einzuſchalten.

Sie kann ſich zwar die Schwierigkeiten nicht verhehlen, welche nach den

jetzt beſtehenden Strafprozeß-Ordnungen ſich gegen die gemeinſchaftliche

Verfolgung der Hehlerei und des damit in Verbindung ſtehenden Ver-

brechens erheben können, ſie glaubt jedoch, daß dieſen Uebelſtänden durch

[452/0462]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XX. Hehlerei.

die zu erwartende neue Strafprozeß-Ordnung und bis zu deren Ema-

nation durch eine entſprechende Beſtimmung in dem Einführungsgeſetze,

womit dieſer Entwurf publizirt werden wird, begegnet werden kann.“ o)

I. Die Hehlerei theilt ſich wie der Diebſtahl, nach deſſen Vorbilde

ſie überhaupt behandelt worden iſt, in die einfache und die ſchwere

(§. 240.); von der erſteren handelt §. 237., von der letzteren §. 238.

Der Begriff der einfachen Hehlerei iſt aber dadurch weſentlich erweitert

worden, daß nach dem Vorgange des Rheiniſchen Rechts noch andere

Verbrechen und Vergehen als Diebſtahl und Unterſchlagung die Veran-

laſſung dazu geben können. Fragt man, welche Delikte außer den ge-

nannten hier gemeint ſein können, ſo ſind in Beziehung auf die Perſo-

nen, welche verhehlt werden, nur die dem Diebſtahle und der Unter-

ſchlagung ähnlichen Verbrechen in der allgemeinen Beſtimmung des

§. 237. genannt worden. Außer den nach §. 238. hinzutretenden Ver-

brechen iſt namentlich auf die Falſchmünzerei und den Betrug hinzu-

weiſen.

II. Die Hehlerei kann in zwiefacher Weiſe begangen werden, nämlich:

a) in Beziehung auf die Sachen, welche vermittelſt des Verbre-

chens oder Vergehens erlangt ſind, und

b) in Beziehung auf die Perſonen, welche das Verbrechen oder

Vergehen verübt haben.

In beiden Fällen iſt der Dolus des Hehlers weſentliche Voraus-

ſetzung des Thatbeſtandes; er muß gewußt haben, daß die Sachen ge-

ſtohlen u. ſ. w. waren, und das Verbrechen oder Vergehen, derentwegen

er den Perſonen Hülfe zukommen läßt, muß ihm bekannt geweſen ſein.

In letzter Hinſicht iſt auch das Merkmal angeführt worden, durch wel-

ches ſich die Hehlerei von der Begünſtigung (§. 37.) unterſcheidet.

Dieſe geſchieht des Thäters wegen, der Hehler handelt um ſeines eige-

nen Vortheils willen. Bei der Hehlerei von Sachen iſt dieſes Mo-

ment nicht beſtimmt hervorgehoben; denn wenn es auch in dem Ankau-

fen und zum Pfande nehmen ausgedrückt iſt, ſo liegt es doch nicht in

dem allgemeinen Zuſatz „Verheimlichen“. Nach dem Sprachgebrauche

und nach dem Syſteme des Geſetzbuchs über den ſtrafrechtlichen Dolus

iſt aber anzunehmen, daß auch in dieſem Fall der Zweck des Hehlers

auf den eigenen Vortheil gerichtet ſein muß. Das Miniſterium für die

Geſetz-Reviſion hat dieſe Anſicht für ſo unzweifelhaft richtig gehalten,

daß es ihm keiner ausdrücklichen geſetzlichen Beſtimmungen darüber zu

bedürfen ſchien. p)

o) Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. XXI.

p) Reviſion von 1845. III. S. 32.

[453/0463]

§§. 237-239. Thatbeſtand; Strafe.

„Die Bemerkung von Schwarze, daß auch die Annahme von

Sachen lediglich zur Begünſtigung der Perſon geſchehen könne, z. B.

wenn jemand die von einem Bruder geſtohlene Sachen nur zur Rettung

des verfolgten Thäters aufnehme, iſt zwar richtig; es wird aber auch

nicht zweifelhaft ſein, daß ein ſolcher Fall als bloße Begünſtigung der

Perſon zu betrachten, und deshalb mit der Strafe der Hehlerei nur zu

belegen iſt, wenn eigenes Intereſſe dabei obgewaltet hat.“

Der Begriff der Hehlerei findet alſo in den allgemeinen Regeln

über den Thatbeſtand der Begünſtigung ſeine Beſchränkung. Aus dem-

ſelben Grunde wird aber auch anzunehmen ſein, daß, wenn der Hehler

vor der Verübung des Verbrechens oder Vergehens dem Thäter ſeinen

Beiſtand zugeſagt hat, die Regel des §. 38. zur Geltung kommt, und die

allgemeinen Grundſätze über die Theilnahme Anwendung finden können.

III. Die Strafe der einfachen Hehlerei iſt die des einfachen Dieb-

ſtahls; auch kommen dabei die mildernden Umſtände in derſelben Weiſe

in Betracht (§. 216.). Ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen der Be-

handlung beider Delikte beſteht nur darin, daß der Verſuch der Hehlerei

nicht unter Strafe geſtellt worden iſt.

IV. Die ſchwere Hehlerei liegt dann vor, wenn die verhehlten

Sachen von einem Raube oder einer gewaltſamen Erpreſſung (§. 236.)

oder einem ſchweren Diebſtahle (§. 218.) herrühren, oder die Perſonen,

denen Vorſchub geleiſtet wird, ſich eines der genannten Verbrechen ſchul-

dig gemacht haben (§. 238.). Der ſchwere Diebſtahl war in den frü-

heren Entwürfen nicht in dieſe Kategorie geſtellt worden, indem man

annahm, daß dem Hehler die erſchwerenden Umſtände nicht vollſtändig

zugerechnet werden könnten, wenn auch bei der Strafzumeſſung darauf

Rückſicht zu nehmen ſei. Allein es läßt ſich nicht einſehen, warum

nicht die Kenntniß von den erſchwerenden Umſtänden eines Diebſtahls,

welche denſelben zu einem Verbrechen qualifiziren, ebenſogut die Strafe

der Hehlerei ſollte erhöhen können, wie die Kenntniß von einem Raube

oder einer gewaltſamen Erpreſſung. q) Wenn dagegen als Grund an-

geführt worden iſt, der Hehler als ſolcher habe nicht ſchon vor der

That ſeine Begünſtigung zugeſagt, und ſeine Theilnahme beziehe ſich

hauptſächlich auf die Sicherung des rechtswidrigen Erfolgs eines ſchon

verübten Verbrechens, r) ſo beweiſt das zu viel; denn das würde ſich

gegen die Qualifikation der Hehlerei, welche in Folge eines Raubes

begangen worden, mit demſelben Rechte anführen laſſen, und bei der

q) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O. — Be-

richt der Kommiſſion der erſten Kammer zu Tit. 20.

r) Reviſion a. a. O.

[454/0464]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XX. Hehlerei.

gewaltſamen Erpreſſung liegt die Sache genau ſo, wie bei dem ſchwe-

ren Diebſtahle.

Die Strafe der ſchweren Hehlerei iſt der des ſchweren Diebſtahls

(§. 218.) gleichgeſetzt worden.

V. Eine beſondere Beſtimmung findet ſich noch über die Hehlerei,

welche gewohnheitsmäßig betrieben wird (§. 239.). Liegt eine ſolche

vor, ſo ſoll es nicht auf die Beſchaffenheit der Verbrechen oder Verge-

hen ankommen, welche zu den einzelnen Handlungen der Hehlerei Ver-

anlaſſung gegeben haben; es tritt vielmehr immer Zuchthausſtrafe bis

zu funfzehn Jahren und Stellung unter Polizei-Aufſicht ein.

In dem Entwurf von 1843. war für die Beſtimmung noch eine

andere Faſſung gewählt; es hieß nämlich:

§. 418. „Wer aus der Verhehlung geſtohlener Sachen oder der

Begünſtigung von Dieben ein Gewerbe macht, hat Zuchthaus-

ſtrafe bis zu fünf Jahren verwirkt.“

„Als gewerbmäßiger Hehler wird derjenige angeſehen, welcher

das Verbrechen mehr als zweimal begangen hat.“

Später wurde beſchloſſen, um ſich dem Rheiniſchen Rechte anzu-

nähern, bei der Hehlerei und dem Wucher ſtatt „gewerbmäßig“ den

Ausdruck „gewohnheitsmäßig“ zu gebrauchen. s) Der Sinn beider Worte

iſt in dieſem Zuſammenhange im Weſentlichen derſelbe, wenigſtens nach

der im Strafgeſetzbuch angewandten Terminologie. Denn wenn man

die oben (S. 214. Note f.) angeführten Stellen vergleicht, ſo wird ſich

kein Unterſchied in der Bedeutung beider Ausdrücke mit Beſtimmtheit

angeben laſſen. Namentlich wird bei der gewerbsmäßigen Verübung von

Verbrechen, im Gegenſatz zu der gewohnheitsmäßigen, die eigennützige

Abſicht nicht ausſchließlich vorausgeſetzt, wie gerade die Beiſpiele von

der Hehlerei und dem Wucher deutlich beweiſen. Die bloße Wieder-

holung deſſelben Verbrechens oder Vergehens macht aber auch noch nicht

das Weſen der gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Verübung aus,

wenn ſie auch zunächſt ein Kennzeichen, und oft das einzige ſichere

Kennzeichen derſelben iſt. Die Wiederholung derſelben verbrecheriſchen

Handlungen in einer gewiſſen Regelmäßigkeit, wenigſtens in nicht zu

langen Zwiſchenräumen, die Verknüpfung derſelben mit dem ganzen Le-

ben und Treiben des Thäters iſt als das weſentliche Merkmal einer

ſolchen Verübung zu bezeichnen. Mit Recht iſt daher die Beſtimmung

des Entwurfs von 1843., daß derjenige als gewerbsmäßiger Hehler an-

geſehen werden ſoll, welcher das Verbrechen mehr als zweimal begangen

s) Fernere Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1847.

S. 14. 21.

[455/0465]

§. 240. Rückfall.

hat, — ſpäter aufgegeben worden. „Es kann ein ſo langer Zeitraum

zwiſchen den einzelnen Verbrechen liegen, und zur Begehung derſelben

ſo manche eigenthümliche Veranlaſſung obwalten, daß aus einem drei-

maligen Verüben des Verbrechens nicht auf die Abſicht, auf ſolche Weiſe

einen regelmäßigen Erwerb zu ſuchen, geſchloſſen werden kann. Man

überläßt die Entſcheidung dieſer Frage am zweckmäßigſten der Beurthei-

lung des Richters.“ t)

„Bei der Beſtimmung der Strafe für die gewerbmäßige Hehlerei“,

heißt es a. a. O. weiter, „wird nicht zwiſchen den verſchiedenen Arten

der begünſtigten Verbrechen zu unterſcheiden ſein. Es würde dies zu

einer großen Kaſuiſtik führen; auch iſt hiezu in der That kein eigent-

licher Grund vorhanden, da die höhere Strafbarkeit hauptſächlich in der

gewerbmäßigen (gewohnheitsmäßigen) Verübung des Verbrechens liegt.

Ueberdies wird ſich die Sache in der Wirklichkeit ſo geſtalten, daß der

gewerbmäßige Hehler Sachen jeder Art, mögen ſie nun von einem ein-

fachen Diebſtahle, einem ſchweren Diebſtahle oder einem Raube her-

rühren, verhehlt.“

Das Strafmaaß des §. 239. iſt bereits von der Staatsraths-

Kommiſſion feſtgeſtellt worden.

§. 240.

Wer bereits zweimal oder mehrere Male rechtskräftig durch einen Preußi-

ſchen Gerichtshof wegen Hehlerei verurtheilt worden iſt, ſoll, wenn er ſich von

Neuem der einfachen Hehlerei (§. 237.) ſchuldig macht, mit Zuchthaus bis zu

funfzehn Jahren, und wenn er ſich der ſchweren Hehlerei (§. 238.) ſchuldig

macht, mit Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig Jahren, ſowie in beiden Fäl-

len mit Stellung unter Polizei-Aufſicht beſtraft werden.

Die Straferhöhung tritt nicht ein, wenn ſeit dem Zeitpunkte, an welchem

die Strafe des zuletzt begangenen früheren Verbrechens oder Vergehens abge-

büßt oder erlaſſen worden iſt, zehn Jahre verfloſſen ſind.

Weder der Rückfall, noch die gewohnheitsmäßige Verübung eines

Verbrechens iſt ohne die Wiederholung deſſelben denkbar; inſofern findet

alſo in beiden Fällen dieſelbe thatſächliche Vorausſetzung ſtatt. Soll

aber angenommen werden können, daß ein Verbrechen gewohnheitsmäßig

betrieben worden iſt, ſo muß, wie ſo eben gezeigt worden, eine gewiſſe

Beziehung zwiſchen den verſchiedenen Handlungen vorliegen, welche nicht

als vereinzelte Akte erſcheinen, ſondern mit dem ganzen Leben und Trei-

ben des Verbrechers zuſammen hängen; bei dem Rückfall kommt es

t) Reviſion a. a. O. S. 32. 33.

[456/0466]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XX. Hehlerei.

dagegen nur darauf an, daß der Thäter bereits früher wegen deſſelben

Verbrechens oder Vergehens durch einen Preußiſchen Gerichtshof rechts-

kräftig verurtheilt worden iſt. Beide Fälle haben daher nicht dieſelbe

Bedeutung, wenn ſie ſich auch in mancher Hinſicht berühren, und na-

mentlich wird es ſich nicht ſelten ereignen, daß die geſetzlichen Bedin-

gungen eines Rückfalls vorliegen, ohne daß eine gewohnheitsmäßige

Hehlerei nachgewieſen iſt, und umgekehrt. In dem Begriff beider Er-

ſchwerungsgründe liegt alſo keine Veranlaſſung, ſie nicht neben einander

im Geſetzbuch aufzuführen, und das praktiſche Bedürfniß weiſt gerade

auf dieſe Zuſammenſtellung hin. u) Sollte es ſich aber einmal finden,

daß beide Erſchwerungsgründe gleichzeitig bei demſelben Angeſchuldigten

vorliegen, ſo wird dieß nur auf die Strafzumeſſung von Einfluß ſein,

und nicht eine Steigerung der geſetzlichen Strafe herbeiführen können.

Gegen ein Zuſammenrechnen der Strafen ſpricht das bei der idealen

Konkurrenz von Verbrechen befolgte Prinzip und die Regel über das

Zuſammentreffen mehrerer erſchwerender Umſtände bei dem Diebſtahle,

ſo wie bei dem Rückfall vermittelſt ſchwerer Hehlerei die allgemeine Be-

ſtimmung des §. 10. über die Dauer der zeitigen Zuchthausſtrafe.

Der Rückfall bei der Hehlerei iſt nun genau ſo, wie bei dem

Diebſtahle behandelt, und die etwas verwickelten Beſtimmungen des

Entwurfs von 1847. §. 291. 292. ſind dadurch weſentlich vereinfacht

worden.

I. Der erſte Rückfall wird nach den allgemeinen Grundſätzen des

Strafgeſetzbuchs (§§. 58-60.) beurtheilt; dieſelben kommen auch ſonſt

zur Anwendung, inſofern für die Hehlerei keine Ausnahme vorgeſchrie-

ben iſt.

II. Liegt ein zweiter oder weiterer Rückfall vor, ſo kommt es auf

die Beſchaffenheit der früher abgeurtheilten Fälle nicht mehr an; iſt

von Neuem eine einfache Hehlerei begangen worden, ſo tritt Zucht-

haus von zwei bis zu funfzehn Jahren, und im Fall einer ſchweren

Hehlerei Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig Jahren ein. In beiden

Fällen ſoll zugleich auf Stellung unter Polizei-Aufſicht erkannt werden.

u) Die in der Reviſion a. a. O. S. 33. angeregten Bedenken gegen eine

ſolche Zuſammenſtellung fanden auch keine weitere Zuſtimmung; f. Verhandlun-

gen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 156.

[457/0467]

§. 241. Begriff des Betrugs.

Einundzwanzigſter Titel.

Betrug.

§. 241.

Wer in gewinnſüchtiger Abſicht das Vermögen eines Anderen dadurch be-

ſchädigt, daß er durch Vorbringen falſcher oder durch Entſtellen oder Unter-

drücken wahrer Thatſachen einen Irrthum erregt, begeht einen Betrug.

Ueber die Behandlung des Betrugs im Strafrecht haben ſich in

den verſchiedenen Geſetzgebungen zwei von einander abweichende Anſich-

ten geltend gemacht. Das Allgemeine Landrecht (Th. II. Tit. 20.

§. 1256-68.) hat auf Grund des gemeinen Deutſchen Kriminalrechts

den Betrug ganz im Allgemeinen als Verbrechen betrachtet und unter

Strafe geſtellt, und die neueren Deutſchen Strafgeſetzbücher haben, wenn

auch mit manchen Abweichungen im Einzelnen, denſelben Weg einge-

ſchlagen. a) Der Code pénal dagegen hat ſich begnügt, einzelne Arten

der betrüglichen Vermögensbeſchädigung hervorzuheben und mit Strafe

zu bedrohen. b) Die Frage, welche von dieſen beiden Anſichten den

Vorzug verdiene, wurde in den erſten Stadien der Reviſion Gegenſtand

wiederholter Erörterungen, die ſich in den Protokollen der Staatsraths-

Kommiſſion in folgender Weiſe zuſammengefaßt finden:

„Der Reviſor und mehrere Mitglieder der früheren Reviſions-Kom-

miſſion haben ſich für die letztere Alternative (des Franzöſiſchen Rechts)

entſchieden. Zur Begründung dieſer Anſicht haben dieſelben bemerkt,

daß der Betrug an ſich bloß Mittel zum Verbrechen und nicht Verbre-

chen ſelbſt ſei. Der Betrug ſei nichts weiter, als die Art und Weiſe,

einen Andern zu täuſchen, ihn etwas für wahr halten zu laſſen, was

es nicht ſei; daher liege im Betruge an ſich keine Rechtsverletzung, in-

ſofern man nicht ein Recht auf Wahrheit annehme; eine ſolche Fiktion

ſei aber dem natürlichen Umfange des Rechts, als einer vernünftig er-

zwingbaren Nothwendigkeit zuwider. So wenig daher der Betrug im

Allgemeinen, als eine bloße Form zur Verübung von Rechtsverletzun-

gen, an und für ſich, ein Verbrechen ſei, ſo wenig könne auch jede durch

a) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 245. 246. — Württemberg. Straf-

geſetzb. Art. 351. — Hannov. Criminalgeſetzb. Art. 308. — Braunſchweig.

Criminalgeſetzb. §. 224. — Heſſiſches Strafgeſetzbuch Art. 391. — Ba-

diſches Strafgeſetzbuch §. 450. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 236.

b) Code pénal. Livre III. Tit. II. Sect. II. Banqueroutes, Escroque-

ries et autres espèces de Fraude. Art. 402-33.

Beſeler Kommentar. 30

[458/0468]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXI. Betrug.

ihn verübte Vermögensverletzung für ſtrafbar erachtet werden. Die Rich-

tigkeit dieſes Satzes ergebe ſich daraus, daß entgegengeſetztenfalls eine

große Anzahl im gewöhnlichen Lebensverkehr vorkommender täuſchender

Handlungen zum Verbrechen geſtempelt werden würden. Eine ſolche

allgemeine Begriffsbeſtimmung greife in alle Vertragsverhältniſſe ein,

jede redhibitoriſche Klage, jede actio quanti minoris müſſe auch Strafe

nach ſich ziehen. Daß eine Rechtsverletzung vorhanden ſei, bedinge noch

nicht die Strafe, ſondern nur Entſchädigung. Jede Strafe ſei ein Uebel,

zu deſſen Anwendung der Staat erſt berechtigt werde, wenn eine Hand-

lungsweiſe die Rechtsſicherheit angreife, und nicht durch andere Mittel

abgewandt werden könne. Das Hintergehen habe nicht einmal immer

civilrechtliche Folgen. Es bedürfe noch weniger überall des Strafrechts,

ſondern es gebe andere Auswege zur Genugthuung und Verhütung:

geſetzliche Vermuthungen und liberale Gewährung des Schadenerſatzes.“

„Demgemäß war vom Reviſor in Uebereinſtimmung mehrerer Mit-

glieder der Reviſions-Kommiſſion vorgeſchlagen worden, keine generelle

Strafbeſtimmung über den Betrug aufzunehmen, ſondern nur einzelne

Arten des Betrugs, nämlich den Betrug durch Mißbrauch der Religion,

durch Benutzung des Aberglaubens und durch Fälſchung, ſo wie den

Betrug der Vormünder, der Bevollmächtigten, der Verſicherer und Ver-

ſicherten, der Geſellſchaften und Miteigenthümer, der Privatbeamten und

des Geſindes u. ſ. w. unter Strafe zu ſtellen. — Allein in beiden Ju-

ſtizminiſterial-Entwürfen hat man ſich für die Aufnahme einer generellen

Beſtimmung über das Verbrechen des Betruges entſchieden, c) weil man

die Aufſtellung ſpezieller Vorſchriften nicht für ausreichend und erſchöpfend

erachtet hat.“

„Bei der heutigen Berathung verkannte man die Schwierigkeiten

nicht, welche der Aufſtellung einer allgemeinen Begriffsbeſtimmung des

Betrugs entgegentreten und welche darin beſtehen, daß ſich die weſent-

lichen Merkmale des ſtrafbaren Betruges nicht erſchöpfend angeben

laſſen, indem das hauptſächliche Merkmal, die vorſätzliche Täuſchung,

auf der einen Seite allerdings in eine unbedenklich ſtrafbare Verſchmizt-

heit und Liſt übergeht, auf der andern Seite aber ſich in civilrechtliche

Geſchäfte aller Art verliert, mit denen man nicht einmal immer civil-

rechtliche Folgen, vielweniger aber Strafen verbinden kann, ohne das

Weſen des täglichen Verkehrs zu verletzen. Indeſſen fand man es doch

bedenklich, den allgemeinen Begriff von Betrug aus den Strafvorſchrif-

ten wegzulaſſen, weil ſonſt bei Aufſtellung blos ſpezieller Betrugsſtrafen

nothwendig Lücken entſtehen würden.“

c) Entwurf von 1830. §. 395-401. — Entwurf von 1836. §. 608-15.

[459/0469]

§. 241. Begriff.

„Zur näheren Entwickelung dieſer Anſicht wurde Folgendes be-

merkt: das Franzöſiſche Strafgeſetzbuch habe es verſucht, die Fälle des

ſtrafbaren Betruges zu ſpezialiſiren; allein es habe daſſelbe bekanntlich

in der Anwendung ſtets Schwierigkeiten gefunden. Dagegen laſſe ſich

dies von den Beſtimmungen des Landrechts, ſo vage und ſchwankend

dieſelben auch ſeien, nicht in gleichem Maaße behaupten. Die Anträge

der Gerichte, welche dieſelben bei Einleitung der Reviſion abgegeben,

ſeien nicht ſowohl darauf gerichtet, die Fälle des ſtrafbaren Betruges

ſpeziell hervorzuheben, als vielmehr hauptſächlich darauf, anſtatt der

ganz ungeeigneten poena dupli eine andere und ſchwerere Strafe zu

beſtimmen. Im Allgemeinen werde man bei der Beurtheilung dieſes

Verbrechens ſehr viel dem vernünftigen Ermeſſen der Gerichte überlaſſen

müſſen. Es könne ſich nur darum handeln, gewiſſe Anhaltspunkte für

daſſelbe aufzuſtellen. In dieſer Hinſicht werde es aber genügen, wenn

man den Begriff des Betrugs auf die argliſtige Täuſchung beſchränke.

Denn dadurch werde angedeutet, daß nicht jede Täuſchung, nicht jede

im gewöhnlichen Leben vorkommende unrichtige Empfehlung einer Sache

als ſtrafbarer Betrug betrachtet werden ſolle.“ d)

In Folge dieſer Erörterungen erklärte ſich die Staatsraths-Kom-

miſſion mit der Aufſtellung einer allgemeinen Begriffsbeſtimmung des

Betruges einverſtanden, und dieſelbe iſt auch in den ſpäteren Stadien

der Reviſion aufrecht erhalten worden, wenn gleich im Einzelnen noch

manche Aenderungen vorgenommen worden ſind. Der Entwurf von

1830. hatte nämlich den Betrug alſo definirt:

§. 395. „Wer des Vortheils wegen durch vorſätzliche Veranlaſ-

ſung eines Irrthums Jemanden zum Nachtheile ſeines Rechts am Ver-

mögen beſchädigt, iſt des Betruges ſchuldig.“

In dem Entwurf von 1836. war der Begriff aber weſentlich er-

weitert worden, denn die Vorſchrift lautete hier:

§. 608. „Wer mit der Abſicht, ſich oder Dritten einen Vermögens-

oder andern Vortheil zu verſchaffen oder auch nur einem Andern zu

ſchaden, unter Veranlaſſung oder Benutzung eines Irrthums des letztern,

eine Handlung begeht, wodurch die Rechte deſſelben gekränkt werden

ſollen, macht ſich, auch wenn daraus kein Schaden wirklich entſtanden

iſt, des Betruges ſchuldig.“

An die in dieſen beiden Faſſungen enthaltenen Gegenſätze haben

ſich die weiteren Verhandlungen angeknüpft, welche zuletzt zu der im

Strafgeſetzbuch aufgeſtellten Begriffsbeſtimmung führten.

d) Berathungs-Protokolle. III. S. 393-95. Vgl. Motive zum erſten

Entwurf. IV. S. 174 ff.

30*

[460/0470]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXI. Betrug.

I. Zunächſt entſtand die Frage, ob der ſtrafbare Betrug ſeinem

Gegenſtande nach nur auf die Beſchädigung des Vermögens zu be-

ſchränken ſei, wie das Allg. Landrecht es thut, oder ob auch die Ver-

letzung perſönlicher Rechte darunter zu befaſſen ſei. Die Staatsraths-

Kommiſſion, welche annahm, daß das gemeine Deutſche Kriminalrecht

den Betrug auch in der weiteren Bedeutung unter Strafe ſtelle, e) ent-

ſchied ſich für dieſe letztere Anſicht, indem ſie in Uebereinſtimmung mit

dem Entwurf von 1836. davon ausging, daß der Verluſt perſönlicher

Rechte den Betrogenen in gleichem, wenn nicht höherem Grade verletze,

daß eine ſpezielle Erwähnung der einzelnen, hier denkbaren Fälle nicht

möglich ſei und daß hiernach das Geſetz unvollſtändig erſcheine, wenn

es nur den Betrug am Vermögen beſtrafe. f) Auch der Staatsrath bil-

ligte dieſe Auffaſſung; Rechtsverletzungen, wie z. B. die Herbeiführung

einer ehelichen Verbindung durch argliſtige Täuſchungen über die Eigen-

ſchaften und Verhältniſſe der Perſonen, dürften nicht ſtraflos bleiben. g)

Später aber ging die Staatsraths-Kommiſſion zu der entgegengeſetzten

Anſicht über, und beſchloß den Begriff des ſtrafbaren Betrugs auf Ver-

mögensbeſchädigungen zu beſchränken. Die bisher aufgeſtellte Definition

ſei ſo allgemein, daß man die mannichfachſten und verſchiedenartigſten

Verbrechen, welche weder die bisherige Geſetzgebung, noch die öffentliche

Meinung unter Betrug ſubſumirt hätten, darunter begreifen könne. h)

II. Die Staatsraths-Kommiſſion hatte einen ſtrafbaren Betrug

ſchon angenommen, wenn nur die Abſicht zu ſchaden vorliege, ohne daß

der Betrüger einen Vortheil von ſeiner Handlungsweiſe erwarte. Im

Staatsrathe wurde dagegen die Anſicht vertreten, daß zum Weſen des

Betrugs die gewinnſüchtige Abſicht gehöre; wer einen Anderen bloß in

der Abſicht, ihm zu ſchaden, in einen Irrthum verſetze, könne ſich zwar

einer ſtrafbaren Handlung, namentlich des Verbrechens der Vermögens-

beſchädigung ſchuldig machen, aber als Betrug ſei dieſelbe nicht zu ahn-

den. Der Staatsrath ging nun freilich auf dieſe Anſicht nicht ein, in-

dem er annahm, daß der Umſtand, ob der Betrüger einen Vortheil für

ſich beabſichtige, unerheblich ſei und den Thatbeſtand des Verbrechens

nicht ändere; i) aber die Staatsraths-Kommiſſion gab auch in dieſer

Beziehung ihre frühere Anſicht auf, und erklärte die gewinnſüchtige Ab-

ſicht für ein weſentliches Merkmal des ſtrafbaren Betrugs. k)

e) Dieß iſt aber doch zum Mindeſten beſtritten; vgl. Mittermaier zu Feuer-

bach's Lehrbuch §. 410-15.

f) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 395.

g) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 7. Mai 1842.

h) Verhandlungen von 1846. S. 157-59.

i) a. a. O. Sitzung vom 4. und 7. Mai 1842.

k) Verhandlungen von 1846. a. a. O.

[461/0471]

§. 241. Begriff.

III. Zur Bezeichnung des beſonderen Dolus bei dem Betruge hatte

die Staatsraths-Kommiſſion, um dem richterlichen Ermeſſen eine gewiſſe

Leitung zu geben, den Ausdruck „argliſtig“ gewählt, ſo daß es in der

Definition (Entwurf von 1843. §. 448.) hieß: „Wer — — Jemanden

argliſtiger Weiſe in einen Irrthum verſetzt und dadurch in Schaden

bringt“ —. l) Später hielt man es für richtiger, den Begriff des Be-

trugs, nach dem Vorgange des Sächſiſchen, Württembergiſchen und Heſ-

ſiſchen Strafgeſetzbuchs, ausdrücklich auf das Vorbringen oder Unter-

drücken von „Thatſachen“ zu beſchränken, damit allgemeine, anpreiſende

oder tadelnde Aeußerungen, die mehr die Natur eines Urtheils haben,

ausgeſchloſſen würden. m) In der weiteren Ausführung dieſer Bemer-

kung wurde die Faſſung gewählt, welche in den Entwurf von 1847.

und in das Strafgeſetzbuch übergegangen iſt. n) In der Kommiſſion der

erſten Kammer wurden zwar wegen des Ausdrucks „Thatſachen“ Be-

denken geäußert; man war jedoch darin einverſtanden, daß unter Um-

ſtänden auch die Erregung eines Rechtsirrthums unter dieſen Begriff

falle, und deswegen ſtrafbar ſei. o)

IV. Der Entwurf von 1836. hatte abweichend von dem Allg.

Landrecht, p) nicht nur die vorſätzliche Veranlaſſung eines Irrthums,

ſondern auch die Benutzung eines Irrthums, in welchem ſich der Be-

ſchädigte bereits befindet, zum ſtrafbaren Betruge gerechnet. Dieſe Auf-

faſſung fand aber keine weitere Billigung. Das Kriminalrecht, wurde

dagegen eingewandt, könne den Begriff vom Betruge wohl enger, aber

in keiner Weiſe weiter faſſen, wie das Civilrecht; das Gegentheil würde

zu den auffallendſten Anomalien führen. Wer bei einem Rechtsgeſchäfte

in Folge eines Irrthums, an deſſen Entſtehung der andere Theil nicht

Schuld ſei, einen Schaden erleide, müſſe dieſen ſich ſelbſt beimeſſen;

Niemand habe die rechtliche Verpflichtung, einen Anderen, welcher ein

nachtheiliges Geſchäft mit ihm eingehe, vor Schaden zu warnen, und

könne, wenn gleich das Geſchäft vielleicht wegen Irrthums ungültig ſei,

wegen Unterlaſſung einer ſolchen Warnung geſtraft werden. Der ent-

gegengeſetzte Grundſatz würde in Handel und Wandel ein ungemeſſenes

Feld für ſtrafbare Handlungen eröffnen. q) Nur das ſei allerdings zu

beachten, daß die Benutzung eines Irrthums nicht gleich bedeutend ſei

l) Vgl. Bad. Strafgeſetzbuch. §. 450.

m) Reviſion von 1845. III. S. 34.

n) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 159.

o) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 241.

p) A. L. R. II. 20. §. 1256. vgl. mit I. 4. §. 84. ff.

q) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 395. — Protokolle des

Staatsraths, Sitzung vom 4. Mai und 7. Mai 1842. — Verhandlungen

der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 157-59.

[462/0472]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXI. Betrug.

mit dem Unterdrücken von wahren Thatſachen; denn das Letztere ſetze

ein Verhindern der Erkenntniß der Wahrheit durch poſitives Handeln

voraus. r)

V. Eine beſondere Erörterung hat noch ſtatt gefunden über die

Frage, ob es angemeſſen ſei, nach dem Vorgange der meiſten neueren

Geſetzgebungen, bei dem Betruge, welcher bei Eingehung oder Vollzie-

hung eines Vertrages begangen worden, gewiſſe, die Grenzen des Ver-

gehens beſchränkende Vorſchriften zu erlaſſen. Es iſt in dieſer Hinſicht

von andern Geſetzgebungen theils zwiſchen dem dolus causam dans

und incidens unterſchieden, theils die Strafe nur auf Antrag des Ver-

letzten zugelaſſen worden. Es erſchien aber überhaupt nicht erforderlich,

in Anſehung des Betrugs bei Verträgen die allgemeinen Vorſchriften zu

modifiziren; weder die Natur des Vergehens im Allgemeinen, noch die

beſondere Bedeutung deſſelben in kontraktlichen Verhältniſſen biete dazu

einen genügenden Grund. Demnach wurde auch der Wegfall des §. 611.

des Entwurfs von 1836., welcher eine darauf gerichtete Vorſchrift ent-

hielt, beſchloſſen. s)

In der angegebenen Weiſe iſt der Begriff des ſtrafbaren Betrugs

feſtgeſtellt worden, und ſchon in dem Entwurf von 1847. §. 293. wört-

lich ſo beſtimmt, wie er ſich in dem Strafgeſetzbuche findet.

§. 242.

Der Betrug, ſowie der Verſuch des Betruges wird mit Gefängniß nicht

unter Einem Monate und zugleich mit Geldbuße von funfzig bis zu Eintau-

ſend Thalern, ſowie mit zeitiger Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen

Ehrenrechte beſtraft.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo kann die

Strafe bis auf Eine Woche Gefängniß oder auch auf bloße Geldbuße von

mindeſtens fünf Thalern ermäßigt werden.

§. 243.

Mit Gefängniß nicht unter drei Monaten und zugleich mit Geldbuße von

funfzig bis zu Eintauſend Thalern, ſowie mit zeitiger Unterſagung der Aus-

übung der bürgerlichen Ehrenrechte wird beſtraft:

1) wer ſich wiſſentlich unrichtiger, zum Meſſen oder Wiegen beſtimmter Werk-

zeuge zum Nachtheile eines Anderen bedient;

2) wer einen Ankäufer von Gold oder Silber über die Eigenſchaften dieſer

Waare hintergeht, indem er ihm geringhaltigeres Gold oder Silber für

vollhaltigeres verkauft;

3) wer ächte, zum Umlauf beſtimmte Metallgeldſtücke durch Beſchneiden, Ab-

r) Reviſion von 1845. III. S. 34.

s) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 396. 397. — Protokolle

des Staatsraths, Sitzung vom 7. Mai 1842.

[463/0473]

§§. 242-245. Strafen.

feilen oder auf andere Art verringert und als vollgültig ausgiebt oder aus-

zugeben verſucht;

4) wer ſolche verringerte Münzen gewohnheitsmäßig oder im Einverſtändniſſe

mit dem, welcher ſie verringert hat, als vollgültig ausgiebt oder auszu-

geben verſucht;

5) wer Geldpakete, die mit einem öffentlichen Siegel verſchloſſen und mit

Angabe des Inhaltes verſehen ſind, zu ihrem vollen Inhalte ausgiebt oder

auszugeben verſucht, obgleich er weiß, daß ſie eröffnet und ihr Inhalt ver-

ringert worden;

6) wer Grenzſteine oder andere zur Bezeichnung einer Grenze oder des Waſ-

ſerſtandes beſtimmte Merkmale zum Nachtheile eines Anderen wegnimmt,

vernichtet, unkenntlich macht, verrückt oder fälſchlich ſetzt;

7) wer Urkunden, welche ihm entweder gar nicht, oder nicht ausſchließlich ge-

hören, zum Nachtheile eines Anderen vernichtet, beſchädigt oder unterdrückt.

§. 244.

Wer in betrügeriſcher Abſicht eine gegen Feuersgefahr verſicherte Sache in

Brand ſetzt, oder ein Schiff, welches als ſolches oder in ſeiner Ladung ver-

ſichert iſt, ſinken oder ſtranden macht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren

und zugleich mit Geldbuße von Einhundert bis zu zweitauſend Thalern beſtraft.

§. 245.

In allen Fällen des Betruges (§§. 241-244.) kann auf Stellung unter

Polizei-Aufſicht erkannt werden.

I. Die Strafe des einfachen Betruges iſt die des einfachen Dieb-

ſtahls (§. 216.), nur daß noch zu der Freiheits- und Ehrenſtrafe eine

Geldbuße von funfzig bis zu Eintauſend Thalern hinzutritt (§. 242.).

Es iſt dieſe Häufung der Strafen, die nicht ohne Anfechtung geblieben,

beliebt worden, weil der Betrug häufig von wohlhabenderen Perſonen

ausgeübt, und die Gewinnſucht des Thäters durch eine Geldbuße am

Empfindlichſten getroffen wird. t) Bei der bloßen Geldbuße des Allg.

Landrechts konnte es keinen Falls ſein Bewenden haben.

Im Fall mildernder Umſtände kann aber die geſetzliche Strafe, wie

beim Diebſtahle, auf Eine Woche Gefängniß heruntergeſetzt werden; ja

es iſt dem Richter hier freigelaſſen, nur auf eine Geldbuße von min-

deſtens fünf Thalern zu erkennen. Mildernde Umſtände werden aber

beſonders bei geringfügigen Betrügereien anzunehmen ſein, über welche

ſchon der Entwurf von 1847. verfügte:

§. 294. „Bei geringfügigen Betrügereien iſt der Richter ermäch-

tigt, auf eine Gefängnißſtrafe unter ſechs Wochen (das damalige Mi-

t) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 252-55.

[464/0474]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXI. Betrug.

nimum der gewöhnlichen Strafe) oder auf eine bloße Geldbuße, mit

oder ohne Verluſt der Ehrenrechte, zu erkennen.“

II. Die Strafe wird in gewiſſen ſchwereren Fällen des Betrugs

in der Weiſe erhöht, daß auf Gefängniß nicht unter drei Monaten er-

kannt werden ſoll (§. 243.). — Der Entwurf von 1843. §. 450. hatte

vierzehn Fälle des Betruges aufgeführt, in welchen neben Verluſt der

Ehrenrechte Strafarbeit oder Zuchthaus bis zu fünf Jahren eintreten

ſollte. Dieſe Strafen erſchienen indeß für die meiſten jener Fälle zu

hart, und der Entwurf von 1847. §. 295. beſchränkte die Zahl derſel-

ben bis auf vier, für welche dann die Zuchthausſtrafe ausſchließlich

vorgeſchrieben wurde. u) Es waren dieß ſolche Fälle, in welchen in der

Regel nicht ein einzelner Betrogener, ſondern eine größere Anzahl von

Perſonen oder überhaupt das Publikum gefährdet erſchien. Das Straf-

geſetzbuch hat von dieſen vier Fällen nur drei unter den Nummern 1.

2. und 5. aufgenommen, die Beſtimmung wegen der unrichtigen Füh-

rung der Handelsbücher aber auf den Fall des Bankerutts (§. 261.)

beſchränkt. Zu den beibehaltenen drei Fällen ſind noch vier neue unter

den Nummern 3. 4. 6. und 7. hinzugekommen, welche bisher bei an-

deren Rechtsmaterien ihre Stelle gehabt hatten.

Für alle im §. 243. aufgeführten Fälle iſt aber die Zuchthausſtrafe

für zu hart erachtet worden, man iſt vielmehr bei Abfaſſung des Ent-

wurfs von 1850. von der Anſicht ausgegangen, daß dergleichen Be-

trügereien nicht füglich härter beſtraft werden können, als ein unter er-

ſchwerenden Umſtänden verübter einfacher Diebſtahl (§. 217.), und die

für dieſes Vergehen feſtgeſtellte Strafe iſt daher auch hier beibehalten

worden, jedoch in Verbindung mit der für den Betrug überhaupt an-

geordneten Geldbuße und unter Ausſchließung der Berückſichtigung mil-

dernder Umſtände. v)

In Beziehung auf die aufgezählten ſieben Vergehen kann aber noch

die Frage entſtehen, ob ſie nur als geſetzlich ausgezeichnete Arten des

Betruges zu betrachten ſind, oder ſelbſtändige Vergehen bilden, welche

ihren beſonderen Thatbeſtand haben, und nur wegen ihrer allgemeinen

Verwandtſchaft mit dem Betruge demſelben im Syſteme zugeordnet ſind.

Von praktiſcher Bedeutung würde das namentlich für die beiden letzten

Fälle ſein, für welche die gewinnſüchtige Abſicht dann nicht nothwendig

anzunehmen ſein würde. Zur Unterſtützung der Anſicht, daß man es

hier mit ganz ſelbſtändig geordneten Vergehen zu thun habe, ließe ſich

u) Reviſion von 1845. III. S. 35. 36. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 159.

v) Motive zum Entwurf von 1850. §. 221.

[465/0475]

§§. 242-245. Strafen.

anführen, daß ſie im Eingange des §. 243. nicht als Betrug bezeich-

net werden, und daß in Nr. 3. 4. 5. der Verſuch ausdrücklich er-

wähnt wird, obgleich er ſchon §. 242. allgemein unter Strafe geſtellt

worden iſt. Aber dieſe Gründe ſind doch nicht entſcheidend. In §. 217.

ſind auch die beſonders ausgezeichneten Fälle des einfachen Diebſtahls

ohne weitere Bezeichnung aufgeführt, und die Faſſung des §. 243. läßt

ebenſo eine ſtillſchweigende Bezugnahme auf die vorhergehenden Beſtim-

mungen vorausſetzen. Der Verſuch iſt nur bei dem Ausgeben von

Münzen und Geldpaketen erwähnt, worin ein beſonderer Zuſatz zu dem

geſetzlichen Thatbeſtande enthalten iſt; daß im Uebrigen der Verſuch hier

nicht beſtraft werden ſolle, iſt durchaus nicht anzunehmen. Auch ſind

in allen Stadien der Reviſion die hier aufgezählten Vergehen nur als

Arten des Betruges angeſehen und behandelt worden, und auch für das

Geſetzbuch iſt durch die Aufnahme des §. 245. die Frage formell erle-

digt. — Es iſt daher mit der Kommiſſion der erſten Kammer w) anzu-

nehmen, daß die allgemeinen Beſtimmungen über den Thatbeſtand des

Betruges auch auf die geſetzlich ausgezeichneten Arten deſſelben Anwen-

dung finden.

Folgende Fälle ſind unter die Vorſchrift des §. 243. befaßt worden:

a. Jemand bedient ſich wiſſentlich unrichtiger, zum Meſſen oder

Wiegen beſtimmter Werkzeuge zum Nachtheile eines Anderen. In dem

Entwurf von 1847. §. 295. war dieſe Vorſchrift ſo gefaßt: „Wenn

der Betrug von Gewerbtreibenden durch Anwendung unrichtiger, zum

Meſſen oder Wiegen beſtimmter Werkzeuge verübt wird.“ Die gegen-

wärtige Faſſung enthält eine genauere Beſtimmung des Thatbeſtandes,

indem der Dolus als die wiſſentliche Anwendung der falſchen Maaße

und Gewichte bezeichnet wird; ſie läßt dagegen die Schärfung der

Strafe auch gegen ſolche Perſonen, die nicht Gewerbtreibende ſind, ein-

treten. Ueber die polizeilichen Vorſchriften vgl. §. 348. Nr. 2.

b. Betrug bei dem Verkaufe von Gold und Silber. In den frü-

heren Entwürfen war auch in dieſem Fall die Strafe nur geſchärft,

wenn das Vergehen von Gewerbtreibenden, welche Gold, Silber, Edel-

ſteine oder Perlen feil halten oder verarbeiten, verübt wird. — Eine

weitere Ausdehnung der Beſtimmung, namentlich auf den Fall des Ge-

brauchs falſcher Fabrikzeichen bei verfälſchten Waaren, ward in der

Kommiſſion der erſten Kammer in Anregung gebracht, aber nicht für

nöthig gehalten, da die Strafvorſchrift des §. 242. das richterliche Er-

meſſen nur in Beziehung auf das Minimum beſchränke (Kommiſſions-

bericht a. a. O.).

w) Kommiſſionsbericht zu §. 243. a. E.

[466/0476]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXI. Betrug.

c. Metallgeldſtücke werden durch Beſchneiden, Abfeilen oder auf

andere Art verringert; vgl. Entwurf von 1847. §. 304. Es wird hier

jedoch vorausgeſetzt:

1) daß die Geldſtücke ächt und zum Umlauf beſtimmt ſind,

2) daß der Thäter ſie als vollgültig ausgiebt oder auszugeben ver-

ſucht. Dadurch wird ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen dem

Thatbeſtande dieſes Vergehens und dem Münzverbrechen (§. 121.)

begründet.

d. Die ſo verringerten Münzen werden gewohnheitsmäßig oder im

Einverſtändniß mit dem, welcher ſie verringert hat, ausgegeben, oder es

wird verſucht ſie auszugeben; vgl. Entwurf von 1847. §. 306. Auch

dieſe Vorſchrift weicht von der entſprechenden über das Münzverbrechen

und Münzvergehen (§§. 122. 123.) ab.

e. Ausgeben von Geldpaketen unter den Nr. 5. angegebenen Um-

ſtänden. Mit der Kommiſſion der erſten Kammer iſt hier anzunehmen,

daß unter den Geldpaketen nicht nur Geld-Tüten und Beutel, ſondern

auch Papiergeld-Pakete verſtanden werden können.

f. Veränderung von Grenzmalen; vgl. Entwurf von 1847. §. 320.

Schon die Karolina (Art. 114.) beſchränkte dieß Vergehen auf doloſe

Handlungen — „bößlicher und geverlicher weiß“ — während das Römiſche

Recht auch das Verſehen ahndete.

g. Vernichtung, Beſchädigung oder Unterdrückung fremder oder

gemeinſchaftlicher Urkunden; vgl. Entwurf von 1847. §. 313. Der Ver-

mögensnachtheil für den Beſchädigten kann hier ſchon in dem Verluſt

oder in der Beſchädigung der Urkunde beſtehen.

III. In zwei Fällen ſoll der Betrug mit Zuchthaus bis zu zehn

Jahren und zugleich mit Geldbuße von Einhundert bis zu zweitauſend

Thalern beſtraft werden (§. 244.).

a. Jemand ſetzt in betrügeriſcher Abſicht eine gegen Feuersgefahr

verſicherte Sache in Brand. Es iſt dieß eine Ergänzung der in den

§§. 285-89. über die Brandſtiftung enthaltenen Vorſchriften, bei de-

nen zunächſt die Gemeingefährlichkeit der Handlung das entſcheidende

Moment iſt. Wo weder dieſe in Betracht kommt, noch eine betrüge-

riſche Abſicht vorliegt, werden nur die Beſtimmungen über die Vermö-

gensbeſchädigung Platz greifen können.

b. Jemand macht in betrügeriſcher Abſicht ein Schiff, welches als

ſolches oder in ſeiner Ladung verſichert iſt, ſinken oder ſtranden; vgl.

Entwurf von 1847. §. 352. Hier wird im Gegenſatz zu §. 303. vor-

ausgeſetzt, daß die Handlung keine Gefahr für das Leben eines Ande-

ren herbeiführt.

IV. In allen Fällen des Betrugs (§§. 241-44.) kann auf

[467/0477]

§. 246. Untreue.

Stellung unter Polizei-Aufſicht erkannt werden (§. 245.). Die Kom-

miſſion der zweiten Kammer hat in Uebereinſtimmung mit dem Regie-

rungs-Kommiſſar dieſe Vorſchrift in das Geſetzbuch gebracht; x) früher

hielt man ſie bei dem Betruge für unpraktiſch, weil die geſetzlichen

Wirkungen dieſer Maaßregel nicht geeignet erſchienen, eine Wiederholung

des Verbrechens zu verhindern. y)

V. Beſondere Vorſchriften über den Rückfall bei dem Betruge,

welche die früheren Entwürfe enthielten, ſind ſpäter nicht mehr für er-

forderlich erachtet worden. z) Auch die analoge Ausdehnung der Be-

ſtimmungen, welche über den Einfluß der Verwandtſchaft auf die Be-

ſtrafung des Diebſtahls aufgeſtellt ſind (§§. 228. 229.), iſt ſeit dem

Entwurfe von 1850. weggeblieben; man war der Anſicht, daß zu einer

ſolchen Ausdehnung, welche auch dem gemeinen Deutſchen Strafrechte

fremd iſt, kein genügender Grund vorliege. a)

Zweiundzwanzigſter Titel.

Untreue.

§. 246.

Wegen Untreue werden mit Gefängniß nicht unter drei Monaten, ſowie

mit zeitiger Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte beſtraft:

1) Vormünder, Kuratoren, Sequeſter, Teſtaments-Exekutoren und Ver-

walter von Stiftungen, wenn ſie vorſätzlich zum Nachtheile der ihrer

Aufſicht anvertrauten Perſonen oder Sachen handeln;

2) Mäkler, Güterbeſtätiger, Schaffner und andere Gewerbtreibende, welche

zur Betreibung ihres Gewerbes von der Obrigkeit beſonders verpflichtet

ſind, wenn ſie bei den ihnen übertragenen Geſchäften vorſätzlich dieje-

nigen benachtheiligen, deren Geſchäfte ſie beſorgen.

Wird die Untreue in der Abſicht verübt, ſich oder Anderen Gewinn zu

verſchaffen, ſo ſoll neben der Freiheitsſtrafe zugleich auf Geldbuße von funfzig

bis zu Eintauſend Thalern erkannt werden.

Iſt durch die Handlung eine härtere Strafe begründet, ſo tritt nach den

Grundſätzen des §. 55. dieſe härtere Strafe ein.

Das Allgemeine Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 1328-76.) zählt

x) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu dieſem Titel.

y) Reviſion von 1845. III. S. 35.

z) Vgl Reviſion a. a. O. — Verhandlungen der Staatsraths-

Kommiſſion von 1846. S. 160.

a) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 245.

[468/0478]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXII. Untreue.

unter den Fällen des ſchweren Betrugs die Untreue auf, welche von

ſolchen Perſonen begangen wird, die Anderen zu beſonderer Treue und

Redlichkeit verpflichtet ſind. Bei der Reviſion des Strafrechts wurde

dieſes Vergehen als ein ſelbſtändiges Delikt beibehalten und neben dem

Betruge abgehandelt; ſeitdem aber der Betrug auf die Vermögens-

beſchädigung in gewinnſüchtiger Abſicht beſchränkt war, trennte man die

Untreue von demſelben, und wies ihr einen eigenen Titel an. b)

Gegen die Aufſtellung eines ſelbſtändigen Vergehens der Untreue

wurden aber von verſchiedenen Seiten Einwendungen erhoben, welche

bei der Reviſion von 1845. ihre Würdigung fanden. c)

„Die Rheiniſchen Stände, mit welchen Schwarze (S. 163. 166.)

übereinſtimmt, meinen, daß der Abſchnitt von der Untreue ganz zu be-

ſeitigen ſei. Dem iſt jedoch ſchon von Temme (B. 2. S. 352.) und

Abegg (S. 478.) mit Recht widerſprochen. Die Bemerkung von

Schwarze, daß Untreue kein juriſtiſcher Begriff ſei, iſt nicht begründet.

Wenigſtens wir haben den Begriff und den dafür ganz paſſenden Aus-

druck „Untreue“ ſchon im Allgemeinen Landrecht. Ebenſo wenig iſt

Schwarze darin beizuſtimmen, daß die Vorſchriften über Unterſchlagung

und Betrug ſchon alle wirklich ſtrafbaren Fälle umfaſſen. Bei den hier

in Rede ſtehenden Rechtsverhältniſſen können viele ſehr ſtrafbare Ver-

untreuungen vorkommen, welche weder als Unterſchlagung noch als

eigentlicher Betrug — zu betrachten ſind; ſo z. B. wenn ein Vormund,

welcher eine judikatmäßige Forderung ſeiner Mündel eintragen zu laſſen

angewieſen iſt, vorſätzlich damit zurückhält, um einen andern, von ihm

begünſtigten Gläubiger die Priorität gewinnen zu laſſen. Das Be-

denken der Rheiniſchen Stände, daß man das Amt der Vormünder zu

ſehr erſchwere und ſie zu ſehr den Unterſuchungen ausſetze, iſt bei der

Vorausſetzung einer vorſätzlichen Benachtheiligung nicht erheblich, und

kann nicht berechtigen, ſolche Fälle ſtraflos zu laſſen.“

Ungeachtet dieſer Ausführung und obgleich der vereinigte ſtändiſche

Ausſchuß gegen die Behandlung der Untreue als eines beſonderen Ver-

gehens keine Einwendungen erhoben hatte, war der demſelben gewidmete

Titel in dem Entwurf von 1850. doch weggelaſſen worden. Die Kom-

miſſion der zweiten Kammer glaubte aber, daß nach Deutſcher Rechts-

anſchauung der Bruch der Treue in beſonderen, auf Vertrauen gegrün-

deten Verhältniſſen anders zu beurtheilen ſei, als die damit verwandten

gemeinen Verbrechen, und daß auch in dieſem Fall das Allgemeine

Landrecht ein Inſtitut des Deutſchen Rechts (die getreue Hand) in

b) Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 161.

— Entwurf von 1847. Tit. 18.

c) Reviſion von 1845. III. S. 36.

[469/0479]

§. 246. Untreue.

dankenswerther Weiſe wieder zur Anerkennung gebracht habe, wenn

auch die Behandlung deſſelben im Einzelnen nicht immer zu billigen

ſei. Es wurde daher die Wiederherſtellung des weggelaſſenen Titels

beſchloſſen, und auch von der Kommiſſion der erſten Kammer vollkommen

gebilligt.

I. Die Untreue wird nur durch vorſätzliches Handeln begangen,

indem das beſtimmten Perſonen erwieſene beſondere Vertrauen von ihnen

getäuſcht wird. Gewinnſüchtige Abſicht, wie bei dem Betruge, wird

hier aber nicht vorausgeſetzt; liegt auch dieſe vor, ſo wird das Vergehen

wie ein unter erſchwerenden Umſtänden verübter Betrug (§. 243.) be-

handelt; ſ. §. 246. Abſ. 2.

II. Die Untreue wird begangen:

a. von Vormündern, Kuratoren, Sequeſtern, Teſtamentsvollziehern

und Verwaltern von Stiftungen, wenn ſie vorſätzlich zum Nachtheile

der ihrer Aufſicht anvertrauten Perſonen oder Sachen handeln;

b. von Mäklern, Güterbeſtätigern, Schaffnern und anderen Ge-

werbtreibenden, welche zur Betreibung ihres Gewerbes von der Obrigkeit

beſonders verpflichtet ſind, wenn ſie bei den ihnen übertragenen Geſchäf-

ten vorſätzlich diejenigen benachtheiligen, deren Geſchäfte ſie beſorgen.

Ueber die Untreue der Anwälte ſ. §. 329.

c. Die früheren Entwürfe hatten auch die Haus- und Wirth-

ſchaftsbeamten, Beamten von Aktien-, Handels- oder anderen Geſellſchaften,

Gewerbsgehülfen und Dienſtboten zu den Perſonen gerechnet, welche

eine Untreue begehen und deswegen auf Antrag des Verletzten beſtraft

werden könnten. In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde es

beantragt, auch dieſe Beſtimmungen wiederherzuſtellen; doch erklärte ſich

die Kommiſſion gegen dieſen Vorſchlag. d)

„Sie iſt davon ausgegangen, daß diejenigen Klaſſen von Perſonen,

welche den Beſtimmungen über Untreue unterworfen werden ſollen,

möglichſt genau beſtimmt werden müſſen, und ſie glaubt als eine rich-

tige Grenze zu bezeichnen, wenn ſie davon die Privatbeamten und über-

haupt diejenigen Perſonen ausſchließt, bei denen die Verpflichtung zu

einer beſonderen Treue lediglich aus Privatrechtsverhältniſſen entſpringt,

und wenn ſie die Beſtimmungen blos auf ſolche Perſonen beſchränkt,

welche mit einem öffentlichen Charakter bekleidet ſind, oder wenigſtens

unter öffentlicher Autorität wirken. Wollte man auch die Privatrechts-

verhältniſſe darunter mit begreifen, ſo würde ſich ſchwerlich eine richtige

Grenze finden laſſen. Derjenige, welcher Privatverträge mit einem

Anderen abſchließt, welche auf ein beſonderes Vertrauen berechnet ſind,

d) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu dieſem Titel.

[470/0480]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXII. Untreue.

mag ſich ſelbſt vorſehen, während denjenigen Perſonen, welche unter

öffentlicher Autorität wirken und von dem Staate dem Publikum zur

Beſorgung gewiſſer Angelegenheiten bezeichnet werden, mit Recht von

vorne herein ein größeres Vertrauen erwieſen wird. Läßt es ſich ſchon

hiernach rechtfertigen, ausſchließlich gegen die letzteren Perſonen wegen

Verletzung des Vertrauens beſondere Strafbeſtimmungen zu erlaſſen, ſo

tritt als Verſtärkungsgrund noch hinzu, daß bei einem bloßen Privat-

vertragsverhältniſſe es häufig gar nicht einmal im Intereſſe des einen

Kontrahenten liegt, eine von dem anderen Kontrahenten begangene Un-

treue zu rügen. Die Geſetzgebung hat deshalb um ſo weniger Grund,

ſolche Privatrechtsverhältniſſe unter beſonderen Schutz zu ſtellen.“ —

Der Ausweg, nur auf den Antrag des Verletzten zu ſtrafen, iſt ſchon

früher aus erheblichen Gründen angefochten worden, e) und würde dem

Syſteme des Strafgeſetzbuchs nicht entſprechen.

d. Eine andere Frage kam in der Kommiſſion der erſten Kammer

zur Erwägung, ob nämlich nicht der Grundſatz des §. 228. hier noth-

wendig in dem Maaße gelten müſſe, daß die Untreue des Vaters als

Vormundes oder Kurators ſeiner Kinder ausdrücklich als ſtraflos erklärt

werde? „Man hat dabei nicht verkannt, daß das natürliche Recht des

Vaters, ſeine freiere Stellung in Abſicht auf obervormundſchaftliche

Aufſicht, endlich die Rückſicht, daß eine ſtrikte Auslegung die Anwen-

dung des §. 228. auf Unterſchlagungen des Vaters in dem von ihm

vormundſchaftlich verwalteten Vermögen ſeiner Kinder zuläſſig erſcheinen

laſſen könnte, der bloßen Untreue des Vaters einen minder ſchweren

Charakter verleihe. Man hat indeſſen geglaubt, daß die Beurtheilung,

ob aus dieſen Gründen auch die Untreue des Vaters als ſtraflos zu

erachten, der Vater alſo in dieſem Sinne nicht zu den „Vormündern

und Kuratoren“ zu rechnen ſei, lediglich der Praxis zu überlaſſen ſein

müſſe.“ f) Dieſe wird ſich auch ohne Zweifel für die Strafloſigkeit des

Vaters in einem ſolchen Falle entſcheiden.

III. Die Strafe der Untreue iſt dieſelbe, welche für den Betrug

unter erſchwerenden Umſtänden (§. 243.) vorgeſchrieben iſt, jedoch ohne

die Geldbuße, falls nicht die Handlung in gewinnſüchtiger Abſicht verübt

worden. Iſt für dieſelbe eine härtere Strafe begründet, z. B. im Fall

des §. 244., ſo tritt dieſe nach dem Grundſatz des §. 55. ein. —

Die Berückſichtigung mildernder Umſtände iſt hier ſo wenig wie in

§. 243. zugelaſſen; über den Verluſt des Gewerbebetriebs im Fall der

e) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 430. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 7. Mai 1842. —

Verhandlungen des vereinigten ſtänd. Ausſchuſſes. IV. S. 271-77.

f) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu dieſem Titel.

[471/0481]

§§. 247-249. Urkundenfälſchung.

Nr. 2. ſchien eine beſondere Beſtimmung nicht erforderlich; der vereinigte

ſtändiſche Ausſchuß wollte denſelben nur bei dem Rückfall eintreten

laſſen. g)

Dreiundzwanzigſter Titel.

Urkundenfälſchung.

§. 247.

Wer in der Abſicht, ſich oder Anderen Gewinn zu verſchaffen oder Ande-

ren Schaden zuzufügen, eine Urkunde verfälſcht oder fälſchlich anfertigt, und

von derſelben zum Zwecke der Täuſchung Gebrauch macht, begeht eine Urkun-

denfälſchung.

Unter Urkunde iſt jede Schrift zu verſtehen, welche zum Beweiſe von Ver-

trägen, Verfügungen, Verpflichtungen, Befreiungen oder überhaupt von Rechten

oder Rechtsverhältniſſen von Erheblichkeit iſt.

§. 248.

Einer Urkundenfälſchung wird es gleich geachtet, wenn Jemand in der

Abſicht, ſich oder Anderen Gewinn zu verſchaffen oder Anderen Schaden zuzu-

fügen, ein mit der Unterſchrift eines Anderen verſehenes Papier ohne deſſen

Willen ausfüllt und von einer ſolchen Urkunde Gebrauch macht.

§. 249.

Wer von einer falſchen oder verfälſchten Urkunde, wiſſend, daß ſie falſch

oder verfälſcht iſt, in der Abſicht Gebrauch macht, ſich oder Anderen Gewinn

zu verſchaffen oder Anderen Schaden zuzufügen, wird dem Fälſchergleich

geachtet.

Das gemeine Deutſche Kriminalrecht ſtellt ein Verbrechen der Fäl-

ſchung auf, deſſen Thatbeſtand bei der beſonderen Beſchaffenheit der

Römiſchen Rechtsquellen, denen es entnommen iſt, weniger auf beſtimmte

Merkmale zurückgeführt, als geſchichtlich erklärt werden kann;namentlich

iſt eine principielle Unterſcheidung zwiſchen Fälſchung und Betrug kaum

durchzuführen. Das Allgemeine Landrecht ſuchte dadurch eine größere

Beſtimmtheit zu erreichen, daß es die Fälſchung als einen ſchweren

Betrug charakteriſirte, und in folgender Weiſe definirte:

Th. II. Tit. 20. §. 1378. „Betrügereien, wodurch gewiſſen Per-

ſonen oder Sachen Merkmale von Eigenſchaften, welche ihnen nicht

zukommen, zur Bevortheilung Anderer beigelegt, oder wodurch wirklich

g) Verhandlungen. IV. S. 269. 270. Vgl. den Kommiſſionsbericht a. a. O.

[472/0482]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIII. Urkundenfälſchung.

vorhandene Eigenſchaften in gleicher Abſicht verheimlicht werden, ſind

als Verfälſchungen mit geſchärfter Strafe zu ahnden.“

Bei der Reviſion des Strafrechts wurde dieſe Begriffsbeſtimmung

für unzulänglich gehalten, da beſonders das Wort „beilegen“ nicht

ausdrücke, daß der Betrug thatſächlich durch Veränderungen ausgeübt

werde, ſondern ſich auf bloße Vorſpiegelung durch Worte beziehen laſſe,

was doch offenbar nur gemeiner Betrug ſei. Man war aber überhaupt

der Meinung, daß es einer Definition der Fälſchung nicht bedürfe, da

dieſelbe nur eine Art des Betrugs ſei, und letzterer dadurch allein, daß

einer unächten Sache der Schein einer ächten gegeben werde, noch nicht

zu einem eigenthümlichen und ſchweren Verbrechen werde. Man hielt

es daher für angemeſſen, von der Aufſtellung einer allgemeinen Begriffs-

beſtimmung abzuſtehen, und beſchränkte ſich darauf, diejenigen Fälle

hervorzuheben, welche als Fälſchung eine beſondere Strafe zu erfordern

ſchienen. h)

Durch die ſpäter gefaßten Beſchlüſſe über den Thatbeſtand des

Betruges wurde jedoch ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen dieſem Ver-

gehen und der Fälſchung feſtgeſtellt; außerdem aber erſchien es nicht

angemeſſen, die einzelnen Fälle der Fälſchung, deren Bedeutung weniger

in der Art der Verübung als in dem Gegenſtande des Verbrechens zu

ſuchen iſt, in demſelben Abſchnitte neben einander abzuhandeln. Nachdem

ſchon Fälſchung und Betrug auch formell von einander getrennt waren,

ließ man zuletzt den dem erſten Verbrechen gewidmete allgemeinen Titel

ganz wegfallen, und wies den geſetzlichen Beſtimmungen über die ein-

zelnen Fälle je nach ihrem Gegenſtande die entſprechende Stelle in dem

Syſteme an.

So wurde die Münzfälſchung (§§. 121-24.) mit den gegen den

Staat gerichteten Verbrechen in Verbindung gebracht; die Fälſchung von

Handelsbüchern wurde in beſondere Beziehung zum Bakerutt geſetzt

(§. 259.), Fälſchung von Waarenbezeichnungen unter dem ſtrafbaren

Eigennutz (§. 269.) abgehandelt, und mehrere Vergehen, welche früher

zu der Fälſchung gerechnet waren, wurden zu dem unter erſchwerenden

Umſtänden verübten Betruge (§. 243.) geſtellt. i) Der früher dem Ver-

brechen im Allgemeinen angewieſene Titel wurde aber ausſchließlich der

Urkundenfälſchung vorbehalten, indem nur die Beſtimmungen über den

Fall, wenn ein Beamter dieſelbe verübt hat, unter den Amtsverbrechen

(§. 323.) einen Platz fanden.

h) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 401.

i) Mit dem Begriff der Fälſchung hängen außerdem noch zuſammen die Beſtim-

mungen der §§. 224. 340. Nr. 3. 4. 5. 345. Nr. 5. 348. Nr. 2.

[473/0483]

§§. 247-249. Begriff.

Der Gegenſtand der gegenwärtigen Erörterung iſt alſo ausſchließlich

die Urkundenfälſchung und zwar ſowohl in ihrer eigentlichen Bedeutung

als auch in Beziehung auf diejenigen Fälle, welche das Geſetzbuch

(§§. 153-58.) in der Erweiterung des Begriffs darunter befaßt hat.

Bei der Behandlung dieſes Verbrechens haben die Vorſchriften des

Code pénal (Art. 145-62.) mehrfach zum Vorbilde gedient; doch iſt

man hierbei mit Vorſicht verfahren, da ſich das Franzöſiſche Geſetzbuch

gerade bei dieſem Verbrechen von einer gewiſſen ängſtlichen Kaſuiſtik

nicht freigehalten, und einzelne wenig gelungene Beſtimmungen aufgeſtellt

hat; es möge, abgeſehen von der unverhältnißmäßigen Höhe der vor-

geſchriebenen Strafen, beiſpielsweiſe nur daran erinnert werden, daß die

Handelspapiere allgemein den öffentlichen Urkunden gleichgeſetzt ſind.

Auf Grund dieſer geſetzlichen Vorſchriften hat ſich aber freilich in

Frankreich eine Jurisprudenz ausgebildet, welche gerade in dieſer Lehre

eine ſeltene Fülle ſcharfſinniger Rechtsentwicklungen aufzuweiſen hat,

und als ein Muſter der Kaſuiſtik bezeichnet werden kann. k)

I. Um den Begriff der Urkundenfälſchung beſtimmen zu können,

iſt zuvörderſt die Bedeutung einer Urkunde feſtzuſtellen. Anfangs

glaubte man der größeren Deutlichkeit wegen die Ausdrücke „Schrift

oder Urkunde“ neben einander gebrauchen zu müſſen; doch wurde dieß

ſpäter bedenklich gefunden.

„Die beſtehende Geſetzgebung kenne nur eine Fälſchung von Ur-

kunden, wie die Beſtimmungen des Allgem. Landrechts (Th. II. Tit. 20.

§. 1380 ff.) ergäben. Die im Entwurf angenommene Zuſammenſtellung

der Ausdrücke „Schrift und Urkunde“ beruhe auf der Anſicht, daß man

im gemeinen Leben unter Urkunde häufig nur eine ſolche Schrift ver-

ſtehe, die von Hauſe aus dazu beſtimmt geweſen ſei, Rechte und Ver-

bindlichkeiten zwiſchen beſtimmten Perſonen feſtzuſtellen und die Exiſtenz

derſelben zu beweiſen, während das Wort „Schrift“ auch jedes ander-

weite Skriptum bezeichne, welches zwar unter Umſtänden gleichfalls

zum Beweiſe von Thatſachen dienen könne, jedoch urſprünglich zu dieſem

Behufe nicht geſchrieben worden ſei. Indeſſen ſei zu bemerken, daß eine

ſolche Unterſcheidung unſerem gegenwärtigen geſetzlichen Sprachgebrauche

unbekannt ſei. Nach dem Vorgange des gemeinen Deutſchen Rechts

verſtehe unſere Geſetzgebung (Allgem. Gerichtsordnung Th. I. Tit. 10.

§. 89 ff.) unter Urkunden oder Dokumenten alle Arten von „ſchriftlichen

Nachrichten“ und Aufſätzen, die, ohne Rückſicht auf den urſprünglichen

k) Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. chap.

XXI-XXVII. II. p. 81-157.

Beſeler Kommentar. 31

[474/0484]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIII. Urkundenfälſchung.

Zweck ihrer Abfaſſung, zum Beweiſe einer Thatſache dienen können.

Demgemäß werde man ſich, um Mißverſtändniſſen vorzubeugen, dem

geſetzlichen Sprachgebrauche anſchließen müſſen, wie dies auch im Allg.

Landrecht a. a. O. §. 1380 ff. geſchehen. In der Rheiniſchen Geſetz-

gebung kämen allerdings Bezeichnungen vor, die mit der Terminologie

der Allgem. Gerichtsordnung nicht ganz im Einklange ſeien. Indeſſen

würden alle Bedenken beſeitigt, wenn man den Begriff der Urkunde

dahin feſtſtelle, daß darunter jede Schrift, die zum Beweiſe einer That-

ſache dienen könne, zu verſtehen ſei.“ l)

Demgemäß wurde auch der Entwurf von 1843. §. 462. gefaßt;

ſpäter hielt man es indeſſen für ausreichend, die Urkundenfälſchung als

eine Fälſchung von Schriften zu bezeichnen, und beſchloß, von jeder

weiteren Definition der Urkunde abzuſtehen. m) — Dieß wurde aber

wieder von den zur Staatsraths-Kommiſſion hinzugezogenen Rheiniſchen

Juriſten getadelt, welche namentlich mit Rückſicht auf die Geſchworenen

eine nähere Feſtſtellung des Begriffs der Urkunde für unerläßlich hielten,

gegen die Beſtimmung des Entwurfs von 1843. aber einwandten, daß

ſie theils zu weit ſei, inſofern ſie nicht angebe, daß die Thatſachen in

irgend einer Weiſe erheblich ſein müſſen, theils aber zu enge, weil ſie

ſich nicht an die Grundſätze des Rheiniſchen Civilrechts über den An-

fang eines Schriftenbeweiſes anſchließe. Sie begründeten darauf einen

neuen Vorſchlag, der in der Staatsraths-Kommiſſion freilich nicht an-

genommen ward, n) in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß aber doch

inſofern Berückſichtigung fand, daß die Definition des Entwurfs von

1843. wieder hergeſtellt wurde. o)

Bei der im Geſetzbuch (§. 247. Abſ. 2.) gegebenen Begriffsbeſtim-

mung ſind die angeführten Bemerkungen der Rheiniſchen Juriſten berück-

ſichtigt worden, indem auf die Erheblichkeit des Beweisſtücks Bezug

genommen und außerdem der Gegenſtand, auf den ſich die Urkunde

beziehen muß, näher bezeichnet worden iſt. p) Der Thatbeſtand der

Urkundenfälſchung iſt dadurch aber nicht unweſentlich beſchränkt; z. B. wird

die in der Franzöſiſchen Jurisprudenz mehrfach erörterte Streitfrage, ob

derjenige, der durch ein gefälſchtes ärztliches Rezept ſich Arſenik ver-

l) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 412.

m) Reviſion von 1845. III. S. 44. — Revid. Entwurf von 1845.

§. 293. — Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 165.

n) Fernere Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1847.

S. 44. und vierte Beilage S. 8. 38. 39.

o) Verhandlungen. IV. S. 295-302.

p) Vgl. Code pénal. Art. 147. — Soit par fabrication de conventions

dispositions, obligations ou décharges.

[475/0485]

§§. 247-249. Begriff.

ſchafft, um einen Anderen zu vergiften, der Fälſchung (faux en écri-

tures) ſchuldig ſei, — nach dem Strafgeſetzbuch unzweifelhaft zu ver-

neinen ſein. In den meiſten Fällen werden jedoch Fälſchungen, die im

Geſetzbuch nicht beſonders unter Strafe geſtellt ſind, als Betrug ge-

ahndet werden können. — Die Fälſchung von Staatspapieren u. ſ. w.

iſt unter dem Münzverbrechen (§. 124.) mit befaßt worden.

II. Der Code pénal hat diejenigen einzelnen Handlungen aufge-

führt, durch welche eine ſtrafbare Schriftfälſchung begangen werden

kann, q) und den Rheiniſchen Juriſten erſchien es ebenfalls durchaus

erforderlich, eine Beſtimmung darüber aufzunehmen, welche Verände-

rungen einer echten Urkunde das Verbrechen der Fälſchung begründen.

„Werden die Geſchworenen gefragt, ob der Angeklagte ſchuldig ſei, eine

Urkunde verfälſcht zu haben, ohne Hinzufügung der Handlung, durch

welche die Fälſchung bewirkt worden, bietet in dieſer Beziehung das

Geſetz nicht einmal einen Anhaltspunkt dar, ſo entbehrt ihr Ausſpruch

der ſicheren Grundlage; es wird überdieß ſich ſehr häufig eine maaßloſe

Diskuſſion darüber eröffnen, ob eine ſtrafbare Veränderung

vorliege.“

Es wurde demnach folgender Zuſatz vorgeſchlagen:

„Eine Urkunde wird verfälſcht, wenn ſie durch Zuſatz, Aus-

löſchung von Worten, Buchſtaben, Zahlen, Unterſcheidungs-

zeichen oder auf andere Art dergeſtalt verändert wird, daß

daraus eine Verletzung der Rechte Anderer hervorgehen kann.“

Eine ſolche Erklärung des Wortes „verfälſcht“ hielt aber die

Staatsraths-Kommiſſion für überflüſſig, da dieſer Ausdruck in ſich klar

ſei, und die vorgeſchlagene Beſtimmung eigentlich nur als eine An-

weiſung an den Aſſiſenpräſidenten über die Art der Frageſtellung

erſcheine. r)

III. Der Urkundenfälſchung iſt es gleichgeſtellt, wenn jemand ein

mit der Unterſchrift eines Anderen verſehenes Papier ohne deſſen Wiſſen

ausfüllt (§. 248.). Die Worte „ohne deſſen Wiſſen“ ſind auf Veran-

laſſung des Staatsraths hinzugefügt worden, um zu bezeichnen, daß

die Ausfüllung des Blankets gegen die Abſicht und den Willen des

Unterſchriebenen geſchehen ſein muß. s)

q) Code pénal. Art. 147. Seront punies des travaux forcés à temps,

toutes autres personnes qui auront commis un faux en écriture authentique

et publique, ou en écriture de commerce ou de banque, — Soit par contre-

façon ou altération d'écritures ou de signatures, — Soit par fabrication

de conventions, dispositions, obligations ou décharges, ou par leur inser-

tion après coup dans ces actes, — Soit par addition ou altération de clauses,

de déclarations ou de faits que ces actes avaient pour objet de recevoir

et de constater.

r) Fernere Verhandlungen von 1847. a. a. O.

s) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 7. Mai 1842.

31 *

[476/0486]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIII. Urkundenfälſchung.

IV. Der zu dem Thatbeſtande der Urkundenfälſchung erforderliche

Dolus iſt in dem Strafgeſetzbuch weiter aufgefaßt worden, als es bei

dem Betruge geſchehen iſt. Bei dieſem nämlich kommt nur die gewinn-

ſüchtige Abſicht in Betracht; bei der Fälſchung iſt es ausdrücklich her-

vorgehoben, daß es zum Thatbeſtande genügt, wenn der Gewinn einem

Anderen verſchafft werden ſollte, und außerdem iſt auch die Abſicht,

einem Anderen Schaden zuzufügen, der gewinnſüchtigen Abſicht gleich-

geſtellt, und zwar unbedingt, ohne daß die Beſchädigung auf die Ver-

letzung des Vermögens beſchränkt worden (§. 247.).

Die früheren Entwürfe hatten auch, wie oben gezeigt worden, den

Betrug in dieſem weiteren Sinne aufgefaßt; erſt durch die Beſchlüſſe

der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. wurden Beſchränkungen des

Begriffs aufgeſtellt, welche aber auf die Fälſchung nicht ausgedehnt

worden ſind.

Die Franzöſiſche Jurisprudenz bezieht den Dolus bei der Fälſchung

nur auf die Abſicht zu ſchaden; aber unter dem Schaden wird auch

die Verletzung des öffentlichen Intereſſe verſtanden, z. B. wenn ein

Rekrut dem Militärdienſte entzogen wird. t) Dieſe Abſicht allein ſoll

jedoch nicht genügen, um den Thatbeſtand des Verbrechens herzuſtellen;

es wird auch noch gefordert, daß durch die Fälſchung ein Schaden hat

angerichtet werden können (la possibilité d'un préjudice), und dieß

beſonders in Beziehung auf nichtige Urkunden weiter ausgeführt. u)

Betrachtet man aber die Sache vom Standpunkte des Strafgeſetzbuches,

ſo ergiebt ſich, daß es ſich in ſolchen Fällen um einen Verſuch des

Verbrechens handelt, und daß die Beantwortung der Frage, inwiefern

ein ſolcher ſtrafbar iſt, von den allgemeinen Grundſätzen über die An-

wendung untauglicher oder unzulänglicher Mittel bei dem Verſuch ab-

hängt. — In Frankreich hat man auf jene Möglichkeit des Schadens

auch wohl nur deswegen ein ſo großes Gewicht gelegt, weil der

Gebrauch der Urkunde nicht zum Thatbeſtande des Verbrechens der

Urkundenfälſchung erfordert wird.

V. Nach dem Strafgeſetzbuch reicht es zum Thatbeſtande nicht

aus, daß eine Urkunde in der bezeichneten Abſicht verfälſcht oder fälſch-

lich angefertigt wird; es muß auch von derſelben zum Zweck der Täu-

ſchung Gebrauch gemacht werden. Erſt wenn dieſes geſchehen, iſtdas

Verbrechen vollendet; die Thatſache der Fälſchung, ohne Beziehung auf

den Gebrauch der Urkunde betrachtet, erſcheint daher nur als eine vor-

bereitende Handlung. Darin liegt ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen

t) Chauveau et Hélie Faustin. l. c. chap. XXI. §. 2.

u) l. c. chap. XXI. §. 3.

[477/0487]

§§. 250. 251. Strafe.

der Urkundenfälſchung und dem Münzverbrechen, bei welchem das Aus-

geben der Münze zum Thatbeſtande nicht verlangt wird.

Der Entwurf von 1847. §. 310. hatte noch die Beſtimmung:

„Zur Vollendung des Verbrechens iſt nicht erforderlich, daß

durch den gemachten Gebrauch die beabſichtigte Täuſchung be-

wirkt iſt.“

Allein dieſer Zuſatz iſt mit Recht weggelaſſen worden, da die weitere

Entwicklung der in §. 247. aufgeſtellten Beſtimmung über den That-

beſtand des Verbrechens nach den allgemeinen Grundſätzen des Straf-

geſetzbuchs keine beſondere Schwierigkeit darbietet.

VI. Der wiſſentliche Gebrauch einer falſchen oder verfälſchten

Urkunde iſt der Fälſchung ſelbſt gleichgeſtellt (§. 249.). Es iſt dabei

kein Unterſchied gemacht worden, ob der Thäter die Urkunde als eine

ächte empfangen hat oder nicht, und die mildere Behandlung des dem

Münzvergehen (§. 123.) entſprechenden Falles iſt hier alſo nicht be-

gründet.

§. 250.

Die Urkundenfälſchung wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren und zugleich

mit Geldbuße von funfzig bis zu Eintauſend Thalern beſtraft.

§. 251.

Die Urkundenfälſchung wird mit Zuchthaus bis zu

zehn Jahren und zu-

gleich mit Geldbuße von Einhundert bis zu zweitauſend Thalern beſtraft,

wenn das Verbrechen eine der folgenden Arten von Urkunden zum Gegen-

ſtande hat:

1) Urkunden, welche mit der Unterſchrift des Königs oder mit dem König-

lichen Inſiegel ausgefertigt ſind;

2) Urkunden, welche von Staatsbehörden, Gemeinden oder Korporationen

des Inlandes oder Auslandes, von inländiſchen oder ausländiſchen

Beamten, oder von ſolchen Perſonen, welche nach den Geſetzen des

Inlandes oder Auslandes öffentlichen Glauben haben, aufgenommen,

ausgefertigt oder beglaubigt werden;

3) Bücher, Regiſter, Kataſter oder Inventarien, welche unter amtlichem

Glauben geführt werden;

4) Verfügungen von Todeswegen;

5) Wechſel.

I. Die Strafe der Urkundenfälſchung iſt Zuchthaus von zwei bis

zu fünf Jahren und zugleich Geldbuße von funfzig bis zu Eintauſend

Thalern. Die letztere ſoll nicht allein dann eintreten, wenn gewinn-

ſüchtige Abſicht dem Verbrechen zum Grunde liegt, wie nach den an-

deren Fällen, wo neben der Hauptſtrafe eine Geldbuße vorgeſchrieben iſt,

[478/0488]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIII. Urkundenfälſchung.

zu erwarten geweſen wäre. Man hat wohl angenommen, daß die

Gewinnſucht das gewöhnliche Motiv der Handlung iſt. v)

II. Die Strafe wird auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren und

Geldbuße von Einhundert bis zu zweitauſend Thalern erhöht, wenn

das Verbrechen eine der folgenden Arten der Urkunden zum Gegen-

ſtande hat:

a. Urkunden, welche mit der Unterſchrift des Königs oder mit dem

Königlichen Inſiegel ausgefertigt ſind. Der im §. 247. angegebene

allgemeine Begriff der Urkunden iſt auch bei den hier aufgeführten be-

ſonderen Arten maaßgebend.

b. Andere öffentliche und authentiſche Urkunden. Die Dokumente,

welche im Sinne des Strafgeſetzbuchs ſo zu bezeichnen ſind, finden ſich

§. 251. Nr. 2. aufgezählt; es werden diejenigen darunter begriffen,

welche:

1) von Staatsbehörden ſo wie

2) von Gemeinden oder Korporationen des Inlandes oder Aus-

landes,

3) von inländiſchen oder ausländiſchen Beamten, oder

4) von ſolchen Perſonen, welche nach den Geſetzen des Inlandes

oder Auslandes öffentlichen Glauben haben, aufgenommen, aus-

gefertigt oder beglaubigt werden.

Die hier gemeinten Perſonen ſind namentlich die Notare und die

Pfarrer, letztere inſofern ſie die Kirchenbücher führen und die entſpre-

chenden Zeugniſſe ausſtellen. — Statt der Gemeinden und Korpora-

tionen werden übrigens regelmäßig deren Vorſtände die Urkunden aus-

ſtellen oder beglaubigen; daß aber nicht allein die Gemeinden, ſondern

überhaupt die Korporationen hier genannt werden, erklärt ſich aus dem

allgemeinen Aufſichtsrecht, welches von Staatswegen über dieſelben

ausgeübt wird. An ſich ſind ſie ſonſt in der Regel nur den Privat-

perſonen in rechtlicher Beziehung gleichgeſtellt. w)

Bei der Beſtimmung, daß in Beziehung auf die öffentlichen Ur-

kunden das Ausland dem Inlande gleich geſtellt ſein ſoll, ging man

von der Anſicht aus, daß abgeſehen davon, daß auswärtige Urkunden

v) Vgl. Code pénal. Art. 164.

w) Die neueren Deutſchen Strafgeſetzbücher haben die qualifizirte Urkundenfäl-

ſchung nicht ſo weit ausgedehnt; ſie beziehen dieſelbe durchweg nur auf die Urkunden

öffentlicher Behörden oder ſolcher Perſonen, die öffentlichen Glauben haben. —

Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 247. — Württemb. Strafgeſetzb. Art. 219.

— Hannov. Criminalgeſetzbuch. Art. 196. — Heſſiſches Strafgeſetzb.

Art. 386. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 252. — Das Badiſche Straf-

geſetzbuch §. 423. gebraucht den Ausdruck „öffentliche Urkunden“ ohne eine nähere

Bezeichnung derſelben.

[479/0489]

§. 252. Falſche Beurkundung.

auch hier im Staate häufig gebraucht werden, der Schutz des Straf-

geſetzes im allgemeinen Intereſſe ſich auf Alles ausdehnen muß, was

das Zeichen der Oeffentlichkeit an ſich trägt. x) Im Allgemeinen iſt

aber wohl zu beachten, daß es ſich hier nicht um die Beweiskraft

ſolcher Urkunden im Prozeß, ſondern nur um die höhere Strafbarkeit

ihrer Verfälſchung handelt.

c. Bücher, Regiſter, Kataſter oder Inventarien, welche unter amt-

lichem Glauben geführt werden.

d. Verfügungen von Todeswegen. Die früheren Entwürfe hatten

hier die letztwilligen Verfügungen genannt; in der Kommiſſion der

zweiten Kammer wurde aber die angeführte Bezeichnung vorgezogen,

um keinen Zweifel darüber aufkommen zu laſſen, daß auch die Erb-

verträge mit gemeint ſeien. y)

e. Wechſel. Es ſind hier ſowohl die gezogenen als die eigenen

Wechſel gemeint; z) die früher angeführten kaufmänniſchen Anweiſungen

und Handelsbillets ſind ſeit der Publikation der allgemeinen Deut-

ſchen Wechſelordnung, welche ſolche Papiere nicht kennt, weggelaſſen

worden. a)

Unter Wechſel iſt hier übrigens der ganze Inhalt der Urkunde zu

verſtehen, mit Einſchluß der in dieſelbe eingetragenen Nebengeſchäfte:

der Acceptation, des Indoſſements u. ſ. w.

§. 252.

Wer in der Abſicht, ſich oder Anderen Gewinn zu verſchaffen oder Anderen

Schaden zuzufügen, bewirkt, daß Verhandlungen, Erklärungen oder Thatſachen,

welche für Rechte oder Rechtsverhältniſſe von Erheblichkeit ſind, in öffentlichen

Urkunden, Büchern oder Regiſtern als abgegeben oder geſchehen beurkundet

werden, während ſie gar nicht oder in anderer Weiſe oder von anderen

Perſonen abgegeben oder geſchehen ſind, wird mit Zuchthaus bis zu zehn

Jahren und zugleich mit Geldbuße von Einhundert bis zu zweitauſend Tha-

lern beſtraft.

Dieſelbe Strafe trifft denjenigen, welcher zum Nachtheil eines Anderen von

ſolchen falſchen Beurkundungen, wiſſend, daß ſie falſch ſind, Gebrauch macht.

Der qualifizirten Urkundenfälſchung ſoll es gleich geachtet werden,

wenn jemand die Aufnahme unrichtiger Verhandlungen, Erklärungen

x) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 402.

y) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 227. (251.).

z) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 413.

a) Motive zum Entwurf von 1850. §. 227.

[480/0490]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIII. Urkundenfälſchung.

oder Thatſachen in öffentliche Urkunden, Bücher oder Regiſter bewirkt.

Es wird darunter der Fall verſtanden, welchen die Franzöſiſche Juris-

prudenz im Gegenſatz zur materiellen Fälſchung, bei welcher eine Ver-

änderung an dem Aeußern der Urkunde vorgenommen wird, als die

intellektuelle Fälſchung bezeichnet. Der Thatbeſtand des Verbrechens iſt

in dem Geſetzbuch genau angegeben; ein weſentlicher Unterſchied von

dem der Urkundenfälſchung im engeren Sinne beſteht darin, daß bei einer

ſolchen intellektuellen Fälſchung der Gebrauch der unrichtigen Urkunde

von Seiten des Thäters, nicht für nothwendig erklärt iſt, ſo daß das

Verbrechen, wie bei der Münzfälſchung, ſchon mit der Thatſache der

bewirkten Fälſchung vollendet iſt. Das Strafgeſetzbuch ſtimmt alſo in

dieſem Fall mit dem Code pénal überein. — Der wiſſentliche Gebrauch

eines ſolchen Dokuments wird der Fälſchung gleich beſtraft, voraus-

geſetzt, daß derjenige, welcher den Gebrauch davon macht, zum Nach-

theile eines Anderen handelt. b) Liegt alſo der Fall vor, daß jemand

eine ſolche falſche Beurkundung bewirkt und ſelbſt davon Gebrauch

gemacht hat, ſo findet eigentlich ein Zuſammentreffen mehrerer Ver-

brechen ſtatt, und es käme auf die beſonderen Umſtände an, ob die

Regel des §. 55. oder die des §. 56. darauf zur Anwendung zu bringen

wäre. Indeſſen ſcheint nach der Faſſung des §. 252. Abſ. 2. eine ſo

ſtrenge Durchführung des Princips nicht in der Abſicht des Geſetzgebers

gelegen zu haben; denn die Vorſchrift bezieht ſich doch nur auf ſolche

Perſonen, welche nicht ſelbſt die Fälſchung bewirkt haben.

Der Entwurf von 1847. §. 319. hatte noch eine Strafvorſchrift

für den Fall, wenn die Aufnahme unrichtiger Thatſachen in öffentliche

Urkunden u. ſ. w. vorſätzlich, jedoch nicht in der Abſicht, einen Gewinn

zu machen oder Schaden zuzufügen, bewirkt iſt. Der vereinigte ſtän-

diſche Ausſchuß beſchloß aber den Wegfall dieſer Beſtimmung. c)

§. 253.

Wer unächtes Stempelpapier anfertigt, oder ächtes Stempelpapier ver-

fälſcht, ingleichen wer wiſſentlich von falſchem oder verfälſchtem Stempelpapier

Gebrauch macht, wird mit Gefängniß nicht unter drei Monaten, ſowie mit

zeitiger Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte beſtraft.

Eine gleiche Strafe hat derjenige verwirkt, welcher ſich einer dieſer Hand-

lungen in Beziehung auf Poſtfreimarken oder geſtempelte Briefcouverts

ſchuldig macht.

Die Fälſchung von Stempelpapier, welcher die von Poſtfreimarken

b) Chauveau et Hélie Faustin. l. c. chap. XXVI.

c) Verhandlungen. IV. S. 310-13.

[481/0491]

§. 253. Fälſchung von Stempelpapier.

und geſtempelten Briefcouverts gleich geſtellt iſt, war in dem Entwurf

von 1847. §. 314. unter die Fälle der qualifizirten Urkundenfälſchung

aufgenommen worden. Auf Grund eines Beſchluſſes des vereinigten

ſtändiſchen Ausſchuſſes d) iſt aber gegenwärtig nur die Strafe des unter

erſchwerenden Umſtänden verübten Betruges, jedoch ohne die Geldbuße

(§. 243.) auf dieſes Vergehen geſetzt worden. Während aber früher

nur das inländiſche Stempelpapier unter den Schutz des Strafrechts

geſtellt war, iſt die Vorſchrift des Geſetzbuchs ohne dieſe Beſchränkung

gefaßt, ſo daß kein genügender Grund zu beſtehen ſcheint, ſie nicht auch

auf ausländiſche Papiere der bezeichneten Art zu beziehen. Bei dem

Münzverbrechen und der qualifizirten Urkundenfälſchung iſt das aller-

dings ausdrücklich vorgeſchrieben, und zwar um der Rechtsſicherheit

willen, und nicht zur Wahrung des fiskaliſchen Intereſſe, welches bei

den Strafbeſtimmungen gegen die Fälſchung des Stempelpapiers beſon-

ders in Betracht kommt. Indeſſen weiſt doch die Herunterſetzung der

Strafe auf die des Betrugs darauf hin, daß hier das Unrecht im All-

gemeinen geahndet werden ſoll, und auch für die Rechtsſicherheit im

Inlande iſt es nicht gleichgültig, ob unächtes Stempelpapier fremder

Staaten verfertigt wird oder nicht. Wird doch auch bei der einfachen

Urkundenfälſchung ein ſolcher Unterſchied nicht angenommen.

Der wiſſentliche Gebrauch des falſchen oder verfälſchten Papiers

iſt auch in dieſem Fall der Fälſchung ſelbſt gleichgeſtellt.

§. 254.

Mit Gefängniß von Einer Woche bis zu drei Monaten wird beſtraft:

1) wer einen falſchen Reiſepaß anfertigt, einen ächten Reiſepaß verfälſcht,

oder von einem falſchen oder verfälſchten Reiſepaſſe wiſſentlich Ge-

brauch macht;

2) wer ſich einen Reiſepaß auf einen falſchen Namen ausſtellen läßt, von

einem auf einen anderen Namen ausgeſtellten Reiſepaſſe, als ſei er für

ihn ausgeſtellt, wiſſentlich Gebrauch macht, einen für ihn ausgeſtellten

Reiſepaß einem Anderen zum Gebrauche überläßt, oder als Zeuge

dazu mitwirkt, daß ein Reiſepaß unter falſchem Namen verabfolgt wird.

Dieſelbe Strafe tritt ein, wenn die vorſtehend bezeichneten Handlungen in

Beziehung auf Wanderbücher oder ſonſtige Legitimationspapiere, welche die

Stelle der Reiſepäſſe vertreten, begangen werden.

§. 255.

Mit Gefängniß von vierzehn Tagen bis zu ſechs Monaten wird beſtraft:

1) wer unter dem Namen eines Beamten oder einer Behörde ein Zeugniß

über gute Aufführung, Armuth oder ſonſtige Umſtände anfertigt, welche

d) a. a. O. S. 303-7.

[482/0492]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIII. Urkundenfälſchung.

geeignet ſind, die darin bezeichnete Perſon dem Wohlwollen Anderer

zu empfehlen, und ihr Unterkommen oder Unterſtützung zu verſchaffen;

2) wer ein urſprünglich ächtes Zeugniß dieſer Art verfälſcht, um es für

eine andere Perſon, als für welche es ausgeſtellt war, paſſend zu

machen;

3) wer von einem derartigen falſchen oder verfälſchten Zeugniſſe wiſſentlich

Gebrauch macht.

§. 256.

Wer unter dem Namen eines Arztes, Wundarztes oder einer anderen Me-

dizinalperſon ein Zeugniß über ſeinen oder eines Anderen Geſundheitszuſtand

ausſtellt, und davon zur Täuſchung von Behörden oder Verſicherungsgeſell-

ſchaften Gebrauch macht, wird mit Gefängniß von Einem Monate bis zu

Einem Jahre beſtraft; auch kann gegen denſelben auf zeitige Unterſagung der

Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

§. 257.

Aerzte, Wundärzte oder Medizinalperſonen, welche unrichtige Zeugniſſe über

den Geſundheitszuſtand eines Menſchen zum Gebrauche bei einer Behörde oder

Verſicherungsgeſellſchaft wider beſſeres Wiſſen ausſtellen, werden mit Gefängniß

von drei bis zu achtzehn Monaten, ſowie mit zeitiger Unterſagung der Aus-

übung der bürgerlichen Ehrenrechte beſtraft.

§. 258.

Wer, um eine Behörde oder eine Verſicherungsgeſellſchaft über ſeinen oder

eines Anderen Geſundheitszuſtand zu täuſchen, von einem Zeugniſſe der in

den §§. 256. und 257. erwähnten Art Gebrauch macht, wird mit Gefängniß

von Einem Monate bis zu Einem Jahre beſtraft; auch kann gegen den-

ſelben auf zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte

erkannt werden.

Es folgt hier eine Reihe von Beſtimmungen, welche ſich auf

Handlungen beziehen, die mit der Urkundenfälſchung verwandt ſind, bei

denen auch unter Umſtänden der volle Thatbeſtand dieſes Verbrechens

vorliegen kann, die aber das Strafgeſetzbuch ſelbſtändig behandelt und

beurtheilt wiſſen will. Dieſe Beſtimmungen beziehen ſich auf die Fäl-

ſchung von Reiſepäſſen und ähnlichen Legitimationspapieren (§. 254.),

von amtlichen Atteſten (§. 255.) und von Zeugniſſen der Aerzte und

anderer Medizinalperſonen (§§. 256-58.). Die letztere Klaſſe von

Papieren findet ſich erſt in dem Entwurf von 1850. aufgeführt; in

Beziehung auf Legitimationspapiere und Führungsatteſte hatte aber bereits

der Entwurf von 1830. eine Vorſchrift:

§. 428. „Wer Päſſe, Reiſerouten, Wanderbücher, Geſindebücher,

oder andere Zeugniſſe, welche über Aufführung, Fähigkeiten oder andere

perſönliche Eigenſchaften ertheilt werden, nachmacht oder verfälſcht, und

davon lediglich zu ſeinem beſſern Fortkommen Gebrauch macht; wer

[483/0493]

§§. 254-258. Fälſchung von Reiſepäſſen, Zeugniſſen u. ſ. w.

ſich dazu der von Andern verfälſchten oder auch ächter Schriften, die

für einen Andern beſtimmt ſind, wiſſentlich bedient, hat Gefängnißſtrafe

verwirkt.“

In der Staatsraths-Kommiſſion fand man den Thatbeſtand dieſer

Vergehen jedoch nicht glücklich bezeichnet und beſchloß, nach dem Vor-

gange des dem Franzöſiſchen Recht folgenden Heſſiſchen Strafgeſetzbuchs

(Art. 388. 389.) die Fälſchung der hier erwähnten Papiere von der

Strafbeſtimmung über die Urkundenfälſchung auszunehmen, und in

Anſehung derſelben eine eigene, beſondere Strafe feſtzuſetzen. e) Im

Staatsrathe machte ſich aber die Anſicht geltend, daß eine ſolche beſon-

dere Strafe ſich nur dann rechtfertige, wenn nicht die allgemeinen

Vorausſetzungen der Fälſchung oder des Betrugs vorliegen, f) und der

Entwurf von 1843. §. 469. wurde in dieſem Sinne mit einem Vor-

behalt verſehen, was ſpäter dahin führte, die ganze Vorſchrift auf die

ohne betrügeriſche Abſicht erfolgten Fälſchungen der bezeichneten Papiere

zu beſchränken. g) Der Entwurf von 1847. lautete daher

§. 318. „Wer ohne die Abſicht, ſich oder Anderen Gewinn zu

verſchaffen oder Anderen Schaden zuzufügen, jedoch zu dem Zwecke,

Behörden oder Privatperſonen über ſich und ſeine Angelegenheiten zu

täuſchen, einen Reiſepaß, einen Legitimationsſchein, ein Wanderbuch

oder eine andere öffentliche Urkunde, oder ein Führungs- oder Fähig-

keitszeugniß falſch anfertigt oder verfälſcht, oder von einer ſolchen fal-

ſchen oder verfälſchten Urkunde wiſſentlich Gebrauch macht, iſt mit Ge-

fängniß oder mit Strafarbeit bis zu zwei Jahren zu beſtrafen.“

„Auf dieſelbe Strafe iſt gegen Den zu erkennen, welcher zu gleichem

Zwecke von ſolchen für einen Andern ausgeſtellten ächten Urkunden, als

ſeien ſie für ihn ausgeſtellt worden, Gebrauch macht, oder welcher ſolche

für ihn ausgeſtellte Urkunden einem Andern zu dem gedachten Zweck überläßt.“

Der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß erklärte ſich mit dieſer Beſtim-

mung einverſtanden, und ſetzte nur die Dauer der Gefängnißſtrafe auf

Ein Jahr herunter; h) der Entwurf von 1850. iſt aber zu der urſprüng-

lichen Anſicht der Staatsraths-Kommiſſion zurückgekehrt, und hat in

Nachahmung des Code pénal die bezeichneten Handlungen neben

der Urkundenfälſchung als beſondere Vergehen aufgeſtellt. Die gerin-

gere Strafbarkeit der Handlung iſt von dem Geſetzgeber principiell an-

erkannt worden. i)

e) Berathungs-Protokolle. III. S. 404.

f) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 11. Mai 1842.

g) Reviſion von 1845. III. S. 45.

h) Verhandlungen. IV. S. 308-10.

i) Vgl. Code pénal. Art. 153-62. — Chauveau et Hélie Fau-

stin. l. c. chap. XXVII.

[484/0494]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIII. Urkundenfälſchung.

A. Fälſchung von Reiſepäſſen, Wanderbüchern oder ſonſtigen Le-

gitimationspapieren, welche die Stelle der Reiſepäſſe vertreten (§. 254.).

Die a. a. O. bezeichneten ſtrafbaren Handlungen entſprechen im Allge-

meinen den verſchiedenen Fällen, in denen auch eine Urkundenfälſchung

vorkommen kann, nur iſt hier die Beihülfe Behufs der Ausſtellung

oder des Gebrauchs eines falſchen Paſſes noch beſonders hervorge-

hoben. — Die Strafe iſt Gefängniß von Einer Woche bis zu drei

Monaten.

B. Fälſchung eines unter dem Namen eines Beamten oder einer

Behörde ausgeſtellten Zeugniſſes über gute Aufführung, Armuth u. dgl.

(§. 255.).

Auch hier ſind falſche Anfertigung, Verfälſchung, wiſſentlicher Ge-

brauch gleichmäßig unter Strafe geſtellt, die in Gefängniß von vierzehn

Tagen bis zu ſechs Monaten beſteht. — Die Beſchränkung auf die

öffentlichen Atteſte der gedachten Art, alſo die Ausſchließung der

Privat-Dienſtatteſte iſt deswegen beliebt worden, weil ohne eine ſolche

feſte Grenze der Thatbeſtand des Vergehens zu unbeſtimmt und die

Strafbeſtimmung zu weit geworden wäre. k)

C. Fälſchung ärztlicher Zeugniſſe. Hier iſt zu unterſcheiden:

I. Jemand ſtellt unter dem Namen eines Arztes, Wundarztes

oder einer anderen Medizinalperſon ein Zeugniß über ſeinen oder eines

Anderen Geſundheitszuſtand aus, und macht davon zur Täuſchung von

Behörden oder Verſicherungsgeſellſchaften Gebrauch (§. 256.). Dann

tritt Gefängnißſtrafe von Einem Monate bis zu Einem Jahre ein;

auch kann auf zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt

werden. — Der Gebrauch des Zeugniſſes gehört alſo hier mit zum

Thatbeſtande des Vergehens.

II. Aerzte, Wundärzte oder andere Medizinalperſonen ſtellen wider

beſſeres Wiſſen unrichtige Zeugniſſe über den Geſundheitszuſtand eines

Menſchen zum Gebrauche bei einer Behörde oder Verſicherungsgeſell-

ſchaft aus (§. 257.). In dieſem Fall iſt die Strafe Gefängniß von

drei bis zu achtzehn Monaten, ſo wie zeitige Unterſagung der Aus-

übung der bürgerlichen Ehrenrechte.

III. Jemand macht von einem Zeugniſſe der unter I. und II. er-

wähnten Art Gebrauch, um eine Behörde oder Verſicherungsgeſellſchaft

über ſeinen oder eines Anderen Geſundheitszuſtand zu täuſchen (§. 258.).

Auf eine ſolche Handlung iſt die in §. 256. vorgeſchriebene Strafe

geſetzt.

k) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 255.

[485/0495]

§. 259. Betrüglicher Bankerutt.

Vierundzwanzigſter Titel.

Bankerutt.

§. 259.

Handelsleute, Schiffsrheder und Fabrikbeſitzer, welche ihre Zahlungen ein-

geſtellt haben, werden, als des betrüglichen Bankerutts ſchuldig, mit Zucht-

haus bis zu funfzehn Jahren beſtraft:

1) wenn ſie ihr Vermögen ganz oder theilweiſe verheimlicht oder bei Seite

geſchafft haben;

2) wenn ſie Schulden oder Rechtsgeſchäfte anerkannt oder aufgeſtellt haben,

welche ganz oder theilweiſe erdichtet ſind;

3) wenn ſie in der Abſicht, ihre Gläubiger zu benachtheiligen, Handelsbücher

zu führen unterlaſſen haben, obgleich deren Führung geſetzlich vorgeſchrie-

ben, oder nach der Beſchaffenheit ihres Geſchäfts erforderlich war;

4) wenn ſie in gleicher Abſicht ihre Handelsbücher verheimlicht oder vernichtet

oder ſo geführt oder verändert haben, daß dieſelben keine Ueberſicht des

Vermögenszuſtandes gewähren.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo iſt die Strafe

Gefängniß nicht unter drei Monaten; zugleich kann auf zeitige Unterſagung

der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Während die Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts über den

ſtrafbaren Bankerutt (Th. II. Tit. 20. §. 1452-87.) allgemein gefaßt

ſind, und den beſonderen Gewerbebetrieb des Thäters nur in einzelnen

Beziehungen berückſichtigen, ſind die des Rheiniſchen Rechts nur gegen

den Bankerutt der Handelsleute (commerçans) im Sinne des Handels-

geſetzbuchs gerichtet. l) Von den neueren Deutſchen Strafgeſetzbüchern

ſind einige der Auffaſſung des Landrechts gefolgt, m) andere haben da-

gegen das Rheiniſche Recht zum Vorbilde genommen, wenn auch im

Einzelnen manche Abweichungen vorkommen. n)

Auch bei der Reviſion des Strafrechts haben in den verſchiedenen

Stadien derſelben verſchiedene Anſichten über die Strafbarkeit des Ban-

kerutts ſich geltend gemacht. Der Entwurf von 1830. §. 434. 435.

l) Code pénal. Art. 402-4. Der Code de commerce hat übrigens in

Frankreich durch das Geſetz vom 28. Mai 1838. in Beziehung auf die Beſtimmun-

gen über Falliments und Bankerutte weſentliche Abänderungen erfahren. Vgl. über-

haupt Chauveau et Hélie Faustin. l. c. chap. LXI. IV. p. 70-84.

m) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 256. 258. — Braunſchw. Criminal-

geſetzb. §. 233. 234. — Thüring. Strafgeſetzb. Art. 242. 244.

n) Württemb. Strafgeſetzb. Art. 364-67. — Hannov. Criminal-

geſetzb. Art. 220. 221. — Heſſiſches Strafgeſetzb. Art. 403-6. — Bad.

Strafgeſetzbuch §. 467-70.

[486/0496]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIV. Bankerutt.

handelte nur von Kaufleuten und ſolchen Perſonen, denen vom Geſetz

kaufmänniſche Rechte beigelegt ſind; der Entwurf von 1836. §. 648.

bis 653. kehrte aber auch in dieſer Beziehung wieder zum Standpunkte

des Allgemeinen Landrechts zurück. In der Staatsraths-Kommiſſion

wurde dafür namentlich angeführt, „daß nicht allein Kaufleute und Ge-

werbtreibende, ſondern auch andere Perſonen, insbeſondere Gutsbeſitzer,

des perſönlichen Kredits bedürfen, daß bei dem gegenſeitigen Eingreifen

in den Betrieb der Gewerbe und bei der Art und Weiſe des üblichen

Lebens ein allgemeiner Kredit erforderlich und eine Beſchränkung auf

einzelne Klaſſen der Geſellſchaft nicht möglich ſei, und daß ſich über-

dies die Strafbarkeit der Handlung, welche hier vorliege, nicht auf den

Mißbrauch des Kredits allein beſchränke. Der vorſätzliche Bankerutt

ſei eine Art des Betrugs. Werde dieſe Art des Betruges bei Kauf-

leuten beſonders ausgezeichnet, ſo müſſe dies auch bei andern Perſonen

geſchehen, da die ſtrafbare Handlung als ſolche dieſelbe ſei. Der Um-

ſtand, daß der Schuldner ein Kaufmann ſei, habe nur eine ſekundäre

Bedeutung; das Weſentliche liege darin, daß der Schuldner das in ihn

geſetzte Vertrauen getäuſcht, die Rechte Dritter verletzt, und da gewöhn-

lich mehrere Gläubiger betheiligt ſeien, ein Verbrechen begangen habe,

welches den gemeingefährlichen ſich nähere. Ueberdies ſei die geſetzliche

Begünſtigung des Kredits nicht auf Kaufleute allein beſchränkt, da auch

durch andere, als kaufmänniſche Papiere, das ſchleunige Verfahren des

Exekutivprozeſſes begründet werde. Der Schutz ſei allem Verkehr, nur

in verſchiedenem Grade verliehen; es reiche deshalb auch gegen Andere

als Kaufleute die Strafe des gemeinen Betruges nicht aus, und es ſei

erforderlich, unter Annahme des Prinzips der allgemeinen Strafbarkeit,

der Bahn des Allgemeinen Landrechts zu folgen.“

In dem entgegengeſetzten Sinne wurde bemerkt: „Zuvörderſt müſſe

man den Geſichtspunkt feſthalten, daß, wenn man den Begriff des Ban-

kerutts auf Kaufleute beſchränke, hierdurch nicht etwa eine Strafloſigkeit

der Nichtkaufleute in Anſehung von Handlungen ausgeſprochen würde,

die, wenn ſie von Kaufleuten begangen worden, das Verbrechen des

betrügeriſchen Bankerutts begründen würden. Im Gegentheil trete in

den Fällen, wo das Vermögen über die Seite geſchafft, oder erdichtete

Gläubiger aufgeſtellt würden, die Strafe des Betruges ein, ohne daß

es hierzu einer ſpeziellen Beſtimmung bedürfe. Gleichergeſtalt ziehe das

Schuldenmachen, wenn es die Merkmale des §. 608. (241. des Straf-

geſetzbuchs) enthalte, die Strafe dieſes letztern Verbrechens (des Betruges)

nach ſich. Es frage ſich alſo blos, ob eine Nothwendigkeit vorhanden

ſei, in den erwähnten Fällen die Strafe des Betrugs bei Nichtkaufleu-

ten in gleicher Art, wie bei Kaufleuten zu verſchärfen. Dieſe Frage

[487/0497]

§. 259. Betrüglicher Bankerutt.

dürfte aber um ſo mehr zu verneinen ſein, als die Strafe des Betruges

— — bedeutend erhöhet worden ſei. Der Grund, weshalb der Miß-

brauch des Kredits abſeiten der Kaufleute beſonders ſtrenge beſtraft wer-

den müſſe, liege vorzüglich darin, daß ſie eines umfaſſenden Kredits

bedürfen, und deshalb zum Schutz des Kredits der Mißbrauch deſſelben

ſtrenge zu ahnden ſei. — — Hierzu komme, daß durch den Mißbrauch

des kaufmänniſchen Kredits auch das Gemeinwohl in einem höheren

Grade gefährdet werde, einmal, weil die Rechtsverletzung bei der Noth-

wendigkeit des Kredits ausgebreiteter ſei, ſodann aber, weil der Kredit

des Handels im Allgemeinen dadurch verliere, daß Vermögensausfälle

das Vertrauen zur Anlegung von Geldern im Handel ſchwächen. Alle

dieſe Gründe der Straferſchwerung träten aber bei Nichtkaufleuten nicht

ein. Das größere Bedürfniß eines perſönlichen Kredits liege bei den-

ſelben nicht vor; die Zahlungsunfähigkeit könne im Reatus ihrer Hand-

lungsweiſe nichts ändern und es könne hinſichtlich ihrer in Anſehung

der Fälle des betrüglichen Bankerutts ganz füglich bei den allgemei-

nen Strafen des Betruges bewenden. Noch weniger würde es ſich aber

rechtfertigen, wenn man das Verbrechen des einfachen Bankerutts auch

auf die Nichtkaufleute beziehen wolle.“ o)

Die Kommiſſion wählte zwiſchen dieſen ſich entgegenſtehenden An-

ſichten einen Mittelweg, indem ſie beſchloß, das Verbrechen des Banke-

rutts auf Gewerbetreibende zu beziehen. Auf Kaufleute allein könne

der Begriff des Verbrechens ſchon deshalb nicht beſchränkt werden, weil

nach den für die größeren Handelsſtädte erlaſſenen Statuten der kauf-

männiſchen Korporationen nur diejenigen Handeltreibenden als Kauf-

leute zu betrachten ſeien, welche Mitglieder dieſer Korporationen gewor-

den, obgleich es außer ihnen in allen dieſen Städten noch Handeltrei-

bende gäbe, auf welche das Strafgeſetz gleichfalls Anwendung finden

müſſe. — Der Staatsrath erklärte ſich hiermit einverſtanden, und der

Entwurf von 1843. §. 481. 482. wurde demgemäß abgefaßt.

Später wurden aber von verſchiedenen Seiten Bedenken gegen dieſe

Behandlung der Sache laut, indem man ſich einerſeits gegen die Be-

ſchränkung der Vorſchriften über den Bankerutt auf die Gewerbetreiben-

den erklärte, andererſeits aber die Ausdehnung derſelben auf alle Ge-

werbetreibenden tadelte. Das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion neigte

ſich der letzteren Anſicht zu. Da die Beſtrafung des Bankerutts in der

Rückſicht auf den öffentlichen Kredit ihren Grund habe, ſo müßten ſolche

Gewerbe außer Acht bleiben, bei denen von einem öffentlichen Kredit

o) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 422-24.

[488/0498]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. Tit. XXIV. Bankerutt.

ſelten oder nie die Rede ſei. Am Angemeſſenſten wähle man den Aus-

druck „Handeltreibende und Fabrikbeſitzer“. Dadurch würden die kleine-

ren, keinen eigentlichen Handel treibenden Gewerbsleute ausgeſchloſſen,

und ebenſo die Gutsbeſitzer und Landleute, die nur die Erzeugniſſe ihrer

Wirthſchaft verkaufen. Andererſeits ſei jener Ausdruck ausreichend, da

er alle Perſonen umfaſſe, auf welche die Bankeruttgeſetze ihrem Grunde

nach anzuwenden ſeien, namentlich auch die Buchhändler, Apotheker,

Verſicherer. Die Schiffsrheder gehörten allerdings nicht dazu; es ſei

aber auch nicht nöthig, ſie darunter zu befaſſen. p) — Der auf dieſe

Ausführung begründete Vorſchlag wurde zwar Anfangs in der Staats-

raths-Kommiſſion verworfen, q) ſpäter aber unter Hinzufügung der

Schiffsrheder angenommen, und dieſe Faſſung in dem Strafgeſetzbuch

beibehalten, indem nur ſtatt „Handeltreibende“ der Ausdruck „Handels-

leute“ gewählt wurde. r)

Eine andere Frage, die bei der Reviſion von 1845. zur Erörterung

kam, war die, ob es nicht richtiger ſei, ſich bei dem betrügeriſchen Ban-

kerutt des Spezialiſirens zu enthalten, und anſtatt deſſen den allgemei-

nen Thatbeſtand des Verbrechens aufzuſtellen, und beiſpielsweiſe etwa

einzelne Fälle deſſelben anzuführen. Aber der dafür vorgebrachte Grund,

daß ſich im Leben und Verkehr neue Formen einer betrüglichen Ver-

letzung des öffentlichen Kredits bilden könnten, denen dann im Geſetz-

buch nicht vorgeſehen ſei, wurde nicht für entſcheidend gehalten. Sollte

ſich das Bedürfniß weiterer Strafſatzungen herausſtellen, ſo würde aller-

dings die Geſetzgebung daſſelbe befriedigen müſſen; inzwiſchen würden

die allgemeinen Beſtimmungen über den Betrug aushelfen. So wenig

aber die Fälle des ſchweren Diebſtahls und des qualifizirten Betruges

unter Einen Begriff zu bringen ſeien, ſo wenig könne es gelingen, den

Charakter derjenigen betrügeriſchen Handlungen, welche bei der Zah-

lungsunfähigkeit die hohen Strafen des Bankerutts rechtfertigen, durch

allgemeine Merkmale ſo zu bezeichnen, daß nicht eine völlig unange-

meſſene Anwendung zu befürchten wäre. s)

I. Ein ſtrafbarer Bankerutt im Sinne des Geſetzbuchs wird nur

von Handelsleuten, Schiffsrhedern oder Fabrikbeſitzern begangen. Die

nähere Beſtimmung dieſer Begriffe iſt dem Handels- und Gewerbsrechte

p) Reviſion von 1845. III. S. 50-52.

q) Verhandlungen von 1846. S. 170.

r) Fernere Verhandlungen von 1847. S. 45. — Entwurf von 1847.

§. 324-26. — Verhandlungen des vereinigten ſtänd. Ausſchuſſes. IV.

S. 319-29. — Motive zum Entwurf von 1850. §. 235. (259.) —

Be-

richt der Kommiſſion der zweiten Kammer ebendaſ. — Bericht der Kom-

miſſion der erſten Kammer ebendaſ.

s) Reviſion a. a. O. S. 52. 53. — Motive a. a. O.

[489/0499]

§. 259. Betrüglicher Bankerutt.

zu entnehmen und wird erſt durch die Geſetzgebung für alle Theile der

Monarchie gleichmäßig feſtzuſetzen ſein. Im Allgemeinen iſt nur zu

bemerken, daß unter Handelsleuten nicht ausſchließlich die einer kauf-

männiſchen Korporation angehörenden Gewerbetreibenden zu verſtehen

ſind. Man hat abſichtlich den Ausdruck „Kaufleute“, der eine ſolche

engere Bedeutung haben würde, vermieden. — Unter Schiffsrhedern

ſind aber nur ſolche Perſonen zu verſtehen, welche die Rhederei gewerb-

mäßig treiben, nicht aber ſolche, die, wie der Kommanditiſt bei der ſtil-

len Handelsgeſellſchaft, gelegentlich durch Geldeinlagen ſich dabei be-

theiligen.

II. Der betrügliche Bankerutt ſetzt voraus, daß der Thäter ſeine

Zahlung eingeſtellt hat; die Eröffnung des förmlichen Falliſſements- und

Konkursverfahrens braucht aber deswegen noch nicht eingetreten zu ſein. t)

III. Die Fälle, in denen ein betrüglicher Bankerutt anzunehmen,

ſind folgende:

a. Der Gemeinſchuldner hat ſein Vermögen ganz oder theilweiſe

verheimlicht oder bei Seite geſchafft;

b. er hat Schulden oder Rechtsgeſchäfte anerkannt oder aufgeſtellt,

welche ganz oder theilweiſe erdichtet ſind. — Handlungen dieſer Art

werden regelmäßig von dem Gemeinſchuldner zu dem Zweck begangen,

um ſein Vermögen ganz oder theilweiſe ſelbſt zu behalten oder es an-

deren Perſonen, namentlich ſeinen Angehörigen zuzuwenden; ſie werden

aber auch dann vorkommen, wenn jemand ſich fälſchlich zur Verkürzung

der Gläubiger für zahlungsunfähig ausgegeben hat, und es bedurfte

daher für dieſen Fall keiner beſonderen Beſtimmung, zumal die mate-

rielle Unzulänglichkeit des Vermögens und die wirkliche Verkürzung der

Gläubiger zum Thatbeſtande des vollendeten Bankerutts nicht gehört. u

c. Der Gemeinſchuldner hat in der Abſicht, ſeine Gläubiger zu

benachtheiligen, Handelsbücher zu führen unterlaſſen, obgleich deren

Führung geſetzlich vorgeſchrieben, oder nach der Beſchaffenheit ſeines Ge-

ſchäftes erforderlich war. — Aus dieſer Beſtimmung geht hervor, daß

nicht allein von denjenigen Gewerbtreibenden der oben bezeichneten Art,

welche Handelsbücher führen, ein betrüglicher Bankerutt begangen wer-

den kann, wenn auch gewöhnlich eine ſolche Einrichtung mit ihrem Ge-

ſchäftsbetriebe verbunden ſein wird. Die Beſtimmung über die unter-

t) Erklärung des Regierungs-Kommiſſars Simons in dem vereinigten ſtändi-

ſchen Ausſchuß. IV. S. 323. 324.

u Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 235. (259.)

— Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ. Vgl. Verhand-

lungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 170.

Beſeler Kommentar. 32

[490/0500]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIV. Bankerutt.

laſſene Führung der Handelsbücher trifft aber natürlich diejenigen nicht,

welche ſie weder aus dem einen noch aus dem andern Grunde zu füh-

ren brauchen.

d. Er hat in der Abſicht, ſeine Gläubiger zu benachtheiligen, ſeine

Handelsbücher verheimlicht oder vernichtet oder ſo geführt oder verän-

dert, daß dieſelben keine Ueberſicht des Vermögenszuſtandes gewähren.

— Stehen ſolche Handlungen nicht in beſtimmter Beziehung zu einem

betrüglichen Bankerutt, ſo kommen die allgemeinen Regeln über Betrug

und Urkundenfälſchung zur Anwendung.

e. Der Entwurf von 1847. §. 324. Nr. 5. nahm auch dann den

betrüglichen Bankerutt an, wenn der Gemeinſchuldner Gelder, geldwerthe

Papiere oder Waaren, welche ihm in Beziehung auf ſein Geſchäft an-

vertraut ſind, unterſchlagen hat. Dieſe Beſtimmung war im Intereſſe

des Kommiſſions- und Speditionshandels nach dem Vorgange des

Rheiniſchen Rechts aufgenommen worden; v) ſie iſt aber ſpäter wegge-

laſſen, weil man annahm, daß bei einer ſolchen Handlungsweiſe die

Abſicht des Thäters ſelten darauf gerichtet ſein werde, die Geſammtheit

ſeiner Gläubiger zu benachtheiligen, und darin für das Verbrechen des

Bankerutts das charakteriſtiſche Merkmale liege. w) — Eine ähnliche Er-

wägung hatte ſchon früher dahin geführt, den Fall auszuſchließen, wenn

ein Bankeruttirer ſich durch falſche Vorſpiegelungen über ſeine Vermö-

gensverhältniſſe Kredit zu verſchaffen gewußt hat. Die betrügeriſche

Verleitung zum Kreditgeben ſtellt ſich nur als Betrug gegen den ein-

zelnen Gläubiger dar. x)

IV. Die Strafe des betrüglichen Bankerutts iſt Zuchthaus von

zwei bis zu funfzehn Jahren; dieſelbe iſt aber auf Gefängniß von drei

Monaten bis zu fünf Jahren ermäßigt, wenn das Vorhandenſein mil-

dernder Umſtände feſtgeſtellt wird. In dieſem Fall kann jedoch zugleich

auf zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. —

Die mildernden Umſtände ſind hier aber in der gewöhnlichen allgemei-

nen Bedeutung aufzufaſſen, und nicht wie in dem Entwurf von 1847.

§. 324. auf den Fall zu beſchränken, wenn der Thäter nur ein Ge-

werbe von geringem Umfange betrieben hat. y)

v) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 424. Vgl. Code de com. Art. 593. No. 5.

w) Motive zum Entwurf von 1850. §. 235.

x) Reviſion von 1845. III. S. 54. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 171.

y) Motive a. a. O. Vgl. Verhandlungen der Staatsraths-Kom-

miſſion von 1846. S. 170. — Die nur fakultative Entziehung der Ehrenrechte

iſt gegen die Regierungsvorlage ſowohl von dem vereinigten ſtänd. Ausſchuß

(Ver-

handlungen. IV. S. 329.) als auch von der Kommiſſion der zweiten Kammer

(Kommiſſionsbericht a. a. O.) beſchloſſen worden.

[491/0501]

§. 260. Theilnahme am betrüglichen Bankerutt.

§. 260.

Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird beſtraft:

1) wer im Intereſſe eines Handelsmannes, Schiffsrheders oder

Fabrikbeſitzers,

welcher ſeine Zahlungen eingeſtellt hat, deſſen Vermögen ganz oder theil-

weiſe verheimlicht oder bei Seite geſchafft hat;

2) wer im Intereſſe eines ſolchen Gemeinſchuldners, oder um ſich oder Ande-

ren Vortheil zu verſchaffen, erdichtete Forderungen im eigenen Namen oder

durch zwiſchengeſchobene Perſonen geltend gemacht hat.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo iſt die Strafe

Gefängniß nicht unter drei Monaten; zugleich kann auf zeitige Unterſagung

der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Hat der Thäter im Einverſtändniſſe mit dem Gemeinſchuldner gehandelt, ſo

kommen die allgemeinen Vorſchriften über die Theilnahme an Verbrechen zur

Anwendung.

Der Entwurf von 1836. enthielt folgende Beſtimmung:

§. 651. „Wer im Einverſtändniſſe mit dem betrüglichen Bankeru-

tirer demſelben behülflich iſt, ſein Vermögen zu verheimlichen oder ganz

oder theilweiſe den Gläubigern zu entziehen, wird mit Arbeitshaus von

ein bis vier Jahren oder Zuchthaus von zwei bis acht Jahren

beſtraft.“

In der Staatsraths-Kommiſſion wurde dieſe Vorſchrift aus dem

Grunde angenommen, weil von mehreren Gerichtshöfen die Anwendbar-

keit der allgemeinen Beſtimmungen über die Beſtrafung der Gehülfen

auf das Verbrechen des Bankerutts nicht für unzweifelhaft gehalten war,

indem ſie der Meinung geweſen, daß nur der Bankeruttirer allein we-

gen ſeines perſönlichen Verhältniſſes zu den Gläubigern ſich des Ver-

brechens ſchuldig mache. z) Der Staatsrath war jedoch der Anſicht, daß

die Anwendung der allgemeinen Grundſätze über die Theilnahme bei

dem Bankerutt keinem gegründeten Bedenken unterliegen könne, und be-

ſchloß daher den Wegfall jener Beſtimmung. a) Später wurde jedoch

in der Staatsraths-Kommiſſion auf den Vorſchlag der zugezogenen

Rheiniſchen Juriſten ein ähnlicher Zuſatz beliebt, b) welcher in den Ent-

wurf von 1847. überging und alſo lautete:

§. 325. „Mit der Strafe des betrüglichen Bankeruts wird belegt,

wer im Intereſſe eines Fabrikbeſitzers oder ſonſtigen Handeltreibenden,

welcher ſeine Zahlung einſtellt, deſſen Vermögen ganz oder theilweiſe

verheimlicht, oder den Gläubigern entzieht.“

„Dieſe Beſtimmung ſchließt die Anwendung der allgemeinen Vor-

z) Berathungs-Protokolle. III. S. 425.

a) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 11. Mai 1842.

b) Fernere Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von

1847. S. 62.

32*

[492/0502]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIV. Bankerutt.

ſchriften für den Fall nicht aus, in welchem der Schuldige im Einver-

ſtändniß mit demjenigen handelt, der ſeine Zahlungen einſtellt. “

Die vorberathende Abtheilung des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſ-

ſes trug auf die Streichung dieſes Paragraphen an, der von dem Re-

gierungs-Kommiſſar Simons in folgender Weiſe erläutert ward:

„Der Paragraph hat doch ſeine praktiſche Bedeutung und iſt auch

mit Beziehung auf das Rheiniſche Recht in das Strafgeſetzbuch auf-

genommen worden. Nämlich in der Rheinprovinz ſind nach dem jetzt

beſtehenden Rechte die Fälle, in welchen einfacher oder betrügeriſcher

Bankerutt oder Theilnahme daran anzunehmen iſt, nicht im Strafgeſetz-

buch, ſondern im Handelsgeſetzbuch zu befinden; da jetzt Beſtimmungen

hierüber in das Strafgeſetzbuch kommen ſollen, ſo iſt in §. 26. des

Einführungsgeſetzes c) die Aufhebung der Strafbeſtimmungen der Arti-

kel 586-599. des Rheiniſchen Handelsgeſetzbuchs verfügt worden. Un-

ter dieſen Artikeln iſt nun der Art. 597. derjenige, der den Fall der

Komplizität beim betrügeriſchen Bankerutt umfaßt; ſie iſt als vorhan-

den anzunehmen, wenn andere Perſonen als der Fallit, im Einver-

ſtändniſſe mit demſelben, Mobiliar- oder Immobiliargegenſtände,

welche zur Maſſe gehören, verſchleppen oder bei Seite bringen. Es iſt

oft ſchwierig geworden, gerade den Umſtand des Einverſtändniſſes mit

dem Falliten nachzuweiſen. Daß Sachen aus der Maſſe entfernt wor-

den waren mit der klaren Abſicht, ſie im Intereſſe des Falliten bei

Seite zu ſchaffen, war nachgewieſen; es fragte ſich aber, ob der Zu-

ſammenhang des Bankeruttirers mit dem Gehülfen ebenfalls förmlich

feſtſtehe, und dies hat nicht ſelten zu Freiſprechungen geführt. In Frank-

reich hat man daher bei einer Reviſion der Strafbeſtimmungen, die das

Handelsgeſetzbuch über den Bankerutt enthält, eine Modification des

Art. 597. vorgenommen und ihm die Faſſung gegeben, daß die Strafe

des betrüglichen Bankerutts auch dann verwirkt ſein ſolle, wenn im

Intereſſe des Bankeruttirers Verſchleppungen von Sachen, welche zur

Maſſe gehören, zur Benachtheiligung der Gläubiger vorgenommen wor-

den. Dabei bleibt natürlich immer vorbehalten, daß, wenn ein ſolches

Einverſtändniß des Mitbeſchuldigten mit dem Hauptbeſchuldigten nach-

gewieſen werden kann, welches ihn förmlich zum Complicen macht, die

Strafe der Theilnehmerſchaft ſchon um deswillen gegen ihn zur An-

wendung kommt; wo aber dieſer Nachweis nicht zu führen iſt, ſollen

die Handlungen der Benachtheiligung nicht ſtraflos ſein, welche für die

Gläubiger denſelben Effekt haben, wie andere, wo das factum internum,

der innere Zuſammenhang zwiſchen dem Hauptbeſchuldigten und dem

c) Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. XII. §. 2.

[493/0503]

§. 260. Theilnahme am betrüglichen Bankerutt.

Mitbeſchuldigten, feſtſteht. Um alſo alle zu einer Strafe geeigneten

Fälle zu umfaſſen und gefährliche Umtriebe gegen die Gläubiger zu re-

primiren, iſt dem erſten Aliena §. 325. dieſe Faſſung gegeben, wie ſie

hier vorliegt; es hat alſo das praktiſche Bedürfniß zu derſelben ge-

führt.“ d)

In Folge dieſer Erläuterung fand der Paragraph im vereinigten

Ausſchuß keine Anfechtungen mehr, derſelbe iſt auch mit einer Erweite-

rung in das Strafgeſetzbuch übergegangen.

I. Die gegenwärtige Faſſung entſpricht der der Nummern 1. und

2. des §. 259.; es wird nicht allein die Verheimlichung und Ver-

ſchleppung des Vermögens, ſondern auch die Aufſtellung erdichteter For-

derungen mit Strafe bedroht. Die Vermehrung der Paſſiv-Maſſe iſt

der Verminderung des Aktiv-Vermögens gleichgeſtellt. e)

II. Die Handlung muß im Intereſſe des Gemeinſchuldners geſche-

hen ſein, und zwar unter denſelben Vorausſetzungen, welche dieſen des

betrüglichen Bankerutts ſchuldig gemacht haben würden, wenn er ſelbſt

der Thäter wäre oder der Gehülfe im Einverſtändniſſe mit ihm gehan-

delt hätte.

III. Die Strafe iſt, bis auf die Höhe der Zuchthausſtrafe, die

des betrüglichen Bankerutts, unter gleicher Berückſichtigung der mildern-

den Umſtände.

IV. Wird feſtgeſtellt, daß der Thäter im Einverſtändniſſe mit dem

Gemeinſchuldner gehandelt hat, ſo kommen die allgemeinen Vorſchriften

über die Theilnahme an Verbrechen zur Anwendung. Die in der

Staatsraths-Kommiſſion in dieſer Hinſicht angeführten Bedenken finden

durch dieſe Beſtimmung alſo jedenfalls ihre Erledigung.

§. 261.

Handelsleute, Schiffsrheder und Fabrikbeſitzer, welche ihre Zahlungen ein-

geſtellt haben, werden wegen einfachen Bankerutts mit Gefängniß bis zu zwei

Jahren beſtraft:

1) wenn ſie durch Ausſchweifungen, Aufwand, Spiel oder Differenzhandel mit

Waaren oder Börſen-Effekten übermäßige Summen verbraucht haben oder

ſchuldig geworden ſind;

2) wenn ſie Handelsbücher zu führen unterlaſſen haben, obgleich deren Füh-

rung geſetzlich vorgeſchrieben oder nach der Beſchaffenheit ihres Geſchäfts

erforderlich war, oder wenn ſie dieſe Handelsbücher verheimlicht oder ver-

nichtet oder ſo unordentlich geführt haben, daß dieſelben keine Ueberſicht

des Vermögenszuſtandes; gewähren;

d) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 329. 330.

e) Motive zum Entwurf von 1850. §. 236.

[494/0504]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIV. Bankerutt.

3) wenn ſie unterlaſſen haben, die Bilanz ihres Vermögens jährlich zu ziehen,

obgleich dies geſetzlich vorgeſchrieben oder nach der Beſchaffenheit ihres Ge-

ſchäfts erforderlich war;

4) wenn ſie, obgleich das Vermögen nach der letzten Bilanz nicht die Hälfte

der Schulden deckte, neue Schulden gemacht oder Waaren oder Kredit-

papiere unter dem Werthe verkauft haben.

I. Der einfache Bankerutt wird unter denſelben allgemeinen Vor-

ausſetzungen, wie der betrügliche, beſtraft: nur Perſonen, welche zu einer

der bezeichneten Arten der Gewerbtreibenden gehören, können ſich des

Vergehens ſchuldig machen; auch müſſen ſie ihre Zahlung eingeſtellt

haben. Während aber in dem erſten Fall die Abſicht des Gemeinſchuld-

ners, ſeine Gläubiger zu benachtheiligen, zum Thatbeſtande des Verbre-

chens gehörte, wird hier im Intereſſe des Kredits die Fahrläſſigkeit und

der Leichtſinn geahndet. Dieß ſoll aber auch bei dieſem Vergehen nicht

allgemein geſchehen, ſo daß etwa das richterliche Ermeſſen nach den

Umſtänden über die Strafbarkeit einzelner Handlungen bei dem Kon-

kurſe zu entſcheiden hat, ſondern nur in den beſtimmten, von dem Ge-

ſetzbuch aufgeführten Fällen.

a. Der Entwurf von 1850. §. 237. hatte einen ſtrafbaren Ban-

kerutt auch dann angenommen, wenn der Gemeinſchuldner durch „Han-

delsoperationen, welche auf reinen Zufall berechnet waren,“ in Vermö-

gensverfall gerathen iſt. In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde

dieſer Zuſatz, der ſich in den früheren Entwürfen nicht findet, geſtrichen,

indem man annahm, daß die Anführung von Spiel und Differenz-

geſchäften genüge, um den durch leichtſinnige Handelsoperationen herbei-

geführten Bankerutt mit Strafe zu treffen; daß es ſich aber nicht recht-

fertige, wenn man einen Kaufmann ſtrafen wolle, der ſich mit ſchlechtem

Erfolg auf Spekulationen eingelaſſen habe, deren glücklicher oder un-

glücklicher Ausgang vom Zufall abhange. Eine ſolche Schranke dürfe

dem kaufmänniſchen Unternehmungsgeiſte nicht geſetzt werden. f)

b. Die Beſtimmungen in Beziehung auf die Führung der Han-

delsbücher entſprechen im Allgemeinen denjenigen, welche für den be-

trüglichen Bankerutt aufgeſtellt ſind, nur daß hier die Fahrläſſigkeit,

und nicht die betrügeriſche Abſicht geahndet wird. Die unordentliche

Führung der Handelsbücher mußte daher bei dem einfachen Bankerutt

beſonders hervorgehoben werden; auch ſchien es der Kommiſſion der

zweiten Kammer nothwendig, die Verheimlichung und Vernichtung der

Handelsbücher unter Strafe zu ſtellen.

f) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 237. (261.)

[495/0505]

§. 261. Einfacher Bankerutt.

c. Die Vorſchrift wegen jährlicher Ziehung der Vermögensbilanz

wurde in der Kommiſſion der zweiten Kammer beanſtandet, weil ſie

ſchon in den vorhergehenden Beſtimmungen über die ordentliche Füh-

rung der Handelsbücher enthalten ſei. Die Kommiſſion hielt dieß aber

für unbegründet, weil beide Fälle nicht für gleichbedeutend gelten könn-

ten, und die Ziehung der Bilanz ohne eine eigentlich techniſche Buch-

führung möglich ſei. g)

d. Die in Nr. 4. enthaltene Vorſchrift war in dem Entwurf

von 1830. alſo gefaßt:

§. 435. Nr. 4. „wenn ſie noch Gelder aufgenommen, Creditpapiere

ausgeſtellt, Waaren bezogen, ſolche unter dem Preiſe verkauft, oder ein-

zelne Gläubiger auf Koſten der Geſammtheit begünſtigt haben, obgleich

das Aktivvermögen nach der letzten Balance nicht die Hälfte der Schul-

den deckte.“

Die Staatsraths-Kommiſſion gab dieſer Faſſung vor einer abwei-

chenden des Entwurfs von 1836. §. 653. den Vorzug, h) und auch der

Staatsrath ſtimmte derſelben bei. Es wurde zwar in demſelben be-

antragt, nach dem Vorgange des Allgem. Landrechts (II. 20. §. 1466.)

das Kontrahiren neuer Schulden als fahrläſſigen Bankerutt zu beſtra-

fen, wenn daſſelbe nach eingetretener Inſolvenz geſchehen ſei; aber man

fand, daß es, wenn man unnöthige Härten vermeiden und nicht Alles

dem richterlichen Ermeſſen überlaſſen wolle, einer poſitiven Grenze be-

dürfe, welche in der angeführten Beſtimmung nach dem Vorgange frem-

der Handelsgeſetzbücher auf eine angemeſſene Weiſe beſtimmt ſei. i) Der

Entwurf von 1843. §. 482. wiederholte daher die obige Vorſchrift. —

Bei der Reviſion von 1845. machte ſich aber die Anſicht geltend, daß

unter der angenommenen Vorausſetzung überhaupt jedes Kontrahiren

neuer Schulden, auch wenn dieſe nicht in Gelddarlehen beſtehen, für

ſtrafbar zu erachten ſei, und es wurde die entſprechende allgemeine Be-

zeichnung beliebt, welche dann aber die Worte „Kreditpapiere ausſtellt,

Waaren bezogen“ überflüſſig machte. k) In dieſer Faſſung iſt die Be-

ſtimmung in die ſpäteren Entwürfe und in das Strafgeſetzbuch über-

gegangen. In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde dieſelbe frei-

lich als unbillig angefochten; es wurde beantragt, die Worte „neue

Schulden“ durch „beträchtliche Anleihe“ zu erſetzen, um Uebereinſtimmung

mit dem Rheiniſchen Rechte zu bewirken, aber dieſer Antrag fand ebenſo

g) Protokoll der Kommiſſion der zweiten Kammer vom 31. Ja-

nuar 1851.

h) Berathungs-Protokolle. III. S. 425.

i) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 11. Mai 1842.

k) Reviſion von 1845. III. S. 56.

[496/0506]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIV. Bankerutt.

wenig Billigung, wie ein anderer, welcher dahin zielte, dem richterlichen

Ermeſſen die Veurtheilung zu überlaſſen, ob unter ſolchen Umſtänden

im einzelnen Fall ein Bankerutt anzunehmen ſei oder nicht. Die Kom-

miſſion war der Anſicht, daß ein Geſchäft, deſſen Aktivmaſſe nicht die

Hälfte der Schulden decke, eigentlich mit fremden Gelde betrieben werde;

laſſe ſich der Inhaber nun doch nicht abhalten, ohne Genehmigung der

Gläubiger neue Schulden zu kontrahiren, ſo gefährde er ihr Intereſſe in

einer Weiſe, welche die Strafe des einfachen Bankerutts gegen ihn recht-

fertige. l)

Statt des Ausdrucks „Waaren oder Kreditpapiere unter dem Werthe

verkauft haben“, welcher ſich im Geſetzbuch findet, hatte der Entwurf

von 1847. §. 326. die Worte: „ihr Vermögen durch Verſchleuderung

vermindern“. Man hatte durch dieſe Faſſung dem Bedenken der Weſt-

phäliſchen und Preußiſchen Stände, daß das Verkaufen unter dem Preiſe

mitunter ganz zweckmäßig ſein, und dem Intereſſe der Gläubiger ent-

ſprechen könne, begegnen wollen. m) Die ſpäter im Entwurf von 1850.

§. 237. erfolgte Rückkehr zu der früheren Faſſung iſt ohne Zweifel durch

die Erwägung herbeigeführt worden, daß es einem Gewerbtreibenden,

der ſich in einem ſolchen Zuſtande der Ueberſchuldung, wie angenommen

wird, befindet, nicht mehr zuſtehe, ohne Zuſtimmung ſeiner Gläubiger

Waaren und Kreditpapiere unter ihrem Werthe zu veräußern. Unter

dem Werthe der Kreditpapiere iſt jedoch nur der wirkliche und nicht der

Nominalwerth zu verſtehen. n)

Weggefallen iſt endlich in dem Geſetzbuch der in den früheren Ent-

würfen vorkommende Schlußſatz „oder einzelne Gläubiger auf Koſten

der Geſammtheit begünſtigen“. Eine Beſtimmung, welche der Entwurf

von 1850. §. 238. ſtatt deſſen in Beziehung auf die Begünſtigung beim

Nachlaßvertrag gegen den Gläubiger enthielt, wurde in der Kommiſſion

der zweiten Kammer nicht in Uebereinſtimmung mit der Allg. Gerichts-

ordnung (Th. I. Tit. 50. §. 44. ff.) gefunden und deswegen in das

Einführungsgeſetz (Art. XII. §. 3.) unter die beſonderen für den Bezirk

des Rheiniſchen Appellationshofs beſtimmten Vorſchriften verwieſen, wo

l) Kommiſſionsbericht a. a. O.

m) Reviſion von 1845. III. S. 56. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 171.

n) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O. Wenn der

Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ. bemerkt, daß nicht

jeder Verkauf von Waaren oder Kreditpapieren unter dem zeitigen Werthe, in Be-

fürchtung ſchlimmer Konjunkturen, ſondern nur ein wahrhaft leichtſinniges, unwirth-

ſchaftliches Verfahren gemeint ſei, ſo iſt dieß doch mit Vorſicht aufzunehmen. Die

Abſicht des Geſetzes geht offenbar in dieſem Fall wie bei dem Verbot des Schulden-

machens auf eine weſentliche Beſchränkung des Schuldners in ſeiner Verfügungs-

fähigkeit.

[497/0507]

§. 262. Bankerutt der Mäkler und Notarien.

ſie näher zu erwägen ſein wird. Für die Landestheile, in denen die

Allg. Gerichtsordnung gilt, hielt man eine ſolche Beſtimmung nicht für

zuläſſig. Bis dahin ſei es jedem Gläubiger geſtattet geweſen, bis zur

Zeit der förmlichen Konkurseröffnung von dem Gemeinſchuldner Zah-

lung anzunehmen und Verträge mit demſelben abzuſchließen, ohne daß

eine etwaige frühere Einſtellung der Zahlung etwas daran geändert

habe. Gebe nun aber das Civilgeſetz dem Gläubiger ein ſolches Recht,

ſo könne das Strafgeſetzbuch die Ausübung deſſelben auch nicht mit

Strafe bedrohen. o) — Kommt bei der Begünſtigung eines Gläubigers

ein beſtimmtes gemeines Verbrechen, z. B. Betrug oder Fälſchung vor,

ſo finden natürlich die ſtrafrechtlichen Vorſchriften ihre volle Anwendung;

auch bleiben im Gebiete des gemeinen Deutſchen Rechts die Grundſätze

über Veräußerungen in fraudem creditorum in uneingeſchränkter Wirk-

ſamkeit.

II. Die Strafe des einfachen Bankerutts iſt Gefängniß bis zu

zwei Jahren. Durch die Streichung des in der Regierungsvorlage ent-

haltenen Minimum von Einem Monate glaubte die Kommiſſion der

zweiten Kammer die Fälle möglicher Milderung genügend berückſichtigt

zu haben.

§. 262.

Wenn Mäkler oder Notarien Handelsgeſchäfte betreiben, ſo ſollen dieſelben,

im Falle ſie ihre Zahlungen einſtellen und der in dieſem Titel erwähnten Hand-

lungen ſchuldig ſind, denſelben Strafen, wie Handelsleute, unterliegen.

Dieſer Paragraph findet ſich zuerſt in dem Entwurf von 1850.

Die in demſelben vorgeſchriebene Ausdehnung der Strafbeſtimmungen

über den Bankerutt auf Mäkler und Notarien, inſofern dieſelben Han-

delsgeſchäfte treiben, iſt durch die Erwägung hervorgerufen, daß bei ſol-

chen Perſonen ihre amtliche Stellung viel dazu beitragen wird, ihnen

in der kaufmänniſchen Welt Vertrauen und Kredit zu verſchaffen, daß

daher ein Mißbrauch deſſelben im allgemeinen Intereſſe geahndet wer-

den muß. Das Rheiniſche Recht hat in dieſer Hinſicht gegen Mäkler

noch ſtrengere Vorſchriften. p)

Eine andere ausdehnende Beſtimmung in Beziehung auf alle Per-

o) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O. Die ange-

führten Gründe würden es übrigens nicht verhindert haben, die Strafbeſtimmung der

früheren Entwürfe, welche gegen den Gemeinſchuldner gerichtet war, wieder

herzuſtellen.

p) Code pénal. Art. 404.

[498/0508]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXIV. Bankerutt.

ſonen, ohne Rückſicht auf den Gewerbebetrieb, findet ſich in dem Ent-

wurf von 1847.

§. 327. „Wer in der Abſicht, ſeinen Gläubigern den Gegenſtand

ihrer Befriedigung zu entziehen, ſein Vermögen ganz oder theilweiſe

verheimlicht oder bei Seite ſchafft, ferner, wer in der Abſicht ſeine

Gläubiger zu benachtheiligen, oder des für dieſelben entſtehenden Scha-

dens ungeachtet, ſich oder Dritten Vortheil zu verſchaffen, Schulden

anerkennt oder aufſtellt, deren gänzlicher oder theilweiſer Ungrund ihm

bekannt iſt, wird mit Strafarbeit bis zu fünf Jahren und Verluſt der

Ehrenrechte beſtraft.“

§. 328. „Wer ſeine Gläubiger zu befriedigen außer Stande iſt,

wird, wenn er durch Ausſchweifungen, Spiel oder Aufwand übermäßige

Summen verbraucht hat, mit Gefängniß beſtraft.“

Der revidirte Entwurf von 1836. §. 652. nahm für Nichtkaufleute

die Strafe des gemeinen Bankerutts für den Fall an, wenn die Zah-

lungsunfähigkeit durch übertriebenen Aufwand oder andere unnöthige

Ausgaben entſtanden iſt.

Die Staatsraths-Kommiſſion war jedoch der Anſicht, daß eine

ſolche Beſtimmung in ihrer Anwendung auf Nichtkaufleute nicht gerecht-

fertigt ſei, „da es der Sicherung des perſönlichen Kredits der Nicht-

kaufleute nicht bedürfe, und der unvorſichtige und leichtſinnige Gläubiger

ſeinen Schaden tragen möge. Hierzu komme, daß die Anwendung

dieſer Beſtimmung mehrfache Schwierigkeit finden müſſe, da andern,

als Kaufleuten und Gewerbtreibenden, die Verpflichtung zur Führung

von Büchern nicht auferlegt werden könne, und ohne eine ſolche Kon-

trolle ſich nicht feſtſtellen laſſe, ob ein übertriebener Aufwand und andere

unnöthige Ausgaben, die mit dem Vermögen nicht im Verhältniſſe

ſtehen, das Zahlungsvermögen herbeigeführt habe oder nicht.“ q) —

Vorſätzliche Benachtheiligung der Gläubiger bei eingetretener Zahlungs-

unfähigkeit, wie ſie in dem oben angeführten §. 327. vorgeſehen iſt,

hatte die Staatsraths-Kommiſſion mit der Strafe des qualifizirten Be-

truges bedroht. r) Dieſer letzteren Anſicht trat der Staatsrath bei; in

Beziehung auf das leichtſinnige Schuldenmachen hielt er jedoch auch in

Betreff der Nichtgewerbtreibenden eine Strafe für nöthig, s) was zu den

Beſtimmungen des Entwurfs von 1843. §. 483. führte.

Bei der Reviſion von 1845. hatten einige Monenten den Wegfall

beider Vorſchriften, andere wenigſtens der über das leichtſinnige Schul-

denmachen erlaſſenen beantragt; es wurde aber darauf nicht eingegangen,

q) Berathungs-Protokolle. III. S. 424.

r) Entwurf der Staatsraths-Kommiſſion von 1842. §. 476.

s) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 11. Mai 1842.

[499/0509]

§. 263. Wucher.

indem namentlich hervorgehoben wurde, daß es nicht ganz unzweifelhaft

ſei, ob das Verheimlichen oder Entziehen von Vermögensſtücken unter

den Begriff des Betrugs in dem Sinne des Geſetzbuchs falle, und

jedenfalls nur durch ausdrückliche Vorſchrift die Strafe des qualifizirten

Betruges für ſolche Handlungen begründet werde. t) — In dem ver-

einigten ſtändiſchen Ausſchuß wiederholte ſich der Streit. Die vorbe-

rathende Abtheilung beantragte im Weſentlichen aus denſelben Gründen,

welche ſchon in der Staatsraths-Kommiſſion geltend gemacht waren, die

Streichung der angeführten Beſtimmungen, und es wurde noch in den

weiteren Verhandlungen bemerkt, daß, ſoweit eine vorſätzliche Benach-

theiligung der Gläubiger ſtattfinde, die allgemeinen Strafbeſtimmungen

über den Betrug ausreichten, was von anderer Seite in Zweifel ge-

zogen wurde. Der Ausſchuß erklärte ſich für die Beibehaltung der

Paragraphen, u) welche der Entwurf von 1850. aber weggelaſſen hat.

In der Kommiſſion der erſten Kammer wurde nun zwar ein Antrag

auf deren Wiederherſtellung gemacht; er fand jedoch keine Unterſtützung,

da die Praxis ähnliche Beſtimmungen bereits abolirt habe, der That-

beſtand ſchwer feſtzuſtellen ſei, und die Vorſchriften über den Betrug in

der Regel auch hier ausreichen würden. v)

Fünfundzwanzigſter Titel.

Strafbarer Eigennutz.

§. 263.

Wer ſich von ſeinen Schuldnern höhere Zinſen, als die Geſetze zulaſſen,

vorbedingt oder zahlen läßt und entweder dieſe Ueberſchreitung gewohnheits-

mäßig betreibt oder das Geſchäft ſo einkleidet, daß dadurch die Geſetzwidrigkeit

verſteckt wird, iſt wegen Wuchers mit Gefängniß von drei Monaten bis zu

Einem Jahre und zugleich mit Geldbuße von funfzig bis zu Eintauſend Tha-

lern, ſowie mit zeitiger Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehren-

rechte zu beſtrafen.

Unter der Bezeichnung „ſtrafbarer Eigennutz“ ſind in dieſem Titel

t) Reviſion von 1845. III. S. 57. 58.

u) Verhandlungen. IV. S. 332—37.

v) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 261. — Allge-

meine Beſtimmungen über den Betrug beim Konkurſe enthalten übrigens Heſſiſches

Strafgeſetzb. Art. 402. — Badiſches Strafgeſetzb. §. 465. 466., obgleich

ſie den Bankerutt auch nur bei Handeltreibenden annehmen.

[500/0510]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXV. Strafbarer Eigennutz.

eine Reihe von Vergehen zuſammengeſtellt, die zum Theil einen rein

polizeilichen Charakter an ſich tragen, und nur mit Rückſicht auf das

Strafmaaß nicht unter den Uebertretungen abgehandelt werden konnten.

— In den früheren Entwürfen war auch der Nachdruck hier aufge-

führt; ſpäter erſchien es aber angemeſſener, die über denſelben ergangenen

beſonderen Geſetze ausſchließlich zur Anwendung kommen zu laſſen. w)

Zunächſt iſt hier nun vom Wucher zu handeln. Die Frage über

den Werth und die Bedeutung der Wuchergeſetze hat ihre Löſung von

einer richtigen Theorie der Volkswirthsſchaft zu erwarten; allgemeine

Rechtsgrundſätze können dabei nicht den Ausſchlag geben. Die Geſetz-

gebung wird ſich vielmehr nach dem, was als das Zweckmäßige erkannt

iſt, zu richten und darnach ihre Beſtimmungen zu treffen haben. Stellen

ſich dann Beſchränkungen in Betreff des Zinsfußes und einzelner Ge-

ſchäfte als nothwendig heraus, ſo iſt zunächſt im Civilrecht die Grenze

zwiſchen dem Erlaubten und dem Unerlaubten feſtzuſtellen und die Un-

gültigkeit des Letzteren in rechtlicher Hinſicht auszuſprechen. Eine wei-

tere Frage aber bleibt es, ob außerdem auch mit Strafgeſetzen einge-

ſchritten und zu den civilrechtlichen Folgen noch die Strafe hinzugefügt

werden ſoll. Die principielle Erörterung über Zinsverbote und Wucher-

geſetze gehört daher dem Gebiete des Civilrechts an.

Bei der Reviſion des Strafrechts iſt man in Beziehung auf den

Wucher von dieſer Anſicht ausgegangen, und wenn auch einzelne, ſehr

beachtungswerthe Verhandlungen über die principielle Frage ſtatt gefun-

den haben, x) ſo hat man ſich doch im Allgemeinen darauf beſchränkt,

zu erwägen, welche Strafbeſtimmungen neben dem jetzt geltenden Civil-

recht über den Wucher aufzuſtellen ſeien.

Die erſten Entwürfe gingen in dieſer Beziehung ſehr weit, indem

ſie jede Verletzung der geſetzlichen Zinsverbote als ſtrafbaren Wucher

bezeichneten, und nur einzelne Ausnahmen von dieſer Regel zuließen.

Der Entwurf von 1830., mit welchem der von 1836. im Weſentlichen

übereinſtimmte, verfügt in dieſer Hinſicht:

§. 383. „Wer für Gewährung oder Verlängerung eines

Credits,

durch welchen Vertrag oder unter welchem Vorwande es immer ſei,

einen Vortheil irgend einer Art, der die geſetzlich erlaubten Zinſen über-

ſteigt, für ſich oder einen Dritten annimmt, oder ſich verſprechen läßt,

iſt als Wucherer mit Gefängniß von einem Monate bis zu einem Jahre

und zugleich mit zehn bis tauſend Thalern Geldbuße zu beſtrafen.“

Vgl. §§. 384-88.

w) Reviſion von 1845. III. S. 64.

x) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 11. Mai 1842. — Ver-

handlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV. S. 327-64.

[501/0511]

§. 263. Wucher.

Dieſe Vorſchrift beruhte auf der Erwägung, daß das Geſetz ein

poſitives Maaß der Zinſen angenommen habe, und zur Aufrechthaltung

dieſer Beſtimmung der Strafe bedürfe; daß der Wucher wegen des in

ihm ſich ausſprechenden Mangels an Moralität und wegen der Be-

drückung in nahrungsloſen Zeiten die öffentliche Meinung in hohem

Grade gegen ſich habe; daß die bloße Nichtigkeit des Geſchäfts nicht

genüge, weil der Bevortheilte in der Regel nicht klage, und daß es

eine Inkonſequenz ſei, wenn man den verkleideten Wucher beſtrafe, und

den offenen, welcher dem Verbote geradezu entgegen handle, ſtraflos

laſſe, da der Umfang der Rechtsverletzung und die ſtrafbare Abſicht in

beiden Fällen dieſelben ſeien. — Es wurde ferner für dieſe Auffaſſung

angeführt, daß die neueren Deutſchen Strafgeſetzgebungen ſich dieſem

Princip der allgemeinen Strafbarkeit angeſchloſſen hätten, indem ſie nur

bei Beſtimmung des Strafmaaßes zwiſchen dem einfachen und dem be-

trüglichen oder verkleideten Wucher unterſchieden. y)

Die Staatsraths-Kommiſſion beſchloß aber im Gegenſatz zu dieſen

Ausführungen, daß es im Weſentlichen bei den Vorſchriften des All-

gemeinen Landrechts zu belaſſen ſei. Dieſes nämlich beſtimmt:

Th. II. Tit. 20. §. 1271. „Höhere Zinſen, als die geſetzlich

verſtatteten (I. 11. §. 803 ff.) können rechtsgültiger Weiſe weder ver-

ſprochen, noch gegeben werden.“

§. 1272. „Was über die geſetzmäßigen Zinſen gezahlt iſt, kann

binnen ſechs Jahren nach völlig abgetragener Schuld noch zurückgefor-

dert werden.“

§. 1273. „Wer, um dieſen Verordnungen (§. 1271. 1272.)

auszuweichen, den übermäßigen Vortheil unter irgend einem andern

Namen oder Geſchäfte zu verbergen ſucht, iſt als Wucherer zu be-

ſtrafen.“

Zur Vertheidigung dieſer Auffaſſung wurde bemerkt: „Im Allge-

meinen unterliege es wohl keinem Bedenken, daß in dem Bedingen der

Zinſen an ſich, oder wie man ſonſt die Vergeltung nennen möge, die

für den Gebrauch einer Summe Geldes gewährt werde, weder eine

Rechtsverletzung liege, noch daraus etwas Nachtheiliges für das Staats-

wohl folge. Das Geld ſei Waare, die um beliebige Preiſe erworben

werden könne; der Darleiher könne durch das Geld noch weit mehr

gewinnen, als er gebe. Das Gebot, welches für den Geldverkehr eine

Schranke des Preiſes beſtimme, ſei ein rein poſitives — —. Fehle

y) Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 293-301. — Braunſchw. Crimi-

nalgeſetzb. §. 231. 232. — Heſſ. Strafgeſetzb. Art. 400. — Beſchränkungen

enthalten dagegen: Württemb. Strafgeſetzb. Art. 355. — Bad. Straf-

geſetzb. §. 533. 534. — Thüring. Geſetzb. Art. 286-90.

[502/0512]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXV. Strafbarer Eigennutz.

es nun hiernach an einem eigentlichen kriminaliſtiſchen Grunde, an einer

wirklichen Rechtsverletzung, ſo habe man alle Veranlaſſung, den Umfang

der Strafbarkeit möglichſt zu beſchränken. Man habe hiezu eine um ſo

größere Aufforderung, als ſchon das Civilrecht ſelbſt mehrere Abwei-

chungen aufſtelle und das Fundament der Maaßregel vielfach erſchüttert

ſei. Bei gewagten Geſchäften, bei Verſicherungen, bei der Bodmerei, bei

Geſchäften der Kaufleute hätten ſich ungeachtet des frühern Verbots

abweichende Principien im Geſetz bereits durchgebildet. Ferner ſei es

geſetzlich erlaubt, bei Ceſſionen Aktiva um jeden Preis zu erwerben und

hierdurch ein Mittel gegeben, die geſetzliche Beſchränkung der Valuta

beim urſprünglichen Geſchäft zu umgehen. Der Staat privilegire Leih-

häuſer, fordere Kommunen zu ihrer Anlegung auf und habe ſelbſt im

Jahre 1834. in Berlin ein Leihamt angelegt (G.-S. 1834. S. 23.);

hierbei ſeien immer 12. Prozent Zinſen geſtattet, weil der Verkehr es

erfordere; ingleichen habe der Staat oftmals Schulden zu nicht voller

Valuta kontrahirt. Dieſen Vorgängen und Verhältniſſen gegenüber

könne man die einfache Uebertretung der Zinsverbote nicht als kriminell

ſtrafbar erſcheinen laſſen. Es ſei dieß um ſo weniger zuläſſig, als die

Höhe der Zinſen von Konjunkturen und Zeitverhältniſſen abhänge und

der Zinsſatz ſelbſt mehr oder minder willkührlich ſei.“ — —

Es ſei alſo nur zu beſtimmen, in welchen Fällen die Strafbarkeit

des Wuchers angenommen werden müſſe. „Das Landrecht ſtrafe den

verkleideten, und die Franzöſiſche Geſetzgebung z) den gewerbmäßigen

Wucher. Letztere Beſtimmung dürfte nicht gerechtfertigt erſcheinen. Denn

wenn man eine Handlung überhaupt nicht für ſtrafbar erachte, ſo könne

man ſie deshalb allein, weil ſie von demſelben Individuum öfters be-

gangen worden, noch nicht zu einer ſtrafbaren erheben. Dagegen dürfte

die landrechtliche Vorſchrift beizubehalten ſein. Schon die ältern Rechts-

lehrer hätten angenommen, daß das Strafbare des Wuchers in dem

Verbergen des hohen Zinsſatzes unter ein anderes Geſchäft und unter

andere Namen liege, weil dadurch die Partei oder die Obrigkeit getäuſcht

werden ſolle, folglich betrüglich gehandelt werde. Das Landrecht ſei

dieſen Principien gefolgt, und es dürften dieſelben gerechtfertigt erſchei-

nen. Denn das offene Geſchäft trage die Ungültigkeit deutlich an ſich,

das verdeckte aber beſchädige dadurch, daß es den Bevortheilten hindere,

das Gezahlte zurückzufordern, indem ihm der Beweis des Scheingeſchäfts

obliege, der ſelten gelinge.“ a)

z) Nicht im Code pénal, ſondern in einem beſonderen Geſetze von 1807.,

welches auch in der Rheinprovinz publicirt iſt.

a) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 427-29.

[503/0513]

§. 263. Wucher.

Der Staatsrath trat in Beziehung auf den verdeckten Wucher dem

Beſchluß der Kommiſſion bei; dagegen entſchied er ſich für die Straf-

barkeit des gewerbmäßigen Wuchers, auch wenn derſelbe offen betrieben

wird. Es kam dabei namentlich zur Erwägung, daß der gewerbmäßige

Wucher eine fortgeſetzte Nichtachtung der Geſetze enthalte, welche zur

Aufrechthaltung des Anſehens derſelben eine Strafe nothwendig erfordere.

Der gewerbmäßige Wucher wirke durch ſein Treiben höchſt nachtheilig

und bringe, indem er die Verlegenheit oder das Unglück Anderer plan-

mäßig auszubeuten ſuche, Viele ins Verderben; derſelbe ſei durch die

öffentliche Meinung gebrandmarkt, und man würde ſich mit letzterer in

offenen Widerſpruch ſetzen, wenn das Geſetz ihn ſtraflos laſſe. b)

Der Entwurf von 1843. beſtimmte demnach:

§. 485. „Einen Wucher begeht, wer ſich von ſeinem Schuldner

höhere Zinſen, als die Geſetze zulaſſen, oder bei Darlehnen die Zurück-

zahlung einer höheren Summe, als die Schuld wirklich beträgt, vor-

bedingt.

Der Wucher wird mit Gefängniß nicht unter ſechs Wochen und

zugleich mit Geldbuße von funfzig bis zu tauſend Thalern beſtraft,

wenn

1) derſelbe gewerbmäßig betrieben, oder

2) das Geſchäft ſo eingekleidet wird, daß dadurch der Wucher ver-

ſteckt werden ſoll. Gewerbmäßiger Wucher iſt vorhanden, wenn

jemand mehr als einmal in dem Zeitraume eines Jahres ſich

wucherliche Handlungen zu Schulden kommen läßt.“

Gegen die hier gegebene Definition wurde bei der Reviſion von

1845. zunächſt bemerkt, daß der Zwiſchenſatz „oder bei Darlehnen die

Zurückzahlung“ u. ſ. w. unrichtig ſei, weil es nach dem A. L. R. Th. I.

Tit. 11. §. 817. bedingungsweiſe für erlaubt gelte, den Betrag einjäh-

riger Zinſen zum Kapital zu ſchlagen; er ſei aber auch überflüſſig, weil

es offenbar einen verſteckten Wucher bilde, wenn ſich der Gläubiger eine

größere Summe vorſchreiben laſſe, als das dargeliehene Kapital mit

Zurechnung geſetzlich erlaubter Zinſen betrage. Jener Zwiſchenſatz ſei

alſo wegzulaſſen. Außerdem könne die Definition des gewerbmäßigen

Wuchers ebenſo wenig beibehalten werden, wie die der gewerbmäßigen

Hehlerei. c) — Der Vorſchlag der Brandenburgiſchen Provinzialſtände,

Darlehne an Minderjährige mit der Strafe des Wuchers zu belegen,

gelangte aber damals ſo wenig wie ſpäter in dem vereinigten ſtändiſchen

Ausſchuß zur Annahme. d)

b) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 11. Mai 1842.

c) Reviſion von 1845. III. S. 58-63.

d) Verhandlungen. IV. S. 364.

[504/0514]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXV. Strafbarer Eigennutz.

Der Entwurf von 1847. §. 329. iſt im Sinne der angeführten

Bemerkungen abgeändert, auch iſt daſelbſt zur Annäherung an das

Rheiniſche Recht, wie bei der Hehlerei, „gewohnheitsmäßig“ ſtatt „ge-

werbsmäßig“ geſetzt worden. e) Der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß ver-

warf aber nach längerer Verhandlung die Regierungsvorlage, und

beſchloß, die §. 329. angedrohte Strafe nur dann eintreten zu laſſen,

wenn der Schuldvertrag ein ſimulirter iſt oder eine mindere Valuta,

als das Schulddokument beſagt, bezahlt worden iſt. f) Der Entwurf

von 1850. ſtellte jedoch die frühere Beſtimmung aus den oben ange-

führten Gründen wieder her, g) und auch die Kommiſſionen der beiden

Kammern traten derſelben bis auf eine unweſentliche Faſſungsände-

rung bei.

I. Die Beſtimmungen des Civilrechts über Zinsverbote und wu-

cherliche Kontrakte werden als fortbeſtehend vorausgeſetzt; in Betreff

des Allgem. Landrechts Th. II. Tit. 20. §. 1271. 1272. iſt im Ein-

führungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. XI. eine ausdrückliche Vor-

ſchrift enthalten.

II. Der Begriff des Gewohnheitsmäßigen iſt hier ähnlich wie bei

der Hehlerei zu beſtimmen; ſ. oben S. 454. 455.

III. Die Frage, ob ein verdeckter Wucher vorliegt, kann nur nach

den Umſtänden beantwortet werden, und iſt dem richterlichen Ermeſſen

zur Entſcheidung zu überweiſen. Es iſt jedesmal feſtzuſtellen, ob durch

die Einkleidung des Geſchäfts unerlaubte Vortheile verſteckt werden und

ob dieſe Verſteckung beabſichtigt iſt; dagegen kommt es nicht darauf an,

wer hat getäuſcht werden ſollen. h) Dieſe Grundſätze kommen nament-

lich auch bei dem Wechſelgeſchäft zur Anwendung, bei welchem der

Mangel einer Valutaquittung allerdings den verdeckten Wucher ſehr

begünſtigt. So wenig aber dieſer Mangel, wie ſich von ſelbſt verſteht,

irgend eine Vermuthung für eine beabſichtigte Geſetzesumgehung be-

gründet, ſo wenig kann die bevorzugte Form des Wechſels die Unter-

ſuchung und Beſtrafung eines Vergehens, zu deſſen Verübung gerade

dieſe Form gewählt worden iſt, verhindern. Auch hier müſſen die Um-

ſtände und die Abſicht entſcheiden.

IV. Der Wucher wird wie der Betrug mit dreifach gehäufter

Strafe geahndet: Gefängniß von drei Monaten bis zu Einem Jahre,

Geldbuße von funfzig bis zu Eintauſend Thalern und zeitige Unter-

ſagung der bürgerlichen Ehrenrechte.

e) Fernere Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von

1847. S. 14.

f) Verhandlungen. IV. S. 363.

g) Motive zum Entwurf von 1850. §. 240.

h) Reviſion von 1845. III. S. 60.

[505/0515]

§§. 264-268. Pfandverkehr; Hazardſpiele; Lotterien.

§. 264.

Wer ohne Erlaubniß der Behörde gewerbsmäßig auf Pfänder leiht, wird

mit Gefängniß von Einer Woche bis zu zwei Monaten beſtraft.

§. 265.

Oeffentliche Pfandleiher, welche die von ihnen in Pfand genommenen Ge-

genſtände unbefugt in Gebrauch nehmen, werden mit Gefängniß von Einem

Monate bis zu Einem Jahre und zugleich mit Geldbuße von zwanzig bis zu

fünfhundert Thalern beſtraft.

§. 266.

Wer vom Hazardſpiele ein Gewerbe macht, ſoll mit Gefängniß von drei

Monaten bis zu zwei Jahren und zugleich mit Geldbuße von Einhundert bis

zu zweitauſend Thalern, ſowie mit zeitiger Unterſagung der Ausübung der

bürgerlichen Ehrenrechte beſtraft werden.

Iſt der Angeſchuldigte ein Ausländer, ſo kann zugleich auf Landesverwei-

ſung erkannt werden.

§. 267.

Inhaber öffentlicher Verſammlungsörter, welche Hazardſpiele an dieſen Orten

geſtatten oder zur Verheimlichung ſolcher Spiele mitwirken, ſind mit Geldbuße

von zwanzig bis zu fünfhundert Thalern zu beſtrafen.

Im zweiten Rückfalle iſt zugleich auf den Verluſt der Befugniß zum ſelbſt-

ſtändigen Betriebe des Gewerbes zu erkennen.

§. 268.

Wer ohne obrigkeitliche Erlaubniß öffentliche Lotterien veranſtaltet, wird

mit Geldbuße bis zu fünfhundert Thalern beſtraft.

Den Lotterien ſind hierbei alle öffentlich veranſtaltete Ausſpielungen beweg-

licher oder unbeweglicher Sachen gleich zu achten.

A.Die Beſtimmung, daß Perſonen, welche ohne Erlaubniß der

Behörden gewerbsmäßig auf Pfänder leihen, mit Gefängniß von

Einer Woche bis zu zwei Monaten beſtraft werden ſollen (§. 264.), iſt

erſt in dem Entwurf von 1850. nach dem Vorgange des Code pénal

(Art. 411.) aufgeſtellt worden; die Strafvorſchrift gegen öffentliche

Pfandleiher, welche die bei ihnen verpfändeten Sachen unbefugt in

Gebrauch nehmen (§. 265.), findet ſich ſchon in den früheren Entwürfen,

jedoch ohne das Minimum der Gefängnißſtrafe, und wird dadurch ge-

rechtfertigt, daß ſolche Perſonen ihr Gewerbe unter öffentlicher Autorität

treiben. i) Gegen die Ausdehnung der Vorſchrift auf alle Inhaber von

Pfändern und Depoſiten im Sinne des Allgem. Landrechts (Th. II.

i) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 242. (265.)

Beſeler Kommentar. 33

[506/0516]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXV. Strafbarer Eigennutz.

Tit. 20. §. 1358.) erklärte ſich der Staatsrath (Sitzung vom 14. Mai

1842.).

B. Schon im Staatsrathe wurde die Anſicht vertreten, daß ein

allgemeines Strafgeſetz gegen die Hazardſpiele auch in dem Sinne,

wie das Allg. Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 1298.) ein ſolches enthält,

nicht gerechtfertigt ſei; k) indeſſen wurde darauf nicht eingegangen, und

der Entwurf von 1847. beſtimmte noch:

§. 331. „Hazardſpiele ſollen, wenn nach den Verhältniſſen der

ſpielenden Perſonen, nach dem Einſatze und nach den übrigen Umſtän-

den anzunehmen iſt, daß zur Befriedigung der Gewinnſucht geſpielt

worden, mit Geldbuße bis zu fünfhundert Thalern beſtraft werden.

Die bei einem verbotenen Spiele auf dem Spieltiſche und in der

Bank befindlichen Gelder ſind zu konfisziren.“

In dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß wurde indeſſen auf den

Antrag der vorberathenden Abtheilung beſchloſſen, nur das gewerbs-

mäßige Hazardſpielen mit Strafe zu bedrohen, und die Beſtimmungen

über andere Fälle den Polizeivorſchriften vorzubehalten. I) Demnach iſt

der angeführte Paragraph aus dem Geſetzbuch weggeblieben, und an

deſſen Stelle die freilich ſehr viel engere Beſtimmung des §. 340.

Nr. 11. aufgenommen worden. — Die Unterdrückung öffentlicher Spiel-

banken und die Vorſchriften der §§. 266. und 267. werden ſich auch

wohl wirkſamer erzeigen als allgemeine Verbote, welche bei der Unbe-

ſtimmtheit des geſetzlichen Thatbeſtandes nur ſelten zur Anwendung

kommen können und zu Willkührlichkeiten leicht Veranlaſſung geben.

I. Mit harten Strafen ſind die Spieler von Profeſſion, welche

vom Hazardſpiele ein Gewerbe machen, bedroht, und gegen Ausländer

kann außerdem noch auf Landesverweiſung erkannt werden (§. 266.).

— Diejenigen, welche vom Hazardſpiele ein Gewerbe machen, werden

gewöhnlich als Bankhalter und deren Gehülfen (Croupiers) auftreten;

doch iſt dieß kein nothwendiges Erforderniß und kommt jedenfalls nur

bei der Begriffsbeſtimmung des gewerbsmäßigen Spielens im einzelnen

Fall in Betracht. m)

II. Mit Rückſicht auf die Vorſchrift am Ende des §. 340. wurde

es in der Kommiſſion der zweiten Kammer in Erwägung gezogen, ob

nicht auch hier eine Beſtimmung darüber zu treffen, daß die auf dem

Spieltiſch und in der Bank befindlichen Gelder zu konfisziren ſeien.

Indeſſen wurde ein ſolcher Zuſatz nicht für nöthig gehalten, indem man

k) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 11. Mai 1842.

I) Verhandlungen. IV. S. 373.

m) a. a. O. S. 374-76.

[507/0517]

§§. 264-268. Pfandverkehr; Hazardſpiele; Lotterien.

annahm, daß nur diejenigen Gelder der Konfiskation unterliegen können,

welche als Mittel zur Ausübung des Vergehens dienen. Da nun bloß

das gewerbsmäßig betriebene Hazardſpiel unter Strafe geſtellt ſei, ſo

könne auch nur dasjenige Geld konfiscirt werden, welches der Spieler

von Profeſſion zu dieſem Behuf gebrauche. Bei der allgemeinen Vor-

ſchrift des §. 19. bedürfe es aber deshalb keiner beſonderen Beſtim-

mung. n)

III. Mit Geldbuße und im zweiten Rückfall zugleich mit Verluſt

des Rechts auf den Gewerbebetrieb ſind die Inhaber öffentlicher Ver-

ſammlungsörter bedroht, welche Hazardſpiele an dieſen Orten geſtatten

oder zur Verheimlichung ſolcher Spiele mitwirken. Sie werden gewiſſer-

maaßen wie die Kuppler bei den Fleiſchesverbrechen angeſehen.

C. In Beziehung auf die Lotterien beſtimmt die Verordnung

vom 5. Juli 1847. (G.-S. S. 261 .262.)

§. 1. „Wer in auswärtigen Lotterien, die nicht mit Unſerer Ge-

nehmigung in Unſeren Staaten beſonders zugelaſſen ſind, ſpielt, wer

ſich dem Verkaufe der Looſe dergleichen auswärtiger Lotterien unterzieht,

oder einen ſolchen Verkauf als Mittelsperſon befördert, ingleichen wer

innerhalb Landes, ohne ausdrückliche Genehmigung der Miniſter des

Innern und der Finanzen, öffentliche Lotterien unternimmt oder Glücks-

buden errichtet, ſoll mit einer fiskaliſchen Geldbuße bis zu fünfhundert

Thalern beſtraft werden.“

§. 2. „Den Lotterien ſind hierin alle öffentlich veranſtaltete Aus-

ſpielungen beweglicher oder unbeweglicher Sachen gleich zu achten.“

Was nun die in dieſer Verordnung enthaltene Vorſchrift über das

Spielen in auswärtigen Lotterien und das Kollektiren für dieſelben be-

trifft, ſo enthält das Strafgeſetzbuch darüber keine Beſtimmung, und

jene Vorſchrift iſt daher nach dem im Einführungsgeſetz vom 14. April

1851. Art. II. aufgeſtellten Grundſatz in Wirkſamkeit geblieben. Ueber

die Veranſtaltung öffentlicher Lotterien im Inlande iſt dagegen der

§. 268. maaßgebend geworden; dieſer erfordert aber nur die obrig-

keitliche Erlaubniß, und nicht die ausdrückliche Genehmigung der

beiden in der angeführten Verordnung genannten Miniſterien.

Der Entwurf von 1850. §. 246. enthielt noch eine Beſtimmung,

in welcher die Vorſchriften des Allgem. Landrechts (Th. II. Tit. 20.

§. 244-47.) dahin ausgedehnt waren, daß Hauskollekten ohne polizei-

liche Genehmigung für ſtrafbar erklärt wurden. Die Kommiſſion der

zweiten Kammer fand dieß unangemeſſen, und wollte das Recht, Haus-

kollekten zu geſtatten, dem Gemeindevorſtande beilegen, womit aber

n) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 243. (266.)

33*

[508/0518]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXV. Strafbarer Eigennutz.

wieder die Staatsregierung nicht einverſtanden war. Da nun außerdem

über den Begriff der Hauskollekten Zweifel beſtanden, und die von

Kirchengemeinden ausgehenden noch eine beſondere Normirung zu erhei-

ſchen ſchienen, ſo wurde zuletzt beſchloſſen, den ganzen Paragraphen

wegfallen und es bei dem beſtehenden Rechte bewenden zu laſſen. o)

§. 269.

Wer Waaren oder deren Verpackung fälſchlich mit dem Namen oderder

Firma und mit dem Wohn- oder Fabrikorte eines inländiſchen Fabrik-Unter-

nehmers, Produzenten oder Kaufmanns bezeichnet, oder wiſſentlich dergleichen

fälſchlich bezeichnete Waaren in den Verkehr bringt, ſoll mit Geldbuße von

funfzig bis zu Eintauſend Thalern, und im Rückfalle zugleich mit Gefängniß

bis zu ſechs Monaten beſtraft werden.

Dieſelbe Strafe tritt ein, wenn die Handlung gegen die Angehörigen eines

fremden Staates gerichtet iſt, in welchem nach publizirten Verträgen oder

Geſetzen die Gegenſeitigkeit verbürgt iſt.

Die Strafe wird dadurch nicht ausgeſchloſſen, daß bei der Waarenbezeich-

nung der Name oder die Firma, und der Wohn- oder Fabrikort mit geringen

Abänderungen wiedergegeben werden, welche nur durch Anwendung beſonderer

Aufmerkſamkeit wahrgenommen werden können.

Die vorſtehende Strafbeſtimmung zum Schutze der Waarenbezeich-

nungen iſt dem Geſetze vom 4. Juli 1840. (G.-S. S. 224. 225.)

entnommen, nur daß jetzt allein beim Rückfall Gefängniß bis zu ſechs

Monaten vorgeſchrieben iſt, während es nach jenem Geſetze allgemein

bis auf die Dauer von Einem Jahre eintreten ſollte, und nur in ge-

ringfügigen Fällen und bei beſonders mildernden Umſtänden ausge-

ſchloſſen war. Wenn a. a. O. §. 1. die Strafe unter der Voraus-

ſetzung, daß mit der Handlung nicht ein ſchwereres Verbrechen verbunden

ſei, aufgeſtellt wurde, ſo verſteht ſich ein ſolcher Vorbehalt eben ſo ſehr

von ſelbſt, als der Zuſatz a. a. O. §. 2., daß der Richter, nöthigenfalls

unter der Hinzuziehung von Sachverſtändigen, zu ermeſſen habe, ob

der, §. 269. Abſ. 3. vorgeſehene Fall geringer Abänderungen des Na-

mens u. ſ. w. vorliege. — Auch die Abſ. 2. gegebene Beſtimmung

über die Gegenſeitigkeit findet ſich ſchon in dem angeführten Ge-

ſetze §. 4.

§. 270.

Wer Andere vom Mitbieten oder Weiterbieten bei den von öffentlichen

Behörden oder Beamten vorgenommenen Verſteigerungen, dieſelben mögen

o) a. a. O. §. 246.

[509/0519]

§. 270. Beeinträchtigung von Verſteigerungen.

Verkäufe, Verpachtungen, Lieferungen, Unternehmungen oder Geſchäfte irgend

einer Art betreffen, durch Gewalt oder Drohung, oder durch Zuſicherung oder

Gewährung eines Vortheils abhält, wird mit Geldbuße bis zu dreihundert

Thalern oder mit Gefängniß bis zu ſechs Monaten beſtraft.

Dieſe Beſtimmung entſpricht im Weſentlichen dem früheren Rechte,

wie es in dem Geſetz vom 14. Juli 1797. und dem Code pénal

(Art. 412.) feſtgeſtellt war; auch hat ſich ſowohl der vereinigte ſtändiſche

Ausſchuß als die Kommiſſion der zweiten Kammer mit dem Princip

einverſtanden erklärt, daß den von öffentlichen Behörden oder Beamten

vorgenommenen Verſteigerungen ein ſolcher Schutz zu Theil werde. p)

Es kommt dabei nicht darauf an, ob die Verſteigerung eine nothwen-

dige oder freiwillige iſt, ob dieſelbe von Amts wegen oder auf Veran-

laſſung einer Privatperſon abgehalten wird, wenn es nur überhaupt

unter öffentlicher Autorität geſchieht. Die Ausdehnung der Straf-

beſtimmung auf jede andere von Privatperſonen veranſtaltete, unter

willkührlichen Formen abgehaltene Verſteigerung war ſchon vom Staats-

rathe beſeitigt, q) und wurde auch ſpäter abgewieſen. „Privatperſonen,

welche den erhöhten Schutz genießen wollen, müſſen das von ihnen

beabſichtigte Geſchäft den Gerichten oder Notarien, welche letztere in

dieſer Beziehung unbedenklich zu den öffentlichen Behörden zu rechnen

ſind, auftragen.“ r)

I. In dem Entwurf von 1843. §. 487. war die argliſtige Erre-

gung eines Irrthums und in dem Entwurf von 1847. §. 330. ſchlechthin

die Erregung eines Irrthums unter den Handlungen aufgeführt, welche

die Strafe des Geſetzes begründen ſollen. In dem vereinigten ſtändi-

ſchen Ausſchuß ließ jedoch die Staatsregierung ſelbſt dieſen Zuſatz als

zu weit führend fallen. s)

II. In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde beantragt,

eine Beſtimmung aufzunehmen, daß der Erſatz eines bei einer Verſtei-

gerung zu beſorgenden Verluſtes nicht als Gewährung eines Vortheils

angeſehen werden ſollte. Man beabſichtigte damit, einen zwiſchen dem

Käufer eines Grundſtücks und einem Realgläubiger vor dem Verkaufe

abgeſchloſſenen und die Zuſicherung der vollſtändigen oder theilweiſen

p) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 371. — Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 248.

(270.)

q) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 14. Mai 1842.

r) Reviſion von 1845. III. S. 61. — Motive zum Entwurf von

1850. §. 248.

s) Verhandlungen a. a. O. S. 367-72.

[510/0520]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXV. Strafbarer Eigennutz.

Befriedigung enthaltenden Vertrag für ſtraflos zu erklären. Die Kom-

miſſion ging jedoch auf dieſen Antrag nicht ein. t)

III. Ueber den Zeitpunkt, wann jemand vom Mitbieten abgehalten

wird, iſt nichts beſtimmt worden; es erſchien ſowohl für den Erfolg

wie für die Strafbarkeit völlig gleichgültig, ob diejenigen, welche wirklich

bieten wollen, ſchon vor dem Beginn der Verſteigerung oder erſt wäh-

rend derſelben zum Abſtand vermocht werden. u)

IV. Die Strafe, Geldbuße oder Gefängniß, iſt mit Rückſicht auf

die milderen Fälle des Vergehens von der Kommiſſion der zweiten

Kammer alternativ gefaßt worden; die früher zu der Freiheitsſtrafe noch

hinzugefügte Geldbuße hatte ſchon der Entwurf von 1850. wegfallen

laſſen. — Ueber die Richtigkeit aller auf das Nichtbieten Bezug haben-

den Verträge bedurfte es keiner beſonderen Beſtimmung, indem in dieſer

Hinſicht die allgemeinen Rechtsgrundſätze über verbotene Geſchäfte maaß-

gebend ſind. v)

§. 271.

Wer ſeine eigene bewegliche Sache dem Nutznießer, Pfandgläubigeroder

demjenigen, welchem an der Sache das Zurückbehaltungsrecht zuſteht, in rechts-

widriger Abſicht wegnimmt oder wegzunehmen verſucht, wird mit Gefängniß

von Einer Woche bis zu drei Jahren beſtraft; auch kann gegen denſelben

auf zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt

werden.

Die Beſtimmungen des §§. 228. und 229. finden hier gleichfalls An-

wendung.

Dieſer Paragraph iſt an die Stelle der Beſtimmung des Allgem.

Landrechts Th. II. Tit. 20. §. 1110. getreten, und gegen das ſ. g.

furtum usus und posseſſionis gerichtet; bei der Feſtſtellung des That-

beſtandes hat man jedoch in den Ausdrücken mehrfach gewechſelt, indem

die verſchiedenen, in den einzelnen Entwürfen vorkommenden Definitionen

des Diebſtahls, mit welchem dieſes Vergehen doch verwandt iſt, ihren

Einfluß darauf äußerten. In der Staatsraths-Kommiſſion wurde fol-

gende Faſſung beliebt:

„Wer ſeine eigene bewegliche Sache aus der Gewahrſam des

Nutznießers u. ſ. w. ohne deſſen Einwilligung in der Abſicht

wegnimmt, demſelben den Beſitz oder Gewahrſam der Sache zu

entziehen, hat Gefängnißſtrafe w) u. ſ. w.“

t) Kommiſſionsbericht a. a. O.

u) Motive a. a. O.

v) Kommiſſionsbericht a. a. O. — Motive a. a. O.

w) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 433.

[511/0521]

§. 271. Entwendung eigener Sachen.

Im Staatsrathe wurde jedoch bemerkt, daß die verbrecheriſche Ab-

ſicht hier in gleicher Weiſe, wie beim Diebſtahle, näher bezeichnet werden

müſſe, indem nur dadurch der Unterſchied zwiſchen dem vorliegenden

Vergehen und der Selbſthülfe klar hervortreten werde. x) In Folge dieſer

Bemerkung wählte man für den Entwurf von 1843. §. 495. den Aus-

druck „ohne deſſen Einwilligung in rechtswidriger Abſicht wegnimmt,“

und dieſe Faſſung ging auch in den Entwurf von 1847. §. 335. über;

in dem Entwurf von 1850. §. 249. wurden aber die Worte „ohne

deſſen Einwilligung“ als überflüſſig weggelaſſen, da es ſich ſchon aus

der Bezeichnung „wer in rechtswidriger Abſicht wegnimmt“ ergebe, daß

die Entwendung der Sache ohne Einwilligung des Inhabers ſtattfinden

müſſe. y)

— In der Kommiſſion der erſten Kammer wurde die Defini-

tion, welche in ihrer jetzigen Faſſung der des Diebſtahls entſpricht,

namentlich hinſichtlich der Worte „wegnimmt oder wegzunehmen verſucht“

getadelt, weil ſie den Thatbeſtand zu ſehr beſchränke. Es werde dadurch

bei ſtrenger Auslegung die Verletzung des ſtillſchweigenden Pfandrechts,

z. B. bei invectis und illatis durch heimliche Fortſchaffung als ſtraflos

ausgeſchloſſen. Der Regierungs-Kommiſſar bemerkte jedoch, daß es

allerdings in der Abſicht gelegen habe, hier die detrectatio im eigent-

lichen Sinne, wie beim Diebſtahle, feſtzuhalten, alſo Rechtsverhältniſſe,

wie das gedachte, nicht unter den Thatbeſtand des Vergehens zu be-

laſſen. z)

I. Von beſonderer Wichtigkeit für den Begriff dieſes Vergehens

iſt die Bedeutung, in welcher der Ausdruck „in rechtswidriger Abſicht“

zu nehmen iſt. Die gewinnſüchtige Abſicht iſt hier ſo wenig, wie beim

Diebſtahle allein gemeint; es kommt vielmehr darauf an, ob der Eigen-

thümer durch das Wegnehmen der Sache einen Zweck verfolgt, der mit

dem Rechte des Inhabers in Widerſpruch ſteht, indem er namentlich

deſſen Anſpruch auf Nutzung oder Sicherung verletzt. Die Eigenmacht

oder Selbſthülfe, die in der wirklichen oder vermeintlichen Ausübung

eines Rechtes geübt wird, fällt daher nicht unter die Strafbeſtimmung

dieſes Paragraphen.

II. Ebenſo wenig wie ein Diebſtahl an einer eigenen Sache be-

gangen werden kann, iſt ein Raub an derſelben möglich. Wenn alſo

mit der Wegnahme Gewalt oder Drohung verbunden werden, ſo liegt

in dieſem Umſtande, falls nicht ein anderes Delikt, z. B. ſchwere Kör-

perverletzung, Erpreſſung, dadurch hervorgerufen wird, nur ein Zumeſ-

x) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 14. Mai 1842.

y) Motive zum Entwurf von 1850. §. 249.

z) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 271.

[512/0522]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXV. Strafbarer Eigennutz.

ſungsgrund für die Beſtrafung. Fälle dieſer Art und ſolche, wo die

gewinnſüchtige Abſicht des Thäters das Vergehen dem Diebſtahle nahe

bringt, ſind denn auch gemeint, wenn dem Richter frei geſtellt iſt, neben

der Gefängnißſtrafe auf zeitige Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte

zu erkennen. Gegen das unbedingte Eintreten der Ehrenſtrafe, im Fall

gewinnſüchtige Abſicht vorliegt, welches der Entwurf von 1847. vorge-

ſchrieben hatte, wurden ſchon in dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſe

mehrfache Bedenken laut. a)

III. Iſt das Vergehen durch Ehegatten, Eltern, Geſchwiſter u. ſ. w.

verübt worden, ſo kommen die Regeln der §§. 228. und 229. zur

Anwendung.

§. 272.

Wer Sachen, welche durch die zuſtändigen Behörden oder Beamtengegen

ihn gepfändet oder in Beſchlag genommen worden ſind, vorſätzlich ganz oder

theilweiſe der Pfändung oder Beſchlagnahme entzieht, bei Seite ſchafft, ver-

bringt oder zerſtört, wird mit Gefängniß bis zu Einem Jahre beſtraft.

Mit der nämlichen Strafe werden beſtraft:

1) der Ehegatte des Gepfändeten, deſſen Verwandte oder Verſchwägerte

in auf- oder abſteigender Linie, welche mit Kenntniß der Pfändung

oder Beſchlagnahme ſich einer der gedachten Handlungen ſchuldig

machen;

2) der von der Behörde oder dem Beamten beſtellte Hüter, welcher im

Intereſſe des Gepfändeten eine der gedachten Handlungen ſelbſt verübt,

oder, daß ſie von einem Dritten verübt wird, geſtattet;

3) ein Dritter, welcher im Intereſſe des Gepfändeten, mit Kenntniß der

Pfändung oder Beſchlagnahme, eine der gedachten Handlungen verübt.

Während der vorhergehende Paragraph die Rechte des Privat-

pfandgläubigers gegen die Entwendung des Eigenthümers ſchützt, iſt die

Vorſchrift des §. 272. gegen Handlungen gerichtet, durch welche die

von zuſtändigen Behörden oder Beamten vorgenommene Pfändung oder

Beſchlagnahme wirkungslos gemacht wird, ſei es, daß die Sache ganz

oder theilweiſe der obrigkeitlichen Gewahrſam oder Aufſicht entzogen,

oder bei Seite geſchafft, verbracht oder zerſtört wird.

I. Die Strafe — Gefängniß bis zu Einem Jahre b) — trifft nur

denjenigen, welcher vorſätzlich gehandelt hat.

II. Auch der Ehegatte des Gepfändeten ſo wie deſſen Verwandte

und Verſchwägerte in auf- und abſteigender Linie werden wegen einer

a) Verhandlungen. IV. S. 377-82.

b) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 251. (272.)

[513/0523]

§§. 272-277. Unberechtigtes Fiſchen, Krebſen, Jagen.

der bezeichneten Handlungen mit der geſetzlichen Strafe belegt, wenn ſie

Kenntniß von der Pfändung oder Beſchlagnahme gehabt haben. Es

kommt für ſie aber nicht darauf an, ob die Handlung im Intereſſe des

Gepfändeten von ihnen vorgenommen worden iſt oder nicht, während

andere Perſonen (Nr. 2. und 3.) nur unter dieſer Vorausſetzung wegen

Verſchleppung zu beſtrafen ſind, und wenn ſie im eigenen Intereſſe ge-

handelt haben, in den meiſten Fällen des Diebſtahls oder der Unter-

ſchlagung ſchuldig ſein werden. c) Die allgemeine Faſſung der Vorſchrift

in Betreff der Ehegatten u. ſ. w. ſtellt ſich daher eher als eine Mil-

derung denn als eine Schärfung heraus; jedenfalls beruhte es auf

einem Mißverſtändniß, wenn in der Kommiſſion der erſten Kammer

(ſ. den Bericht zu dieſem §.) angenommen wurde, daß auch bei Nr. 1.

das „Intereſſe des Gepfändeten“ zu ſubintelligiren ſei.

§. 273.

Wer unberechtigt fiſcht oder krebſt, ſoll mit Geldbuße bis zu funfzig Tha-

lern oder mit Gefängniß bis zu drei Monaten beſtraft werden.

Die polizeilichen Beſtimmungen der beſonderen Fiſcherei-Ordnungen werden

dadurch nicht berührt.

§. 274.

Wer auf ſeinem eigenen Grundſtücke, auf dem die Jagd an einen Dritten

verpachtet iſt, oder auf dem ein Jäger für gemeinſchaftliche Rechnung der bei

einem Jagdbezirke betheiligten Grundbeſitzer die Jagd zu beſchießen hat, ohne

Einwilligung des Jagdpächters oder der Gemeindebehörde jagt, oder wer auf

fremden Grundſtücken, ohne eine Berechtigung dazu zu haben, die Jagd ausübt,

wird mit Geldbuße bis zu Einhundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu

drei Monaten beſtraft.

§. 275.

Die Strafe kann bis zu ſechs Monaten erhöht werden, wenn dem Milde

nicht mit Schießgewehr oder Hunden, ſondern mit Schlingen, Netzen, Fallen

oder anderen Vorrichtungen nachgeſtellt, oder wenn das Vergehen während der

geſetzlichen Schonzeit oder in Wäldern oder zur Nachtzeit oder gemeinſchaftlich

von zwei oder mehreren Perſonen begangen wird.

§. 276.

Wird das Vergehen (§. 274. und §. 275.) gewerbsmäßig betrieben, ſo

tritt Gefängniß nicht unter drei Monaten, ſowie zeitige Unterſagung der Aus-

übung der bürgerlichen Ehrenrechte ein. Zugleich iſt auf Stellung unter Po-

lizei-Aufſicht zu erkennen.

c) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 382-84. — Motive zum Entwurf von 1850. §. 251.

[514/0524]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXV. Strafbarer Eigennutz.

§. 277.

Das Gewehr, das Jagdgeräth und die Hunde, welche der Thäter bei dem

unberechtigten Jagen bei ſich geführt hat, ingleichen die im §. 275. erwähnten

Schlingen, Netze, Fallen oder anderen Vorrichtungen ſind dem Fiskus im

Strafurtheile zuzuſprechen, ohne Unterſchied, ob ſie dem Angeſchuldigten ge-

hören oder nicht.

In §. 217. Nr. 1. iſt die Strafe des einfachen Diebſtahls unter

erſchwerenden Umſtänden angeordnet, wenn Wild aus umzäunten Ge-

hegen, Fiſche aus Teichen und Behältern geſtohlen werden; es findet

in dieſen Fällen ein wirklicher Beſitz ſtatt, deſſen Entziehung die Dieb-

ſtahlsſtrafe begründet. Ein ſolches Verhältniß liegt jedoch nur aus-

nahmsweiſe vor, und die geſetzlichen Beſtimmungen zum Schutze der

Jagd und der Fiſcherei können nur wirkſam ſein, wenn ſie gegen die

Rechtsverletzung durch unbefugtes Jagen und Fiſchen gerichtet ſind.

Eine gleichmäßige, den gegenwärtigen Rechtsverhältniſſen entſprechende

Geſetzgebung war in dieſer Beziehung zum dringenden Bedürfniß ge-

worden, und hat zu den in den vorſtehenden Paragraphen enthaltenen

Vorſchriften geführt.

A. Unberechtigtes Fiſchen (§. 273.).

In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde bemerkt, daß auch

gegen das unbefugte Fangen der Krebſe in manchen Gegenden eine

Strafbeſtimmung nöthig ſei, und da daſſelbe doch nicht unter den Be-

griff des Fiſchens begriffen werden könne, beſonders bezeichnet werden

müſſe Demnach wurde der in §. 273. enthaltene Zuſatz „oder krebſt“

beſchloſſen.

In Betreff des verbotenen Fiſchens hatte der Entwurf von 1847.

§. 338. die Bezeichnung: „Wer unbefugter Weiſe einen Fiſchfang vor-

nimmt,“ womit jedoch kaum ein anderer Sinn als der jetzt im Geſetz-

buch ausgedrückte verbunden geweſen ſein kann, — es ſei denn, daß

damit hat geſagt werden ſollen, daß wirklich Fiſche gefangen werden

müſſen, damit die Strafe begründet ſei. Gegenwärtig iſt dieß nicht

erforderlich; es iſt jedoch das Strafmaaß heruntergeſetzt, und ſelbſt das

Minimum der Geldbuße von fünf Thalern, welches der Entwurf von

1850. §. 252. aufgeſtellt hatte, von der Kommiſſion der zweiten Kam-

mer geſtrichen worden, damit die geringfügigen Fälle des Vergehens in

einer der Verſchuldung entſprechenden Weiſe geahndet werden können.

Es kam aber noch zur Erwägung, daß eine Reihe ſorgfältig aus-

gearbeiteter Verordnungen über das Fiſchereiweſen vom 7. März 1845.

(G.-S. S. 107-57.) beſtehen, welche namentlich in Beziehung auf die

Ausübung des Rechtes wichtige Beſtimmungen enthalten, und deren

[515/0525]

§§. 273-277. Unberechtigtes Fiſchen, Krebſen, Jagen.

weitere Geltung auch hinſichtlich der polizeilichen Vorſchriften durch

den §. 273. in Frage geſtellt ſcheinen könne. Um einer ſolchen Aus-

legung entgegen zu treten, iſt der zweite Abſatz hinzugefügt worden. d)

Was die bei der unberechtigten Fiſcherei gebrauchten Werkzeuge

betrifft, ſo müſſen hier die allgemeine Regeln des §. 19. über die Kon-

fiskation einzelner Sachen zur Anwendung kommen.

B. Unberechtigtes Jagen (§§. 274-77.).

Durch die Verbindung des Jagdrechts mit dem Grundeigenthum

haben die älteren Jagdordnungen ihre Geltung verloren; die Ausübung

des Jagdrechts iſt durch das Geſetz vom 7. März 1850. (G.-S. S.

165-72.) neu geordnet. Daſſelbe enthält aber keine Strafbeſtimmun-

gen, welche in dem Geſetzbuch aufzuſtellen waren.

I. Die Jagd kann ſowohl auf eigenem Grundbeſitz, wenn ſie ver-

pachtet iſt oder für gemeinſame Rechnung mit anderen benutzt wird, als

auch auf fremden Grundſtücken unberechtigter Weiſe ausgeübt werden.

Beide Fälle ſind nach dem Vorgange des Geſetzes vom 7. März 1850.

§. 17. gleichmäßig unter Strafe geſtellt (§. 274.). Auf den Erfolg der

Jagd, das Fangen des Wildes kommt es dabei nicht an, — das un-

befugte Jagen an ſich iſt ſtrafbar. Das Geſetzbuch hat daher den un-

geeigneten Ausdruck des Wilddiebſtahls vermieden, der etwa für den

Fall des §. 217. Nr. 1. zutreffend wäre, und auch die gewinnſüchtige

Abſicht, inſofern ſie nicht bei der gewerbsmäßigen Verübung des Ver-

gehens in Betracht kommt, nicht als einen Erſchwerungsgrund betrach-

tet. In der Kommiſſion der zweiten Kammer hielt man dafür, daß

zwar bei der Strafzumeſſung jene Abſicht in Anſchlag gebracht werden

könne, daß ſie aber im Allgemeinen nicht beſonders hervorzuheben ſei,

weil es theils nicht leicht feſtzuſtellen ſein werde, ob ſchon bei der That

ſelbſt eine beſtimmte Willensrichtung auf den zu hoffenden Gewinn vor-

gelegen habe, theils aber die Berückſichtigung dieſes Moments im Ge-

ſetzbuche eine härtere Strafe gegen den Armen als gegen den Reichen

wegen deſſelben Vergehens begründen würde.

II. Die geſetzliche Strafe — Geldbuße bis zu Einhundert Tha-

lern oder Gefängniß bis zu drei Monaten — kann in folgenden Fällen

auf Gefängniß bis zu ſechs Monaten erhöht werden (§. 275.):

a. wenn dem Wilde nicht mit Schießgewehr oder Hunden, ſondern

mit Schlingen, Netzen, Fallen oder anderen Vorrichtungen nach-

geſtellt wird. Namentlich die Heimlichkeit der Verübung ſchien

die Straferhöhung in dieſem Fall zu rechtfertigen.

d) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 252. (273.)

[516/0526]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXV. Strafbarer Eigennutz.

b. wenn das Vergehen während der geſetzlichen Schonzeit, oder

c. in Wäldern, oder

d. zur Nachtzeit, oder

e. gemeinſchaftlich von zwei oder mehreren Perſonen begangen

wird. Die größere Gefährlichkeit des Vergehens in den drei

letzten Fällen leuchtet ein.

III. Die gewerbsmäßige Verübung von Jagdfreveln, das Wil-

dern iſt als ein beſonderes Vergehen qualifizirt und mit der Strafe des

einfachen Diebſtahls unter erſchwerenden Umſtänden belegt worden, nur

daß die Stellung unter Polizei-Aufſicht nothwendig eintritt und die

Berückſichtigung mildernder Umſtände ausgeſchloſſen iſt (§. 276.).

IV. Die zum unberechtigten Jagen gebrauchten Sachen, wie ſie

im §. 277. bezeichnet ſind, werden konfiscirt, und zwar zum Beſten

des Fiskus, da eine Abweichung von der Regel im Intereſſe des Jagd-

berechtigten nicht mehr begründet erſcheint. Dagegen iſt hier die Kon-

fiskation auch dann vorgeſchrieben, wenn die Sachen nicht dem Ange-

ſchuldigten gehören, — eine Ausnahme von der Regel des §. 19., für

welche wohl Nützlichkeitsrückſichten angeführt werden können, der aber

doch ſehr gewichtige principielle Bedenken entgegenſtehen. e)

V. Polizeiliche Vorſchriften zum Schutze des Jagdrechts finden

ſich §. 347. Nr. 11. 12.

§. 278.

Reiſende oder Schiffsleute, welche ohne Vorwiſſen des Schiffers, ingleichen

Schiffer, welche ohne Vorwiſſen des Rheders Gegenſtände an Bord nehmen,

welche das Schiff gefährden, indem ſie deſſen Konfiskation oder Beſchlagnahme

veranlaſſen können, ſind mit Gefängniß bis zu zwei Jahren zu beſtrafen.

§. 279.

Ein Schiffsmann, der mit der empfangenen Heuer entläuft oder ſich ver-

borgen hält, um ſich dem übernommenen Dienſte zu entziehen, ſoll mit Ge-

fängniß bis zu Einem Jahre beſtraft werden.

Es macht hierbei keinen Unterſchied, ob das Vergehen im Inlande oder im

Auslande begangen iſt.

§. 280.

Wer verſiegelte Briefe oder andere verſiegelte Urkunden, die nicht zu ſeiner

Kenntnißnahme beſtimmt ſind, vorſätzlich und unbefugterweiſe eröffnet, ſoll mit

Geldbuße bis zu Einhundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu drei Mo-

naten beſtraft werden.

A. Eine Strafbeſtimmung gegen die Gefährdung des Schiffes

e) Vgl. im Allgemeinen Bericht der Kommiſſion der zweiten Kam-

mer zu §§. 252. a. b. c. d. (274-77.).

[517/0527]

§§. 278-80. Gefährdung von Schiffen u. ſ. w.

durch Kontrebande (§. 278.) iſt im Intereſſe des handeltreibenden Publi-

kums in See- und Hafenſtädten für nothwendig erachtet worden.

B. Der weſentliche Inhalt des §. 279. iſt ſchon im Allg. Land-

recht (Th. II. Tit. 8. §. 1542.) enthalten; von praktiſcher Bedeutung iſt

aber namentlich die im Abſ. 2. aufgeſtellte Beſtimmung, daß es keinen

Unterſchied machen ſoll, ob das Vergehen im Inlande oder Auslande

begangen iſt. In England und Nordamerika iſt das hier vorgeſehene

Vergehen nämlich mit keiner Strafe bedroht, und gegen das Schiffsvolk,

welches in dieſen Ländern mit der empfangenen Heuer entläuft, konnte

daher nach den bisher gültigen Rechtsgrundſätzen, welche auch in §. 4.

Nr. 3. anerkannt ſind, von den hieſigen Gerichten keine Strafe aus-

geſprochen werden. Im Intereſſe der inländiſchen Schiffsrhederei iſt

daher in der Kommiſſion der zweiten Kammer unter Zuſtimmung der

Staatsregierung die Vorſchrift des §. 279. beſchloſſen worden. f)

C. Die Vorſchrift des §. 280., welche freilich unter Umſtänden

nicht ſowohl gegen den ſtrafbaren Eigennutz als gegen die ſtrafbare

Neugierde gerichtet ſein wird, entſpricht im Weſentlichen der Beſtimmung

des Entwurfs von 1847. §. 340. Wenn dort zur Beſtrafung des

Vergehens der Antrag des Verletzten erfordert wurde, ſo beruhte das

auf einer Auffaſſung, welche das Geſetzbuch nur in wenigen Fällen bei-

behalten hat; in der Praxis wird ſich die Sache aber auch jetzt ſo

ſtellen, daß ohne Zuthun des Verletzten nicht leicht ein Verfahren ein-

geleitet werden wird, wenn das Vergehen nicht von Poſtbeamten verübt

iſt, worüber §. 328. verfügt. — Daß in den weniger ſchweren Fällen

nur auf Geldbuße zu erkennen iſt, folgt ſchon aus der allgemeinen Re-

gel des §. 18. g)

Sechsundzwanzigſter Titel.

Vermögensbeſchädigung.

§. 281.

Wer vorſätzlich und rechtswidrig fremde Sachen beſchädigt oder zerſtört,

wird mit Gefängniß bis zu zwei Jahren beſtraft.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo iſt auf Geld-

buße bis zu funfzig Thalern zu erkennen.

f) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 253 a. (279.)

— Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ.

g) Reviſion von 1845. III. S. 66. — Bericht der Kommiſſion der

zweiten Kammer zu §. 54. (280.)

[518/0528]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVI. Vermögensbeſchädigung.

§. 282.

Wer Gegenſtände der Verehrung einer im Staate beſtehenden Religions-

geſellſchaft, oder Sachen, die dem Gottesdienſte gewidmet ſind, oder Grab-

mäler, öffentliche Denkmäler, Gegenſtände der Kunſt, der Wiſſenſchaft oder

des Gewerbes, welche in öffentlichen Sammlungen aufbewahrt werden oder

öffentlich aufgeſtellt ſind, oder Gegenſtände, welche zum öffentlichen Nutzen oder

zur Verſchönerung öffentlicher Wege oder Anlagen dienen, vorſätzlich zerſtört

oder beſchädigt, wird mit Gefängniß nicht unter vierzehn Tagen beſtraft. Auch

kann auf zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte er-

kannt werden.

§. 283.

Wer vorſätzlich ein Gebäude, ein Schiff, eine Brücke, einen Damm, eine

gebaute Straße, eine Eiſenbahn oder ein ſonſtiges Bauwerk, welche fremdes

Eigenthum ſind, ganz oder theilweiſe zerſtört, ſoll mit Gefängniß nicht unter

zwei Monaten beſtraft werden.

§. 284.

Wenn ſich mehrere Perſonen zuſammenrotten und bewegliche oder unbeweg-

liche Sachen eines Anderen plündern, verwüſten oder zerſtören, ſo werden

dieſelben mit Zuchthaus bis zu funfzehn Jahren beſtraft; zugleich kann auf

Stellung unter Polizei-Aufſicht erkannt werden.

Das Allgemeine Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 1488-94.) unter-

ſcheidet bei der Vermögensbeſchädigung, ob dieſelbe aus Muthwillen

oder aus Bosheit oder Rache verübt worden iſt, und auch der Entwurf

von 1836. §. 682. und 683. hatte nach dieſem Vorgange die Straf-

barkeit dieſes Vergehens nach dem Beweggrunde beſtimmt. In der

Staatsraths-Kommiſſion war man jedoch der Anſicht, daß es in der

Regel nur darauf ankommen könne, ob der Thäter abſichtlich und vor-

ſätzlich gehandelt habe und ob eine äußere Rechtsverletzung vorliege;

das Motiv der That komme nur bei der Zumeſſung der Strafe in Be-

tracht. Außerdem ſei zu erwägen, daß die Beantwortung der Frage:

ob die Beſchädigung aus Bosheit oder Muthwillen geſchehen? in vie-

len Fällen um ſo mehr mit Schwierigkeiten verbunden ſein werde, als

ſich über den Begriff eines ſo unbeſtimmten Beweggrundes, wie es der

Muthwillen ſei, im Geſetzbuch nicht wohl etwas feſtſtellen laſſe. — Es

wurde daher die Berückſichtigung des Beweggrundes bei Vermögens-

beſchädigungen unter die Strafzumeſſungsgründe verwieſen, die geſetzliche

Strafe des Vergehens aber nach dem Gegenſtande deſſelben abgeſtuft, h)

und dieſe Behandlungsweiſe iſt auch ſpäter beibehalten worden.

h) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 434. 435.

[519/0529]

§§. 281-284. Vermögensbeſchädigung.

I. Der Thatbeſtand des Vergehens liegt vor, wenn eine fremde

Sache vorſätzlich und rechtswidrig zerſtört worden iſt, mag es nun aus

Bosheit oder Muthwillen geſchehen ſein. Im Staatsrath kam es zur

Erwägung, ob nicht unter Umſtänden auch die Beſchädigung aus Fahr-

läſſigkeit beſtraft werden müſſe; allein es wurde davon abgeſtanden,

weil in allen Fällen, wo eine ſolche Handlung einen gemeingefährlichen

Charakter an ſich trage, in dem folgenden Titel eine angemeſſene Strafe

angedroht ſei. Darüber hinaus könne man nicht gehen, ohne dem rich-

terlichen Ermeſſen einen unbeſchränkten Spielraum zu eröffnen; auch

hätten die civilrechtlichen Folgen, welche das beſtehende Recht bei der-

gleichen Beſchädigungen eintreten laſſe, ſich bisher als vollkommen aus-

reichend bewieſen. i

II. Nach dem Entwurfe von 1847. §. 341. ſollte die Strafe der

einfachen Vermögensbeſchädigung nur auf Antrag des Beſchädigten, oder

der die Aufſicht über die beſchädigte Sache führenden öffentlichen Be-

hörde eintreten. In der Kommiſſion der erſten Kammer wurde die Ab-

änderung dieſer Beſtimmung getadelt; man beruhigte ſich aber dabei,

indem man annahm, daß nach der Natur der Sache und bei dem jetzt

auch in den älteren Provinzen geltenden Verfahren die Beſtrafung in

der That nur auf einen ſolchen Antrag gewöhnlich eintreten werde. k

III. Die Strafe der einfachen Vermögensbeſchädigung iſt Gefäng-

niß bis zu zwei Jahren; im Fall mildernder Umſtände, zu denen na-

mentlich auch die Geringfügigkeit des Schadens zu rechnen iſt, l ſoll

auf Geldbuße bis zu funfzig Thalern erkannt werden (§. 281.). Das

Vergehen wird dann alſo nur wie eine Uebertretung, mit Ausſchluß der

Freiheitsſtrafe, geahndet.

IV. Iſt die Beſchädigung an einer der in §. 282. bezeichneten

Sachen verübt worden, ſo iſt die Strafe Gefängniß von vierzehn Ta-

gen bis zu fünf Jahren; auch kann auf zeitige Unterſagung der bürger-

lichen Ehrenrechte erkannt werden. Die Hinzufügung der Ehrenſtrafe

erfolgte auf den Beſchluß der Kommiſſion der zweiten Kammer, welche

auch das höchſte Maaß der Freiheitsſtrafe von drei Jahren auf fünf

Jahre ſteigerte, indem ſie von der Anſicht ausging, daß bei denjenigen

Vermögensbeſchädigungen, um die es ſich hier handle, eine große Ge-

meinheit und Niederträchtigkeit der Geſinnung ſich offenbaren könne.

Auch hielt ſie dafür, daß Gegenſtände der Verehrung einer Religions-

i Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 14. Mai 1842.

k Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu §. 281.

l Entwurf von 1847. §. 341. Abſ. 2.

[520/0530]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

geſellſchaft, ohne Rückſicht darauf, ob dieſelbe Korporationsrechte erlangt

habe oder nicht, zu den befriedeten Sachen gezählt werden müßten. m

V. In den Fällen des §. 283. iſt das niedrigſte Maaß der Ge-

fängnißſtrafe auf zwei Monate feſtgeſtellt. Es wird hierbei jedoch vor-

ausgeſetzt, daß keine Gefahr für das Leben oder die Geſundheit Ande-

rer mit einer ſolchen Handlung verbunden iſt; denn wenn dieſes der

Fall, ſo kommen die betreffenden Vorſchriften des folgenden Titels zur

Anwendung. Liegt aber eine betrügeriſche Abſicht vor, ſo tritt für die

in §. 244. vorgeſehenen Fälle die dort aufgeſtellte Strafe ein. — Die

in §. 281. gegebenen allgemeinen Beſtimmungen über den Thatbeſtand

finden auch auf die §§. 282. und 283. ihre Anwendung; es verſteht

ſich von ſelbſt, daß die Handlung eine vorſätzliche, im Sinne des ſtraf-

rechtlichen Dolus, alſo auch eine rechtswidrige geweſen ſein muß.

VI. Die Vorſchrift des §. 284. iſt gegen diejenigen Handlungen

gerichtet, welche als Landfriedensbruch bezeichnet zu werden pflegen, und

dem qualifizirten Aufruhr nahe verwandt ſind. n Der Entwurf von

1850. §. 258. hatte auch die Beſchädigung fremder Sachen durch

zuſammengerottete Perſonen mit der aufgeſtellten Strafe bedroht; die

Kommiſſion der zweiten Kammer hielt dieß aber nicht für gerechtfertigt,

da möglicher Weiſe ſolche Beſchädigungen von geringer Bedeutung ſein

können, ſo daß die gewöhnliche Strafe ausreicht, in den ſchweren Fäl-

len die Handlung aber als Zerſtörung oder Verwüſtung ſich darſtellen

wird. o

Siebenundzwanzigſter Titel.

Gemeingefährliche Verbrechen und Vergehen.

§. 285.

Wegen Brandſtiftung wird mit zehnjähriger bis lebenslänglicher Zuchthaus-

ſtrafe, und wenn durch den Brand ein Menſch das Leben verloren hat, mit

dem Tode beſtraft:

1) wer vorſätzlich ein Gebäude, ein Schiff oder eine Hütte, welche zur Woh-

nung von Menſchen dienen, oder ein zum Gottesdienſte beſtimmtes Ge-

bäude in Brand ſetzt;

2) wer vorſätzlich ein Gebäude, ein Schiff oder eine Hütte, welche zeitweiſe

m Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 256. (282.)

n S. oben S. 161.

o Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 258. (284.)

[521/0531]

§§. 285-289. Brandſtiftung.

zum Aufenthalt von Menſchen dienen, zu einer Zeit in Brand ſetzt, in

welcher darin Menſchen ſich aufzuhalten pflegen;

3) wer vorſätzlich Eiſenbahnwagen, Bergwerke oder andere zum Aufenthalt von

Menſchen zeitweiſe dienende Räumlichkeiten zu einer Zeit in Brand ſetzt,

zu welcher ſich Menſchen darin aufzuhalten pflegen.

In allen dieſen Fällen macht es keinen Unterſchied, ob die in Brand ge-

ſetzten Gegenſtände im Eigenthum des Thäters ſind oder nicht.

§. 286.

Wer vorſätzlich Schiffe, Gebäude, Hütten, Bergwerke, Magazine, Vorräthe

von landwirthſchaftlichen Erzeugniſſen, Bau- oder Brenn-Materialien, Früchte

auf dem Felde, Waldungen oder Torfmoore, welche fremdes Eigenthum ſind,

in Brand ſteckt, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren beſtraft.

§. 287.

Wer vorſätzlich eigene oder fremde Sachen, welche vermöge ihrer Beſchaf-

fenheit und Lage geeignet ſind, den in den §§. 285. und 286. genannten

Gegenſtänden das Feuer mitzutheilen, in Brand ſetzt, ſoll ebenſo beſtraft wer-

den, wie derjenige, welcher jene Gegenſtände unmittelbar in Brand ſetzt.

§. 288.

Wer durch Fahrläſſigkeit einen Brand der in den §§. 285-287. erwähn-

ten Art verurſacht, wird mit Gefängniß bis zu ſechs Monaten, und wenn

durch den Brand ein Menſch das Leben verloren hat, mit Gefängniß von

zwei Monaten bis zu zwei Jahren beſtraft.

§. 289.

Die in den §§. 285-288. beſtimmten Strafen kommen nach den dort

aufgeſtellten Unterſcheidungen auch gegen denjenigen zur Anwendung, welcher

durch Gebrauch von Pulver oder anderen explodirenden Stoffen Gebäude,

Hütten, Schiffe, Magazine oder andere Räumlichkeiten zerſtört.

Die Beſtimmungen dieſes Titels erſtrecken ſich über folgende Ver-

brechen und Vergehen:

Brandſtiftung (§§. 285-89.),

Ueberſchwemmung (§§. 290-93.),

Beſchädigung von Eiſenbahnen (§§. 294. 295.) und

Telegraphenanſtalten (§§. 296-98.),

Zerſtörung von Waſſerleitungen u. ſ. w. (§. 301.),

Zerſtörung von Feuerzeichen u. ſ. w. (§. 302.),

Verurſachte Strandung (§. 303.),

Vergiftung von Brunnen, Waaren u. ſ. w. (§. 304.),

Verbreitung von anſteckenden Krankheiten (§. 306.),

Unterlaſſene Lieferung (§. 308.).

Beſeler Kommentar. 34

[522/0532]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

Außerdem finden ſich noch Beſtimmungen über die Unfähigkeit zum

Eiſenbahn- und Telegraphendienſt (§§. 299. 300.) und über die Stel-

lung unter Polizei-Aufſicht (§. 305.) — In den früheren Entwürfen

waren die Vorſchriften dieſes Titels theils nicht ſo umfaſſend, indem

Mehreres den Spezialgeſetzen überlaſſen blieb, theils war eine andere

Reihenfolge beobachtet worden. Die vorberathende Abtheilung des ver-

einigten ſtändiſchen Ausſchuſſes hatte in dieſer Beziehung einige Bemer-

kungen gemacht, p welche bei der Redaktion des Entwurfs von 1850.

zum Theil berückſichtigt worden ſind.

Zuerſt iſt alſo von der Brandſtiftung zu handeln. Die Straf-

vorſchrift, welche die Karolina (Art. 125.) über dieſes Verbrechen enthält:

Item die boßhafſigen überwunden brenner ſollen mit dem feuer

vom leben zum todt gericht werden.

findet ſich in derſelben Unbedingtheit im Code pénal (Art. 434.) wie-

der, während das Allgem. Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 1510-70.)

ungeachtet der Strenge ſeiner Beſtimmungen doch ſchon gewiſſe Unter-

ſcheidungen zuläßt. In Frankreich ſind durch das Geſetz vom 28. April

1832. tief eingreifende Abänderungen von dem früheren Rechte einge-

führt worden, denen man ſich bei der Reviſion des Strafrechts im We-

ſentlichen angeſchloſſen hat.

Im Allgemeinen iſt man bei der Behandlung der Brandſtiftung

davon ausgegangen, daß vier Fälle unterſchieden werden müſſen:

a. es werden Wohnungen oder andere Aufenthaltsorte der Men-

ſchen angezündet und durch das Verbrechen Menſchenleben in

Gefahr geſetzt;

b. es werden Sachen in Brand geſteckt, aus deren Anzündung ſich

zwar keine Gefahr für das Leben, wohl aber für fremdes Ei-

thum ergiebt;

c. jemand zündet ſeine eigene Wohnung oder Sache an, und zwar

ohne Gefahr für Menſchen oder fremdes Eigenthum, um da-

durch ein anderes Verbrechen, namentlich einen Betrug gegen

eine Verſicherungsanſtalt zu verüben;

d. jemand zündet fremde Sachen ohne Gefahr für Menſchen oder

fremdes Eigenthum an. q

Die unter a. und b. bezeichneten Fälle ſind nun zum Gegenſtande

p Verhandlungen. IV. S. 396.

q Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 448.

[523/0533]

§§. 285-289. Brandſtiftung.

der Beſtimmungen dieſes Titels gemacht worden, und bilden das Ver-

brechen der Brandſtiftung im eigentlichen Sinne. Der Fall unter c.

iſt im §. 244. vorgeſehen, inſofern die Handlung in betrügeriſcher Ab-

ſicht vorgenommen worden iſt, während andere Verbrechen, für welche

das Brennen als Mittel dienen ſoll, z. B. der Mord, nach den allge-

meinen für dieſelben geltenden Regeln zu beurtheilen ſind. Auf die un-

ter d. genannten Fälle endlich, welche unter keine der drei erſten Kate-

gorien fallen, kommen die im Titel XXVI. enthaltenen Vorſchriften über

die Vermögensbeſchädigung zur Anwendung.

Der Charakter des Gemeingefährlichen, welcher die Brandſtiftung

und die übrigen ihr angereihten Verbrechen auszeichnet, erweiſt ſich

alſo nach zwei Seiten hin wirkſam: es iſt die Gefahr für Menſchen-

leben oder für fremde Sachen, welche die Strafbarkeit der Handlungen

beſtimmt, und zwar die gemeine Gefahr, d. h. eine ſolche, welche ſich

nicht, wie Tödtung und Diebſtahl, gegen einen beſtimmten Menſchen,

eine einzelne Sache richtet, ſondern in einem größeren Umfange das

Gemeinweſen bedroht. Dieſer Begriff des Gemeingefährlichen iſt aber

nicht beſtimmt genug, um den geſetzlichen Thatbeſtand einzelner Verbre-

chen darnach abzumeſſen, indem z. B. bei dem Anzünden eines Hauſes

unterſchieden würde, ob eine gemeine Gefahr damit verbunden geweſen

ſei oder nicht. Das Geſetzbuch muß ſeine Strafvorſchriften nach be-

ſtimmten, ſicher erkennbaren Merkmalen der ſtrafbaren Handlungen er-

laſſen, und in dieſem Sinne iſt der Thatbeſtand der Brandſtiftung und

der ihr verwandten Verbrechen feſtgeſtellt worden. r Nur dann, wenn

es ausdrücklich zum Thatbeſtande eines Verbrechens erfordert wird, daß

daſſelbe mit Gefahr für das Leben oder das Eigenthum Anderer verübt

worden, iſt in jedem einzelnen Fall zur Begründung der geſetzlichen

Strafe feſtzuſtellen, ob eine ſolche Gefahr vorgelegen habe oder nicht.

Es hängt alſo z. B. von dieſem Umſtande ab, ob wegen vorſätzlicher

Veranlaſſung einer Strandung die Strafe des §. 303. oder eine andere

Strafe, namentlich im Fall des Betrugs die des §. 244. zur Anwen-

dung kommt; ob die vorſätzliche Beſchädigung einer Brücke nach den

Beſtimmungen des §. 283. oder 301. zu beurtheilen iſt.

Anders verhält es ſich bei der Brandſtiftung; hier beſteht das ge-

ſetzliche Merkmal der Gemeingefährlichkeit der Handlung in der Anwen-

dung des Feuers, ohne daß die gemeine Gefahr im einzelnen Falle zur

Herſtellung des Thatbeſtandes beſonders nachgewieſen zu werden braucht,

r Reviſion von 1845. III. S. 80. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 178. — Motive zum Entwurf von 1850

§§. 259-63.

34*

[524/0534]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

wenn ſie auch für die Strafzumeſſung ſtets in Betracht zu ziehen iſt.

Dieß gilt aber nur für gewiſſe Sachen, deren Anzünden in dem Geſetz-

buch als Brandſtiftung behandelt wird. Wer alſo z. B. ein Wohn-

gebäude in Brand ſetzt, wird als Brandſtifter beſtraft, ohne daß die

Anwendung der allgemeinen Vorſchriften der §§. 244. und 283. in

Frage kommen können; gehören aber die angezündeten Sachen nicht zu

denjenigen, welche in den §§. 285-87. bezeichnet ſind, ſo liegt das

Verbrechen der Brandſtiftung gar nicht vor, und es können nur die ge-

ſetzlichen Beſtimmungen über Betrug, Vermögensbeſchädigung oder wel-

ches Delikt ſonſt begründet erſcheint, zur Anwendung kommen.

I. Zum Thatbeſtande der Brandſtiftung gehört alſo, daß eine

Sache in Brand geſetzt oder, wie es §. 286. heißt, in Brand geſteckt

iſt. In der Doktrin des gemeinen Rechts beſteht eine Kontroverſe dar-

über, von welchem Zeitpunkte an das Verbrechen für vollendet zu hal-

ten iſt. Der Entwurf von 1843. verfügte in dieſer Hinſicht:

§. 532. „Das Verbrechen der Brandſtiftung §§. 529-531. iſt

vollendet, ſobald ſich das Feuer anderen Gegenſtänden, als dem ge-

brauchten Zündſtoffe, mitgetheilt hat.“

Bei der Reviſion von 1845. wurde dieſe Bezeichnung für zu we-

nig beſtimmt gehalten, und nach dem Vorgange anderer Deutſcher Straf-

geſetzbücher, s von denen nur das Württembergiſche (Art. 382.) verlangt,

daß die Sache in Flammen gerathen ſei, — der Ausdruck gewählt

„wenn der Gegenſtand der Brandſtiftung von dem Feuer ergriffen iſt“.

Auch der Entwurf von 1847. §. 363. hatte dieſe Faſſung beibehalten;

in dem Geſetzbuche aber, welches über die Vollendung der Verbrechen

keine Regeln aufzuſtellen pflegt, iſt die ganze Beſtimmung weggeblieben.

Schon die Auslegung der Worte führt aber zu den im den früheren

Entwürfen ausgeſprochenen Ergebniß.

II. In Beziehung auf die Sachen, welche den Gegenſtand der

Brandſtiftung bilden, iſt die ſchon in der Staatsraths-Kommiſſion ge-

machte Unterſcheidung feſtgehalten worden, ob durch das Verbrechen eine

gemeine Gefahr für Menſchenleben oder für fremde Sachen hervorgeru-

fen wird; von dem erſten Fall handelt der §. 285., von dem zweiten

der §. 286.

a. Bei denjenigen Gegenſtänden, deren Brand mit Gefahr für das

s Sächſ. Criminalgeſetzb. Art. 177. — Hannov. Criminalgeſetzb.

Art. 181. — Braunſchweig. Criminalgeſetzb. §. 207. — Heſſiſches Straf-

geſetzbuch Art. 415. — Badiſches Strafgeſetzbuch §. 560. — Thüring.

Strafgeſetzb. Art. 166. — Auch nach dem Franzöſiſchen Rechte iſt das Entflam-

men für die Vollendung der Brandſtiftung nicht erforderlich; ſ. Chauveau et

Hélie Faustin l. c. chap. LXXIII. IV. p. 201.

[525/0535]

§§. 285-289. Brandſtiftung.

Leben Anderer verbunden iſt, kommt es nicht darauf an, ob ſie im Ei-

genthume des Thäters ſind oder nicht, indem die Vermögensbeſchädi-

gung in dieſem Fall nur von untergeordneter Bedeutung iſt.

b. In Betreff der Sachen, welche zugleich in §. 285. und 286.

genannt ſind, iſt anzunehmen, daß die Vorſchriften des letzten Paragra-

phen nur dann zur Anwendung kommen, wenn die Vorausſetzungen

des §. 285. nicht vorliegen. Sind alſo z. B. Gebäude, welche zur

Wohnung von Menſchen dienen, angezündet worden, ſo iſt der Fall des

§. 285. Nr. 1. vorhanden, und §. 286. dadurch ausgeſchloſſen.

c. Im §. 286. kommen Ausdrücke vor, welche, an ſich unbeſtimmt,

ihre nähere Feſtſtellung nach dem Sinn des Geſetzes und beſonders

nach der Natur des vorliegenden Verbrechens erhalten müſſen. Wenn

nämlich das Anzünden von Vorräthen landwirthſchaftlicher Erzeugniſſe,

Bau- oder Brennmaterialien oder dergl. zu dem Verbrechen der Brand-

ſtiftung gerechnet wird, ſo liegt das Bedenken nahe, daß die Zerſtörung

geringer Quantitäten, welche ohne gemeine Gefahr bewirkt iſt, und ih-

rer Bedeutung nach nur wie eine gewöhnliche Vermögensbeſchädigung

erſcheint, nicht füglich mit harter Zuchthausſtrafe belegt werden kann.

Der Entwurf von 1847. hatte dieſem Bedenken durch folgende Faſſung

vorgebeugt:

§. 361. „Wer in andern als den in den §§. 358-360. bezeich-

neten Fällen vorſätzlich einen Brand verurſacht, welcher mit gemeiner

Gefahr für Eigenthum, z. B. für Waldungen, Torfmoore, Früchte auf

dem Felde, verbunden iſt, ſoll mit Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig

Jahren beſtraft werden.“

Die im Entwurf von 1850. §. 260. erfolgte Abänderung dieſer

Beſtimmung führte in der Kommiſſion der zweiten Kammer zu dem An-

trage, in den oben bezeichneten geringfügigen Fällen die Berückſichtigung

mildernder Umſtände und demnach eine Strafermäßigung eintreten zu

laſſen. Es wurde jedoch eine ſolche Auskunft nicht für nothwendig

gehalten.

„Die Mehrheit der Kommiſſion“, heißt es in dem Berichte, „theilt

dieſes Bedenken nicht. Sie geht, im Einverſtändniſſe mit dem Kom-

miſſar der Königlichen Regierung, davon aus, daß die Gleichſtellung

der Vorräthe von Früchten und von Bau- und Brennmaterialien mit

Gebäuden, Schiffen und Magazinen ſchon deutlich zu erkennen giebt,

daß nur erhebliche Quantitäten derartiger Gegenſtände darunter zu ver-

ſtehen ſind. Das Anzünden einer geringeren Quantität ſolcher Gegen-

ſtände kann daher nur als eine gewöhnliche Vermögensbeſchädigung an-

geſehen werden, wenn nicht etwa eine größere Verbreitung des Feuers

bezweckt war oder nach den Umſtänden erwartet werden mußte. Die

[526/0536]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

Kommiſſion glaubt, daß dieſer Sinn des Geſetzes jetzt deutlicher hervor-

tritt, als wenn dem §. 260. ein Zuſatz gegeben und darin im Falle

mildernder Umſtände eine Ermäßigung der Strafe zugelaſſen wird.“

d. Denjenigen Gegenſtänden, durch deren Anzünden eine Brand-

ſtiftung verübt wird, ſind in Beziehung auf dieſes Verbrechen ſolche

Sachen gleichgeſetzt, welche vermöge ihrer Beſchaffenheit und Lage ge-

eignet ſind, jenen Gegenſtänden das Feuer mitzutheilen (§. 287.). In

dem Entwurf von 1843. §. 529. war dieß nur in Beziehung auf die

Wohnungen vorgeſchrieben, indem es hieß:

„Dieſe Beſtimmungen finden auch dann Anwendung, wenn Ge-

genſtände, welche ſich in der Nähe der gedachten Gebäude befinden, an-

gezündet worden ſind, und aus den Umſtänden erhellet, daß ſolches in

der Abſicht geſchehen iſt, dieſe Gebäude in Brand zu ſetzen.“

Später wurde eine ſolche Beſtimmung für überflüſſig gehalten;

wenn jemand ein Gebäude in Brand ſtecken wolle, ſei es gleichgültig,

ob er daſſelbe unmittelbar oder vermittelſt eines anderen Gegenſtandes

anzünde. t) Der Entwurf von 1847. §. 360. ſetzte aber dennoch feſt:

„Die Strafvorſchriften des §. 358. ſind auch auf denjenigen an-

wendbar, welcher Gegenſtände irgend einer Art, die vermöge ihrer Lage

geeignet ſind, das Feuer den in den §§. 358. und 359. bezeichneten

Gebäuden oder Räumlichkeiten mitzutheilen, mit Kenntniß dieſer Ge-

fahr, vorſätzlich in Brand ſetzt, wie z. B. benachbarte unbewohnte Ge-

bäude, Vorräthe von Holz, Heu oder Stroh.“

Der Entwurf von 1850. endlich dehnte die Beſtimmung auch auf

die in §. 286. des Geſetzbuchs vorgeſehene Brandſtiftung mit gemeiner

Gefahr für das Eigenthum aus, und ſtellte in Beziehung auf den Do-

lus für dieſe mittelbare Brandſtiftung kein beſonderes Erforderniß auf.

III. Auch wenn eine Handlung, welche das Verbrechen der Brand-

ſtiftung begründet, aus Fahrläſſigkeit begangen iſt, ſoll nach §. 288. eine

Strafe eintreten; zum geſetzlichen Thatbeſtande des Verbrechens gehört

aber der Dolus, zu deſſen Bezeichnung der Ausdruck „vorſätzlich“ ge-

wählt iſt. Es hat dieß denſelben Sinn, welchen das Franzöſiſche Recht

mit volontairement verbindet, u) und bedeutet, daß die Abſicht der

Handlung auf die Erregung des Brandes (der Feuersbrunſt) gerichtet

war. Genauere Beſtimmungen über die Beſchaffenheit des Dolus bei

dieſem Verbrechen ſind auch in den übrigen neueren Strafgeſetzbüchern

nicht für nöthig erachtet worden; nur das Hannoverſche (Art. 181.)

enthält noch eine weitere Ausführung, indem es beſtimmt:

t) Reviſion von 1845. III. S. 80.

u) Chauveau et Hélie Faustin. l. c. p. 200.

[527/0537]

§§. 285-289. Brandſtiftung.

„Wer aus rechtswidrigem Vorſatze eine Sache mit Gefahr für an-

dere Perſonen oder deren Eigenthum in Brand ſetzt, der iſt der Brand-

ſtiftung ſchuldig. Zu dem rechtswidrigen Vorſatze bei dieſem Verbrechen

gehört die Abſicht, einen Brand mit Feuersgefahr für Andere zu ver-

urſachen.“

Das Franzöſiſche Strafgeſetzbuch von 1791. ging noch weiter und

verlangte, daß der Brand par malice ou véngeance et à dessein de

nuire à autrui erregt ſei; allein eine ſolche Hervorhebung der Motive

iſt hier eben ſo wenig angemeſſen, als die allgemeine Definition des

Hannoverſchen Geſetzbuchs, welche ungeachtet ihrer Ausführlichkeit die

Beſtimmtheit des Thatbeſtandes, welche durch die Feſtſtellung der mög-

lichen Gegenſtände des Verbrechens erreicht wird, nicht erſetzt. v)

IV. Die Strafe der Brandſtiftung richtet ſich darnach, ob Gefahr

für Menſchenleben oder für fremdes Eigenthum durch die Handlung

hervorgerufen wird.

a. In den Fällen des §. 285. tritt zehnjähriges bis lebensläng-

liches Zuchthaus ein, und wenn durch den Brand ein Menſch das Le-

ben verloren hat, ſoll auf Todesſtrafe erkannt werden. Dieſe letztere

Beſtimmung, welche bei den meiſten gemeingefährlichen Verbrechen ſich

wiederholt, beruht auf der Erwägung, daß bei ſolchen Verbrechen die

Gefahr für Menſchenleben, welche damit verbunden iſt, nicht überſehen

werden kann; daß auch der Thäter, wenn gleich ſeine Abſicht nicht auf

Tödtung gerichtet iſt, die Handlung doch mit dem Bewußtſein unter-

nimmt, daß ſie möglicher Weiſe einen ſolchen Erfolg haben kann, wel-

chen er alſo mittelbar wenigſtens gewollt hat. Es iſt dieß ein Fall

des dolus indeterminatus, welcher in der Strafwürdigkeit dem direkten

Dolus im Allgemeinen gleich ſteht. w) Die mit dem Verbrechen ver-

bundene gemeine Gefahr, welche es gar nicht abſehen läßt, wie weit die

Folgen deſſelben reichen werden, kommt noch hinzu, um gerade in die-

ſen Fällen auch die Anwendung der Todesſtrafe bei dem unbeſtimmten

Dolus zu rechtfertigen.

Die Todesſtrafe tritt aber nur dann ein, wenn ein Menſch „durch

den Brand“ das Leben verloren hat, ſo daß ein unmittelbarer Kauſal-

nerus zwiſchen dem Brande und dieſem Ereigniſſe obwalten muß, und

es z. B. nicht genügt, wenn der Tod eines Menſchen bei dem Löſchen

des Feuers erfolgt iſt. Um dieſes beſtimmter auszudrücken, beſchloß die

Kommiſſion der zweiten Kammer, ſtatt der in dem Entwurf von 1850.

v) Motive zum Entwurf von 1850. zu §§. 259-63.

w) Reviſion von 1845. III. S. 76. 77. — Motive a. a. O. — Bericht

der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 259. (285.) — Bericht der

Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ.

[528/0538]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

§. 259. gebrauchten Worte „in Folge des Brandes“, die oben ange-

führten zu ſetzen. Es geſchah dieß mit Zuſtimmung des Regierungs-

Kommiſſars, nach deſſen Erklärung auch die geſtrichenen Worte in dem

angegebenen Sinn verſtanden waren. x)

b. In den Fällen des §. 286. iſt die Strafe Zuchthaus von zwei

bis zu zehn Jahren. — Ueber die Stellung unter Polizeiaufſicht iſt hier

wie bei den anderen gemeingefährlichen Verbrechen die allgemeine Vor-

ſchrift des §. 305. maaßgebend.

c. Iſt der Brand durch Fahrläſſigkeit verurſacht worden, ſo tritt

Gefängniß bis zu ſechs Monaten, und wenn durch den Brand ein

Menſch das Leben verloren hat, von zwei Monaten bis zu zwei Jahren

ein (§. 288.). Ueber den Grad des ſtrafbaren Verſehens ſ. oben

S. 50-56.

V. Der Brandſtiftung iſt es gleich geſtellt, wenn durch Gebrauch

von Pulver oder anderen explodirenden Stoffen Gebäude, Hütten,

Schiffe, Magazine oder andere Räumlichkeiten zerſtört werden (§. 289.).

Dieſe dem Franzöſiſchen Recht y) nachgebildete Beſtimmung, welche man

früher für überflüſſig gehalten, z) und erſt in dem Entwurf von 1850.

§. 263. wieder aufgenommen hatte, fand in der Kommiſſion der zweiten

Kammer nur inſofern Widerſpruch, als der Ausdruck „oder andere

Räumlichkeiten“ für zu unbeſtimmt gehalten wurde. Indeſſen wurde

dieß Bedenken von der Mehrheit der Kommiſſion nicht getheilt, indem

man der Anſicht war, daß jene Worte auf den §. 285. Nr. 3. zu be-

ziehen ſeien, und daß ihnen in §. 289. dieſelbe Bedeutung habe beigelegt

werden ſollen, in welcher ſie dort aufgefaßt worden. a)

§. 290.

Wer mit Gefahr für das Leben Anderer vorſätzlich eine Ueberſchwemmung

verurſacht, ſoll mit zehnjähriger bis lebenslänglicher Zuchthausſtrafe, und wenn

in Folge der Ueberſchwemmung ein Menſch das Leben verliert, mit dem Tode

beſtraft werden.

§. 291.

Wer mit gemeiner Gefahr für das Eigenthum, jedoch nicht mit Gefahr für

das Leben Anderer, vorſätzlich eine Ueberſchwemmung verurſacht, ſoll mit

Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig Jahren beſtraft werden.

x) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O.

y) Code pénal. Art. 435. La peine sera la mème contre ceux qui

auront detruit, par l'effet d'une mine, des édifices, navires ou bateaux.

z) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 450.

a) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 263. (289.)

[529/0539]

§§. 290-293. Ueberſchwemmung.

§. 292.

Gegen den, welcher eine ſolche Ueberſchwemmung (§. 290. und §. 291.)

vorſätzlich, aber nur in der Abſicht verurſacht, ſein Eigenthum vor Gefahr zu

ſchützen, ſoll auf Gefängniß nicht unter zwei Jahren erkannt werden.

§. 293.

Wer eine Ueberſchwemmung durch Fahrläſſigkeit verurſacht, wird mit Ge-

fängniß bis zu ſechs Monaten, und wenn in Folge der Ueberſchwemmung ein

Menſch das Leben verloren hat, mit Gefängniß von zwei Monaten bis zu

zwei Jahren beſtraft.

Der Entwurf von 1850. hatte es verſucht, die Grade der Straf-

barkeit bei dem Verbrechen der Ueberſchwemmung ähnlich wie bei der

Brandſtiftung feſtzuſtellen, indem die Beſchaffenheit des Gegenſtandes

in den geſetzlichen Thatbeſtand mit hineingezogen war. Es hieß

nämlich:

§. 264. „Wer vorſätzlich eine Ueberſchwemmung verurſacht, durch

welche ein bewohnter Ort oder die Feldflur einer Gemeinde unter Waſſer

geſetzt wird, ſoll mit Zuchthaus von zehn bis zu zwanzig Jahren, und

wenn in Folge der Ueberſchwemmung ein Menſch das Leben verloren

hat, mit dem Tode beſtraft werden.“

„Gegen den, welcher eine ſolche Ueberſchwemmung vorſätzlich, aber

nur in der Abſicht verurſacht, ſein Eigenthum vor Gefahr zu ſchützen,

kann die Strafe auf zweijähriges Gefängniß ermäßigt werden. Auf

Todesſtrafe darf in einem ſolchen Falle unter keinen Umſtänden erkannt

werden.“

In der Kommiſſion der zweiten Kammer fand dieſe Faſſung jedoch

keinen Beifall; man hielt dafür, daß die Worte „ein bewohnter Ort“

zu unbeſtimmt ſeien, und gegen den Ausdruck „die Feldflur einer Ge-

meinde“ wurde das Bedenken laut, daß es gleichgültig erſcheine, ob die

ganze Feldflur oder nur ein Theil derſelben unter Waſſer geſetzt ſei.

Ueberhaupt glaubte man bei dieſem Verbrechen auf eine ſolche Spezia-

liſirung wie bei der Brandſtiftung verzichten zu können, und fand in

dem Entwurf von 1847. §. 354-56. die geſetzlichen Beſtimmungen

klarer und beſſer aus einander gelegt, wie in der letzten Regierungs-

vorlage. b) Es wurde daher im Weſentlichen jene frühere Faſſung

wieder aufgenommen.

I. Die Ueberſchwemmung iſt mit Gefahr für das Leben Anderer

verurſacht worden (§. 290.). Dann tritt dieſelbe Strafe ein, welche

b) Ebendaſ. zu §. 264. — Vgl. Berathungs-Protokolle a. a. O.

S. 446. 447.

[530/0540]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

für die Brandſtiftung in den Fällen des §. 285. vorgeſchrieben iſt, und

zwar, wenn ein Menſch das Leben verloren hat, die Todesſtrafe. Doch

hat das Geſetzbuch hier den Ausdruck „in Folge der Ueberſchwemmung“

und nicht „durch die Ueberſchwemmung,“ ſo daß der Tod des Menſchen

nicht ſofort und unmittelbar dadurch bewirkt zu ſein braucht, ſondern

es genügt, wenn dieſes Ereigniß nur überhaupt in urſächlichem Zuſam-

menhange mit der ſtrafbaren Handlung ſteht. Für die Beurtheilung der

Folgen dieſes Verbrechens ſind andere Momente in Betracht zu ziehen,

als bei der Brandſtiftung. c)

II. Die Ueberſchwemmung iſt mit gemeiner Gefahr für das Eigen-

thum, jedoch nicht mit Gefahr für das Leben Anderer verurſacht worden

(§. 291.). Dann ſoll die Strafe Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig

Jahren ſein, alſo beträchtlich höher, als ſie für den entſprechenden Fall

der Brandſtiftung (§. 286.) vorgeſchrieben iſt.

III. Die Ueberſchwemmung iſt mit gemeiner Gefahr für das Leben

oder das Eigenthum Anderer verbunden, der Thäter hat ſie aber nur

in der Abſicht verurſacht, ſein Eigenthum vor Gefahr zu ſchützen

(§. 292.). Dieſer Fall wird namentlich eintreten, wenn ein Grund-

beſitzer, ſelbſt in Gefahr, die Waſſernoth dadurch von ſich abzuwenden

ſucht, daß er tiefer liegende Ländereien überſchwemmt. — Während die

früheren Entwürfe in einem ſolchen Fall nur die Berückſichtigung mil-

dernder Umſtände und eine Ermäßigung der geſetzlichen Strafe zuließen,

glaubte die Kommiſſion der zweiten Kammer denſelben principiell von

den anderen Arten der Ueberſchwemmung unterſcheiden zu müſſen, und

ſetzte nur eine Gefängnißſtrafe von zwei bis fünf Jahren feſt.

IV. Die fahrläſſige Ueberſchwemmung (§. 293.) iſt genau ſo wie

die fahrläſſige Brandſtiftung behandelt worden.

§. 294.

Wer vorſätzlich an Eiſenbahnanlagen, deren Transportmitteln oder anderem

Zubehör ſolche Beſchädigungen verübt, oder auf der Fahrbahn durch Aufſtellen,

Hinlegen oder Hinwerfen von Gegenſtänden, oder durch Verrückung von

Schienen oder auf andere Weiſe ſolche Hinderniſſe bereitet, daß dadurch der

Transport auf der Bahn in Gefahr geſetzt wird, hat Zuchthaus bis zu zehn

Jahren verwirkt.

Hat die Handlung die ſchwere Körperverletzung eines Menſchen (§. 193.)

zur Folge gehabt, ſo tritt Zuchthausſtrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren,

und hat in Folge der Handlung ein Menſch das Leben verloren, die Todes-

ſtrafe ein.

§. 295.

Wer fahrläſſiger Weiſe durch Handlungen der im §. 294. bezeichneten Art

c) Kommiſſionsbericht a. a. O.

[531/0541]

§§. 294-300. Beſchädigung c. von Eiſenbahnen u. Telegraphenanſt.

den Transport auf einer Eiſenbahn in Gefahr ſetzt, wird mit Gefängniß bis

zu Einem Jahre, und wenn dadurch ein Menſch das Leben verloren hat, mit

Gefängniß von zwei Monaten bis zu drei Jahren beſtraft.

Eine gleiche Strafe haben die zur Leitung der Eiſenbahnfahrten und zur

Aufſicht über die Bahn und den Transportbetrieb angeſtellten Perſonen (Ei-

ſenbahnbeamten) verwirkt, wenn ſie durch Vernachläſſigung der ihnen obliegen-

den Pflichten einen Transport in Gefahr ſetzen.

§. 296.

Wer gegen eine Telegraphenanſtalt des Staates oder einer Eiſenbahngeſell-

ſchaft vorſätzlich Handlungen verübt, welche die Benutzung dieſer Anſtalt zu

ihren Zwecken verhindern oder ſtören, wird mit Gefängniß von drei Monaten

bis zu drei Jahren beſtraft.

Handlungen dieſer Art ſind insbeſondere: die Wegnahme, Zerſtörung oder

Beſchädigung der Drahtleitung, der Apparate und ſonſtigen Zubehörungen der

Telegraphenanlagen, die Verbindung fremdartiger Gegenſtände mit der Draht-

leitung, die Fälſchung der durch den Telegraphen gegebenen Zeichen, die Ver-

hinderung der Wiederherſtellung einer zerſtörten oder beſchädigten Telegraphen-

anlage, die Verhinderung der bei der Telegraphenanlage angeſtellten Perſonen

in ihrem Dienſtberufe.

§. 297.

Iſt in Folge der vorſätzlich verhinderten oder geſtörten Benutzung der Te-

legraphenanſtalten ein Menſch am Körper oder an der Geſundheit beſchädigt

worden, ſo trifft den Schuldigen Zuchthaus bis zu zehn Jahren, und wenn

ein Menſch das Leben verloren hat, Zuchthaus von zehn bis zu zwanzig

Jahren.

§. 298.

Wer gegen eine Telegraphenanſtalt des Staates oder einer Eiſenbahn-

geſellſchaft fahrläſſigerweiſe Handlungen verübt, welche die Benutzung dieſer

Anſtalt zu ihrem Zwecke verhindern oder ſtören, wird mit Gefängniß bis zu

ſechs Monaten, und wenn dadurch ein Menſch das Leben verloren hat, mit

Gefängniß von zwei Monaten bis zu zwei Jahren beſtraft.

Eine gleiche Strafe haben die zur Beaufſichtigung und Bedienung der Te-

legraphenanſtalten und ihrer Zubehörungen angeſtellten Perſonen (Telegraphen

beamten) verwirkt, wenn ſie durch Vernachläſſigung der ihnen obliegenden

Pflichten die Benutzung der Anſtalt verhindern oder ſtören.

§. 299.

Eiſenbahnbeamte und Telegraphenbeamte, welche wegen eines der in den

§§. 294. bis 298. bezeichneten Verbrechen oder Vergehen verurtheilt werden,

ſollen zugleich zu einer Beſchäftigung im Eiſenbahn und Telegraphen-Dienſte

für unfähig erklärt werden.

§. 300.

Die Vorſteher einer Eiſenbahngeſellſchaft, ſowie die Vorſteher der Tele-

graphenanſtalt einer Eiſenbahngeſellſchaft, welche die Entfernung des verurtheil-

ten Beamten nach der Mittheilung des rechtskräftigen Erkenntniſſes nicht ſogleich

[532/0542]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

bewirken, ſollen mit einer Geldbuße von zehn bis zu Einhundert Thalern oder

mit einer Gefängnißſtrafe bis zu drei Monaten beſtraft werden.

Gleiche Strafe trifft den für unfähig erklärten Eiſenbahn- oder Telegra-

phen-Beamten, wenn er ſich nachher bei einer Eiſenbahn oder Telegraphenanſtalt

wieder anſtellen läßt, ſowie diejenigen, welche ihn wieder angeſtellt haben,

obwohl denſelben die Unfähigkeitserklärung bekannt war.

Die Verbrechen und Vergehen gegen Eiſenbahnen und Telegraphen-

anſtalten waren in den früheren Entwürfen nicht berührt; erſt der Ent-

wurf von 1850. hat die betreffenden Beſtimmungen der Spezialgeſetze d)

in das Geſetzbuch aufgenommen, und abgeſehen von einigen unweſent-

lichen Faſſungsänderungen, nur einige Vorſchriften in Uebereinſtimmung

mit dem allgemeinen Strafſyſteme des Geſetzbuchs gebracht. Obgleich

nun die Strafbeſtimmungen, welche ſich auf die Eiſenbahnen und Te-

legraphenanſtalten beziehen, nicht in allen Punkten übereintreffen, ſo

können ſie doch wegen ihrer inneren Verwandſchaft und weil ſie gleich-

mäßig dem früheren Rechte entnommen ſind, einer gemeinſamen Erör-

terung unterzogen werden.

I. Der weſentliche Unterſchied zwiſchen den ſtrafbaren Handlungen,

welche ſich auf die genannten Gegenſtände beziehen, beſteht darin, daß

die Beſchädigung von Eiſenbahnanlagen und deren Zubehör, ſo wie die

Störung der Fahrten unmittelbar eine gemeine Gefahr für Leben, Ge-

ſundheit und Eigenthum hervorrufen, während ähnliche Handlungen,

gegen eine Telegraphenanſtalt gerichtet, regelmäßig nur eine Vermögens-

beſchädigung oder eine Störung der Kommunikation verurſachen, und

ganz beſondere Umſtände nöthig ſind, um eine gemeine Gefahr zu be-

gründen. Dadurch wird ein verſchiedenes Maaß der geſetzlichen Strafen

nothwendig gemacht.

II. Bei den gegen die Eiſenbahn gerichteten Handlungen (§§. 294.

295.) kommt es darauf an, daß dadurch der Transport auf der Bahn

in Gefahr geſetzt wird. Dieſer Umſtand bildet alſo einen weſentlichen

Theil des geſetzlichen Thatbeſtandes; fehlt es an demſelben, ſo kommen

die allgemeinen Beſtimmungen über Vermögensbeſchädigung (§. 283.)

u. ſ. w. zur Anwendung; für die Gefährdung des Transports aber iſt

es gleichgültig, ob dieſelbe durch Beſchädigung der Eiſenbahnanlagen,

deren Transportmittel oder anderer Zubehörungen, oder durch die Er-

regung von Hinderniſſen auf der Fahrbahn hervorgerufen iſt.

d) Verordnung wegen Beſtrafung der Beſchädiger der Eiſen-

bahn-Anlagen. Vom 30. November 1840. (G.-S. von 1841. S. 9. 10.). —

Verordnung, betreffend die Beſtrafung der Vergehen gegen die Te-

legraphen-Anſtalten. Vom 15. Juni 1849. (G.-S. S. 217-19.). Vgl.

Bekanntmachung vom 4. Januar 1850. (G.-S. S. 7.).

[533/0543]

§§. 294-300. Beſchädigung c. von Eiſenbahnen u. Telegraphenanſt.

a. Die Strafen, welche auf vorſätzliche Handlungen dieſer Art

geſetzt ſind, weichen zum Theil von den Vorſchriften des Geſetzes von

1840. ab; ſie entſprechen jetzt dem allgemeinen Syſteme des Straf-

geſetzbuchs, und namentlich den bei Behandlung der gemeingefährlichen

Verbrechen befolgten Grundſätzen. Die Todesſtrafe konnte hier, wenn

ein Menſch in Folge der Handlung das Leben verloren hat, nicht ver-

mieden werden.

b. Die Strafe der Fahrläſſigkeit iſt im Verhältniß zu anderen

Fällen (§§. 288. 293.) wegen der erhöhten Gefahr geſteigert worden;

ſie trifft namentlich auch nachläſſige Eiſenbahnbeamten.

III. Die Telegraphenanſtalten (§§. 296-98.) ſind nur inſofern

unter den beſonderen Schutz des Geſetzes geſtellt, als ſie dem Staate

oder einer Eiſenbahngeſellſchaft angehören. Es kommen hier aber über-

haupt nur Strafbeſtimmungen gegen ſolche Handlungen vor, welche die

Benutzung der Anſtalt zu ihren Zwecken verhindern oder ſtören, und

von denen in §. 296. nach dem Vorgange des angeführten Geſetzes die

wichtigſten Fälle angeführt ſind.

a. Weil ſolche Handlungen in der Regel keine Gefahr für Leben

und Eigenthum begründen, werden ſie auch, wenn ſie vorſätzlich verübt

ſind, nur als Vergehen betrachtet, und mit Gefängniß von drei Mo-

naten bis zu drei Jahren beſtraft. Nur wenn die Beſchädigung oder

gar der Tod eines Menſchen die Folge der gehinderten oder geſtörten

Benutzung geweſen, iſt auf Zuchthaus zu erkennen (§. 297.), und nur

wegen ſolcher Fälle iſt es überhaupt gerechtfertigt, daß das Delikt in

dieſem Titel einen Platz gefunden hat.

b. Iſt die Handlung aus Fahrläſſigkeit begangen, ſo tritt die

auch für andere gemeingefährliche Verbrechen beſtimmte Strafe ein. Da

dieſelbe bei den Verbrechen gegen Eiſenbahnen erhöht worden iſt, hätte

hier wohl ihre Herunterſetzung erwartet werden können, welche auch bei

den vorſätzlichen Handlungen geſchehen iſt.

IV. Gegen Eiſenbahn- und Telegraphenbeamten ſoll außer den

allgemeinen Strafen noch auf Unfähigkeit zu dieſem beſonderen Dienſte

erkannt werden, und zwar ohne Rückſicht, ob die ſtrafbare Handlung

mit Vorſatz oder aus Verſehen begangen worden iſt (§. 299.). e) Selbſt

die Vorſteher von Eiſenbahngeſellſchaften und Telegraphenanſtalten,

welche einen ſolchen Beamten gegen die geſetzliche Vorſchrift nicht zeitig

aus dem Dienſte entfernen oder ihn wieder anſtellen, ſollen mit Geldbuße

oder Gefängniß beſtraft werden (§. 300.). Daß gegen ſie auch auf

e) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 272. (300.).

[534/0544]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

Gefängniß erkannt werden kann, iſt ein Zuſatz des Geſetzbuchs die

früheren Spezialgeſetze hatten bloß die Geldbuße.

§. 301.

Wer vorſätzlich Waſſerleitungen, Schleuſen, Wehre, Deiche, Dämme oder

andere Waſſerbauten, oder Brücken, Fähren, Wege oder Schutzwehre zerſtört

oder beſchädigt, oder wer in ſchiffbaren Strömen, Flüſſen oder Kanälen das

Fahrwaſſer ſtört, und durch eine dieſer Handlungen Gefahr für das Leben

oder die Geſundheit Anderer herbeiführt, wird mit Gefängniß nicht unter drei

Monaten beſtraft.

Hat in Folge einer dieſer Handlungen ein Menſch eine ſchwere Körperver-

letzung (§. 193.) erlitten, ſo tritt Zuchthaus bis zu funfzehn Jahren, und

hat in Folge einer dieſer Handlungen ein Menſch das Leben verloren, zehn-

jährige bis lebenslängliche Zuchthausſtrafe ein.

Liegt einer ſolchen Handlung Fahrläſſigkeit zum Grunde, und iſt dadurch

ein Schaden entſtanden, ſo iſt auf Gefängniß bis zu ſechs Monaten, und

wenn in Folge derſelben ein Menſch das Leben verloren hat, auf Gefängniß

von zwei Monaten bis zu zwei Jahren zu erkennen.

Die in dieſem Paragraphen bezeichneten Handlungen fallen nur

dann unter die aufgeſtellten Strafbeſtimmungen, wenn Gefahr für das

Leben oder die Geſundheit Anderer dadurch herbeigeführt wird; fehlt

dieſer Theil des Thatbeſtandes, ſo kommen, inſoweit ſie überhaupt zu-

treffend ſind, die Vorſchriften über die Vermögensbeſchädigung, nament-

lich die des §. 283. zur Anwendung. Die Fälle, auf welche ſich die

beiden genannten Paragraphen beziehen, ſind aber nicht gleichartig, und

es lag daher keine Veranlaſſung vor, ſie in Beziehung auf die aufge-

zählten Gegenſtände mit einander genau in Einklang zu bringen. f) —

Die Zerſtörung und Beſchädigung von Schleuſen, Dämmen u. ſ. w.

können übrigens auch vorgenommen werden, um eine Ueberſchwemmung

zu verurſachen, und ſind dann nach den über dieſes Verbrechen aufge-

ſtellten Beſtimmungen zu beurtheilen. g)

In dem Staatsrathe wurde das Bedenken geäußert, ob eine der

bezeichneten Handlungen, welche in gewinnſüchtiger Abſicht vorgenommen

worden, indem z. B. Theile eines der in Rede ſtehenden Bauwerke

geſtohlen werden, unter die Strafbeſtimmung des Paragraphen zu be-

faſſen ſei, da es hier doch auf den animus nocendi ankomme, der bei

der Entwendung vielleicht gar nicht vorliege. Allein man erwiederte,

daß eine mit Vorſatz, d. h. mit dem Bewußtſein der Rechtswidrigkeit

f) Ebendaſelbſt zu §. 273. (301.).

g) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 437-40.

[535/0545]

§. 302. Zerſtörung von Feuerzeichen u. ſ. w.

ausgeführte Beſchädigung vorausgeſetzt werde, und die ſonſt etwa vom

Thäter beabſichtigten verbrecheriſchen Zwecke nicht weiter zu berückſich-

tigen ſeien. In dem bezeichneten Falle liege die ideelle Konkurrenz

zweier Verbrechen, des Diebſtahls und der gemeingefährlichen Beſchädi-

gung, vor. h)

In Beziehung auf die aus Fahrläſſigkeit begangenen Handlungen

iſt zu bemerken, daß dieſelben ſowohl nach dieſem Paragraphen wie

nach den folgenden §§. 302-4. und 308. nur dann beſtraft werden

ſollen, wenn dadurch ein Schaden entſtanden iſt.

§. 302.

Wer vorſätzlich die zur Sicherung der Schiffahrt beſtimmten Feuerzeichen

oder andere zu dieſem Zwecke aufgeſtellte Zeichen zerſtört, wegſchafft oder un-

brauchbar macht, oder dergleichen Feuerzeichen auslöſcht, oder falſche Zeichen,

welche geeignet ſind, die Schiffahrt unſicher zu machen, aufſtellt, insbeſondere

zur Nachtzeit auf der Strandhöhe Feuer anzündet, welches die Schiffahrt zu

gefährden geeignet iſt, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren beſtraft.

Iſt in Folge der Handlung ein Schiff geſtrandet, ſo tritt Zuchthaus von

zehn bis zu zwanzig Jahren, und hat dadurch ein Menſch das Leben verloren,

die Todesſtrafe ein.

Liegt der Handlung Fahrläſſigkeit zum Grunde, und iſt dadurch ein Scha-

den entſtanden, ſo iſt auf Gefängniß bis zu ſechs Monaten, und wenn in

Folge der Handlung ein Menſch das Leben verloren hat, auf Gefängniß von

zwei Monaten bis zu zwei Jahren zu erkennen.

Von den vorſtehenden Beſtimmungen, welche zum Schutze der

Schiffahrt und namentlich der zur Sicherung der Schiffahrt dienenden

Anſtalten erlaſſen ſind, erregte in der Kommiſſion der zweiten Kammer

nur diejenige Bedenken, welche nach der Faſſung des Entwurfs von

1850. §. 274. jeden, der vorſätzlich „zur Nachtzeit auf der Strandhöhe

Feuer anzündet,“ mit Zuchthausſtrafe bis zu zehn Jahren bedrohte.

Eine ſolche Strafe laſſe ſich nur rechtfertigen, wenn der Thäter mit dem

Bewußtſein die Handlung begehe, daß ſie geeignet ſei, die Schiffahrt zu

gefährden, oder wenn von einem derartigen Feueranlegen überhaupt eine

ſolche Gefährdung wirklich zu beſorgen ſei.

Um nun einer Auslegung des Geſetzbuchs entgegenzutreten, welche

zu übertriebener Härte führen könnte, beſchloß die Kommiſſion ſtatt der

h) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 18. Mai 1842. — Ueber

den Dolus bei ſolchen Beſchädigungen hat eine längere, reſultatloſe Verhandlung in

dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſe ſtatt gefunden; ſ. Verhandlungen. IV.

S. 427-36.

[536/0546]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

Worte „oder zur Nachtzeit auf der Strandhöhe Feuer anzündet,“ die

Faſſung zu wählen: „insbeſondere zur Nachtzeit auf der Strandhöhe

Feuer anzündet, welches die Schiffahrt zu gefährden geeignet iſt.“ i)

Deſſenungeachtet wird auch ſo noch bei der Anwendung dieſer Geſetzes-

ſtelle mit Vorſicht zu verfahren ſein.

§. 303.

Wer vorſätzlich die Strandung oder das Sinken eines Schiffes bewirkt,

und dadurch Gefahr für das Leben eines Anderen herbeiführt, wird mit Zucht-

haus von zehn bis zu zwanzig Jahren, und wenn in Folge der Handlung ein

Menſch das Leben verloren hat, mit dem Tode beſtraft.

Liegt der Handlung Fahrläſſigkeit zum Grunde, und iſt dadurch ein Scha-

den entſtanden, ſo iſt auf Gefängniß bis zu ſechs Monaten, und wenn in

Folge der Handlung ein Menſch das Leben verloren hat, auf Gefängniß von

zwei Monaten bis zu zwei Jahren zu erkennen.

Das Verhältniß der hier gegebenen Vorſchrift zu §. 244. iſt ſchon

oben bezeichnet worden; auch der §. 283. iſt hier in Betracht zu ziehen,

indem die Staatsraths-Kommiſſion hauptſächlich deswegen nur den Fall,

wo die Strandung oder das Verſinken des Schiffs mit Gefahr für das

Leben anderer Perſonen verbunden iſt, unter die gemeingefährlichen Ver-

brechen aufnahm, weil in andern Fällen die Strafe des Betruges oder

der Vermögensbeſchädigung genüge. k) — Das Hannoverſche Strafge-

ſetzbuch (Art. 188.) hat dagegen das Verbrechen der verurſachten Stran-

dung in einer weiteren Ausdehnung genommen.

§. 304.

Wer vorſätzlich Brunnen oder Waſſerbehälter, welche zum Gebrauche An-

derer dienen, oder Waaren, welche zum öffentlichen Verkaufe oder Verbrauche

beſtimmt ſind, vergiftet, oder denſelben Stoffe beimiſcht, von denen ihm bekannt

iſt, daß ſie die menſchliche Geſundheit zu zerſtören geeignet ſind, ingleichen wer

ſolche vergiftete oder mit gefährlichen Stoffen vermiſchte Sachen wiſſentlich

und mit Verſchweigung dieſer Eigenſchaft verkauft oder feilhält, wird mit

Zuchthaus von fünf bis zu funfzehn Jahren beſtraft.

Hat in Folge der Handlung ein Menſch das Leben verloren, ſo tritt die

Todesſtrafe ein.

Liegt der Handlung Fahrläſſigkeit zum Grunde, und iſt dadurch ein Scha-

den entſtanden, ſo iſt auf Gefängniß bis zu ſechs Monaten, und wenn in

i) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 274. (302.).

k) Berathungs-Protokolle. III. S. 445. 446.

[537/0547]

§. 304. Vergiftung von Brunnen u. ſ. w.

Folge der Handlung ein Menſch das Leben verloren hat, auf Gefängniß von

zwei Monaten bis zu zwei Jahren zu erkennen.

Es ſind hier folgende Handlungen mit Strafe bedroht:

a. Jemand vergiftet Brunnen oder Waſſerbehälter, welche zum Ge-

brauche Anderer dienen;

b. es werden Waaren vergiftet, welche zum öffentlichen Verkaufe

oder Gebrauche beſtimmt ſind;

c. es werden ſolche vergiftete Sachen verkauft oder feil gehalten.

Die Strafvorſchriften, welche ſich auf dieſe Fälle beziehen, ſind erſt

allmählich während der Reviſion an einander gereiht worden; l) obgleich

ſie im Allgemeinen übereinſtimmen, kommen doch einzelne beſondere Ge-

ſichtspunkte dabei in Betracht.

I. Die Strafe des Verbrechens trifft nur die vorſätzlichen Hand-

lungen; die Fahrläſſigkeit wird nur, wenn Schaden dadurch entſtanden

iſt, geahndet. Der Dolus iſt aber, wenn die ſtrafbare Handlung in

dem Verkaufen oder Feilhalten der vergifteten Waaren beſteht, darein

geſetzt, daß wiſſentlich und mit Verſchweigung der geſchehenen Beimi-

ſchung gehandelt wird. Daß auch die Verſchweigung in dieſem Fall

vorſätzlich geſchehen ſein muß, folgt daraus, daß überhaupt ein Dolus

verlangt wird; m) denn ein Theil des Thatbeſtandes kann unter dieſer

Vorausſetzung nicht auf Fahrläſſigkeit beruhen.

II. Neben dem Vergiften iſt auch das Beimiſchen ſolcher Stoffe

genannt, von denen bekannt iſt, daß ſie die menſchliche Geſundheit zu

zerſtören geeignet ſind. Die Erwähnung ſolcher „gefährlicher“ Stoffe

neben dem Gifte beruht hier auf demſelben Grunde, welcher bei dem

Verbrechen der Vergiftung (§. 197.) dazu geführt hat. Die Unbe-

ſtimmtheit des Begriffs, welcher mit Gift im techniſchen Sinne verbun-

den wird, machte einen ſolchen Zuſatz nothwendig.

III. Daß die Todesſtrafe eintritt, wenn in Folge der vorſätzlichen

Handlung ein Menſch das Leben verloren hat, entſpricht der allge-

meinen Anordnung der Strafen bei den gemeingefährlichen Ver-

brechen. n)

IV. Der Entwurf von 1847. §. 347. hatte noch in Verbindung

l) Berathungs-Protokolle a. a. O. S. 440. — Reviſion von 1845.

III. S. 73. — Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

S. 176.

m) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 416.

n) a. a. O. S. 405-15.

Beſeler Kommentar. 35

[538/0548]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

mit den genannten Beſtimmungen eine allgemeine Vorſchrift über den

Verkauf ſchädlicher Sachen. Dieſelbe iſt aber weggelaſſen worden, weil

eine ſolche Handlung unter das Vergehen des Betrugs falle; o) vgl.

auch §. 345. Nr. 5.

§. 305.

Gegen diejenigen, welche wegen eines der in den §§. 285., 286., 287.,

289., 290., 291., 294., 297., 301., 302., 303., 304. genannten Verbrechen

zu zeitiger Zuchthausſtrafe verurtheilt werden, kann zugleich auf Stellung unter

Polizei-Aufſicht erkannt werden.

Wegen der Verübung der gemeingefährlichen Verbrechen kann

neben der zeitigen Zuchthausſtrafe zugleich auf Stellung unter Polizei-

Aufſicht erkannt werden. Dieſe Nebenſtrafe tritt alſo nicht ein bei den

fahrläſſigen Handlungen und in den Fällen der §§. 292. und 296.

§. 306.

Wer die Abſperrungs- oder Aufſichts-Maaßregeln oder Einfuhrverbote,

welche von der Regierung zur Verhütung des Einführens oder Verbreitens

einer anſteckenden Krankheit angeordnet worden ſind, übertritt, wird mit Ge-

fängniß bis zu zwei Jahren beſtraft.

Iſt in Folge der Uebertretung ein Menſch von der anſteckenden Krankheit

ergriffen worden, ſo tritt Gefängniß von zwei Monaten bis zu drei Jahren ein.

§. 307.

Wer die Abſperrungs- oder Aufſichts-Maaßregeln oder Einfuhrverbote,

welche von der Regierung zur Verhütung des Einführens oder Verbreitens

von Viehſeuchen angeordnet worden ſind, übertritt, wird mit Gefängniß bis

zu Einem Jahre beſtraft.

Iſt in Folge der Uebertretung Vieh von der Seuche ergriffen worden, ſo

tritt Gefängniß von Einem Monate bis zu zwei Jahren ein.

Ueber die Strafbeſtimmungen wegen Uebertretung der angeordneten

Maaßregeln zur Verhütung des Einführens oder Verbreitens von an-

ſteckenden Krankheiten und Viehſeuchen haben während der Reviſion

wiederholte Verhandlungen ſtatt gefunden, deren Ergebniſſe in manchen

Beziehungen von einander abwichen. Es machten ſich verſchiedene

Anſichten darüber geltend, wie viel von dem beſtehenden Rechte p) bei-

behalten und in das Strafgeſetzbuch aufgenommen werden ſolle; man

wollte bald allgemeine Beſtimmungen, bald nur ſolche, welche die

o) Motive zum Entwurf von 1850. §. 273-75.

p) Edikt vom 2. April 1803. — Regulativ vom 8. Aug. 1835. —

Verordnung vom 27. März 1836.

[539/0549]

§. 308. Unterlaſſene Lieferung.

ſchwereren Fälle betreffen, erlaſſen; auf die Unterſcheidung des Vorſatzes

und der Fahrläſſigkeit, auf den Erfolg der Uebertretungen, ob eine

Anſteckung dadurch bewirkt worden oder nicht, wurde bald ein größeres,

bald ein geringeres Gewicht gelegt. q) Zuletzt hat man ſich dafür ent-

ſchieden, allgemeine Beſtimmungen aufzuſtellen, und das Strafmaaß ſo

einzurichten, daß das richterliche Ermeſſen die verſchiedenen Grade der

Verſchuldung in angemeſſener Weiſe zu berückſichtigen im Stande iſt.

I. Die Abſperrungs- oder Aufſichts-Maaßregeln und Einfuhrver-

bote, deren Uebertretung beſtraft werden ſoll, müſſen von der Regierung

angeordnet ſein. Der Entwurf von 1847. hatte die Bezeichnung „von

der Obrigkeit,“ was dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß bedenklich

erſchien, da die Erfahrung zur Zeit der Cholera gezeigt habe, daß

Ortsobrigkeiten ſehr willkührliche Maaßregeln ergriffen hätten. Es

wurde daher der Zuſatz beſchloſſen „auf Grund beſtehender

Geſetze,“

obgleich dieß von der Staatsregierung als ſich von ſelbſt verſtehend

bezeichnet wurde. r) Nach der gegenwärtigen Faſſung des Geſetzbuchs

iſt auf eine Kriminalſtrafe wegen Verletzung der von einer Ortsobrigkeit

angeordneten Maaßregeln nicht zu erkennen; Uebertretungen geſetzlich

erlaſſener Verordnungen der Behörden (§. 332.) können jedoch mit einer

Polizeiſtrafe geahndet werden.

II. Für den Thatbeſtand des Vergehens macht es keinen Unter-

ſchied, ob daſſelbe vorſätzlich oder aus Fahrläſſigkeit verübt worden iſt;

nur für die Strafzumeſſung kommt es darauf an. Aus dieſem Grunde

und überhaupt mit Rückſicht auf das Vorkommen mildernder Umſtände

iſt auch für die Fälle, wo keine Anſteckung erfolgt iſt, von der Kom-

miſſion der zweiten Kammer das Minimum der Gefängnißſtrafe geſtri-

chen worden. s)

III. Die Verſchleppung anſteckender Krankheiten und Viehſeuchen

iſt gleich behandelt worden; nur ſind die Strafen in Beziehung auf

die letzteren um die Hälfte niedriger, als diejenigen, welche auf die

Einführung und Verbreitung anſteckender Krankheiten geſetzt ſind.

§. 308.

Wer die mit einer öffentlichen Behörde geſchloſſenen Lieferungsverträge

über Bedürfniſſe des Heeres zur Zeit eines Krieges, oder über die Zufuhr

q) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 440. 41. 500. 528. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom

14. Mai 1842. — Reviſion von 1845. III. S. 73-75. — Verhandlungen

der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 176.

r) Verhandlungen. IV. S. 425. 426.

s) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 278. 279.

(306. 307.).

35*

[540/0550]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVII. Gemeingefährliche Verbr. c.

von Lebensmitteln zur Abwendung oder Beſeitigung eines Nothſtandes, vor-

ſätzlich entweder nicht zur beſtimmten Zeit, oder nicht in der vorbedungenen

Weiſe erfüllt, ſoll mit Gefängniß nicht unter ſechs Monaten beſtraft werden;

auch kann gegen denſelben auf zeitige Unterſagung der Ausübung der bürger-

lichen Ehrenrechte erkannt werden.

Liegt der Nichterfüllung des Vertrages Fahrläſſigkeit zum Grunde, und iſt

ein Schaden dadurch wirklich entſtanden, ſo iſt auf Gefängniß bis zu zwei

Jahren zu erkennen.

Dieſelben Strafen finden auch gegen die Unterlieferanten, Agenten und

Bevollmächtigten des Lieferanten Anwendung, welche mit Kenntniß des Zwecks

der Lieferung das Unterbleiben derſelben vorſätzlich oder aus Fahrläſſigkeit

verurſachen.

Die Strafvorſchriften wegen unterlaſſener Lieferung, welche nach

dem Vorgange des Rheiniſchen Rechts t) aufgeſtellt worden, ſind nicht

ohne mehrfachen Widerſpruch in das Geſetzbuch aufgenommen. Man

hat dieſelben im Widerſpruch mit allgemeinen Rechtsgrundſätzen gefun-

den, weil die Nichterfüllung von Privatverträgen (und ſolche ſchließe

auch der Staat, wenn er Lieferungen bedinge) im Allgemeinen keine

Kriminalſtrafe begründen könne; es liege auch kein Bedürfniß vor, ſo

anomale Beſtimmungen aufzuſtellen, da die Exekutivgewalt die Mittel

zur Beitreibung der Lieferungen darbiete, und man ſich vor der Nicht-

erfüllung des Vertrags durch Kautionen und Konventionalſtrafen ſichern

könne. Jedenfalls fehle es an einem Rechtsgrunde, auch die Fahrläſ-

ſigkeit in dieſem Falle zu beſtrafen, und die Unterlieferanten, ſo wie die

Agenten und Bevollmächtigten des Lieferanten wie dieſen ſelbſt zu be-

handeln. Eine ſolche Ausdehnung der Strafbeſtimmung werde auch,

anſtatt eine gemeine Gefahr abzuwenden, gerade das öffentliche Intereſſe

gefährden; denn von ſolchen Geſetzen bedroht, würden die Lieferanten

nur um größerer Vortheile willen ſich überhaupt auf Lieferungsgeſchäfte

einlaſſen.

Dieſen Einwendungen gegenüber ſind aber die Strafbeſtimmun-

gen in ihrem ganzen Umfange doch aufrecht erhalten worden. Es

handle ſich nur, wurde erwiedert, um Lieferungsverträge über Bedürfniſſe

des Heeres zur Zeit eines Krieges oder über die Zufuhr von Lebens-

mitteln zur Abwendung oder Beſeitigung eines Nothſtandes. Wer in

Fällen dieſer Art ſeine Verpflichtungen vorſätzlich nicht erfülle, der handle

nicht bloß kontraktwidrig im gewöhnlichen Sinne, ſondern mache ſich

auch eines ſtrafbaren Vergehens ſchuldig. Es liege aber auch ein Be-

dürfniß vor, die Staatsregierung mit allen Mitteln auszurüſten, welche

ſie in den Stand ſetzen, auf die ſichere Erfüllung der bedungenen Lie-

t) Code pénal. Art. 430-33.

[541/0551]

§. 308. Unterlaſſene Lieferung.

ferungen zu rechnen; das werde aber nur erreicht, wenn in dieſem Fall,

wie bei anderen gemeingefährlichen Verbrechen und Vergehen, auch die

Fahrläſſigkeit beſtraft und der Unterlieferant u. ſ. w. dem Hauptliefe-

ranten gleichgeſtellt werde. u) Erwägungen dieſer Art ſind denn auch

maaßgebend geblieben, und haben gegen den Beſchluß des vereinigten

ſtändiſchen Ausſchuſſes die Beibehaltung der beiden letzten Abſätze des

Paragraphen veranlaßt. v)

I. Zur genaueren Feſtſtellung des Thatbeſtandes hatte der ver-

einigte ſtändiſche Ausſchuß beſchloſſen, die betreffenden Handlungen nur

dann unter Strafe zu ſtellen, wenn es aus dem Vertrage erhellt,

daß derſelbe zur Befriedigung des Heeres u. ſ. w. abgeſchloſſen wor-

den. w) Aber auch dieſe Aenderung iſt nicht in das Geſetzbuch über-

gegangen. Man nahm als ſich von ſelbſt verſtehend an, daß der

Lieferant, um ſtrafbar zu ſein, Kenntniß von dem Zwecke der Lieferung

gehabt haben müſſe; auf welche Weiſe er aber zu dieſer Kenntniß ge-

lange, ob er dieſelbe aus dem Vertrage ſelbſt oder anders woher ſchöpfe,

ſei vollkommen gleichgültig. x) — Es iſt dabei zu bemerken, daß dieſes

Princip nicht allein für den Hauptlieferanten, ſondern auch für die

Unterlieferanten, Agenten und Bevollmächtigten ſeine Geltung ha-

ben muß.

II. Die Lieferungen fürs Heer, um welche es ſich hier handelt,

umfaſſen die Bedürfniſſe deſſelben zur Zeit eines Krieges, ohne daß es

darauf ankommt, ob die Verträge während des ſchon ausgebrochenen

Krieges abgeſchloſſen ſind. Die Stellung der Worte „zur Zeit eines

Krieges“ läßt eine andere Auslegung nicht zu. y)

III. Die Strafe ſoll nicht bloß dann eintreten, wenn die Lieferung

nicht erfolgt iſt, ſondern auch wenn ſie nicht zur beſtimmten Zeit oder nicht

in der vorbedungenen Weiſe erfüllt wird. Das Miniſterium für die

Geſetz-Reviſion wollte nur überhaupt das Nichterfüllen des Vertrags

unter Strafe ſtellen, indem es der Anſicht war, daß die Worte „ent-

weder nicht zur beſtimmten Zeit oder nicht in vorbedungener Weiſe“

überflüſſig ſeien, und in ihrer buchſtäblichen Auslegung zu weit führen

u) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 338-40. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 14. Mai 1842.

— Reviſion von 1845. III. S. 72. 73.

v) Verhandlungen. IV. S. 395-404. — Motive zu dem Entwurf

von 1850. §. 280.

w) Verhandlungen a. a. O. S. 404.

x) Motive a. a. O.

y) Vgl. die Erklärung des Juſtizminiſters Uhden in den Verhandlungen

des ſtändiſchen Ausſchuſſes a. a. O. S. 397. 398.

[542/0552]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

könnten. Doch wurde dieſe Aenderung von der Staatsraths-Kommiſſion

nicht genehmigt. z)

IV. Während die vorſätzliche Nichterfüllung des Lieferungsvertrags

in den früheren Entwürfen alternativ mit Zuchthaus und Strafarbeit

bedroht war, iſt jetzt allgemein Gefängniß vorgeſchrieben, die zeitige

Unterſagung der bürgerlichen Ehrenrechte jedoch in das richterliche Er-

meſſen geſtellt.

Achtundzwanzigſter Titel.

Verbrechen und Vergehen im Amte.

Bei der Feſtſtellung der Rechtsverhältniſſe der Staatsbeamtenund

namentlich bei Entſcheidung der Frage, unter welchen Vorausſetzungen

und durch welche Behörden eine Entfernung aus dem Amte ſtatt finden

ſoll, kommen ſo verſchiedenartige Geſichtspunkte in Betracht, daß die

glückliche Löſung dieſes Gegenſtandes zu den ſchwierigſten Aufgaben der

modernen Geſetzgebung gehört. Der eigentliche Schwerpunkt der Sache

liegt dabei weit mehr, als es gewöhnlich anerkannt wird, in den allge-

meinen Verfaſſungszuſtänden des Staates. Je ausſchließlicher die

öffentlichen Angelegenheiten von oben her durch Organe der Staatsge-

walt geleitet werden, deſto lebhafter wird ſich das Beſtreben geltend

machen, auf dieſe Organe einen unmittelbaren Einfluß auszuüben, um

ſie in Einklang mit dem höchſten Willen im Staate zu erhalten und

ihre amtliche Thätigkeit zu beſtimmen und zu überwachen. Je freier

und ſelbſtändiger dagegen die öffentlichen Geſchäfte in den verſchiedenen

Kreiſen des Volkslebens von ſelbſtberechtigten Organen geführt werden,

je mehr ſich die Einheit des Staatsweſens auf die Leitung der großen

allgemeinen Angelegenheiten beſchränkt, und die beſonderen Intereſſen

daneben der Selbſtverwaltung der Betheiligten in ihrer corporativen

Gliederung überlaſſen ſind, — um ſo weniger wird ſich die Idee der

Hierarchie in dem Beamtenthume entwickeln können, wenn auch die

höchſte Staatsgewalt in der ihr vorbehaltenen Rechtsſphäre den unge-

hemmten Ausdruck ihres Willens geltend zu machen berechtigt iſt. —

In Deutſchland und namentlich auch in Preußen ſind dieſe Gegenſätze

noch nicht in der verfaſſungsmäßigen Durchbildung der politiſchen Ein-

z) Reviſion von 1845. III. S. 72. — Verhandlungen der Staats-

raths-Kommiſſion von 1846. S. 175.

[543/0553]

Verbrechen und Vergehen im Amte.

richtungen überwunden worden, während England und Frankreich im

entgegengeſetzten Sinne die verſchiedenen Richtungen konſequent durch-

geführt und Belgien vielleicht die glücklichſte Vermittlung getroffen hat.

Es iſt aber nicht allein das größere oder geringere Maaß des

beſtimmenden Einfluſſes, den die Staatsgewalt auf die Thätigkeit des

Beamtenſtandes ſich beilegt, was für die geſetzliche Feſtſtellung dieſer

Verhältniſſe entſcheidend iſt. Für Einen Theil der amtlichen Wirkſam-

keit, nämlich für den der Gerichte, iſt die vollkommene Unabhängigkeit

derſelben eine unbedingte Forderung der Civiliſation, und namentlich da,

wo germaniſche Kultur Wurzel geſchlagen hat, iſt das Fernhalten jedes

äußeren Einfluſſes von der Rechtspflege, welche Form des Staatsweſens

auch beſtehen mag, ſtets für die erſte Bedingung geordneter geſellſchaftlicher

Zuſtände gehalten worden. Die Unabhängigkeit der Gerichte wird aber

nicht allein durch die Ausſchließung jeder unmittelbaren Einwirkung auf

die Rechtspflege, mag ſie ſich nun als Kabinetsjuſtiz oder als Volks-

juſtiz darſtellen, gewahrt; auch die äußere Stellung des Richterſtandes

muß eine ſolche ſein, daß der Einzelne darin einen Schutz gegen unan-

gemeſſene Zumuthungen und weitere Gefährde findet. — Was aber für

die Richter durchaus nothwendig, das gilt, wenn ſchon in einem ande-

ren Maaße, auch für die Verwaltungsbeamten; es muß ihnen Schutz

gewährt werden gegen Willkühr und geſetzwidrige Zumuthungen. Läßt

die Idee des modernen Staates und das Intereſſe des Dienſtes es nicht

zu, die Anſicht der älteren Jurisprudenz von einem wohlerworbenen

Privatrechte auf das Amt oder wenigſtens auf deſſen Einkünfte in ihrer

allgemeinen Geltung noch aufrecht zu erhalten, ſo darf doch auch nicht

verkannt werden, daß gerade die Achtung, deren ſich der Beamtenſtand

im Volke erfreut, die weſentliche Bedingung ſeiner wahrhaft erſprieß-

lichen Wirkſamkeit iſt, daß dieſe Achtung aber nicht bewahrt werden

kann, wenn der Beamte wie ein Dienſtbote auf Kündigung geſtellt iſt

und als das willenloſe Organ einer vielleicht wechſelvollen Politik

erſcheint. Die Einrede, es ſtehe jedem frei, ſeinen Abſchied zu nehmen,

paßt doch nur ausnahmsweiſe auf Verhältniſſe, wo notoriſch ein großer

Aufwand von Zeit, Arbeit und Geld erforderlich iſt, um die Lebens-

ſtellung, welche das Amt mit ſich bringt, zu gewinnen. Sobald im

Volke die Anſicht ſich feſtſetzt, daß die Bekleidung eines Staatsamtes

nicht mehr eine ehrenvolle und geſicherte Exiſtenz gewährt, wird der

beſſere Theil der Jugend von der Betretung dieſer Laufbahn zurückge-

ſchreckt werden und anderen Lebenskreiſen Kräfte zuführen, deren Be-

nutzung der Staat zur Erreichung würdiger Ziele und namentlich in

dem großen Kampfe um die höchſten Intereſſen der bürgerlichen Geſell-

ſchaft ſchwer wird entbehren können.

[544/0554]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

Die Würde des Amtes iſt aber nicht allein durch die Sicherheit

vor willkührlicher Entziehung und Beeinträchtigung bedingt; es darf an

demſelben auch nicht der Flecken des Mißtrauens und der kleinlichen

Bevormundung haften. Das iſt namentlich, abgeſehen von der weiteren

politiſchen Bedeutung der Sache, die Gefahr der neueren Disziplinar-

geſetze, welche die Beamten in dem Zuſtande fortwährender Ueberwa-

chung vor dem Publikum erſcheinen laſſen, und wenn ſie auch in ein-

zelnen Fällen durch die ſtrengere Zucht, welche ſie herbeiführen, einen

heilſamen Einfluß äußern können, doch im Großen und Ganzen

genommen, das Selbſtbewußtſein des Standes ſchwächen und die

öffentliche Meinung gegen denſelben einnehmen müſſen. In dieſer Hin-

ſicht kommt es weniger auf die Ausführung als auf die bloße Exiſtenz

ſolcher geſetzlicher Anordnungen an, zumal wenn begründete Zweifel

rege werden, ob das Intereſſe des Dienſtes, in welchem ſie erlaſſen ſind,

auch mit dem des Publikums immer übereintrifft.

Die praktiſche Löſung der hier behandelten Frage ruht mehr noch

in der Beſtimmung, wer über die Beſtrafung eines Beamten und na-

mentlich über ſeine Dienſtentlaſſung zu entſcheiden hat, als in der Feſt-

ſtellung der Gründe, aus denen es geſchehen kann: ob Richterſpruch

oder Verwaltungsmaaßregel, — das iſt die entſcheidende Frage. Die-

ſelbe wurde im Sinne der älteren Jurisprudenz von Suarez beantwortet,

indem er in dem civilrechtlichen Theile ſeines Entwurfs zum Allgem.

Geſetzbuch Th. I. Abth. II. Tit. 5. §. 70. den Grundſatz aufſtellte:

„Kein Civilbeamter ſoll des ihm einmal verliehenen Amtes

ohne Urtel und Recht wieder entſetzt werden.“

Im Sinne dieſes Ausſpruches iſt das Allgem. Landrecht (Th. II.

Tit. 20. Abſchn. 8. §. 323-508.) „Von den Verbrechen der Diener

des Staates“ behandelt worden; ja die einzelnen Strafbeſtimmungen

weiſen deutlich darauf hin, daß auch die geringeren Verſehen im Amte

und überhaupt der unwürdige Lebenswandel Gegenſtand ſtrafrichterlicher

Entſcheidung ſein ſoll. So heißt es a. a. O.

§. 333. „Wer den Vorſchriften ſeines Amtes vorſätzlich zuwider

handelt, der ſoll ſofort caſſirt, außerdem, nach Beſchaffenheit des Ver-

gehens und des verurſachten Schadens, mit verhältnißmäßiger Geld-,

Gefängniß- oder Feſtungsſtrafe belegt und zu allen ferneren öffentlichen

Aemtern unfähig erklärt werden.“

§. 334. „Wer aus grober Fahrläſſigkeit oder Unwiſſenheit ſeine

Amtspflichten verletzt, hat verhältnißmäßige Geldſtrafe, Degradation

oder Caſſation verwirkt.“

§. 335. „Wer ſich geringer Verſehen in ſeinen Amtspflichten

ſchuldig gemacht hat, ſoll durch Warnung, Verweiſe und geringe

[545/0555]

Verbrechen und Vergehen im Amte.

Geldſtrafen zur beſſeren Beobachtung ſeiner Pflichten angehalten

werden.“

§. 336. „Bewirken aber dieſe Strafen keine Beſſerung bei ihm,

ſo iſt er für einen Menſchen anzuſehen, der aus grober Fahrläſſigkeit

ſeinen Amtspflichten zuwider handelt.“

§. 363. „Beamte, die ſich durch unregelmäßige Lebensart, Spiel

oder Verſchwendung in Schulden ſtürzen; oder ſich durch niederträchtige

Aufführung verächtlich machen, ſollen ihres Amtes entſetzt

werden.“

Mit dieſen Vorſchriften ſtimmt eine andere über die Beſtrafung

richterlicher Beamten überein:

A. L. R. Th. II. Tit. 17. §. 99. „Wer ein richterliches Amt be-

kleidet, kann nur bei den vorgeſetzten Gerichten oder Landescollegiis

wegen ſeiner Amtsführung belangt, in Unterſuchung genommen, beſtraft

oder ſeines Amtes entſetzt werden.“

Dagegen wurden, ganz im Widerſpruch zu dem von Suarez auf-

geſtellten Grundprincip, an einer andern Stelle des Allgem. Landrechts

mehrere Beſtimmungen eingeſchaltet, welche für die übrigen Beamten ein

abweichendes Recht feſtſetzten:

Th. II. Tit. 10. §. 98. „Kein Vorgeſetzter oder Departements-

Chef kann einen Civilbedienten, wider ſeinen Willen, einſeitig entſetzen

oder verabſchieden.“

§. 99. „Vielmehr muß er, wenn die Verabſchiedung nöthig be-

funden wird, den Beamten mit ſeiner Erklärung oder Verantwortung

darüber ordnungsmäßig hören, und die Sache zum Vortrage im ver-

ſammelten Staatsrathe befördern.“

§. 100. „Was dieſer durch die Mehrheit der Stimmen beſchließt,

dabei hat es lediglich ſein Bewenden.“

§. 101. „Doch muß bei Bedienungen, zu welchen die Beſtallung

von dem Landesherrn ſelbſt vollzogen wird, ein auf Entſetzung oder

Entlaſſung ausgefallener Beſchluß des Staatsraths jedesmal dem

Landesherrn zur unmittelbaren Prüfung und Beſtätigung vorgelegt

werden.“

Bei dieſem Stande der Geſetzgebung bedurfte es neuer Beſtimmun-

gen über das Kompetenzverhältniß der Gerichte und Verwaltungsbehör-

den in Beziehung auf die Beſtrafung der Beamten, und deren ſind auch

eine Anzahl ergangen, welche die Unterſcheidung zwiſchen richterlichen

und Verwaltungsbeamten feſthielten, in Beziehung auf die letzteren aber

dem Disziplinarverfahren eine überwiegende Bedeutung wahrten.

a) Auch

a) Kriminal-Ordnung vom 11. Dezember 1805. §. 509. — Verord-

nung wegen verbeſſerter Einrichtung der Provinzial- u. ſ. w. Behör-

den vom 26. Dezember 1808. §. 47. — Kabinets-Ordre vom 15. Juli

[546/0556]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

bei der Reviſion des Strafrechts wurde dieſer Gegenſtand wiederholten

Berathungen unterzogen, und dabei der Standpunkt feſtgehalten, daß

eine feſte Grenze zwiſchen den eigentlichen Amtsverbrechen und ſolchen

Vergehen, welche der disziplinariſchen Rüge unterliegen, zu ziehen ſei.

Man fand aber, daß eine allgemeine principielle Scheidung nicht durch-

geführt werden könne, und daß man ſich begnügen müſſe, diejenigen

ſtrafbaren Handlungen der Beamten, welche, abgeſehen von den gemeinen

Verbrechen, vor die Strafgerichte zur Aburtheilung zu verweiſen ſeien,

im Strafgeſetzbuch ſpeziell aufzuführen. b) Der Kreis der ſtrafrichter-

lichen Kompetenz wurde dabei aber immer enger gezogen, wie ſich ſchon

aus einer Vergleichung der Strafarten ergiebt, welche die verſchiedenen

Entwürfe des Geſetzbuchs aufſtellen. Während noch der Entwurf von

1843. §. 8. die Kaſſation, Amtsentſetzung, Degradation, Verluſt von

Penſionen und Gnadengehältern als ſelbſtändige Strafen aufführt,

kommen in dem Entwurf von 1847. §. 23. nur die beiden erſteren vor.

Es war inzwiſchen das Geſetz vom 29. März 1844. erſchienen, welches

zwiſchen Amtsverbrechen und den übrigen Dienſtvergehungen genau un-

terſchied, und ſelbſt für die richterlichen Beamten die früher feſtgehaltene

Ausnahmeſtellung theilweiſe beſeitigte. c) Auch die beiden an die Stelle

dieſes Geſetzes getretenen Verordnungen haben den Standpunkt feſtge-

halten, daß das Disziplinarverfahren eintritt, inſofern nicht beſtimmte

Amtsverbrechen und Amtsvergehen dem Strafrechte vorbehalten ſind, d)

und auch der Titel 28. des Strafgeſetzbuchs beruht auf derſelben Auf-

faſſung. Derſelbe hat indeſſen in Vergleich mit den früheren Ent-

würfen doch eine weſentliche Aenderung erfahren, mit der es ſich alſo

verhält.

Die zur Staatsraths-Kommiſſion einberufenen Rheiniſchen Juriſten

a)

b) Motive a. a. O. S. 15. — (v. Kamptz) Revidirter Entwurf

(Berlin 1833.) S. 11. 12. — Berathungs-Protokolle der Staatsraths-

Kommiſſion. III. S. 453-55. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung

vom 22. Juni 1842. — Reviſion von 1845. III. S. 101-4.

c) Geſetz, betreffend das gerichtliche und Disziplinar-Straf-

verfahren gegen Beamte. Vom 29. März 1844. (G.-S. S. 77—90.). —

Verordnung, betreffend das bei Penſionirungen zu beobachtende

Verfahren. Von demſelben Datum (ebendaſ. S. 90-92.).

d) Verordnung, betreffend die Dienſtvergehen der Richter und

die unfreiwillige Verſetzung derſelben auf eine andere Stelle oder

in den Ruheſtand. Vom 10. Juli 1849. (G.-S. S. 253-70.). — Verord-

nung, betreffend die Dienſtvergehen der nicht richterlichen Beam-

ten u. ſ. w. vom 11. Juli 1849. (G.-S. S. 271-92.). An die Stelle der erſt-

genannten Verordnung iſt das Geſetz vom 7. Mai 1851. (G.-S. S. 218-35.)

getreten.

a) 1809. (Sammlung der Min.-Verordn. S. 231.). — Kabinets-Ordre vom

12. April 1822. (G.-S. S. 108.). — Kabinets-Ordre vom 21. Februar

1823. (G.-S. S. 25.). Vgl. überhaupt Motive zum erſten Entwurf. III.1.

S. 5-18.

[547/0557]

Verbrechen und Vergehen im Amte.

Madihn, v. Ammon und Grimm reichten unter dem 13. Oktober

1847. ein Promemoria ein, in welchem ſie vorſchlugen, die zeitige

Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte in das Geſetz-

buch als Ehrenſtrafe aufzunehmen, und derſelben die zeitige Unfähigkeit

zu öffentlichen Aemtern hinzuzufügen, dafür aber die Strafe der Kaſſa-

tion und der Amtsentſetzung ganz aufzugeben. Es wurde durch dieſe

Aenderungen zunächſt beabſichtigt, das Princip des Rheiniſchen Rechts

aufrecht zu erhalten, daß der dauernde Verluſt der Ehre nur von

Schwurgerichtshöfen ausgeſprochen werden kann; aber auch noch in

anderer Hinſicht hatten ſie ihre ſelbſtändige Bedeutung. Die Denkſchrift

äußert ſich darüber in folgender Weiſe:

„Dieſe hinſichtlich der Kaſſation in manchen Fällen nothwendige,

in andern wenigſtens unnachtheilige und auch in Anſehung der Amts-

entſetzung unſchädlichen Aenderungen werden durch andere Rückſichten

dringend geboten. Durch ſie wird eine ſichere, unverkennbare und zu-

gleich rationelle Grenzlinie zwiſchen dem Gebiete des gemeinen Straf-

rechts, welches die gemeinen Verbrechen und die Amtsverbrechen umfaßt,

und dem Gebiete des Disziplinarrechts gezogen. Daß gemeine Strafrecht

droht Strafen an, welche den Bürger treffen, Geldſtrafen, Freiheits-

ſtrafen, Verluſt oder Suspenſion der Ehrenrechte, oder der geſetzlichen

Fähigkeit, öffentliche Aemter zu bekleiden, und nur als nothwendige

Folge dieſer Strafen tritt die Amtsentſetzung ein; das Disziplinarrecht

beſchäftigt ſich mit dem mehr civilrechtlichen Verhältniſſe der Beam-

ten als ſolchen zum Staate, und ſeine höchſte Strafe iſt die Amts-

entſetzung.“

„In allen Fällen alſo, wo dieſe nicht ausreicht, wo eine Strafe,

welche den Bürger trifft, verhängt werden ſoll, muß die That im

Strafgeſetzbuche vorgeſehen werden und das gemeine Strafrecht eintreten.

Dagegen gehören in das Disziplinarverfahren alle tadelnswerthen

Handlungen eines Beamten, welche entweder mit einer Strafe des

gemeinen Strafrechts nicht bedroht ſind, oder welche, obgleich eine ſolche

Strafe auf ſie geſetzt iſt, von dem Standpunkte aus zu prüfen ſind,

ob dem Beamten als ſolchen ein Verſchulden zur Laſt falle, welches

ſeine Dienſtentlaſſung oder eine ſonſtige Disziplinarahndung nothwendig

mache. Dieſe in der Natur der Sache begründete völlige Unabhängigkeit

beider Gebiete wird aber verkannt, wenn man in dem Strafgeſetzbuche

die Amtsentſetzung, ſei es allein, ſei es, wie bei der Kaſſation, in Ver-

bindung mit der Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern androht, obgleich

die nämliche Strafe, wenn auch unter einem anderen Namen, nämlich

dem der Dienſtentlaſſung, im Disziplinarwege ausgeſprochen werden

[548/0558]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

kann. Es liegt ſehr nahe, res judicata anzunehmen, wenn ein Beamter

wegen eines mit Amtsentſetzung bedrohten gemeinen oder Amtsverbrechen

verfolgt, freigeſprochen, oder Falls die Amtsentſetzung nur fakultativ

angedroht war, auf dieſe Strafe nicht erkannt iſt. Dagegen iſt es ſehr

klar, daß die Nichterkennung einer Strafe des gemeinen Strafrechts,

der Ausſpruch, es ſei der Verluſt oder die Suspenſion der Ehrenrechte,

die immerwährende oder zeitige Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern nicht

begründet, nicht die Erklärung in ſich ſchließt, die fragliche Handlung

ſei nicht von der Bedeutung, daß ſie die Auflöſung des beſonderen civil-

rechtlichen Verhältniſſes, in welchem ſich der Beamte zu der Staats-

regierung befinde, mit andern Worten die Amtsentſetzung oder Dienſt-

entlaſſung nach ſich ziehen müſſe. Hält man dieſen Geſichtspunkt feſt,

ſo tritt es klar hervor, daß die Strafverfolgung und die Disziplinar-

verfolgung keineswegs einen Gegenſatz bilden, ſondern daß ſie zwei

nebeneinander hergehende Wege ſind, um zu zwei verſchiedenen Zielen

zu gelangen: der eine, damit eine Strafe des gemeinen Strafrechts

ausgeſprochen; der andere, damit eine Verletzung der Dienſtpflichten

geahndet, nöthigenfalls ein unwürdiger Beamter von ſeinem Amte ent-

fernt werde. Der eine Weg darf durch die Betretung des andern nie

ausgeſchloſſen werden, die Disziplinarverfolgung kann vor der gemeinen

Strafverfolgung, gleichzeitig mit derſelben und nach derſelben eingeleitet

werden, nur mit der ſich von ſelbſt verſtehenden Einſchränkung, daß

wenn im gemeinen Strafverfahren eine Strafe ausgeſprochen iſt, welche

die Dienſtentlaſſung von Rechtswegen nach ſich zieht, das Disziplinar-

verfahren deshalb nicht mehr eintreten kann, weil daſſelbe gegen-

ſtandslos geworden iſt. Bei dieſer Auffaſſung der Sache fällt der

Uebelſtand weg, daß eine Handlung der Kognition der Disziplinar-

behörde durch den Umſtand entzogen wird, daß dieſelbe zugleich mit

einer Strafe des gemeinen Strafrechts bedroht iſt; vielmehr bleibt, es

mag eine gemeine Strafe erkannt werden oder nicht, die Prüfung der

Handlung im Intereſſe des Dienſtes und die Ahndung derſelben mit

der Dienſtentlaſſung allemal vorbehalten. Es können ferner, wie es

von dem disziplinariſchen Standpunkte aus nothwendig iſt, alle Hand-

lungen des Beamten in ihrer Verbindung geprüft werden, und es

ſcheiden nicht einzelne deshalb aus, weil ſie zugleich eine gemeine Strafe

nach ſich ziehen können. Beide Momente ſind von augenſcheinlicher

Wichtigkeit, denn wenn es im Intereſſe des Dienſtes nothwendig iſt,

beſondere Behörden unter Anwendung beſonderer Formen mit der Auf-

rechterhaltung der Disziplin zu betrauen, ſo darf ihre Wirkſamkeit nicht

dadurch gelähmt werden, daß eine Handlung des Beamten, welche

[549/0559]

Verbrechen und Vergehen im Amte.

jedenfalls ſeine Dienſtpflichten verletzt, zugleich unter das gemeine Straf-

geſetz fällt.“ e)

Dieſe Ausführungen hatten keinen unmittelbaren Erfolg, indem

die Staatsraths-Kommiſſion auf die Einführung der zeitigen Unter-

ſagung der bürgerlichen Ehrenrechte nicht einging, und dadurch auch die

anderen mit derſelben in Verbindung gebrachten Vorſchläge ihre Grund-

lage verloren. f) Aber ſowohl der Entwurf von 1850. als auch das

Strafgeſetzbuch (§§. 22. 23. 25.) ſind jener Auffaſſung gefolgt, und

das Geſetz vom 7. Mai 1851. §. 4. beruht auf derſelben, indem es

den Grundſatz: ne bis in idem nicht zur Anerkennung kommen läßt.

So ſcharfſinnig nun auch jene Entwicklung über die duplex per-

sona des Beamten iſt, und ſo wünſchenswerth im Allgemeinen eine

rationelle Grenzſcheidung zwiſchen der Strafrechtspflege und dem Dis-

ziplinarverfahren ſein mag; ſo können die obigen Ausführungen, welche

mit den Anſchauungen der gemeinen Deutſchen ſo wie der altpreußiſchen

Jurisprudenz nicht übereinſtimmen, doch nicht für richtig erkannt wer-

den. Jene Unterſcheidung zwiſchen der Perſon des Beamten als ſolchen

und als Staatsbürgers iſt, wenn auch an ſich begründet, doch in dieſer

Anwendung bedenklich; es liegt dabei eine petitio principii zum Grunde,

da es gerade auf die Beantwortung der Vorfrage ankommt, wie weit

die Kompetenz der ordentlichen Strafgerichte auf die Dienſtvergehen des

Beamten auszudehnen iſt, und aus demſelben Grunde, aus welchem

Handlungen, welche mit der Amtsentſetzung, welche doch gewiß ein

empfindliches Strafübel iſt, bedroht ſind, dem gemeinen Strafrecht ent-

zogen werden, könnten auch die Amtsverbrechen und Amtsvergehen, im

Gegenſatz zu den gemeinen Verbrechen und Vergehen, dem Disziplinar-

verfahren vindizirt werden. Ja dieſe Argumentation könnte in ihrer

vollen Konſequenz am Ende dahin führen, die Verbrechen der Staats-

bürger gegen den Staat von den anderen gemeinen Verbrechen auszu-

ſcheiden und einem beſonderen Verfahren zu überweiſen; denn es ließe

ſich am Ende auch eine ſolche doppelte Perſönlichkeit des Unterthanen

in ſeinem Verhältniſſe zum Staate und zu ſeinen Mitbürgern dedu-

ziren! — Wenn aber das Verhältniß zwiſchen der Staatsregierung und

dem Beamten als ein civilrechtliches bezeichnet wird, ſo führt dieſe An-

ſicht konſequenter Weiſe zu der privatrechtlichen Auffaſſung des Beam-

tenverhältniſſes, nach welcher die Löſung deſſelben am Wenigſten „ohne

Urtel und Recht“ erfolgen könnte.

e) Promemoria von Madihn, von Ammon und Grimm, d. d. Ber-

lin den 13. Oktober 1847., abgedruckt als Beilage C. zu den Ferneren Verhand-

lungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1847.

f) Fernere Verhandlungen u. ſ. w. S. 53.

[550/0560]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

Es wird freilich, wenn man das unabhängige Nebeneinander der

gemeinen Strafrechtspflege und der Disziplinarſtrafgewalt durchführt,

kein Vergehen eines Beamten leicht ohne die entſprechende Rüge blei-

ben, und in dieſem Sinne iſt das Intereſſe des Dienſtes dadurch voll-

kommen gewahrt. Aber andererſeits iſt nicht zu überſehen, daß, wie

ſchon bemerkt worden, dieſe ſchroffe Durchführung einer zwiefachen Ueber-

wachung des Beamtenſtandes deſſen öffentliche Stellung gefährdet, und

daß es wohl zu bedenken iſt, ob der öffentliche Dienſt mehr durch dieſe

Art der Disziplinirung oder dadurch leidet, daß einmal ein Dienſt-

vergehen ungeahndet bleibt. Der Angeſchuldigte, welcher von dem or-

dentlichen Richter freigeſprochen, nachträglich noch mit einer Disziplinar-

ſtrafe belegt wird, wird nur zu leicht als das Opfer einer unbilligen

Verfolgung angeſehen werden. Für die richterlichen Beamten, über

welche wenigſtens die feſt organiſirten, an Rechtsgründe gewöhnten Ge-

richtshöfe disziplinariſch erkennen, ſtellt ſich die Sache freilich günſtiger,

als bei den übrigen Beamten, für deren Schickſal ſchon die Art und

Weiſe, wie der Disziplinarhof zuſammengeſetzt iſt, entſcheidend ſein kann.

Das Strafgeſetzbuch hat alſo nur diejenigen Dienſtvergehen der

Beamten hervorgehoben, für welche die höchſte Disziplinarſtrafe nicht

für genügend erachtet, ſondern die Auferlegung einer Kriminalſtrafe

nothwendig befunden iſt. Es iſt dabei von jeder Begriffsbeſtimmung

abgeſehen und die Aufzählung der einzelnen hierher gehörenden Fälle

beliebt worden. g) — Der in dem Entwurf von 1847. befindliche Ti-

tel 27. (§. 412-16.) über die Verbrechen der Geiſtlichen iſt aus dem

Strafgeſetzbuch ganz weggelaſſen worden; er fehlt ſchon in dem Ent-

wurf von 1850.

§. 309.

Ein Beamter, welcher für eine in ſein Amt einſchlagende, an ſich nicht

pflichtwidrige Handlung oder Unterlaſſung Geſchenke oder andere Vortheile

annimmt, fordert oder ſich verſprechen läßt, zu denen er geſetzlich nicht berech-

tigt iſt, wird mit Geldbuße bis zu Einhundert Thalern oder mit Gefängniß

bis zu ſechs Monaten beſtraft, und zur Herausgabe des Empfangenen oder

des Werths deſſelben an den Fiskus verurtheilt; es kann zugleich auf zeitige

Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern erkannt werden.

§. 310.

Ein Beamter oder Schiedsrichter, welcher für eine Handlung oder Unter-

g) Motive zu dem Entwurf von 1850. Titel 25. — Bericht der Kom-

miſſion der zweiten Kammer ebendaſ.

[551/0561]

§§. 309-313. Beſtechung.

laſſung, die eine Verletzung einer amtlichen Pflicht enthält, Geſchenke oder

andere Vortheile annimmt, fordert oder ſich verſprechen läßt, wird mit Zucht-

haus bis zu fünf Jahren beſtraft, und zur Herausgabe des Empfangenen oder

des Werths deſſelben an den Fiskus verurtheilt.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo ſoll auf Ge-

fängniß nicht unter ſechs Monaten und zugleich auf zeitige Unfähigkeit zu

öffentlichen Aemtern erkannt werden.

§. 311.

Wer durch Anbieten, Verſprechen oder Gewähren von Geſchenken oder an-

deren Vortheilen einen Beamten, ein Mitglied der bewaffneten Macht oder

einen Schiedsrichter zu einer Handlung oder Unterlaſſung, die eine Verletzung

einer amtlichen Pflicht enthält, beſtimmt oder zu beſtimmen verſucht, wird mit

Gefängniß beſtraft; es kann zugleich auf zeitige Unterſagung der Ausübung

der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.

Die zum Zwecke der Beſtechung gegebenen Geſchenke oder der Werth der-

ſelben ſind dem Fiskus im Urtheile zuzuſprechen.

§. 312.

Hat ſich ein Richter in einem Strafverfahren, welches ein Verbrechen oder

Vergehen betrifft, zu Gunſten oder zum Nachtheile des Angeſchuldigten be-

ſtechen laſſen, ſo ſoll derſelbe mit Zuchthaus beſtraft werden.

Gleiche Strafe wie den Richter trifft denjenigen, welcher den Richter be-

ſticht oder zu beſtechen verſucht.

Die zum Zwecke der Beſtechung gegebenen Geſchenke oder der Werth der-

ſelben ſind dem Fiskus im Urtheile zuzuſprechen.

§. 313.

Ein Geſchworener, welcher in einer Sache, in welcher er Verrichtungen als

Geſchworener auszuüben hat, Geſchenke annimmt, wird mit Zuchthaus beſtraft.

Gleiche Strafe trifft denjenigen, welcher den Geſchworenen zu dieſem Verbre-

chen verleitet oder zu verleiten verſucht.

Die gegebenen Geſchenke oder der Werth derſelben ſind dem Fiskus im

Urtheile zuzuſprechen.

Die vorſtehenden Paragraphen handeln ſämmtlich von der Beſte-

chung; es iſt jedoch kein allgemeiner Begriff dieſes Delikts aufgeſtellt

worden, indem die verſchiedene Fälle des Verbrechens nach dem Zweck

und den ſchuldigen Perſonen getrennt und zum Gegenſtande beſonderer

Vorſchriften gemacht worden ſind.

I. Ein Beamter läßt ſich durch Gewährung oder Zuſicherung von

Geſchenken zu einer nicht pflichtwidrigen Handlung bewegen (§. 309.).

Es erſcheint dieß als die am wenigſten ſtrafbare Art der Beſtechung,

und es iſt auch wiederholt der Antrag geſtellt worden, dieſelbe von dem

Strafgeſetzbuch auszuſchließen und dem Disziplinarverfahren zu über-

weiſen. Allein ſowohl im Staatsrathe als auch in der Kommiſſion

[552/0562]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

der zweiten Kammer entſchied man ſich dagegen. h) Können auch, na-

mentlich bei niedrig ſtehenden Subalternbeamten ſehr geringfügige Fälle

dieſes Vergehens vorkommen, deren Beſtrafung überhaupt kaum ange-

meſſen erſcheinen möchte, ſo iſt das doch eine Ausnahme, welche die

Staatsanwaltſchaft ſo gut wie die Disziplinarbehörde berückſichtigen

wird. Die Würde und Integrität des Beamtenſtandes im Allgemeinen

machen aber eine Strafbeſtimmung im Geſetzbuch nothwendig.

a. Die Handlung, durch welche das Vergehen verübt wird, iſt

bezeichnet als: „annimmt, fordert oder ſich verſprechen läßt“. Es kommt

alſo nicht darauf an, ob der Vortheil wirklich erlangt iſt.

b. Gegenſtand der Beſtechung ſind Geſchenke oder andere Vor-

theile, zu denen der Beamte geſetzlich nicht berechtigt iſt. Der vereinigte

ſtändiſche Ausſchuß wollte hinter Handlung noch hinzugefügt haben „zu

deren unentgeldlicher Leiſtung ſie durch ihr Amt verpflichtet ſind“; aber

die nähere Bezeichnung der Vortheile, „zu denen er geſetzlich nicht be-

rechtigt iſt,“ macht einen ſolchen Zuſatz überflüſſig. i) — Jedenfalls wird

alſo, obgleich die gerichtlichen Anwälte allgemein zu den Staatsbeamten

gezählt ſind, die Beſtimmung des §. 309. auf ſie keine Anwendung

finden können, wenn es ſich um die Annahme eines außerordentlichen

Honorars für ihre Bemühungen handelt.

c. Das Allg. Landrecht (Th. II. Tit. 20. §. 360.) hat noch den

Zuſatz „oder durch Andere für ihre Rechnung nehmen laſſen“; derſelbe

iſt aber nicht aufgenommen worden, weil, wenn die Annahme wider

Wiſſen und Willen des Beamten geſchehen iſt, er nicht dafür verant-

wortlich ſein kann; hat er aber die Annahme veranlaßt oder auch nur

zugegeben, ſo verſteht ſich ſeine Strafbarkeit von ſelbſt. k)

d. Neben der geſetzlichen Strafe tritt hier wie in allen andern

Fällen der Beſtechung die Konfiskation des Empfangenen oder des Wer-

thes deſſelben ein, — Letzteres in dem Fall, wenn das wirklich Em-

pfangene nicht mehr vorhanden iſt. Die Zahlung des nur Verſproche-

nen iſt nicht vorgeſchrieben; das ergiebt ſich ſchon aus den Worten „zur

Herausgabe“, und folgt aus dem Umſtande, daß es ſich hier nicht um

die Konfiskation einer noch dazu ungültigen Forderung handeln kann.

II. Die Handlung, zu welcher ſich der Beamte beſtimmen läßt,

enthält die Verletzung einer amtlichen Pflicht (§. 310.); dann tritt

Zuchthausſtrafe von zwei bis zu fünf Jahren ein. Die Berückſichtigung

h) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 22. Juni 1842. — Be-

richt der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 281. (309.)

i) Verhandlungen. IV. S. 472. — Motive zum Entwurf von 1850.

§. 281.

k) Reviſion von 1845 III. S. 107.

[553/0563]

§§. 309-313. Beſtechung.

mildernder Umſtände iſt von der Kommiſſion der zweiten Kammer na-

mentlich mit Hinblick auf ſolche Beamte zugelaſſen worden, bei denen

keine Bildung vorauszuſetzen iſt und welche nur mechaniſche Verrichtun-

gen zu beſorgen haben. l) — Die Schiedsrichter ſind erſt in dem Ent-

wurf von 1850. den Beamten in Betreff der Strafvorſchriften des

§. 310. gleichgeſtellt worden.

III. Der Dritte, welcher die Beſtechung vornimmt, wird mit Ge-

fängniß bis zu fünf Jahren beſtraft; auch kann zugleich auf zeitige Un-

terſagung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden (§. 311.). Eine

Strafe tritt jedoch nur dann ein, wenn der Beamte zu einer Verletzung

ſeiner amtlichen Pflicht beſtimmt werden ſollte (§. 310.); im Falle des

§. 309. erſchien die Beſtrafung des Dritten, deſſen Handlung ſich nur

als eine Taktloſigkeit darſtellen kann, nicht gerechtfertigt. m)

a. Außer der Beſtechung eines Beamten wird auch die eines Mit-

gliedes der bewaffneten Macht und eines Schiedsrichters beſtraft.

b. Wie nach §. 130. der wenn auch vergebliche Verſuch der

Verleitung zum Meineide unter Strafe geſtellt iſt, ſo iſt auch auf den

Vorſchlag der Kommiſſion der zweiten Kammer beſtimmt worden, daß

der Verſuch, einen Beamten durch Geſchenke zu einer Pflichtwidrigkeit

zu verleiten, als ein ſelbſtändiges Verbrechen oder Vergehen beſtraft

werden ſoll, ohne Rückſicht darauf, ob die Handlung einen Erfolg ge-

habt hat oder nicht. Mit Rückſicht auf dieſe Aenderung iſt aber das

Minimum der Gefängnißſtrafe weggelaſſen worden, da bei dem Verſuch

der Verleitung Fälle ſehr geringer Strafbarkeit vorkommen können. n)

IV. Beſtechung eines Strafrichters oder eines Geſchworenen

(§§. 312. 313.). Die Strafe iſt in beiden Fällen Zuchthaus, und zwar

ohne Beſchränkung auf eine beſtimmte Dauer, alſo von zwei bis zu

zwanzig Jahren. — Der §. 313. war in dem Entwurf von 1850. als

§. 287. unter die Beſtimmungen, welche von der Beugung des Rechts

handeln, geſtellt und alſo gefaßt:

„Ein Geſchworener, welcher, ſeiner Ueberzeugung entgegen,

einen Angeklagten für ſchuldig oder für nichtſchuldig er-

klärt, oder welcher in einer Sache, in welcher er Verrichtungen als

Geſchworener auszuüben hat, Geſchenke annimmt u. ſ. w.

Die Kommiſſion der zweiten Kammer beſchloß aber die im Druck

hervorgehobenen Worte wegfallen zu laſſen, und die Vorſchrift des Pa-

l) Kommiſſionsbericht a. a. O. zu §. 282. (310.)

m) Motive zu dem Entwurf von 1850. §. 283.

n) Kommiſſionsbericht a. a. O. zu §. 283. (311.)

Beſeler Kommentar. 36

[554/0564]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

ragraphen nur auf das Annehmen von Geſchenken zu beziehen. Sie

fand jenen Zuſatz unvereinbar mit dem Weſen des Schwurgerichts, eine

Handhabe für gehäſſige Inquiſitionen. o)

§. 314.

Ein Beamter, welcher bei der Leitung oder Entſcheidung von Rechtsſachen

vorſätzlich, zur Begünſtigung oder Benachtheiligung einer Partei, ſich einer

Ungerechtigkeit ſchuldig macht, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren beſtraft.

Zu gleicher Strafe iſt ein Schiedsrichter zu verurtheilen, welcher bei der

ihm übertragenen Leitung oder Entſcheidung von Rechtsſtreitigkeiten vorſätzlich,

zur Begünſtigung oder Benachtheiligung einer Partei, ſich einer Ungerechtigkeit

ſchuldig macht.

Dieſer Paragraph handelt von dem Verbrechen, welches als Beu-

gung des Rechts bezeichnet zu werden pflegt. Außer dem eben be-

ſprochenen Zuſatz in §. 313. hatte der Entwurf von 1850. §. 286.

noch folgende Beſtimmung:

„Ein Richter, welcher wiſſentlich entweder einen Unſchuldigen zu

einer Strafe oder einen Schuldigen zu einer härteren als der geſetzlichen

Strafe verurtheilt, hat Zuchthausſtrafe verwirkt.“

„Ein Richter, welcher einen Angeſchuldigten, deſſen Schuld ihm

bekannt iſt, frei ſpricht, oder mit einer gelinderen als der geſetzlichen

Strafe belegt, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren beſtraft.“

Auch dieſe Beſtimmung wurde aber auf den Beſchluß der Kom-

miſſion der zweiten Kammer (ſ. den Bericht a. a. O.) geſtrichen, weil

theils die Vorſchriften des §. 314. ausreichend ſchienen, theils ähnliche

Gründe, wie in Beziehung auf die Geſchworenen, einer ſolchen Prüfung

der richterlichen Ueberzeugung entgegengehalten wurden. Schon der ver-

einigte ſtändiſche Ausſchuß hatte ſich in einem ähnlichen Sinne aus-

geſprochen. p) — Im Einzelnen iſt noch Folgendes zu bemerken.

I. Unter den hier genannten Beamten ſind nicht bloß die Richter

zu verſtehen, da nicht alle Rechtsſachen von den Gerichten erledigt wer-

den. In Vorfluths-Sachen, wenn es ſich um das Setzen eines Merk-

Pfahles handelt, ebenſo bei Regulirung eines Interimiſtikums in Kir-

chen-Bauſachen und in manchen anderen Fällen ſind es Verwaltungs-

behörden, denen die Entſcheidung zuſteht. Die Vorſchrift des Para-

graphen konnte alſo nicht auf die Richter beſchränkt werden.

o) Kommiſſionsbericht a. a. O. zu §§. 285-87., wo ſich eine ſehr um-

faſſende und gründliche Erörterung über dieſen intereſſanten Gegenſtand findet.

p) Verhandlungen. IV. S. 382-87.

[555/0565]

§. 314. Beugung des Rechts. §. 315. Nöthigung.

II. Daß die Schiedsrichter (nicht zu verwechſeln mit den Schieds-

männern) den Beamten gleichgeſtellt worden, beruht auf der Aehnlich-

keit ihrer Funktionen, wenn auch die Beugung des Rechts durch dieſel-

ben nicht als die Verletzung einer Amtspflicht, ſondern als ein Verbre-

chen gegen Treu und Glauben ſich darſtellt. q)

III. In dem Entwurfe von 1850. §. 285. fehlten die Worte „zur

Begünſtigung oder Benachtheiligung einer Partei“, welche erſt durch

die Kommiſſion der zweiten Kammer hinzugefügt worden ſind. Man

fand nämlich, daß durch den Ausdruck „wer vorſätzlich ſich einer Un-

gerechtigkeit ſchuldig macht“, der Thatbeſtand eines Verbrechens nicht

hinreichend bezeichnet werde. Es müſſe im einzelnen Fall feſtgeſtellt

werden, was als eine Ungerechtigkeit zu betrachten ſei, ohne daß der

Entwurf dem Richter dafür irgend einen Anhalt gewähre. Um dieſem

Uebelſtande abzuhelfen, ſind daher jene Worte nach dem Vorgange des

Rheiniſchen Rechts in den Paragraphen aufgenommen worden. r)

§. 315.

Ein Beamter, welcher ſeine Amtsgewalt mißbraucht, um Jemand zu einer

Handlung, Duldung oder Unterlaſſung widerrechtlich zu nöthigen, wird mit

Gefängniß nicht unter Einem Monate beſtraft; zugleich kann auf zeitige Un-

fähigkeit zu öffentlichen Aemtern erkannt werden.

Im Anſchluß an die Beſtimmungen der §§. 92. und 212. über

die Nöthigung iſt hier der Fall vorgeſehen worden, wenn ein Beam-

ter ſeine Amtsgewalt zu einem ſolchen Vergehen mißbraucht. In der

Kommiſſion der zweiten Kammer wurde noch folgender Zuſatz beantragt:

„oder welcher eine ſeiner amtlichen Entſcheidung unterliegende

Sache vorſätzlich zur Begünſtigung oder Benachtheiligung eines

Betheiligten entſcheidet;“

indem es für nöthig gehalten wurde, die Beſtimmung des §. 314.,

welche ſich nur auf die Richter und ſolche Beamte, denen die Ausübung

der ſ. g. Adminiſtrativ-Juſtiz übertragen iſt, bezieht, überhaupt auf die

Verwaltungsbeamten auszudehnen. Die Mehrheit der Kommiſſion er-

klärte ſich aber dagegen. Wollte man noch weiter gehen und die Ent-

ſcheidungen ins Auge faſſen, die von den Verwaltungsbehörden nach

ſubjektivem Ermeſſen getroffen werden müßten, z. B. welchem von meh-

reren Bewerbern um eine Konzeſſion der Vorzug zu geben ſei, ſo würde

q) Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 25. Juni 1842.

r) Protokolle der Kommiſſion der zweiten Kammer vom 31. Fe-

bruar 1851.

36*

[556/0566]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

man auf ein Gebiet kommen, auf dem es nicht gelingen könne, einen

objektiven Thatbeſtand, wie ihn der Strafrichter bedarf, zu präziſiren.

Auf dieſem Gebiete werde und müſſe ſich die Disziplinargewalt geltend

machen. s)

§. 316.

Ein Beamter, welcher in Ausübung oder in Veranlaſſung der Ausübung

ſeines Amtes vorſätzlich Mißhandlungen oder Körperverletzungen verübt oder

verüben läßt, wird mit Gefängniß nicht unter drei Monaten beſtraft; auch kann

gegen denſelben auf zeitige Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern erkannt werden.

Iſt die Mißhandlung oder Körperverletzung eine ſchwere (§. 193.) und

findet keiner der im §. 196. vorgeſehenen Milderungsgründe ſtatt, ſo tritt

Zuchthaus nicht unter drei Jahren ein.

§. 317.

Ein Beamter, welcher mit Vorſatz eine rechtswidrige Verhaftung oder vor-

läufige Ergreifung und Feſtnahme vornimmt oder vornehmen läßt, oder die

Dauer der Haft verlängert, wird mit Gefängniß nicht unter drei Monaten be-

ſtraft; auch kann gegen denſelben auf zeitige Unfähigkeit zu öffentlichen Aem-

tern erkannt werden.

Die Strafe iſt Zuchthaus bis zu funfzehn Jahren:

1) wenn für den der Freiheit Beraubten die Freiheitsentziehung oder die

ihm während derſelben widerfahrene Behandlung eine ſchwere Körper-

verletzung (§. 193.) zur Folge gehabt hat;

2) wenn die Freiheitsentziehung rechtswidrig über Einen Monat ge-

dauert hat.

§. 318.

Ein Beamter, welcher mit Vorſatz rechtswidrig in eine Wohnung eindringt,

ſoll mit Geldbuße bis zu Einhundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu

zwei Monaten beſtraft werden.

A. Die Beſtimmungen des §. 316 entſprechen denen der §§. 187.

193. und 196. in beſonderer Anwendung auf die durch Beamte ver-

übten Körperverletzungen und Mißhandlungen. Es kommen dabei im

Allgemeinen dieſelben Rechtsgrundſätze zur Anwendung, indem nur in

der perſönlichen Stellung des Thäters, vorausgeſetzt daß er in Aus-

übung oder in Veranlaſſung der Ausübung ſeines Amtes handelt, ein

Grund zur Erhöhung der geſetzlichen Strafe gefunden iſt. Mildernde

Umſtände ſollen jedoch überhaupt nur im Fall der ſchweren Körperver-

letzung nach Vorſchrift des §. 196. Berückſichtigung finden.

B. Rechtswidrige Verhaftung (§. 317.). Die hier gegebenen

Vorſchriften ſind in Uebereinſtimmung mit dem Geſetze zum Schutz der

s) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 288. (315.)

[557/0567]

§§. 319-322. Mißbrauch der Amtsgewalt in Strafſachen.

perſönlichen Freiheit vom 12. Februar 1850. (G. S. S. 45-48.) und

zur Sicherung ſeiner Ausführung erlaſſen. Der Ausdruck „mit Vorſatz

eine rechtswidrige Verhaftung“ u. ſ. w. läßt die Strafe aber nur bei

der doloſen Handlung, welche im Bewußtſein der Rechtswidrigkeit ver-

übt iſt, begründet erſcheinen, wobei jedoch zu bemerken, daß der Rechts-

irrthum einem Beamten am Wenigſten zur Entſchuldigung gereichen

kann. t) Das Wort „rechtswidrig“ in Nr. 2. iſt hinzugefügt worden,

um den Fall von der geſetzlichen Qualifikation auszunehmen, wenn die

Anfangs rechtswidrige Freiheitsberaubung vor Ablauf Eines Monats

eine rechtlich begründete geworden iſt. u)

C. Rechtswidriges Eindringen in eine Wohnung (§. 318.). Auch

die hierüber nach dem Beſchluß der Kommiſſion der zweiten Kammer

erlaſſene Beſtimmung bezieht ſich auf das Geſetz vom 12. Febr. 1850.

§. 7-9., und ſchärft für Beamte, welche daſſelbe verletzen, die Straf-

vorſchrift des §. 346.; ſie verfügt aber nur über das Eindringen in

eine Wohnung, ſo daß die anderen in §. 346. vorgeſehenen Fälle,

auch wenn Beamte ſich derſelben ſchuldig machen, nur als Uebertretun-

gen zu ahnden ſind.

§. 319.

Wenn ein Beamter in einer ſtrafgerichtlichen Unterſuchung Zwangsmittel

anwendet oder anwenden läßt, um Geſtändniſſe oder Ausſagen zu erpreſſen,

ſo wird derſelbe mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren beſtraft.

§. 320.

Ein Beamter, welcher vorſätzlich zum Nachtheile einer Perſon, deren Un-

ſchuld ihm bekannt iſt, die Eröffnung oder Fortſetzung einer ſtrafgerichtlichen

Unterſuchung beantragt oder beſchließt, ſoll mit Zuchthaus beſtraft werden.

Eine gleiche Strafe trifft den Beamten, welcher vorſätzlich eine Strafe voll-

ſtrecken läßt, die entweder gar nicht, oder nicht in dem Maaße, wie er ſie voll-

ſtrecken läßt, rechtskräftig ausgeſprochen iſt.

Iſt im letzteren Falle die Handlung aus Fahrläſſigkeit begangen, ſo tritt

Gefängniß bis zu Einem Jahre ein; auch kann gegen den Beamten auf zei-

tige Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern erkannt werden.

§. 321.

Ein Beamter, welcher vermöge ſeines Amtes bei Ausübung der Straf-

gewalt oder bei Vollſtreckung der Strafe mitzuwirken hat, wird mit Zuchthaus

bis zu fünf Jahren beſtraft, wenn er in der Abſicht, Jemanden der geſetzlichen

t) S. oben S. 46. 47. — Nach dem Beſchluß des vereinigten ſtändiſchen Aus-

ſchuſſes (Verhandlungen. IV. S. 487-94.) ſollte auch die aus Fahrläſſigkeit

vorgenommene rechtswidrige Verhaftung kriminell beſtraft werden; gegenwärtig iſt ſie

dem Disziplinarverfahren vorbehalten; Motive zum Entwurf von 1850. §. 290.

u) Kommiſſionsbericht a. a. O. zu §. 290. 290a. (317. 318.).

[558/0568]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

Strafe rechtswidrig zu entziehen, die Verfolgung einer ſtrafbaren Handlung

unterläßt, eine Handlung oder Unterlaſſung begeht, welche geeignet iſt, eine

Freiſprechung oder eine dem Geſetze nicht entſprechende Beſtrafung zu bewirken,

oder die Vollſtreckung der ausgeſprochenen Strafe nicht betreibt, oder eine ge-

lindere als die erkannte Strafe zur Vollſtreckung bringt.

Wird feſtgeſtellt, daß mildernde Umſtände vorhanden ſind, ſo tritt Gefäng-

niß bis zu zwei Jahren ein; auch kann auf zeitige Unfähigkeit zu öffentlichen

Aemtern erkannt werden.

§. 322.

Ein Beamter, welchem die Aufbewahrung, Begleitung oder Bewachung eines

Gefangenen anvertraut iſt, wird im Falle der Entweichung oder Befreiung

des Gefangenen mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren beſtraft, wenn er dieſelbe

vorſätzlich bewirkt oder befördert hat.

Iſt die Entweichung nur durch Fahrläſſigkeit befördert oder erleichtert wor-

den, ſo tritt Gefängniß bis zu ſechs Monaten ein; auch kann auf zeitige Un-

fähigkeit zu öffentlichen Aemtern erkannt werden.

Die allerdings hohen Strafſätze dieſer Paragraphen rechtfertigen

ſich durch die Wichtigkeit des Gegenſtandes; die Integrität der Straf-

rechtspflege ſteht ſo hoch, daß, wenn irgendwo, die Gewähr des höch-

ſten geſetzlichen Schutzes auf dieſem Gebiete gegeben werden muß.

I. Die Faſſung des §. 320. Abſ. 1. „Ein Beamter, welcher

vorſätzlich zum Nachtheile einer Perſon, deren Unſchuld ihm bekannt

iſt,“ kann mangelhaft erſcheinen, indem es namentlich oft ſchwierig iſt,

zu beſtimmen, in wie weit die nichtamtliche Kenntniß von Thatſachen

auf die Handlungsweiſe eines Beamten einwirken ſoll. Doch iſt hier

nur von einer vorſätzlichen Ungerechtigkeit die Rede, und der Zuſatz

„zum Nachtheile einer Perſon“ drückt es deutlich aus, daß nur der

doloſe Amtsmißbrauch unter Strafe geſtellt iſt.

II. Im Fall des §. 320. Abſ. 3. und §. 322. Abſ. 2. wird auch

die Fahrläſſigkeit des Beamten kriminell beſtraft. Der letztere Para-

graph ſchließt ſich an die Beſtimmungen der §§. 94. und 95. an, nur

daß auch hier die perſönliche Stellung des Beamten eine Strafſchärfung

hervorgerufen hat.

§. 323.

Ein Beamter, welcher, um ſich oder Anderen Gewinn zu verſchaffen, oder

um Anderen zu ſchaden, Urkunden, deren Aufnahme oder Ausſtellung ihm

vermöge ſeines Amtes obliegt, unrichtig aufnimmt oder ausſtellt, oder ächte

Urkunden, welche ihm vermöge ſeines Amtes anvertraut worden oder zugänglich

ſind, verfälſcht, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und zugleich mit

Geldbuße von Einhundert bis zu zweitauſend Thalern beſtraft.

[559/0569]

§§. 324. 325. Unterſchlagung.

Dieſelbe Strafe hat ein Beamter verwirkt, welcher in gleicher Abſicht die

ihm amtlich anvertrauten oder zugänglichen Urkunden beſchädigt, vernichtet

oder bei Seite ſchafft.

Dieſe Vorſchriften beziehen ſich auf die Urkundenfälſchung, und

entſprechen den §§. 247. und 252., ſowie 243. Nr. 7.

I. Der Gebrauch der Urkunde, der nach §. 247. zum Thatbe-

ſtande des Verbrechens der Fälſchung gehört, iſt hier nicht erfordert

worden. Der Entwurf von 1847. §. 389. Abſ. 2. hatte dieß aus-

drücklich vorgeſchrieben, was aber, da der Thatbeſtand des Verbrechens

vollſtändig angegeben iſt, ſo wenig in dieſem Fall wie in dem des

§. 252. nothwendig war.

II. Es iſt noch die Fälſchung ſolcher Urkunden beſonders hervor-

gehoben worden, welche dem Beamten vermöge ſeines Amtes anvertraut

oder zugänglich ſind. Die Hinzufügung der Worte „oder zugänglich“

hielt die Kommiſſion der zweiten Kammer zur Vervollſtändigung der

Strafbeſtimmung für unerläßlich.

III. Daß die Strafe der Urkundenfälſchung, abweichend von der

Beſtimmung des §. 243. Nr. 7., auch im Falle des §. 323. Abſ. 2.

gegen den Beamten vorgeſchrieben iſt, rechtfertigt ſich durch deſſen be-

ſondere Stellung.

§. 324.

Ein Beamter, welcher Gelder oder andere Sachen, die er in amtlicher

Eigenſchaft empfangen oder in Gewahrſam hat, unterſchlägt oder zu unter-

ſchlagen verſucht, wird mit Gefängniß nicht unter ſechs Monaten, ſowie mit

zeitiger Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte beſtraft.

§. 325.

Sind in Beziehung auf die Unterſchlagung die zur Eintragung oder Kon-

trole der Einnahmen oder Ausgaben beſtimmten Rechnungen, Regiſter oder

Bücher unrichtig geführt, verfälſcht oder unterdrückt, oder ſind unrichtige Ab-

ſchlüſſe oder Auszüge aus dieſen Rechnungen, Regiſtern oder Büchern, oder

unrichtige Beläge zu denſelben vorgelegt, oder iſt auf den Fäſſern, Beuteln

oder Paketen der Geldinhalt fälſchlich bezeichnet, ſo iſt die Strafe Zuchthaus

von drei bis zu zehn Jahren.

Während die von einem Beamten in den, §. 324. vorgeſehenen

Fällen verübte einfache Unterſchlagung wie das gemeine Vergehen

(§. 227.) beſtraft wird, indem nur das Maximum der Gefängnißſtrafe

erhöht und die Berückſichtigung mildernder Umſtände ausgeſchloſſen iſt,

ſoll nach §. 325., wenn die daſelbſt bezeichneten erſchwerenden Umſtände

[560/0570]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

vorliegen, auf Zuchthaus von drei bis zu zehn Jahren erkannt werden.

— In dem Entwurf von 1847. §. 394. fand ſich in Beziehung auf

die einfache Unterſchlagung der Zuſatz:

„Die Abſicht, das Unterſchlagene wieder zu erſtatten, ſoll die An-

wendung dieſer Strafe nicht ausſchließen. — Findet man das Geld

oder die Sachen, welche ein Beamter in amtlicher Eigenſchaft empfan-

gen hat, bei ihm nicht vor, ſo wird angenommen, daß er dieſelben

unterſchlagen habe, es ſei denn, daß dieſe Annahme durch die Umſtände

widerlegt wird.“

Die letztere Beſtimmung, welche im Intereſſe der Kaſſenverwaltung

aufgenommen war, v) wurde ſchon von dem vereinigten ſtändiſchen Aus-

ſchuß als eine unzuläſſige praesumptio doli aufſtellend, beſeitigt; w)

aber auch die erſtere Beſtimmung konnte als überflüſſig weggelaſſen

werden, da es unzweifelhaft iſt, daß Beamten, welche Gelder oder an-

dere Sachen in amtlicher Eigenſchaft empfangen oder in Gewahrſam

haben, eine Verfügung darüber nicht zuſteht, und die Unterſcheidungen,

welche bei Privatleuten in Beziehung auf die Verwendung anvertrauter

Sachen zu machen ſind, hier keine Anwendung finden können. x)

§. 326.

Ein Beamter, welcher Gebühren oder andere Vergütungen für amtliche

Verrichtungen zu ſeinem Vortheile zu erheben hat, wird, wenn er Gebühren

oder Vergütungen erhebt oder zu erheben verſucht, von denen er weiß, daß

die Zahlenden ſie gar nicht oder nur in geringerem Betrage verſchulden, mit

Geldbuße bis zu Einhundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu Einem

Jahre beſtraft; es kann zugleich auf zeitige Unfähigkeit zu öffentlichen Aem-

tern erkannt werden.

§. 327.

Ein Beamter, welcher Steuern, Gebühren oder andere Abgaben für eine

öffentliche Kaſſe zu erheben hat, wird, wenn er Abgaben, von denen er weiß,

daß der Zahlende ſie gar nicht oder nur in geringerem Betrage verſchuldet,

erhebt und das rechtswidrig Erhobene ganz oder zum Theil nicht zur Kaſſe

bringt, mit Gefängniß nicht unter drei Monaten beſtraft; auch kann gegen

denſelben auf zeitige Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern erkannt werden.

Eine gleiche Strafe hat ein Beamter verwirkt, welcher bei amtlichen Aus-

v) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 467. — Protokolle des Staatsraths, Sitzung vom 29. Juni 1842. —

Reviſion von 1845. III. S. 113.

w) Verhandlungen. IV. S. 509-12.

x) Motive zum Entwurf von 1850. §. 296. Vgl. oben S. 431.

[561/0571]

§. 328. Vergehen der Poſtbeamten.

gaben an Geld oder Naturalien dem Empfänger vorſätzlich und rechtswidrig

Abzüge macht und die Ausgaben als vollſtändig geleiſtet in Rechnung ſtellt.

Der Inhalt der vorſtehenden Paragraphen ſtimmt, abgeſehen von

der verbeſſerten Faſſung, im Weſentlichen mit den Vorſchriften des Ent-

wurfs von 1847. §. 391-93. überein.

I. Der Beamte macht ſich des ſ. g. Sportulirens ſchuldig, indem

er vorſätzlich für amtliche Verrichtungen an Gebühren oder anderen

Vergütungen mehr, als ihm zukommt, von den Zahlungspflichtigen er-

hebt (§. 326.).

II. Der Beamte erhebt vorſätzlich zu viel an Steuern, Gebühren

oder andern Vortheilen für eine öffentliche Kaſſe, und bringt das rechts-

widrig Erhobene ganz oder zum Theil nicht zur Kaſſe; §. 327. Abſ. 1.

— Iſt das zu viel Erhobene in Einnahme geſtellt worden, ſo iſt im

öffentlichen Dienſte ercedirt und die Handlung im Disziplinarwege zu

rügen. y)

III. Verkürzung der Zahlungsempfänger bei öffentlichen Ausgaben

(§. 327. Abſ. 2.). Auch hier wird vorausgeſetzt, daß die Ausgaben

als vollſtändig geleiſtet in Rechnung geſtellt worden ſind.

§. 328.

Ein Poſtbeamter, welcher die der Poſt anvertrauten Briefe und Pakete in

anderen als den im Geſetz vorgeſehenen Fällen eröffnet oder unterdrückt oder

einem Anderen bei einer ſolchen Handlung wiſſentlich Hülfe leiſtet, wird mit

Gefängniß nicht unter drei Monaten beſtraft; auch ſoll gegen denſelben auf

zeitige Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern erkannt werden.

Die hier vorgeſehenen Vergehen der Poſtbeamten verletzen das

Briefgeheimniß, welches in Art. 33. der Verfaſſungs-Urkunde ausdrücklich

gewahrt iſt. Daher kann nur ein Geſetz, und nicht ein Dienſt-Regle-

ment die Beamten zu Handlungen ermächtigen, welche mit der Bewah-

rung des Briefgeheimniſſes in Widerſpruch ſtehen, und die Höhe der

Strafe iſt nach dieſen Umſtänden abgemeſſen worden. z)

§. 329.

Ein gerichtlicher Anwalt oder ein anderer Rechtsbeiſtand, welcher bei den

ihm vermöge ſeiner amtlichen Eigenſchaft anvertrauten Angelegenheiten in der-

y) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 508. 509.

z) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 300. (328.)

[562/0572]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

ſelben Rechtsſache beiden Parteien durch Rath oder Beiſtand pflichtwidrig dient,

wird mit Gefängniß nicht unter drei Monaten beſtraft.

Handelt derſelbe vorſätzlich im Einverſtändniß mit der Gegenpartei zum

Nachtheil ſeines Klienten, ſo tritt Zuchthaus bis zu fünf Jahren ein.

Durch die Bezeichnung „pflichtwidrig“ im erſten Abſatz, welcher

nach der erſten Leſung des Geſetzbuchs auf den Vorſchlag der Kom-

miſſion der zweiten Kammer zur deutlicheren Faſſung der Strafbeſtim-

mung aufgenommen worden iſt, ſollte der Zweifel beſeitigt werden, als

ob ſchon wegen einer ganz unverfänglichen Dienſtleiſtung die geſetzliche

Strafe eintreten könnte. Man wollte die Rechtsanwälte dadurch von

vorne herein gegen mögliche Chikanen einer Partei ſicher ſtellen. Da-

gegen ſind die Worte „öffentlich beſtellter,“ welche der Entwurf von

1850. §. 301. vor Rechtsbeiſtand hatte, weggelaſſen worden, weil die

ſogleich folgende nähere Bezeichnung der Angelegenheiten, um die es

ſich handelt, es ſchon genügend ausdrückt, daß der Rechtsbeiſtand ein

Beamter ſein muß, dem die Wahrung der Rechte einer Partei übertra-

gen iſt. a) — Wenn übrigens die Rechtsanwälte in Beziehung auf

Verbrechen und Vergehen im Amte auch den Staatsbeamten gleichge-

ſtellt ſind, ſo werden dadurch die beſonderen Beſtimmungen über den

Ehrenrath nicht berührt.

§. 330.

Ein Amtsvorgeſetzter, welcher ſeine Untergebenen zu einem Verbrechen oder

Vergehen im Amte vorſätzlich verleitet oder zu verleiten verſucht, oder ein

ſolches Verbrechen oder Vergehen ſeiner Untergebenen wiſſentlich geſchehen läßt,

ſoll zu der auf dieſes Verbrechen oder Vergehen angedrohten Strafe verur-

theilt werden; in allen Fällen iſt zugleich auf zeitige Unfähigkeit zu öffentlichen

Aemtern zu erkennen.

Dieſelbe Beſtimmung findet auch auf einen Beamten Anwendung, welchem

eine Aufſicht oder Kontrole über die Amtsgeſchäfte eines Mitbeamten über-

tragen iſt, ſofern das von dieſem letzteren Beamten verübte Verbrechen oder

Vergehen die zur Aufſicht oder Kontrole gehörenden Geſchäfte betrifft.

Amtsvorgeſetzte, welche ihre Untergebenen zu Verbrechen oder Ver-

gehen im Amte vorſätzlich verleiten oder zu verleiten ſuchen, oder ſolche

Verbrechen oder Vergehen wiſſentlich geſchehen laſſen, ſollen als Theil-

nehmer angeſehen und demgemäß beſtraft werden; auch trifft ſie ſtets

die zeitige Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern. Daſſelbe gilt in Bezie-

a) a. a. O. zu §. 301. (329.).

[563/0573]

§. 331. Thäter und Theilnehmer.

hung auf Beamte, welchen eine Aufſicht oder Kontrole über die Amts-

geſchäfte eines Mitbeamten übertragen iſt, ſoweit dieſe Aufſicht oder

Kontrole reicht. b)

§. 331.

Die Vorſchriften dieſes Titels finden Anwendung auf alle öffentliche Beamte,

ſie mögen in unmittelbarem oder mittelbarem Staatsdienſte ſtehen, auf Le-

benszeit oder nur zeitweiſe oder vorläufig angeſtellt ſein, einen Dienſteid ge-

leiſtet haben oder nicht.

Nehmen Perſonen, welche keine Beamte ſind, an einem der in dieſem Titel

bezeichneten Verbrechen oder Vergehen Theil, ſo ſollen, ſoweit keine Ausnah-

men beſtimmt ſind, die allgemeinen Grundſätze über Theilnahme gelten. Auf

den im §. 309. vorgeſehenen Fall findet dieſe Beſtimmung keine Anwendung.

Am Schluß des Titels finden ſich Beſtimmungen darüber, welche

Perſonen als Beamte anzuſehen ſind, und wie es mit dritten Theil-

nehmern an Verbrechen und Vergehen im Amte zu halten iſt. Beides

bedarf noch einer näheren Erwägung.

I. Das Allg. Landrecht (Th. II. Tit. 20.) enthält folgende Be-

ſtimmungen:

§. 365. „Alles, was vorſtehend §§. 323-64. von den Verge-

hungen der Officianten des Staats verordnet iſt, gilt ſowohl von den

mittelbaren als unmittelbaren Beamten deſſelben (Tit. X. §. 69.).“

Th. II. Tit. 10. §. 68. „Alle Beamte des Staats, welche zum

Militairſtande nicht gehören, ſind unter der allgemeinen Benennung von

Civilbedienten begriffen.“

§. 69. „Dergleichen Beamte ſtehen entweder in unmittelbaren

Dienſten des Staats, oder gewiſſer demſelben untergeordneter Kollegien,

Korporationen und Gemeinen.“

Gegen die Vorſchrift des §. 365. wurde aber, abgeſehen von der

ungeeigneten Stellung deſſelben in der Mitte des ganzen Abſchnitts,

eingewandt, daß dadurch keine feſte Rechtsregel begründet ſei, weil der

Begriff der mittelbaren Staatsdiener in §. 69., auf den ausdrücklich

Bezug genommen worden, höchſt ſchwankend und unbeſtimmt erſcheine.

Es ſeien ja alle Kollegien, Korporationen und Gemeinden dem Staate

untergeordnet, und es laſſe ſich nicht genau feſtſtellen, welche denn dieſe

„gewiſſe“ Korporationen u. ſ. w. ſeien, die beſonders hervorgehoben

worden. Aus dieſen Gründen entſchloß man ſich, die Unterſcheidung

b) Reviſion von 1845. III. S. 114-16.

[564/0574]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

zwiſchen unmittelbaren und mittelbaren Staatsdienern für das Straf-

geſetzbuch ganz fallen zu laſſen, c) und der Entwurf von 1830. verfügte

demnach:

§. 436. „Die Vorſchriften dieſes Abſchnitts finden Anwendung

auf alle im Dienſte des Staats ſtehenden Beamten, auf die Geiſtlichen

und Schulbedienten, auf die den Staatsdienern gleichgeſtellten Beamten

der vormals unmittelbaren Deutſchen Reichsſtände, ferner auf die ſtän-

diſchen, landſchaftlichen, Stadt- und Landgemeinde-Beamten, und auf

alle diejenigen, welche geſetzlich den Staatsdienern gleich geſtellt ſind.“

Der Entwurf von 1836. §. 753. wiederholte im Weſentlichen dieſe

Beſtimmungen, nannte aber noch beſonders die zur öffentlichen Beglau-

bigung angeſtellten Perſonen, und fügte §. 754. die zu dem Königlichen

Hofſtaate und zu den Hofſtaaten der Prinzen und Prinzeſſinnen des

Königlichen Hauſes gehörigen Beamten hinzu. — Dieſe letztere Abän-

derung des früheren Entwurfs verwarf die Staatsraths-Kommiſſion

als ungeeignet und dem Verhältntß der bezeichneten Perſonen nicht

entſprechend; auch in Betreff der zur öffentlichen Beglaubigung ange-

ſtellten Perſonen wurden beſondere Beſtimmungen vorbehalten, welche

indeſſen ſpäter nicht für nöthig gehalten ſind, d) im Uebrigen aber ent-

ſchloß man ſich, ſtatt auf eine ſpezielle Bezeichnung der einzelnen hierher

gehörigen Perſonen einzugehen, ſich auf eine allgemeine Erwähnung der

öffentlichen, im unmittelbaren oder mittelbaren Staatsdienſte ſtehenden

Beamten zu beſchränken. e) — Bei dieſem Verfahren iſt man ſpäter

ſtehen geblieben, obgleich der Begriff der mittelbaren Staatsdiener keine

beſtimmtere Feſtſtellung erhalten hat. In zweifelhaften Fällen wird

alſo der Richter zu ermeſſen haben, ob der Angeſchuldigte als Staats-

diener zu betrachten iſt, oder nicht. Einige Andeutungen für die richtige

Behandlung dieſer Frage mögen hier ihren Platz finden.

a. Auf die Militairbeamten kommen die Vorſchriften des Tit. 28.

nur inſoweit zur Anwendung, als die Militairgeſetze nicht ein Anderes

beſtimmen; ſ. oben §. 5.

b. In Beziehung namentlich auf §. 323. iſt zu bemerken, daß

die Notarien gegenwärtig unzweifelhaft zu den Juſtizbeamten gehören;

ſ. Verordnung vom 2. Januar 1849. Nr. 2. §. 36. (G.-S. S. 12.).

— Gewerbtreibende dagegen, welche zur Betreibung ihres Gewerbes von

c) Motive zum erſten Entwurf. III. 1. S. 18. 19.

d) Es hing dieß mit der Abſicht zuſammen, beſondere Vorſchriften über die

Vergehen der Gewerbetreibenden aufzuſtellen; ſ. oben S. 384. und Verhandlun-

gen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846. S. 181.

e) Berathungs-Protokolle der Staatsraths-Kommiſſion. III.

S. 455-57.

[565/0575]

§. 331. Thäter und Theilnehmer.

der Obrigkeit beſonders verpflichtet werden, wie Mäkler, Güterbeſtäti-

ger u. ſ. w. ſind nicht zu den Staatsbeamten zu rechnen, wie ſich ſchon

daraus ergiebt, daß im Tit. 22. über deren Untreue beſondere Beſtim-

mungen ſich finden. Daſſelbe gilt von Aerzten, Baumeiſtern und an-

deren Perſonen, die zur Ausübung einer Kunſt der beſonderen Appro-

bation bedürfen; ſ. oben §§. 199-203.

c. In Betreff der Beamten der Korporationen muß man unter-

ſcheiden, ob die letzteren einen Theil des Staatsorganismus ausmachen,

wie die Gemeinden, oder wenigſtens dem Staatsintereſſe unmittelbar

dienen; oder ob ſie nur dem allgemeinen Oberaufſichtsrecht des Staates

unterworfen ſind, im Uebrigen aber als Privatanſtalt erſcheinen, wie

z. B. die meiſten Eiſenbahngeſellſchaften. Beamte von Korporationen

der erſteren Art werden im Sinne des Allg. Landrechts (Th. II. Tit. 10.

§. 69.) zu den mittelbaren Staatsdienern zu rechnen ſein; doch kommt

hierbei freilich in Betracht, daß die Stellung der Korporationen und

namentlich auch der Gemeinden ſeit Erlaſſung des Allg. Landrechts eine

viel freiere und ſelbſtändigere geworden iſt.

d. Ueber die Qualität einzelner Beamten entſcheiden beſondere ge-

ſetzliche Beſtimmungen; nach dem Allg. Landrecht (Th. II. Tit. 19. §. 80.)

ſind z. B. die Vorſteher und Verwalter öffentlicher Armenanſtalten als

Diener des Staats anzuſehen.

II. Das vor der Publikation des Strafgeſetzbuchs geltende Recht

enthielt keine Vorſchrift darüber, wie es mit der Beſtrafung eines Nicht-

beamten, welcher an der Verübung eines Amtsverbrechens Theil nimmt,

zu halten ſei; die Gerichtshöfe nahmen aber meiſtens an, daß die all-

gemeinen Grundſätze über die Theilnahme in einem ſolchen Fall nicht

anzuwenden ſeien. Bei der Reviſion von 1833. wurde dieſer Umſtand

zur Sprache gebracht, und im Intereſſe des Dienſtes eine ergänzende

Beſtimmung vorgeſchlagen. Bei den Disziplinarvergehen könne freilich

eine Komplizität von Nichtbeamten nicht füglich ſtattfinden; aber die

Verleitung zu eigentlichen Amtsverbrechen müſſe auch an dritten Per-

ſonen geahndet werden, f) und zu dieſem Behuf bei den nur auf Beamte

anwendbaren Strafmitteln eine Strafverwandlung eintreten. Es wurde

auch eine dem entſprechende Strafvorſchrift in Vorſchlag gebracht,

welche in der Staatsraths-Kommiſſion nur in formeller Beziehung

eine Abänderung erlitt, und in dem Entwurf von 1843. alſo lautete:

§. 614. „Hat ein Beamter Mitſchuldige, die keine Beamten ſind,

ſo tritt gegen dieſelben ſtatt der Degradation Gefängnißſtrafe, und

f) (v. Kamptz) Motive zum Revidirten Entwurf. (Berlin 1833.)

S. 439. 440.

[566/0576]

Th. II. V. d. einzelnen Verbr. c. Tit. XXVIII. Verbr. u. Verg. im Amte.

ſtatt der Amtsentſetzung oder Kaſſation, Strafarbeit bis zu drei Jah-

ren ein.“

Erſt in den Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1846.

fand dieſe ganze Auffaſſung einen lebhaften Widerſpruch, indem theils

das Princip an ſich, theils die Strafverwandlung als ungerechtfertigt

angegriffen wurde. g) Es blieb jedoch im Weſentlichen bei den früheren

Beſtimmungen, und erſt der Entwurf von 1850. §. 303. ließ in Folge

des angenommenen Grundſatzes, daß der Strafrichter nicht mehr auf

Amtsentſetzung, ſondern nur in Form einer Nebenſtrafe auf Unfähigkeit

zu öffentlichen Aemtern erkennt, die Anordnungen über die Strafver-

wandlung weg. h)

a. Nichtbeamte werden, wenn ſie an einem Amtsverbrechen oder

Amtsvergehen Theil nehmen, nach den allgemeinen Grundſätzen über

Theilnahme (Th. I. Tit. 3.) beſtraft, inſoweit keine Ausnahme beſtimmt

iſt. Eine ſolche ſoll namentlich in Betreff der in §. 309. vorgeſehenen

Art der Beſtechung gelten; ſie findet aber auch ſtatt, wenn ein Dritter

einen Beamten oder Schiedsrichter durch Beſtechung zu einer Pflicht-

widrigkeit, welche nicht unter die Vorſchriften der §§. 312. und 313.

fällt, verleitet oder zu verleiten ſucht, indem ein ſolches Vergehen in

§. 311. mit einer ſelbſtändigen Strafe bedroht iſt.

b. Wenn die Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern als Nebenſtrafe

angedroht iſt, ſo bezieht ſich dieß auf die beſondere Pflichtverletzung,

welche der Thäter in ſeiner amtlichen Stellung begangen hat, und hängt

mit der eigenthümlichen Beſchaffenheit dieſes Amtes und mit deſſen

Verhältniß zu dem Verbrechen oder Vergehen zuſammen. Dieſe Neben-

ſtrafe trifft daher nur den Thäter und nicht den nichtbeamteten Theil-

nehmer, auf den ſie auch in Beziehung auf ihre unmittelbare Wirkung,

nämlich den Verluſt des Amtes (§. 25.), gar keine, und wegen der

Folgen für die Zukunft nur eine zufällige Anwendung finden könnte.

Werden doch bei Weitem die meiſten Perſonen, welche keine Beamte

ſind, auch nicht die Abſicht haben, es ſpäter zu werden. — Selbſt dann,

wenn ein Beamter Theilnehmer eines Vergehens iſt, welches ein anderer

Beamter verübt hat, und die Berufskreiſe Beider verſchieden ſind, iſt die

gegen den Letzteren angedrohte Strafe der Unfähigkeit zu öffentlichen

Aemtern gegen den Erſteren als Theilnehmer nicht anwendbar. Denn

auch hier iſt zu erwägen, daß die Beſchaffenheit des Amtes auf die

Strafzumeſſung von Einfluß iſt, daß z. B. jene Nebenſtrafe gegen den

Poſtbeamten wegen Verletzung des Briefgeheimniſſes (§. 328.) wohl

g) Verhandlungen von 1846. S. 189-91.

h) Motive zum Entwurf von 1850. §. 303.

[567/0577]

§. 331. Thäter und Theilnehmer.

begründet erſcheint, aber gegen andere Beamte, welche in Beziehung auf

dieſes Vergehen wie die übrigen Staatsbürger beurtheilt werden (§. 280.),

eine ſolche Strafſchärfung in keiner Weiſe ſich rechtfertigen läßt. —

Eine ſolche abſolute Gleichſtellung ſämmtlicher Beamten bei der Beſtra-

fung wegen Theilnahme würde gegen den Sinn des §. 35. ſein, und

der §. 330. zeigt, daß den Beſtimmungen des Titel 28. jene Abſicht

nicht zum Grunde gelegen hat. Nur dann würde eine ſolche Auffaſſung

begründet ſein, wenn die Eigenſchaft eines Staatsbeamten bei der Ver-

übung einer jeden ſtrafbaren Handlung, alſo auch eines jeden gemeinen

Vergehens, für den Thäter die Unfähigkeit zu öffentlichen Aemtern zur

Folge hätte. Ob das Vergehen von ſolcher Art iſt, daß auch die

Theilnahme an demſelben je den Staatsdiener der weiteren Bekleidung

ſeines Amtes unwürdig macht, das iſt, nach dem jetzigen Stande der

Geſetzgebung, im Wege des Disziplinarverfahrens feſtzuſtellen.

[[568]/0578]

Dritter Theil.

Von den Uebertretungen.

Erſter Titel.

Von der Beſtrafung der Uebertretungen im Allgemeinen.

Daß bei der Reviſion des Strafrechts außer den eigentlichen Kri-

minalverbrechen auch die Uebertretung der Polizei-Strafgeſetze zum Ge-

genſtand der legislativen Normirung gemacht werden müſſe, war eine

allgemein angenommene Anſicht und nur darüber gingen die Meinungen

aus einander, in welchem Umfange eine ſolche Kodifikation der Polizei-

Strafgeſetze durchzuführen und welche Methode dabei zu befolgen ſei.

Anfangs war man entſchloſſen, nach dem Vorgange des Code pénal,

die Kriminal- und die Polizei-Strafgeſetze formell von einander zu ſchei-

den, und demgemäß das Strafgeſetzbuch in zwei Theile zerfallen zu

laſſen. In dieſem Sinne war der Entwurf des Kriminal-Geſetzbuchs

von 1830. ausgearbeitet, an den ſich die Polizei-Strafgeſetze in einer

beſonderen Zuſammenſtellung anreihen ſollten; der Entwurf zu dieſer

letzteren Arbeit, welcher ſich im Weſentlichen an die Vorſchriften des

Allgemeinen Landrechts anſchloß, wurde im Jahre 1833. abgefaßt, und

von dem erſten Reviſor, Bode, mit Motiven verſehen, welche als fünf-

ter Band der Motive zum erſten Entwurf des Strafgeſetzbuchs, Berlin

1833. als Manuſkript gedruckt wurden. — Später aber verließ

v. Kamptz, in deſſen Händen ſich damals die Leitung der Geſetz-Revi-

ſion befand, dieſen Weg, indem er zu der Methode des Allgemeinen

Landrechts zurückkehrte, welches im Titel 20. Th. II. eine Reihe von

polizeilichen Beſtimmungen in Verbindung mit den Verbrechen, auf

welche ſie ſich beziehen, aufſtellt. a) Man blieb auch bei dieſer Behand-

a) Vgl. (v. Kamptz) Revidirter Entwurf des Strafgeſetzbuchs.

Nachtrag zu dem allgemeinen Theil deſſelben. Die Polizei-Uebertretungen und deren

Beſtrafung betreffend. Als Manuſcript gedruckt. Berlin 1834. 4.

[569/0579]

Von der Beſtrafung der Uebertretungen im Allgemeinen.

lungsweiſe, obgleich ſich die Staatsraths-Kommiſſion Anfangs derſelben

wenig geneigt zeigte; b) der Entwurf von 1843. iſt darnach ausgearbei-

tet worden, und auch am Schluß des allgemeinen Theils, §. 127-40.

finden ſich einzelne allgemeine Beſtimmungen über Polizei-Vergehen.

Bei der Reviſion von 1845. kam die Frage noch einmal zur Er-

örterung. Der Preußiſche Landtag hatte zugleich mit andern Monenten

darauf angetragen, alle Beſtimmungen über Polizei-Vergehen aus dem

Strafgeſetzbuche auszuſcheiden, und das ganze Gebiet der Polizei, for-

mell und materiell, einer beſonderen Polizei-Ordnung zuzuweiſen. Von

anderer Seite hatte man ſich dagegen nur für die Abſonderung der po-

lizeilichen Strafvorſchriften von den die eigentlichen Verbrechen betreffen-

den Beſtimmungen des Strafgeſetzbuchs erklärt. Dieſer Anſicht folgte

das Miniſterium für die Geſetz-Reviſion. Die Frage von der vollſtän-

digen Kodifikation des Polizeirechts, welcher bekannte innere und äußere

Gründe entgegenſtänden, ſei hier nicht zu erledigen; aber die Ausſchei-

dung der polizeilichen Strafbeſtimmungen, und zwar nach der Kompe-

tenz der Behörden, ſei aus Gründen der Zweckmäßigkeit dringend zu

empfehlen. c) Der revidirte Entwurf von 1845. wurde nach dieſer Me-

thode abgefaßt, und dieſelbe iſt ſeitdem unangefochten geblieben; nur

wurde ſpäter bei Annahme der Dreitheilung ſtatt des Ausdrucks „Poli-

zei-Vergehen“ die Bezeichnung „Uebertretungen“ gewählt.

Betrachtet man nun den Inhalt des dritten Theils des Strafgeſetz-

buchs, ſo ergiebt ſich, daß derſelbe, abgeſehen von den allgemeinen Be-

ſtimmungen des erſten Titels, auf folgende Kategorien zurückgeführt

werden kann, welche freilich in dem angenommenen Syſteme, das nur

auf den Gegenſtand der Uebertretungen Rückſicht nimmt, keine Beach-

tung gefunden haben.

I. Da die Unterſcheidung von Vergehen und Uebertretungen nicht

nach dem Grunde der inneren Natur der Handlung, ſondern nur nach

dem äußeren Maaße der Strafbarkeit gemacht worden iſt, ſo kommen,

eben ſo wie ſich unter den Vergehen Handlungen finden, welche nur

aus polizeilichen Rückſichten mit Strafe bedroht ſind, — auch unter den

Uebertretungen ſolche Fälle vor, welche keinen rein polizeilichen Charak-

ter an ſich tragen, und nur wegen des Strafmaaßes dem dritten Theile

zugewieſen worden ſind. Solche Uebertretungen mit krimineller Natur

ſind: die Thierquälerei (§. 340. Nr. 10.), die Bettelei, wenigſtens das

b) Berathungs-Protokolle. I. S. 3. 4. 152.

c) Reviſion von 1845. I. S. 4. 5. Vgl. oben S. 60. 61.

Beſeler Kommentar. 37

[570/0580]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. I. Beſtraf. d. Uebertretungen im Allg.

Anleiten zum Betteln (§. 341.), die Beleidigung (§. 343.), die Ver-

letzung des Hausrechts (§. 346. Nr. 1.), die Entwendung von Eß-

waaren (§. 349. Nr. 3.). — Nicht unbedingt, aber doch in gewiſſer

Hinſicht gehören hierher auch die Beſtimmungen über das unbefugte

Abgraben und Abpflügen, ſo wie über das unbefugte Wegnehmen von

Erde, Lehm u. ſ. w. (§. 349. Nr. 1. 2.).

II. Einzelne polizeiliche Strafvorſchriften ſind im unmittelbaren

Staatsintereſſe erlaſſen, und bedürfen daher einer gleichmäßigen Durch-

führung. Dahin gehören die meiſten Beſtimmungen des §. 340., ſo

wie die des §. 349. Nr. 4. und 5.

III. Manche Handlungen ſind als Uebertretungen unter Strafe

geſtellt, weil ſie, ohne einen kriminellen Charakter an ſich zu tragen,

doch die Sicherheit der Perſonen und des Eigenthums gefährden, und

in einer gewiſſen Beziehung zu den Verbrechen und Vergehen ſtehen,

welche auf eine ſolche Gefährdung gerichtet ſind. Es gehören dahin die

im Intereſſe der Sicherheits-Polizei getroffenen Beſtimmungen, welche

ſich in den §§. 344. 345. 346. Nr. 2. und 3. 347. 348. finden.

IV. Gegen die Verletzung der Sitten-Polizei ſind die Vorſchriften

des §. 340. Nr. 8-11., ſo wie der §§. 341. und 342. gerichtet.

Es iſt nun unbedenklich einzuräumen, daß die zu Anfang des Ti-

tels aufgeſtellten allgemeinen Grundſätze über den Begriff und die Be-

ſtrafung der Uebertretungen in dem Geſetzbuch nicht fehlen konnten, und

daß die unter I. und II. aufgeführten Beſtimmungen einer allgemeinen

Feſtſtellung durch die Landesgeſetzbung bedurften. Auch von den unter

III. genannten Fällen eignen ſich manche zu einer ſolchen Behandlung;

aber es iſt dies in Beziehung auf dieſe und auf die unter IV. bezeich-

nete Kategorie doch nur in beſchränkter Weiſe anzunehmen. Man hat

es dabei freilich zum Theil vermieden, beſtimmte Handlungen unmittel-

bar unter Strafe zu ſtellen, und ſtatt deſſen für die Verletzung ander-

weitig erlaſſener Vorſchriften das geſetzliche Strafmaaß angeordnet,

z. B. in Beziehung auf die Störung der Sonntagsfeier (§. 340. Nr. 8.),

auf die voreiligen Beerdigungen (§. 345. Nr. 1.); aber wenn darin

auch eine gewiſſe Beſchränkung der allgemeinen Geſetzgebung in Betreff

dieſer Gegenſtände liegt, ſo entfernt ſie doch nicht alle Bedenken, welche

einer zu weiten Ausdehnung allgemeiner Rechtsnormen auf das Polizei-

Strafrecht entgegenſtehen. Während nämlich für die eigentliche Krimi-

nalgeſetzgebung die Rechtseinheit von der höheren Idee des modernen

Staates geboten erſcheint (vgl. oben S. 16.), bewegt ſich die Polizei

auf einem Gebiete, welches zu einem nicht geringen Theile unter dem

Einfluſſe beſonderer Sitten, Gebräuche und Bedürfniſſe ſteht, wo die

[571/0581]

§. 332. Bedingungen der Polizeiſtrafe.

Verſchiedenheit provinzieller und örtlicher Eigenthümlichkeiten, und na-

mentlich der Gegenſatz von Stadt und Land, von Ackerbau, Fabrikation,

Handel, Schifffahrt ſich in natürlicher Entwicklung geltend machen, und

die angemeſſene Berückſichtigung deſſen, was die Sitte und das Gemein-

wohl erfordern, mehr von einer geſetzlich geordneten Autonomie unter

der oberen Aufſicht der Staatsgewalt zu erwarten iſt, als von der all-

gemeinen Landesgeſetzgebung, welche das Beſondere weniger zu beachten

und zu würdigen vermag. Es hätte daher füglich im dritten Theile

des Strafgeſetzbuchs manche einzelne Beſtimmung ausgeſchieden, und der

ſtatutariſchen Feſtſtellung durch autonomiſche Beliebungen überlaſſen

werden können, auch abgeſehen davon, daß einzelne Strafvorſchriften,

z. B. über die Verletzung der Polizeiſtunde (§. 342.) im Geiſte einer

Bevormundung erlaſſen ſind, welche nur in beſonderen Veranlaſſungen

und Verhältniſſen ihre Rechtfertigung finden kann. Um ſo weniger

würde ſich natürlich für einen Staat wie Preußen die Kodifikation des

geſammten Polizeiſtrafrechts eignen, und es iſt anzuerkennen, daß die-

ſelbe in dieſer Richtung auch bei uns nicht verſucht worden iſt, daß

vielmehr die Geſetzgebung, der leider die Ausführung noch nicht ent-

ſprochen, der freien Entwicklung der Autonomie auf dieſem Gebiete durch

die Gemeindeordnung §. 8. und das Geſetz vom 11. März 1850. über

die Polizeiverwaltung ſich entſchieden günſtig gezeigt hat. d)

§. 332

Als Uebertretungen ſind nur ſolche Handlungen oder Unterlaſſungen zu be-

ſtrafen, welche durch Geſetze oder geſetzlich erlaſſene Verordnungen der Behör-

den unter Strafe geſtellt ſind.

Der Zweck dieſer Beſtimmung iſt, genau feſtzuſtellen, wann von

Polizeigerichtswegen auf eine Strafe erkannt werden kann. Das Allg.

Landrecht (Th. II. Tit. 17. §. 10. ff.) enthält über die Grenzen der

Polizeigerichtsbarkeit wenig befriedigende Vorſchriften; aber auch die

früheren Entwürfe waren in dieſer Beziehung ſehr mangelhaft gefaßt;

der Entwurf von 1843. namentlich verfügte:

§. 127. „Als Polizeivergehen (Kontraventionen) ſind nur ſolche

d) Zum Theil von einem anderen Standpunkte aus iſt die Kodifikation des Po-

lizeiſtrafrechts betrachtet von R. v. Mohl, das Württembergiſche Polizei-Strafgeſetz

vom 2. Okt. 1839. im Beilageheft zum Archiv des Criminalrechts; Jahrgang 1840.

37*

[572/0582]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. I. Beſtraf. d. Uebertretungen im Allg.

Handlungen oder Unterlaſſungen zu beſtrafen, welche Geſetze oder be-

ſondere obrigkeitliche Verordnungen dafür erklären.“

Dieſe Faſſung wurde von verſchiedenen Seiten angefochten, und

bei der Reviſion von 1845. auch inſofern auf die erhobenen Einwen-

dungen Rückſicht genommen, daß zum Begriff des Polizeivergehens ein

Verbot bei Strafe erfordert, und nur eine verfaſſungsmäßig erlaſſene

obrigkeitliche Verordnung zur Aufſtellung eines ſolchen Verbots für ge-

eignet erklärt wurde. Unter welchen Vorausſetzungen aber die Verord-

nung für verfaſſungsmäßig oder geſetzlich erlaſſen zu betrachten ſei, und

wie weit namentlich die Befugniſſe der Behörden in dieſer Beziehung

gehen, — darüber glaubte man in dem Strafgeſetzbuch keine Vorſchrif-

ten geben zu können. e) Die Staatsraths-Kommiſſion beſchloß jedoch,

die Worte „bei Strafe“ fortfallen zu laſſen, da es nach der beſtehenden

Geſetzgebung zum Begriff des Polizeivergehens nicht erforderlich ſei,

daß ein Verbot ausdrücklich bei Strafe erlaſſen worden, und eine Ab-

änderung der Geſetzgebung, zu der ſich kein Bedürfniß gezeigt habe,

nicht unbedenklich erſcheine. f) Der Entwurf von 1847. §. 417. lau-

tete daher:

„Als Polizeivergehen ſind nur ſolche Handlungen oder Unter-

laſſungen zu beſtrafen, welche durch Geſetze oder durch verfaſ-

ſungsmäßig erlaſſene obrigkeitliche Verordnungen polizeilich ver-

boten ſind.“

In dem vereinigten ſtändiſchen Ausſchuß kam man jedoch auf die

frühere Faſſung zurück, und verſtändigte ſich dahin, daß in Zukunft

Polizei-Verbote nicht anders als unter Androhung eines Strafſatzes

ſollten erlaſſen werden können, während ältere Verordnungen auch ohne

eine ſolche Androhung in Kraft blieben. g) Der Entwurf von 1850.

§. 304. hat aber dieſen beſchränkenden Zuſatz nicht aufgenommen, der

auch mit dem in §. 2. ausgeſprochenen allgemeinen Rechtsgrundſatze

unvereinbar geweſen wäre. Gegenwärtig kann alſo nur eine Handlung

polizeilich geahndet werden, die in geſetzlicher Weiſe unter Strafe ge-

ſtellt iſt.

I. Eine Strafbeſtimmung kann nur in einem Geſetze oder in einer

dem Geſetze gleichgeſtellten Verordnung der Behörden angeordnet wer-

den; dem ungeſchriebenen Rechte iſt die gleiche Wirkſamkeit verſagt. Ein

e) Reviſion von 1845. I. S. 252. 253. Vgl. Berathungs-Protokolle

der Staatsraths-Kommiſſion. I. S. 153. 206.

f) Verhandlungen von 1846. S. 196.

g) Verhandlungen des vereinigten ſtändiſchen Ausſchuſſes. IV.

S. 568-71.

[573/0583]

§§. 333-335. Strafen.

in der Kommiſſion der zweiten Kammer deshalb erhobenes Bedenken,

welches namentlich auf etwa beſtehende Lokalgewohnheiten Bezug nahm,

fand keine weitere Berückſichtigung.

II. Ueber die Kompetenz der Behörden, welche Polizeiſtrafen feſt-

ſetzen können, iſt die Gemeindeordnung vom 11. März 1850. §. 8.

(G.-S. S. 216.) und das Geſetz über die Polizeiverwaltung von dem-

ſelben Datum (G.-S. S. 265-68.) §. 5-16. maaßgebend. — Na-

türlich muß eine ſolche Verordnung mit den Geſetzen in Einklang ſtehen

und bedarf wie dieſe der gehörigen Veröffentlichung, um Geltung zu er-

langen.

III. Die allgemeine Beſtimmung des §. 332. bezieht ſich ſowohl

auf ſolche Fälle, in welchen bis zum Erlaß des Verbotes überhaupt

keine Strafandrohung ſtattgefunden hat, als auch auf ſolche, wo ein

allgemeines Strafmaaß für eine gewiſſe Kategorie von Handlungen

durch die Geſetzgebung hypothetiſch aufgeſtellt, die Anwendung des Prin-

cips im Einzelnen aber von beſonderen polizeilichen Anordnungen ab-

hängig gemacht worden iſt. Aus dieſem Grunde wurde in der Kom-

miſſion der zweiten Kammer der Antrag, in §. 340. Nr. 8. wegen Stö-

rung der Sonntagsfeier vor den Worten „erlaſſenen Anordnungen“ noch

„geſetzlich“ hinzuzufügen, als überflüſſig abgelehnt.

§. 333.

Die Strafen der Uebertretungen ſind folgende:

1) polizeiliche Gefängnißſtrafe,

2) Geldbuße,

3) Konfiskation einzelner Gegenſtände.

§. 334.

Die polizeiliche Gefängnißſtrafe beſteht, inſofern nicht das Geſetz ein An-

deres beſtimmt (§. 341.), in einfacher Freiheitsentziehung; die Dauer derſel-

ben beträgt mindeſtens Einen Tag, zu vierundzwanzig Stunden gerechnet, und

höchſtens ſechs Wochen.

§. 335.

Das niedrigſte Maaß der Geldbuße iſt zehn Silbergroſchen, das höchſte

Maaß derſelben funfzig Thaler.

An die Stelle einer Geldbuße, welche wegen Unvermögens des Verurtheil-

ten nicht beigetrieben werden kann, ſoll Gefängnißſtrafe treten.

Die Dauer derſelben ſoll vom Richter ſo beſtimmt werden, daß der Betrag

von zehn Silbergroſchen bis zu zwei Thalern einer Gefängnißſtrafe von Einem

Tage gleich geachtet wird. Die Gefängnißſtrafe darf auch in dieſem Falle nie-

mals die Dauer von ſechs Wochen überſteigen.

[574/0584]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. I. Beſtraf. d. Uebertretungen im Allg.

Während die bei den Uebertretungen zuläſſigen Strafarten ſchon

in dem Entwurf von 1847. ſo feſtgeſtellt waren, daß darüber keine

Meinungsverſchiedenheit mehr beſtand, haben ſich über die Beſtimmung

des höchſten geſetzlichen Strafmaaßes bis zuletzt abweichende Anſichten

geltend gemacht. Mit Rückſicht auf das im Rheiniſchen Strafrecht an-

genommene Maximum von fünf Tagen Gefängniß und funfzehn Fran-

ken Geldbuße, ſo wie auf die in den andern Provinzen geltende Praxis,

welche auf Polizeiſtrafen über vierzehn Tage Gefängniß und zehn Tha-

ler Geldbuße nicht erkannte, beſchloß der vereinigte ſtändiſche Ausſchuß,

die zuletzt genannten Strafſätze als die höchſten im Geſetzbuche aufzu-

ſtellen, während die Regierungsvorlage ſechs Wochen Gefängniß und

funfzig Thaler Geldbuße angenommen hatte. h) Der Entwurf von 1850.

wiederholte ungeachtet jenes Beſchluſſes dieſe letzten Anſätze, indem na-

mentlich dafür angeführt wurde, daß es wünſchenswerth ſei, mehrere

Uebertretungen, welche bisher als Vergehen aufgefaßt worden, wie die

einfache Ehrverletzung, die Bettelei, die Verletzung des Hausrechts, den

Diebſtahl an Eßwaaren, der Kompetenz der Einzelrichter zu überweiſen. i)

Auch die Kommiſſion der zweiten Kammer ſchloß ſich dieſer Auffaſſung

an, und lehnte mehrere, auf Herunterſetzung des höchſten Strafmaaßes

gerichtete Anträge ab; k) ſie wurde dazu namentlich durch die Erwägung

beſtimmt, daß nach §. 336. wegen Rückfalls eine Erhöhung der Strafe

über das höchſte geſetzliche Maaß nicht ſtattfinden ſoll, dieſes alſo für

die erſte Uebertretung verhältnißmäßig niedriger erſcheine, da der Richter

für die Rückfallsſtrafe etwas in Anſchlag zu bringen habe. Laſſe ſich

nun auch nicht ſagen, daß gerade die Hälfte der geſetzlichen Strafe nach

Analogie des §. 58. für den Rückfall zu berechnen ſei, ſo werde doch

immer bei der Strafzumeſſung auf dieſen Umſtand Rückſicht zu nehmen

ſein, und die ſcheinbare Höhe der geſetzlichen Strafe werde dadurch we-

ſentlich ermäßigt. Uebrigens ſei ja auch in den §§. 342. 344. 347.

348. das höchſte Maaß der für die Uebertretungen angenommenen ge-

ſetzlichen Strafe gar nicht zur Anwendung gebracht worden.

Ueber die einzelnen Strafen iſt Folgendes zu bemerken.

I. Die Gefängnißſtrafe (§. 334.). Sie unterſcheidet ſich von

der auf Verbrechen und Vergehen geſetzten (§. 14.) theils durch die

kürzere Dauer, theils durch die größere Milde in der Vollſtreckung. In

letzterer Hinſicht entſpricht die polizeiliche Gefängnißſtrafe am Meiſten

h) Verhandlungen. IV. S. 572-84.

i) Motive zum Entwurf von 1850. §§. 305-7.

k) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer ebendaſ.

[575/0585]

§§. 336-339. Allgemeine Beſtimmungen.

der Einſchließung, was auch durch die Bezeichnung „einfache Frei-

heitsentziehung“ hat ausgedrückt werden ſollen. Es werden daher die

Polizeigefängniſſe von andern Gefangenanſtalten zu trennen ſein, und die

Beſchäftigung des Gefangenen iſt ſeinem Ermeſſen überlaſſen, indem nur

bei den wegen Bettelei Verurtheilten (§. 341.) eine Ausnahme zuge-

laſſen worden iſt. l)

II. Die Geldbuße (§. 335.). Im Gegenſatz zu der Vorſchrift

des §. 17. iſt das niedrigſte Maaß derſelben auf zehn Silbergroſchen

feſtgeſetzt, und auch bei der Strafverwandlung im Falle des Unvermö-

gens ein etwas abweichendes Verhältniß zu der Gefängnißſtrafe ange-

nommen worden. Dagegen entſpricht es der Beſchaffenheit der beiden

Strafarten, daß, wenn ſie, wie bei den Uebertretungen regelmäßig ge-

ſchieht, alternativ angedroht ſind, in den milderen Fällen auf Geldbuße

zu erkennen iſt; vgl. §. 18. und oben S. 119. 120. — Ueber die Um-

ſetzung der Geldbußen in Forſt- oder Gemeindearbeiten, wie es bei den

Forſtkontraventionen und Ueberſchreitungen der Feldpolizei-Ordnung Rech-

tens, iſt in das Geſetzbuch nichts aufgenommen worden; die Kommiſſion

der zweiten Kammer lehnte einen Antrag auf allgemeine Beſtimmungen

dieſer Art ab, und überließ die einzelnen Ausnahmen der Normirung

in den Spezialgeſetzen. m)

III. Die Konfiskation einzelner Gegenſtände; vgl. §. 19.

Die Fälle, in welchen darauf zu erkennen iſt, ſind im Geſetzbuche aus-

drücklich aufgeführt; ſ. §. 340. a. E. §. 345. a. E. §. 348. a. E.

§. 336.

Der Verſuch einer Uebertretung iſt ſtraflos.

Wegen Rückfalls findet eine Erhöhung der Strafe über das höchſte Maaß

nicht ſtatt.

§. 337.

Wenn eine und dieſelbe Handlung die Merkmale mehrerer Uebertretungen

in ſich vereinigt, ſo kommt das Strafgeſetz zur Anwendung, welches die ſchwerſte

Strafe androht.

§. 338.

Hat Jemand mehrere Uebertretungen begangen, ſo kommen die ſämmtlichen

dadurch begründeten Strafen zur Anwendung.

Die Strafe einer Uebertretung wird dadurch nicht ausgeſchloſſen, daß der

Thäter außer der Uebertretung auch noch Verbrechen oder Vergehen began-

gen hat.

l) Kommiſſionsberichta. a. O.

m) a. a. O. Vgl. das Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. X.

[576/0586]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. I. Beſtraf. d. Uebertretungen im Allg.

§. 339.

Die Uebertretungen verjähren, ſoweit nicht das Geſetz ein Anderes beſtimmt

(§. 343.), in drei Monaten von dem Tage gerechnet, an welchem ſie began-

gen ſind.

Wenn die Verjährung unterbrochen wird, die Unterſuchung aber nicht zur

rechtskräftigen Verurtheilung führt, ſo beginnt eine neue Verjährung nach der

letzten gerichtlichen Handlung.

Jeder Antrag und jede ſonſtige Handlung der Staatsanwaltſchaft, ſowie

jeder Beſchluß und jede ſonſtige Handlung des Richters, welche die Eröffnung,

Fortſetzung oder Beendigung der Unterſuchung betrifft, unterbricht die Ver-

jährung.

Die allgemeinen Vorſchriften des erſten Theils beziehen ſich nur

auf die Verbrechen und Vergehen, und es fragt ſich daher, in wieweit

ſie auch auf die Uebertretungen ihre Anwendung finden können. Der

Entwurf von 1847. hatte dem vorgeſehen, indem er verfügte:

§. 418. „Auf die Polizeivergehen und deren Beſtrafung ſind die

im erſten Theile von den Verbrechen und deren Beſtrafung gegebenen

allgemeinen Vorſchriften anzuwenden, jedoch mit den nachfolgenden Ab-

weichungen.“

Eine ſolche Beſtimmung fehlt in dem Strafgeſetzbuch, welches nur

über einzelne Gegenſtände des allgemeinen Theils in Betreff ihres Ver-

hältniſſes zu den Uebertretungen Vorſchriften aufgeſtellt hat. Die ein-

zelnen Lehren werden daher in dieſer Beziehung einer beſonderen Erwä-

gung zu unterziehen ſein. Die einleitenden Beſtimmungen (§§. 1-6.),

welche auch für die Uebertretungen gelten, bedürfen hier keiner weiteren

Erörterung; wegen der im Auslande begangenen Uebertretungen iſt ins-

beſondere auf §. 4. Abſ. 3. zu verweiſen.

I. Ueber die Strafen der Uebertretungen und deren Verhältniß zu

den Beſtimmungen des Th. I. Tit. 1. des Geſetzbuchs iſt ſchon vorher

gehandelt worden.

II. Der Verſuch der Uebertretungen iſt ſtraflos (§. 336. Abſ. 1.).

III. Ueber die Theilnahme finden ſich keine Beſtimmungen; da

aber ein Strafgeſetz ſtreng auszulegen und eine analoge Ausdehnung

nicht zuläſſig iſt, ſo muß angenommen werden, daß weder die Theil-

nahme, noch die Begünſtigung bei Uebertretungen beſtraft werden kann,

und nur den Thäter oder die Thäter die geſetzliche Strafe trifft. Der

Entwurf von 1847. §. 442. ſtellte ihnen noch die Anſtifter und Ge-

hülfen gleich, die vorberathende Abtheilung des ſtändiſchen Ausſchuſſes

trug auf Entfernung dieſer Beſtimmung an, da es ſich hier um Fälle

handle, wo keine eigentliche Rechtsverletzung vorliege, ſondern es ſich

[577/0587]

§§. 336-339. Allgemeine Beſtimmungen.

nur um Strafvorſchriften zum Schutze der öffentlichen Ordnung handle.

Der Ausſchuß trat in Beziehung auf die Gehülfen und Begünſtiger

dem Antrage bei, wollte aber die Strafloſigkeit der Anſtifter nicht aus-

ſprechen. n) Doch läßt ſich auch dieſe rechtfertigen, wie ſich leicht er-

giebt, wenn man die einzelnen Fälle der Uebertretungen näher analyſirt.

Selbſt für die unter die Uebertretungen aufgenommenen Rechtsverletzun-

gen (einfache Ehrverletzung u. ſ. w.) erſcheint die Annahme des Grund-

ſatzes unbedenklich; über Bettelei ſ. §. 341.

IV. Ueber Vorſatz und Fahrläſſigkeit beſtimmte der Entwurf von

1847.

§. 422. „Die Strafe, mit welcher ein Polizeivergehen bedrohet

iſt, ſoll angewendet werden, es mag daſſelbe vorſätzlich oder aus Fahr-

läſſigkeit verübt worden ſein.“

Dieſe Vorſchrift iſt wie alle denſelben Gegenſtand betreffenden aus

dem Strafgeſetzbuch weggelaſſen worden; ſie hat aber ihre innere Be-

gründung, da es bei den Verletzungen eines polizeilichen Verbotes nicht

auf die Abſicht, ſondern nur auf die That in ihrer äußern Erſcheinung

ankommt. o) Doch gilt dieß nicht für ſolche Handlungen, welche eine

wahre Rechtsverletzung enthalten, und nur mit Rückſicht auf das Straf-

maaß unter die Uebertretungen geſtellt ſind. Die einfache Ehrverletzung

z. B. kann ebenſo wenig als eine fahrläſſige gedacht werden, wie die

öffentliche, und der Diebſtahl an Eßwaaren ſetzt einen kriminellen Do-

lus voraus.

V. Jede Handlung, welche mit einer Strafe belegt werden ſoll,

muß auf den Willen des Thäters zurückgeführt werden können; die Un-

zurechnungsfähigkeit (§. 40.) kommt bei Uebertretungen ſo gut wie bei

Verbrechen und Vergehen in Betracht, und iſt auch bei Kindern anzu-

nehmen, die ohne Unterſcheidungsvermögen gehandelt haben. Darüber

bedurfte es keiner beſonderen geſetzlichen Beſtimmung.

VI. Der Rückfall iſt als ein Moment der Strafzumeſſung, wenn

auch nur innerhalb des geſetzlichen Strafmaaßes, anerkannt (§. 336.

Abſ. 2.). Es darf aber, da bei den Uebertretungen eine ſtrengere Rechts-

anwendung nicht zu vermuthen iſt, angenommen werden, daß die §. 58.

aufgeſtellten Bedingungen der Rückfallsſtrafe — alſo Gleichheit der meh-

reren Uebertretungen und vorhergegangene Verurtheilung durch ein Preu-

ßiſches Gericht — auch hier ihre Anwendung finden. Das letztere Er-

n) Verhandlungen. IV. S. 584-86.

o) Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. chap.

LXXXIII. IV. p. 280. 281. Vgl. oben S. 49.

[578/0588]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. II. Uebertr. in Bezieh. a. d. Sicherh. c.

forderniß folgt auch ſchon daraus, daß die im Auslande begangenen

Uebertretungen in der Regel überhaupt nicht beſtraft werden ſollen.

VII. Ueber die Konkurrenz mehrerer Uebertretungen (§§. 337. 338.)

gelten dieſelben Grundſätze, welche §§. 55. und 56. aufgeſtellt ſind.

VIII. Daſſelbe gilt von der Verjährung (§. 339.), inſoweit die,

§§. 45-49. vorkommenden Beſtimmungen auf die Uebertretungen an-

wendbar ſind; die Flucht wegen der über eine Uebertretung eingeleiteten

Unterſuchung wird z. B. nicht zu befürchten ſein. Allein in Beziehung

auf die Dauer der Verjährungsfriſt beſteht eine weſentliche Abweichung:

Uebertretungen verjähren in drei Monaten von dem Tage gerechnet, an

welchem ſie begangen ſind, und nur für die Beleidigung (§. 343.) iſt

die Dauer auf ſechs Monate ausgedehnt worden.

Zweiter Titel.

Uebertretungen in Beziehung auf die Sicherheit des Staa-

tes und die öffentliche Ordnung.

§. 340.

Mit Geldbuße bis zu funfzig Thalern oder Gefängniß bis zu ſechs Wo-

chen wird beſtraft:

1) wer ohne beſondere Erlaubniß Riſſe von Feſtungen oder einzelnen Fe-

ſtungswerken aufnimmt;

2) wer außerhalb ſeines Gewerbebetriebes heimlich oder wider das Verbot

der Behörde Vorräthe von Waffen oder Munition aufſammelt;

3) wer ohne ſchriftlichen Auftrag einer Behörde Stempel, Siegel, Stiche,

Platten oder andere Formen, welche zur Anfertigung von Metall- oder

Papiergeld, oder von ſolchen Papieren, welche nach §. 124. dem Pa-

piergelde gleich geachtet werden, oder von Stempelpapier, öffentlichen

Beſcheinigungen oder Beglaubigungen dienen können, anfertigt, oder an

einen Anderen, als die Behörde, verabfolgt;

4) wer ohne ſchriftlichen Auftrag einer Behörde den Abdruck der in Nr. 3.

genannten Stempel, Siegel, Stiche, Platten oder Formen, oder irgend

einen Druck von Formularen zu den daſelbſt bezeichneten öffentlichen

Papieren, Beglaubigungen oder Beſcheinigungen unternimmt oder Ab-

drücke an einen Anderen, als die Behörde, verabfolgt;

5) wer Waaren-Empfehlungskarten, Ankündigungen, Etiquettes oder andere

Druckſachen, welche in der Form oder Verzierung dem Papiergelde oder

[579/0589]

§§. 340-342. Uebertretungen gegen die Sicherheit des Staats c.

den dem Papiergelde nach §. 124. gleich geachteten Papieren ähnlich

ſind, anfertigt oder verbreitet, oder wer Stempel, Stiche, Platten

oder andere Formen, welche zur Anfertigung von ſolchen Druckſachen

dienen können, anfertigt;

6) wer ohne Genehmigung der Staatsbehörde Ausſteuer-, Sterbe- und

Wittwenkaſſen oder andere dergleichen Geſellſchaften oder Anſtalten er-

richtet, welche beſtimmt ſind, gegen Zahlung eines Einkaufsgeldes oder

gegen Leiſtung von Geldbeträgen, beim Eintritt gewiſſer Bedingungen

oder Termine, Zahlungen an Kapital oder Rente zu leiſten;

7) wer bei Unglücksfällen oder bei einer gemeinen Gefahr oder Noth, von

der Polizeibehörde oder deren Stellvertreter zur Hülfe aufgefordert, keine

Folge leiſtet, obgleich er der Aufforderung ohne erhebliche eigene Ge-

fahr genügen kann;

8) wer den gegen die Störung der Feier der Sonn- und Feſttage erlaſſe-

nen Anordnungen zuwiderhandelt;

9) wer ungebührlicher Weiſe ruheſtörenden Lärm erregt oder groben Unfug

verübt;

10) wer öffentlich Thiere boshaft quält oder roh mißhandelt;

11) wer an öffentlichen Wegen oder Plätzen oder in öffentlichen Verſamm-

lungsorten Hazardſpiele hält.

In den Fällen der Nummern 1., 2., 3., 4., 5. und 11. iſt die Konfiska-

tion der erwähnten Riſſe von Feſtungen oder Feſtungswerken, der Vorräthe

von Waffen oder Munition, der Stempel, Siegel, Stiche, Platten oder ande-

ren Formen, der Abdrücke, oder der auf dem Spieltiſch und in der Bank be-

findlichen Gelder im Urtheile auszuſprechen.

§. 341.

Wer bettelt oder Kinder zum Betteln anleitet oder ausſchickt, oder Perſo-

nen, welche ſeiner Gewalt und Aufſicht untergehen ſind und zu ſeiner Haus-

genoſſenſchaft gehören, vom Betteln abzuhalten unterläßt, wird mit Gefängniß

bis zu ſechs Wochen beſtraft.

Der Verurtheilte kann in der Gefangenanſtalt auf angemeſſene Weiſe be-

ſchäftigt werden.

§. 342.

Wer in Schankſtuben oder an öffentlichen Vergnügungsorten zu einer von

der Polizei verbotenen Zeit, ungeachtet der Wirth, ſein Stellvertreter oder ein

Polizeibeamter ihn zum Fortgehen aufgefordert hat, verweilt, iſt mit Geldbuße

bis zu fünf Thalern zu beſtrafen.

Die Wirthe, welche das Verweilen ihrer Gäſte zu einer von der Polizei

verbotenen Zeit dulden, haben Geldbuße bis zu zwanzig Thalern oder Ge-

fängniß bis zu vierzehn Tagen verwirkt.

Von den in dem Geſetzbuche aufgeführten Uebertretungen ſind hier

[580/0590]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. II. Uebertr. in Bezieh. a. d. Sicherheit c.

wie bei den folgenden Paragraphen einzelne hervorzuheben, welche zu

Bemerkungen Veranlaſſung bieten.

I. Die Vorſchrift über die unbefugte Anfertigung öffentlicher Siegel,

Stempel u. ſ. w. iſt dem Geſetz vom 6. Juni 1835. (G.-S. S. 99.)

entnommen.

II. Nach dem Vorſchlage des Finanzminiſteriums ſollte die Anfer-

fertigung und Verbreitung der dem Papiergelde ähnlichen Waaren-

Empfehlungskarten u. ſ. w. (§. 340. Nr. 5.) im zweiten Theile am

Schluß des ſiebenten Titels bei dem Münzverbrechen behandelt und

mit einer Gefängnißſtrafe von drei Monaten bis zu zwei Jahren be-

droht werden. Die Kommiſſion der zweiten Kammer hielt aber für

die Fälle, wo ohne doloſe Abſicht eine ſolche Handlung vorgenommen

worden, nur die Strafe der Uebertretungen für gerechtfertigt. p)

III. Daß zur Errichtung von Ausſteuer-, Sterbe- und Wittwen-

kaſſen und ähnlichen Geſellſchaften oder Anſtalten die Genehmigung der

Staatsbehörden erforderlich ſein ſoll (§. 340. Nr. 6.), wurde von dem

Kommiſſar des Miniſteriums des Innern in der Kommiſſion der zweiten

Kammer durch das dringende Bedürfniß gerechtfertigt, im Intereſſe des

Publikums und namentlich der weniger bemittelten Klaſſen Vorſorge

vor leichtſinnigen und ſchlecht fundirten Unternehmungen ſolcher Art zu

treffen. Es bedürfe zu dieſem Behuf einer ſorgfältigen, techniſchen

Prüfung derſelben, welche nur von den oberen Staatsbehörden in geeig-

neter Weiſe angeſtellt werden könne; die bloße Genehmigung der Lokal-

obrigkeit genüge daher nicht, und entſpreche auch deswegen nicht ihrem

Zwecke, weil der Geſchäftsbetrieb ſolcher Unternehmungen ſich oft über

weite Gebiete erſtrecke. — Man hielt aus dieſen Gründen die Aufnahme

der betreffenden Vorſchrift für gerechtfertigt, und erkannte die Einwen-

dung, daß das in Art. 30. der Verfaſſungs-Urkunde gewährte freie Ver-

einsrecht dadurch verletzt werde, um deswegen nicht als zutreffend an,

weil im zweiten Abſatz des angeführten Artikels die geſetzliche Regelung

des Vereinsrechts ausdrücklich vorbehalten worden iſt. q)

IV. Die Vorſchrift über die einfache Bettelei und das Verleiten

zum Betteln (§. 341.) ſchließt ſich an diejenigen Beſtimmungen an,

welche in gewiſſen Fällen die Bettelei unter die Strafen der Vergehen

ſtellen (§. 118.). r) — Ein in der Kommiſſion der zweiten Kammer

p) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 312. (340.)

Vgl. oben S. 289.

q) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O. — Be-

richt der Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ.

r) Vgl. oben S. 278. 279.

[581/0591]

§. 343. Beleidigung.

geſtellter Antrag, das Betteln nur dann zu beſtrafen, wenn es ohne

dringende Noth geſchehen, wurde abgelehnt, indem man annahm, daß

nicht jede vereinzelte Bitte um Almoſen für Betteln angeſehen werden

könne, daß die Gemeinden ihre Verpflichtungen gegen die Armen er-

füllen müſſen, und daß eine allgemeine Strafvorſchrift gegen das Betteln

im Intereſſe der öffentlichen Ordnung nicht zu entbehren ſei. s)

V. Die Uebertretungen der polizeilichen Anordnungen über das Ein-

halten der Polizeiſtunde war nach dem Entwurf von 1847. §. 432.

nur mit einer Geldbuße bedroht, und zwar bis zu zwei Thalern, wenn

Gäſte, und bis zu zehn Thalern, wenn Wirthe ſich derſelben ſchuldig

machen. Dabei hätte es füglich bewenden können. — Welche Räum-

lichkeiten übrigens zu den Schankſtuben und öffentlichen Vergnügungs-

orten zu rechnen ſind, iſt nach den Umſtänden zu ermeſſen.

Dritter Titel.

Uebertretungen in Beziehung auf die perſönliche Sicher-

heit, Ehre und Freiheit.

§. 343.

Wer einen Anderen beleidigt, wird mit Geldbuße bis zu funfzig Thalern

oder Gefängniß bis zu ſechs Wochen beſtraft.

Eine Beleidigung verjährt in ſechs Monaten.

Die Beſtrafung einer Beleidigung erfolgt nur auf Antrag; dieſer kann

nicht mehr erhoben werden, wenn von dem Zeitpunkte, an welchem der zum

Antrag Berechtigte von der Beleidigung und von der Perſon des Beleidigers

Kenntniß erhalten hat, drei Monate ohne Rüge verfloſſen ſind.

Im Uebrigen kommen die im dreizehnten Titel des zweiten Theils §§. 153.,

160., 161., 162. gegebenen Beſtimmungen auch hier zur Anwendung.

Die einfache Beleidigung, von welcher die Verleumdung (§. 156.)

wohl zu unterſcheiden iſt, wird nur als eine Uebertretung geahndet;

die allgemeinen Grundſätze über die Beleidigung, namentlich in Betreff

s) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 313.

(341.).

[582/0592]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. III. Uebertr. in Bezieh. a. d. perſ. c.

des bei derſelben vorkommenden Dolus, werden aber durch dieſe, nur

durch das Strafmaaß bedingte Stellung im Syſteme nicht berührt; ſie

finden hier ſo gut wie bei der öffentlichen Beleidigung ihre Anwen-

dung, ſo daß auf die früher hierüber angeſtellte Erörterung (S. 321-25.)

verwieſen werden kann. Im Einzelnen iſt Folgendes zu bemerken. t)

I. Der einfachen Beleidigung ſteht die Majeſtätsbeleidigung (§§.

74-77.), ſo wie die gegen politiſche Körperſchaften, öffentliche Behör-

den u. ſ. w. (§. 102.) und die öffentlich oder ſchriftlich begangene Be-

leidigung gegenüber.

II. Die Berückſichtigung mildernder Umſtände iſt hier nicht beſon-

ders erwähnt, da die geſetzliche Strafe in Geldbuße bis zum niedrigſten

Maaße (§. 335.) beſtehen kann. Dagegen kommen die Beſtimmungen

über die Aufhebung gegenſeitiger Beleidigungen (§. 153.) auch hier zur

Anwendung.

III. Die einfache Beleidigung wird nur auf Antrag beſtraft. Es

ſollen in dieſer Beziehung die Vorſchriften der §§. 160-162. maaß-

gebend ſein; aber auch die allgemeinen Regeln der §§. 50. und 51.,

welche als geſetzliche Folgerungen aus dem für gewiſſe Fälle angenom-

menen Princip des Strafantrags zu betrachten ſind, müſſen hier ihre

Anwendung finden. Anders verhält es ſich mit der §. 52. vorgeſchrie-

benen Untheilbarkeit des Strafantrags gegen mehrere Theilnehmer; dieß

iſt eine aus Gründen der Zweckmäßigkeit aufgeſtellte poſitive Beſtim-

mung, deren analoge Ausdehnung nicht zuläſſig erſcheint, obgleich es

andererſeits nicht verkannt werden kann, daß die verſchiedene Behand-

lung der qualifizirten und der einfachen Beleidigung in dieſer Hinſicht

ihre Bedenken hat.

IV. Daß noch außer der Verſäumung des Strafantrags, wodurch

die Beleidigung ſtraflos wird, eine beſondere Verjährung der Uebertre-

tung in ſechs Monaten vorgeſchrieben iſt, bezieht ſich auf die Fälle,

wo der zum Strafantrag Berechtigte erſt nach dem Ablauf dieſer Zeit

Kenntniß von der Beleidigung und der Perſon des Beleidigers erhalten

hat, oder wo trotz des angebrachten Strafantrags eine neue Verjährung

zu laufen beginnt (§. 339.).

V. Ueber das bei Injurienprozeſſen einzuhaltende Verfahren

verfügt das Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. XVI.

und XVIII.

t) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 315. (343.)

[583/0593]

§. 345. Voreilige Beerdigung. Verkauf von Giften u. ſ. w.

§. 344.

Mit Geldbuße bis zu zwanzig Thalern oder Gefängniß bis zu vierzehn

Tagen wird beſtraft:

1) wer in Städten oder Dörfern übermäßig ſchnell fährt oder reitet, oder

auf öffentlichen Straßen oder Plätzen der Städte oder Dörfer mit ge-

meiner Gefahr Pferde einfährt oder zureitet;

2) wer auf öffentlichen Straßen oder Wegen das Vorbeifahren Anderer

muthwillig verhindert;

3) wer in Städten mit Schlitten ohne feſte Deichſel oder ohne Geläute

oder Schelle fährt;

4) wer Thiere in Städten oder Dörfern, auf öffentlichen Straßen oder

Plätzen, oder an anderen Orten, wo ſie durch Ausreißen, Schlagen

oder auf andere Weiſe Schaden anrichten können, mit Vernachläſſigung

der erforderlichen Sicherheitsmaaßregeln ſtehen läßt oder führt;

5) wer Steine oder andere harte Körper oder Unrath gegen fremde Häu-

ſer, Gebäude oder Einſchließungen, oder in Gärten oder eingeſchloſſene

Räume, oder auf Pferde oder andere Zug- oder Laſtthiere wirft;

6) wer nach einer öffentlichen Straße oder nach Orten hinaus, wo Men-

ſchen zu verkehren pflegen, Sachen, durch deren Umſtürzen oder Herab-

fallen Jemand beſchädigt werden kann, ohne gehörige Befeſtigung auf-

ſtellt oder aufhängt, oder Sachen auf eine Weiſe ausgießt oder aus-

wirft, daß dadurch die Vorübergehenden beſchädigt oder verunreinigt

werden können;

7) wer auf öffentlichen Straßen oder Plätzen Gegenſtände, welche den

freien Verkehr hindern, aufſtellt, hinlegt oder liegen läßt;

8) wer die zur Erhaltung der Sicherheit, Bequemlichkeit, Reinlichkeit und

Ruhe auf den öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen erlaſſenen

Polizeiverordnungen übertritt.

Die hier aufgeſtellten Strafbeſtimmungen ſind zum Theil ſolche,

welche der Feſtſetzung durch die Autonomie beſſer vorbehalten geblieben

wären; wie ſehr kommt es z. B. bei dem unter Nr. 7. vorgeſehenen

Falle auf die beſonderen Räumlichkeiten und den Umfang und die Art

des Verkehrs an. Es iſt indeſſen zu erwarten, daß die allgemeinen

Vorſchriften des Strafgeſetzbuchs durch die Autonomie genauer werden

beſtimmt werden, ſo wie auch bei der Anwendung derſelben auf ein-

zelne Fälle das richterliche Ermeſſen auf die beſonderen Verhältniſſe die

gehörige Rückſicht nehmen wird.

§. 345.

Mit Geldbuße bis zu funfzig Thalern oder Gefängniß bis zu ſechs Wo-

chen wird beſtraft:

[584/0594]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. III. Uebertr. in Bezieh. a. d. perſ. c.

1) wer den polizeilichen Anordnungen über voreilige Beerdigungen entge-

gen handelt;

2) wer ohne polizeiliche Erlaubniß Gift oder Arzeueien, ſoweit deren

Handel nicht durch beſondere Verordnungen freigegeben iſt, zubereitet,

verkauft oder ſonſt an Andere überläßt;

3) wer ohne beſondere Erlaubniß Schießpulver oder andere explodirende

Stoffe oder Feuerwerke zubereitet oder feilhält;

4) wer bei der Aufbewahrung oder bei dem Transporte von Giftwaaren,

Schießpulver oder anderen explodirenden Stoffen oder Feuerwerken,

oder bei Ausübung der Befugniß zur Zubereitung oder Feilhaltung

dieſer Gegenſtände, ſowie der Arzeneien, die deshalb ergangenen Ver-

ordnungen nicht befolgt;

5) wer verfälſchte oder verdorbene Getränke oder Eßwaaren feilhält;

6) wer ohne polizeiliche Erlaubniß an bewohnten oder von Menſchen

beſuchten Orten Selbſtgeſchoſſe, Schlageiſen oder Fußangeln legt,

oder an ſolchen Orten mit Feuergewehr oder anderem Schießwerkzeug

ſchießt;

7) wer Stoß-, Hieb- oder Schußwaffen, welche in Stöcken oder Röhren

oder in ähnlicher Weiſe verborgen ſind, feilhält oder mit ſich führt;

8) wer ohne polizeiliche Erlaubniß gefährliche wilde Thiere hält, oder

wilde oder bösartige Thiere frei herumlaufen läßt, oder in Anſehung

ihrer die erforderlichen Vorſichtsmaaßregeln zur Verhütung von Beſchä-

digungen unterläßt;

9) wer auf öffentlichen Straßen, Wegen oder Plätzen, auf Höfen, in

Häuſern oder überhaupt an Orten, wo Menſchen hinkommen, Brun-

nen, Keller, Gruben, Oeffnungen oder Abhänge dergeſtalt unverdeckt

oder unverwahrt läßt, daß daraus Gefahr für Andere entſtehen kann;

10) wer der polizeilichen Aufforderung, Gebäude, welche den Einſturz dro-

hen, auszubeſſern oder niederzureißen, keine Folge leiſtet;

11) wer Bauten und Reparaturen von Gebäuden, Brunnen, Brücken,

Schleuſen oder anderen Bauwerken vornimmt, ohne die von der Po-

lizei angeordneten oder ſonſt erforderlichen Sicherungsmaaßregeln zu

treffen;

12) wer als Bauherr, Baumeiſter oder Bauhandwerker einen Bau oder

eine Reparatur, wozu die polizeiliche Genehmigung erforderlich iſt,

ohne dieſe Genehmigung oder mit eigenmächtiger Abweichung von

dem durch die Behörde genehmigten Bauplane ausführt oder ausfüh-

ren läßt.

In den Fällen der Nummern 2., 3., 4., 5., 6. und 7. iſt die Konsfiska-

tion des Gifts, der Arzeneien, des Schießpulvers oder der anderen explodi-

renden Stoffe oder Feuerwerke, der verfälſchten oder verdorbenen Getränke

oder Eßwaaren, ingleichen der Selbſtgeſchoſſe, Schlageiſen oder Fußangeln,

ſowie der verbotenen Waffen im Urtheile auszuſprechen.

Die Vorſchriften dieſes Paragraphen beziehen ſich wie die des vor-

hergehenden auf Gegenſtände der Sicherheitspolizei; die höhere Straf-

[585/0595]

§. 345. Voreilige Beerdigung, Verkauf von Giften u. ſ. w.

beſtimmung iſt nach dem Verhältniſſe der größeren Gefährlichkeit der

verbotenen Handlungen angenommen worden. u)

I. An die Beerdigung, welche ohne Vorwiſſen der Behörde ge-

ſchieht (§. 186.), iſt hier die voreilig unternommene angereiht worden,

indem die Uebertretung der darüber erlaſſenen polizeilichen Anordnungen

unter Strafe geſtellt iſt (Nr. 1.). Die Anwendung der Strafbeſtim-

mung ſetzt alſo das Beſtehen einer beſonderen polizeilichen Anordnung

voraus, was in dem Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu

dieſem Paragraphen überſehen worden iſt.

II. Die Beſtimmung über die Aufbewahrung oder den Transport

von Giftwaaren, Schießpulver u. ſ. w. (Nr. 4.) hatte in der Regie-

rungsvorlage noch den Zuſatz „unbeſchadet der beſonderen Strafbeſtim-

mungen, welche in dieſen Verordnungen enthalten ſind.“ Die Kom-

miſſion der zweiten Kammer hielt aber dieſen Zuſatz nicht für gerecht-

fertigt. Handle es ſich nämlich um Fälle, welche in dem Strafgeſetz-

buch nicht vorgeſehen ſind, z. B. um die Verletzung der Vorſchriften

der Gewerbeordnung über die Konceſſion zum Handel mit Gift oder

Schießpulver, ſo erſcheine die fortdauernde Geltung der beſonderen

Strafbeſtimmungen der einzelnen Verordnungen unzweifelhaft; im Uebri-

gen aber laſſe es ſich nicht billigen, eine zwiefache Strafe auf dieſelbe

Uebertretung zu ſetzen. v)

III. Ein Antrag in der Kommiſſion der zweiten Kammer wollte

die allgemeine Vorſchrift unter Nr. 5. auf das Feilhalten ſolcher Ge-

tränke oder Eßwaaren, welche zum Schaden der Geſundheit ver-

fälſcht ſind, beſchränken, damit nicht jede unverfängliche Miſchung mit

Strafe getroffen werde. Der Antrag wurde aber abgelehnt, weil theils

der gewünſchte Zuſatz zu ſehr ſchwierigen Ermittlungen führen würde,

theils überhaupt nicht zu dulden ſei, daß ſolche verfälſchte Waaren ohne

Angabe der Beimiſchung verkauft würden. — Dieſe Auslegung, daß

das Feilhalten ohne Angabe der Beimiſchung ſtatt gefunden habe, muß

bei unſchädlichen Miſchungen als richtig angenommen werden, und liegt

auch in der Bezeichnung „verfälſchen,“ wodurch zugleich die geſchehene

Werthverminderung der ausgebotenen Waaren angedeutet wird. Der

Entwurf von 1847. §. 347., welcher das Feilhalten von Waaren, die

mit ſchädlichen Stoffen gemiſcht ſind, unter einer weit höheren Strafe

u) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 317. (345.).

v) a. a. O. — Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer

ebendaſ.

Beſeler Kommentar. 38

[586/0596]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. III. Uebertr. in Bezieh. a. d. perſ. c.

verbot, ſetzte voraus, daß der Verkäufer die ſchädliche Eigenſchaft ge-

kannt und verſchwiegen habe; vgl. §. 304.

IV. In Betreff der unter Nr. 9. enthaltenen Vorſchrift wurde

in der Kommiſſion der zweiten Kammer die Anſicht geäußert, daß ſie

auf Oeffnungen und Abhänge zu beſchränken ſei, „welche verdeckt zu

ſein pflegen.“ Die Kommiſſion ging aber auf die beantragte Aenderung

nicht ein, indem ſie annahm, daß nur in geeigneten Fällen ein Straf-

antrag gemacht, und ihm nur unter Berückſichtigung der Ortsverhältniſſe

werde nachgegeben werden. Dieſelbe Auffaſſung, welche dem Takte der

Behörden vertraute, ließ ähnliche, in Beziehung auf andere Strafvor-

ſchriften erhobene Bedenken zurückweiſen.

§. 346.

Mit Geldbuße bis zu funfzig Thalern oder Gefängniß bis zu ſechs Wochen

wird beſtraft:

1) wer in die Wohnung, das Geſchäftszimmer oder das befriedigte Beſitz-

thum eines Anderen, oder in abgeſchloſſene Räume, welche zum öffent-

lichen Dienſte beſtimmt ſind, widerrechtlich eindringt, oder, wenn er

ohne Befugniß darin verweilt, auf geſchehene Aufforderung ſich nicht

entfernt;

2) wer Hunde auf Menſchen hetzt;

3) wer vorſätzlich Steine oder andere harte Körper oder Unrath auf Men-

ſchen wirft.

Die Strafbeſtimmung über das widerrechtliche Eindringen in fremde

Wohnungen u. ſ. w. entſpricht der Vorſchrift des §. 214., welcher von

dem Fall handelt, wenn mehrere Perſonen, welche ſich zuſammen ge-

rottet haben, eine ſolche Handlung vornehmen. Im Allgemeinen iſt

auf das S. 403-405. Geſagte zu verweiſen und nur hervorzuheben,

daß in §. 346. dem Eindringen in eine Wohnung das widerrechtliche

Verweilen in derſelben gleichgeſtellt iſt. Die Widerrechtlichkeit bei der

Verletzung des Hausrechts wird aber im Allgemeinen darin beſtehen,

daß eine Perſon unbefugter Weiſe gegen den Willen des Inhabers der

Wohnung u. ſ. w. in dieſelbe eindringt oder daſelbſt verweilt. w)

w) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 318. (346.)

[587/0597]

§§. 347-349. Uebertretungen in Beziehung auf das Vermögen.

Vierter Titel.

Uebertretungen in Beziehung auf das Vermögen.

§. 347.

Mit Geldbuße bis zu zwanzig Thalern oder mit Gefängniß bis zuvierzehn

Tagen wird beſtraft:

1) wer das Raupen, inſofern dies durch geſetzliche oder polizeiliche Anord-

nungen geboten iſt, unterläßt;

2) wer den polizeilichen Anordnungen über die Schließung der Weinberge

entgegen handelt;

3) wer ohne polizeiliche Erlaubniß eine neue Feuerſtätte errichtet oder eine

bereits vorhandene an einen anderen Ort verlegt;

4) wer es unterläßt, dafür zu ſorgen, daß die Feuerſtätten in ſeinem Hauſe

in baulichem und brandſicherem Zuſtande unterhalten, oder daß die

Schornſteine zur rechten Zeit gereinigt werden;

5) wer Waaren, Materialien oder andere Vorräthe, welche ſich leicht von

ſelbſt entzünden, oder leicht Feuer fangen, an Orten oder in Behält-

niſſen aufbewahrt, wo ihre Entzündung gefährlich werden kann, oder

wer Stoffe, die nicht ohne Gefahr einer Entzündung bei einander liegen

können, ohne Abſonderung aufbewahrt;

6) wer Scheunen, Ställe, Böden oder andere Räume, welche zur Aufbe-

wahrung feuerfangender Sachen dienen, mit unverwahrtem Feuer oder

Licht betritt, oder ſich denſelben mit unverwahrtem Feuer oder Licht

nähert;

7) wer an gefährlichen Stellen in Wäldern oder Haiden, oder in ge-

fährlicher Nähe von Gebäuden oder feuerfangenden Sachen Feuer an-

zündet;

8) wer in gefährlicher Nähe von Gebäuden oder feuerfangenden Sachen

mit Feuergewehr ſchießt oder Feuerwerke abbrennt;

9) wer die polizeilich vorgeſchriebenen Feuerlöſchgeräthſchaften entweder gar

nicht oder nicht in brauchbarem Zuſtande hält, oder andere feuerpoli-

zeiliche Anordnungen nicht befolgt;

10) wer unbefugt über Gärten oder Weinberge, oder vor völlig beendeter

Erndte über Wieſen oder beſtellte Aecker, oder über ſolche Aecker, Wie-

ſen, Weiden oder Schonungen, welche mit einer Einfriedigung verſehen

ſind oder deren Betreten durch Warnungszeichen unterſagt iſt, geht,

fährt, reitet oder Vieh treibt. Die beſonderen Beſtimmungen, welche

wegen der Pfändungen bei ſolchen Uebertretungen, ſowie über Weide-

frevel, in den Feldpolizei-Ordnungen enthalten ſind, werden hierdurch

nicht geändert;

11) wer ohne Genehmigung des Jagdberechtigten auf einem fremden Jagd-

reviere außer dem öffentlichen, zum gemeinen Gebrauche beſtimmten

38*

[588/0598]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. IV. Uebertr. in Bezieh. a. d. Vermög.

Wege zwar nicht jagend, aber mit Schießgewehr, Windhunden oder

zum Einfangen des Wildes gebräuchlichen Werkzeugen betroffen wird;

12) wer Eier oder Junge von jagdbarem Federwild ausnimmt.

§. 348.

Mit Geldbuße bis zu dreißig Thalern oder Gefängniß bis zu vier Wochen

werden beſtraft:

1) Schloſſer, welche ohne obrigkeitliche Anweiſung oder ohne Genehmigung

des Inhabers einer Wohnung Schlüſſel zu Zimmern oder Behältniſſen

anfertigen, Schlöſſer an denſelben öffnen, ohne Genehmigung des Haus-

beſitzers oder ſeines Stellvertreters einen Hausſchlüſſel anfertigen,

oder ohne Erlaubniß der Polizeibehörde Nachſchlüſſel oder Dietriche

verabfolgen;

2) Gewerbetreibende, bei denen ein zum Gebrauche in ihrem Gewerbe ge-

eignetes, mit dem Stempel eines inländiſchen Eichungsamtes nicht ver-

ſehenes Maaß oder Gewicht, oder eine unrichtige Waage vorgefunden

wird, oder welche ſich einer anderen Uebertretung der Vorſchriften über

die Maaß- und Gewichts-Polizei ſchuldig machen.

3) Gewerbetreibende, welche in Feuer arbeiten, wenn ſie die Vorſchriften

nicht befolgen, welche von der Polizeibehörde wegen Anlegung und

Verwahrung ihrer Werkſtätten, ſowie wegen der Art und der Zeit, ſich

des Feuers zu bedienen, erlaſſen ſind.

Im Falle der Nr. 2. iſt die Konfiskation des ungeeichten Maaßes und

Gewichtes, ſowie der unrichtigen Waage im Urtheile auszuſprechen.

§. 349.

Mit Geldbuße bis zu funfzig Thalern oder Gefängniß bis zu ſechs Wo-

chen wird beſtraft:

1) wer unbefugt ein fremdes Grundſtück, oder einen öffentlichen oder

Privat-Weg durch Abgraben oder Abpflügen verringert;

2) wer unbefugt von öffentlichen oder Privat-Wegen Erde, Steine oder

Raſen, oder aus Grundſtücken, welche einem Anderen zugehören, Erde

Lehm, Sand, Grand oder Mergel gräbt, oder Steine, Raſen oder

ähnliche Materialien wegnimmt;

3) wer, ohne geſetzlich erſchwerende Umſtände des Diebſtahls, Früchte,

Eßwaaren oder Getränke entwendet und auf der Stelle verzehrt;

4) wer von einem zum Dienſtſtande gehörenden Unteroffizier oder Ge-

meinen, ohne die ſchriftliche Erlaubniß des vorgeſetzten Kommandeurs,

Montirungs- oder Armaturſtücke kauft oder zum Pfande nimmt;

5) wer bei den Uebungen der Artillerie verſchoſſene Eiſenmunition, oder

wer Bleikugeln aus den Kugelfängen der Schießſtände der Truppen

widerrechtlich ſich zueignet;

6) ein Pfandleiher, welcher bei Ausübung ſeines Gewerbes den darüber

geſetzlich erlaſſenen Anordnungen entgegen handelt.

[589/0599]

§§. 347-349. Uebertretungen in Beziehung auf das Vermögen.

Die hier aufgeführten Uebertretungen ſind wieder nach der Gleich-

artigkeit der Strafſätze unter einander zuſammen geſtellt worden, was

zur Folge gehabt hat, daß einzelne zuſammen gehörige Fälle von ein-

ander getrennt ſind. Die Vorſchrift des §. 348. Nr. 3. z. B. würde

ſich auch den allgemeinen Beſtimmungen des §. 347. über die Feuer-

polizei haben anreihen laſſen, zumal eine Zuſammenſtellung der die

Gewerbepolizei betreffenden Strafvorſchriften nicht bezweckt worden iſt;

vgl. §. 342. Abſ. 2. §. 345. Nr. 5. 12. §. 349. Nr. 6.

I. Die in §. 347. Nr. 10. enthaltene Beſtimmung entſpricht in

ihrer Faſſung der Feldpolizeiordnung vom 1. Nov. 1847. §. 41. (G.-S.

S. 383.). Um Mißverſtändniſſen vorzubeugen iſt ausdrücklich geſagt

worden, daß die beſonderen Vorſchriften der Feldpolizeiordnungen über

Pfändungen und Weidefrevel neben dem Strafgeſetzbuch in unverän-

derter Geltung bleiben.

II. In Beziehung auf die Vorſchrift des §. 347. Nr. 11. wurde

in der Kommiſſion der zweiten Kammer das Bedenken geäußert, daß

der Grundeigenthümer, welcher nicht ſelbſt das Jagdrecht ausübe, da-

durch auf eine ſehr läſtige Weiſe beſchränkt werden könne, und ge-

wünſcht, daß das Geſetz in ſeinem Intereſſe eine Ausnahme geſtatten

möge. Dieſes wurde indeſſen für unthunlich gehalten, zugleich aber

bemerkt, daß es den Grundbeſitzern, welche freiwillig oder in Folge ge-

ſetzlicher Anordnung die Jagd auf ihrem Grund und Boden verpachten,

unbenommen bleibe, ſich die ihnen erforderlich ſcheinenden Befreiungen

von den Jagdpächtern auszubedingen. Die Worte „ohne Genehmigung

des Jagdberechtigten“ weiſen auch auf ein ſolches

vertragsmäßiges Ab-

kommen hin.

III. Nach §. 349. Nr. 3. ſoll der Diebſtahl an Eßwaaren nur

dann polizeilich geahndet werden, wenn die Entwendung ohne geſetzlich

erſchwerende Umſtände des Diebſtahls ſtattgefunden hat. In der Kom-

miſſion der erſten Kammer wurde dieſe Beſchränkung angefochten, weil

ſie eine zu große Härte mit ſich führe; bei ſtrenger Auslegung werde

die unerheblichſte Entwendung von geernteten Bodenerzeugniſſen (§. 217.

Nr. 2.), ſo wie eine jede mit einem bloßen Ueberſteigen irgend einer

Einfriedigung verbundene Entwendung von Früchten, ſelbſt wenn ſie

auf der Stelle verzehrt würden, nicht als eine Uebertretung beſtraft wer-

den können. Die Kommiſſion hat jedoch bei der großen Schwierigkeit,

den etwa zu beſorgenden Härten durch eine andere Faſſung abzuhelfen,

ſich dabei beruhigt, daß im einzelnen Fall von der Praxis eine ſolche

Abhülfe zu erwarten ſei. x) — Die Annahme mildernder Umſtände wird

x) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §. 249.

[590/0600]

Th. III. V. d. Uebertretungen. Tit. IV. Uebertr. in Bezieh. a. d. Vermög.

in Fällen dieſer Art wohl immer ſtatt finden; es iſt aber außerdem zu

bemerken, daß es noch ſehr fraglich iſt, ob unter den „geſetzlich erſchwe-

renden Umſtänden“ außer der Qualifikation des ſchweren Diebſtahls

(§. 218.) auch die in §. 217. beſonders ausgezeichneten Fälle des ein-

fachen Diebſtahls zu verſtehen ſind. Was ferner das Einſteigen be-

trifft, ſo kann auch in dieſer Beziehung auf die, S. 420-24. gegebene

Ausführung verwieſen werden, welche zeigt, daß der Begriff dieſer Er-

ſchwerung doch in beſtimmter Beſchränkung aufzufaſſen iſt.

[[591]/0601]

Das Einführungsgeſetz

vom 14. April 1851.

[[592]/0602]

[[593]/0603]

Erſter Abſchnitt.

Allgemeine Beſtimmungen.

Artikel I.

Das Strafgeſetzbuch tritt im ganzen Umfange der Monarchie mit dem

1. Juli 1851. in Kraft.

Bei einer jeden bedeutenden Veränderung in der Geſetzgebung und

vor Allem bei der Erlaſſung eines neuen Geſetzbuchs wird ſich das

Bedürfniß zeigen, zwiſchen dem früheren Rechtszuſtande und den neu

begründeten Rechtsnormen eine Vermittlung zu treffen und die Einfüh-

rung der letzteren in das Rechtsleben und beſonders in die Praxis der

Gerichtshöfe durch beſtimmte Vorſchriften zu erleichtern und zu ſichern.

Es bleibt dabei eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob dieſe vermittelnden

Beſtimmungen dem Geſetzbuche ſelbſt einzuverleiben oder zum Gegen-

ſtande eines beſonderen Einführungsgeſetzes zu machen ſind. Schon

der Entwurf von 1843. wählte dieſen letzteren Weg, der auch in dem

Entwurf von 1847. feſtgehalten worden iſt, und zu der Erlaſſung des

Einführungsgeſetzes vom 14. April 1851. geführt hat. Der letzte

Entwurf zu demſelben iſt auf Grundlage der früheren Arbeiten von der

Staatsregierung der Kommiſſion der zweiten Kammer ſtückweiſe vorge-

legt und nur mit einer mündlichen Motivirung durch den Regierungs-

kommiſſar verſehen worden.

Das Geſetz zerfällt nun in zwei auch formell von einander ge-

trennte Theile. Der erſte Abſchnitt (Art. I-XII.) enthält allgemeine

Beſtimmungen über die Einführung des Strafgeſetzbuchs: von welchem

Zeitpunkte an es in Kraft treten ſoll, welche Strafgeſetze daneben in

[594/0604]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

Geltung bleiben, nach welchen Grundſätzen die Gerichte bei der Abur-

theilung von Handlungen, die noch unter der Herrſchaft des älteren Rechts

begangen worden ſind, zu verfahren haben. Der zweite Abſchnitt

(Art. XIII.-XXVII.) umfaßt diejenigen Vorſchriften, welche ſich auf

die Kompetenz und das Verfahren in Strafſachen beziehen. In dieſer

Hinſicht kam es namentlich darauf an, die Dreitheilung der ſtrafbaren

Handlungen an die beſtehende Organiſation der Strafgerichte anzu-

ſchließen, wobei denn, obgleich in weit geringerem Maaße als vor der

Verordnung vom 3. Januar 1849., auf die Eigenthümlichkeit der Rhei-

niſchen Gerichtsverfaſſung Rückſicht zu nehmen war. Es konnte nicht

überraſchen, daß ſich bei dieſer Gelegenheit der Wunſch nach einer gleich-

mäßigen Strafprozeßordnung für die ganze Monarchie lebhaft äußerte;

aber man war doch von allen Seiten darüber einverſtanden, daß mit

der Veröffentlichung des Strafgeſetzbuchs nicht zu warten ſei, bis die

Geſetzgebung auch jene zweite Aufgabe erfüllt habe, a) und es wurde

daher der nahe liegende Ausweg gewählt, über einzelne Punkte des

Strafprozeſſes, deren unmittelbare Feſtſtellung unerläßlich ſchien, im

Einführungsgeſetze vorläufig die nöthigen Anordnungen zu treffen.

In Betreff der Frage, von welchem Zeitpunkte an das Strafgeſetz-

buch in Kraft treten ſolle, war man allerſeits der Anſicht, daß die ge-

wöhnlichen geſetzlichen Friſten, welche für die Zeit zwiſchen der Veröf-

fentlichung und der Geſetzeskraft gelten, bei einem Werke von einem

ſolchen Umfange und einer ſolchen Bedeutung für ausreichend nicht

erachtet werden könnten. Um aber die Fortdauer eines Rechtszuſtandes

möglichſt abzukürzen, deſſen Unvollkommenheit die Veranlaſſung des

neuen Geſetzbuchs geweſen war, und die ſtets peinliche Periode des

Uebergangs ſo bald wie möglich zu beendigen, entſchloß man ſich, ſchon

mit dem 1. Juli 1851. das Geſetzbuch in Kraft treten zu laſſen. Die

Erfahrung hat dieſen Schritt gerechtfertigt; nur in Betreff der Fürſten-

thümer Hohenzollern iſt in dem Geſetz vom 30. April 1851. §. 1.

(G.-S. S. 188.) jener Zeitpunkt bis auf den 1. Januar 1852. vor-

ſorglich hinausgeſchoben worden.

Artikel II.

Mit dieſem Zeitpunkte (Artikel I.) werden außer Wirkſamkeit geſetzt:alle

Strafbeſtimmungen, die Materien betreffen, auf welche das gegenwärtige

Strafgeſetzbuch ſich bezieht; namentlich der zwanzigſte Titel des zweiten Theils

a) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu dem Einfüh-

rungsgeſetz, Einleitung. — Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer

ebendaſ.

[595/0605]

Art. II. III.

des Allgemeinen Landrechts, das Rheiniſche Strafgeſetzbuch, diegemeinen

Deutſchen Kriminalgeſetze und das in dem Fürſtenthume Hohenzollern-Sigma-

ringen rezipirte Großherzoglich Badiſche Strafgeſetzbuch, nebſt allen dieſelben

ergänzenden, abändernden und erläuternden Beſtimmungen.

Dagegen bleiben in Kraft die beſonderen Strafgeſetze, inſoweit ſie Materien

betreffen, in Hinſicht deren das gegenwärtige Strafgeſetzbuch nichts

beſtimmt,

namentlich die Geſetze über die Beſtrafung der Poſt-, Steuer- und Zoll-Kon-

travenienten, über den Mißbrauch des Vereins- und

Verſammlungsrechts, über

die Beſtrafung des Holzdiebſtahls, über die Widerſetzlichkeiten bei Forſt- und

Jagdvergehen und gegen Zollbeamte.

Artikel III.

Wo in irgend einem Geſetze auf Beſtimmungen des bisherigen Strafrechts

verwieſen wird, treten die Vorſchriften des gegenwärtigen Strafgeſetzbuchs an

deren Stelle.

Zum richtigen Verſtändniß dieſer, in der Faſſung des Geſetzes nicht

gehörig auseinander gelegten Beſtimmungen iſt es zuvörderſt nothwendig,

daß man ſich die Beſchaffenheit der Rechtsquellen, welche vor der

Erlaſſung des Strafgeſetzbuchs in der Preußiſchen Monarchie für das

Strafrecht galten, vergegenwärtige. Es ſind in dieſer Beziehung zu

unterſcheiden:

a. Die allgemeinen Landesgeſetze, welche für den ganzen Umfang

der Monarchie erlaſſen ſind. Dieſelben können als das gemeine Lan-

desrecht bezeichnet werden.

b. In den einzelnen Gebietstheilen finden ſich gewiſſe Rechts-

quellen, welche für den Umfang ihrer Geltung gleichfalls die Bedeu-

tung des gemeinen Rechts haben, und die Grundlage und Hauptquelle

der verſchiedenen in Preußen vorkommenden Rechtsſyſteme bilden. Im

Gegenſatz zu dem gemeinen Landesrecht empfiehlt ſich für dieſe Rechts-

quellen die Benennung: beſchränkt gemeines Recht. Dahin ge-

hörten für das Strafrecht:

1) Das Allgemeine Landrecht, deſſen ſtrafrechtliche Beſtimmungen

in dem zwanzigſten Titel des zweiten Theiles enthalten ſind.

2) Der im Bezirke des Appellationsgerichts zu Köln als Rheini-

ſches Strafgeſetzbuch geltende Code pénal.

3) Das gemeine Deutſche Kriminalrecht, oder wie die im Art. II.

nicht ganz paſſend gewählte Bezeichnung lautet: die gemeinen Deutſchen

Kriminalgeſetze, — in Neuvorpommern und Rügen, dem Bezirke des

Juſtizſenates zu Ehrenbreitſtein und dem Fürſtenthume Hohenzollern-

Hechingen.

4) Das im Fürſtenthume Hohenzollern-Sigmaringen recipirte Ba-

diſche Strafgeſetzbuch.

[596/0606]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

Das beſchränkt gemeine Strafrecht war aber nicht ausſchließlich

in den angeführten Hauptquellen enthalten; deren Inhalt war vielmehr

durch andere Beſtimmungen mannigfach verändert, ergänzt und er-

läutert, und inſofern dieſe Abänderungen in unmittelbarer Beziehung zu

den Hauptquellen ſtanden, und mit ihnen denſelben Umfang der Geltung

hatten, erſchienen ſie als Beſtandtheile des betreffenden

Rechtsſyſtems,

und waren dem beſchränkt gemeinen Rechte beizuzählen.

c. Als dritte Art der Rechtsquellen ſind die Partikularrechte zu

nennen, welche ſich nach dem Umfange ihrer Geltung als Provinzial-

rechte (in dem herkömmlichen, weiteren Sinne des Wortes) oder als

Lokalrechte darſtellen.

Am Wichtigſten nun für das Strafrecht waren die unter b. auf-

geführten Rechtsquellen, welche weitaus den größten Theil der gel-

tenden Beſtimmungen enthielten; auch war das neue Strafgeſetz

zunächſt beſtimmt, an deren Stelle zu treten. Jene Rechtsquellen mußten

daher ausdrücklich und unbedingt aufgehoben werden, und das iſt durch

die Vorſchrift des Art. II. Abſ. 1. geſchehen. Das Strafgeſetzbuch ent-

hält jetzt, nach Beſeitigung des beſchränkt gemeinen Rechts, das gemeine

Preußiſche Kriminalrecht als ein einheitliches Rechtsſyſtem, und davon

iſt die nothwendige Folge, daß, wo in irgend einem Geſetze auf Beſtim-

mungen des bisherigen Strafrechts verwieſen wird, an die Stelle der

Vorſchriften der früher gültigen Rechtsquellen gegenwärtig die des

Strafgeſetzbuchs treten (Art. III.).

Jene Aufhebung der älteren Rechtsquellen iſt aber in Art. II. nicht

in der Form einer ſelbſtändigen, principiellen Vorſchrift ausgeſprochen,

ſondern nur in Verbindung mit einem allgemeinen Rechtsſatze vorge-

ſchrieben worden. Es heißt daſelbſt nämlich:

„Mit dieſem Zeitpunkte (Art. I.) werden außer Wirkſamkeit

geſetzt: alle Strafbeſtimmungen, die Materien betreffen, auf

welche das gegenwärtige Strafgeſetzbuch ſich bezieht; nament-

lich der zwanzigſte Titel“ u. ſ. w.

Es ſcheint hier alſo vorausgeſetzt zu ſein, daß die bezeichneten

Rechtsquellen ihrem Gegenſtande nach ſtets genau mit dem Strafgeſetz-

buch übereinſtimmen, was bei einer näheren Unterſuchung im Einzelnen

ſich kaum als durchaus richtig herausſtellen würde. Möglicher Weiſe

hat aber mit jener Faſſung zunächſt nur ausgedrückt werden ſollen, daß

das Strafgeſetzbuch beſtimmt ſei, als das Eine gemeine Recht an die

Stelle jener verſchiedenen Rechtsſyſteme zu treten, und dieſe Auslegung

wird theils wegen der Vorſchrift des Art. III., theils wegen des in

Art. II. Abſ. 2. hervorgehobenen Gegenſatzes der „beſonderen Straf-

geſetze“ als die der Abſicht des Geſetzgebers entſprechendebezeichnet

[597/0607]

Art. II. III.

werden dürfen. Jedenfalls iſt dieſe Erörterung über den Sinn der

Worte, durch welche das Verhältniß des Strafgeſetzbuchs zu den be-

ſchränkt gemeinen Rechtsquellen beſtimmt worden iſt, von keiner unmit-

telbar praktiſchen Bedeutung. Denn die Vorſchrift des Art. II. Abſ. 1.

iſt ihrem ganzen Umfange nach präceptiv gefaßt, und läßt namentlich

über die unbedingte Aufhebung der genannten Rechtsquellen und der ſie

ergänzenden, abändernden und erläuternden Beſtimmungen keinen Zweifel

übrig.

Es kann alſo der allgemeine Grundſatz hier vorangeſtellt werden:

A. Das Strafgeſetzbuch iſt an die Stelle der früher in

der Preußiſchen Monarchie für das Strafrecht geltenden

beſchränkt gemeinen Rechtsſyſteme getreten.

Aber mit der Aufſtellung dieſes Grundſatzes iſt die Erörterung der

Frage über das Verhältniß des Strafgeſetzbuchs zu den Quellen des

früheren Strafrechts noch nicht erledigt; es muß außerdem noch feſtge-

ſtellt werden, in welches Verhältniß daſſelbe zu dem gemeinen Landes-

recht und zu dem Partikularrechte getreten iſt.

Bei dieſer Unterſuchung iſt nun zunächſt zu erwägen, ob ſie für

dieſe beide Arten der Rechtsquellen gemeinſam anzuſtellen, oder ob in

Betreff des Partikularrechts eine abweichende Auffaſſung nothwendig iſt.

Es iſt dabei zunächſt auf die Worte Rückſicht zu nehmen, welche in

Art. II. Abſ. 1. nach Aufzählung der beſchränkt gemeinen Rechtsquellen,

die durch das Strafgeſetzbuch außer Wirkſamkeit geſetzt worden ſind,

vorkommen und alſo lauten:

„nebſt allen dieſelben ergänzenden, abändernden und erläutern-

den Beſtimmungen.“

Unter dieſen Beſtimmungen hat man, wie oben bemerkt worden,

ohne Zweifel die weiteren Entwicklungen der Hauptquellen des beſchränkt

gemeinen Strafrechts zu verſtehen; es iſt aber auf die angeführten

Worte auch Bezug genommen worden in Betreff eines Antrags der

Pommerſchen Provinzialſtände, welcher darauf gerichtet war, die Auf-

hebung der Partikularrechte noch beſonders auszuſprechen. Auf dieſen

Antrag wurde von Seiten der Staatsregierung nicht eingegangen, „weil

dergleichen Beſtimmungen in der That nur als Abänderungen, Ergän-

zungen oder Erläuterungen des gemeinen Rechts anzuſehen, mithin be-

reits durch den §. II. aufgehoben ſind.“ b) Aber dieſer Anſicht iſt,

weil ſie zu weit geht, nicht beizupflichten; ſie würde unter Anderm, in

ihrer vollen Konſequenz angewandt, zu dem Ergebniß führen, daß auch

b) Motive zum Entwurf von 1847. §. II.

[598/0608]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

alle partikularen Polizeiſtrafgeſetze durch die Vorſchriften des dritten

Theils des Strafgeſetzbuchs außer Kraft geſetzt worden ſind. Man muß

in Betreff des partikularen Rechts vielmehr unterſcheiden:

1) es bezieht ſich auf das Rechtsſyſtem, in deſſen Bereich es

bisher gegolten hat, indem es Beſtimmungen deſſelben ergänzt, abändert

oder erläutert. Iſt dieſes der Fall, ſo iſt das Partikularrecht mit dem

beſchränkt gemeinen Recht, worauf es ſich bezieht aufgehoben; aber

darin unterſcheidet es ſich nicht von den andern Rechtsquellen. Bei

der allgemeinen und unbedingten Faſſung der Vorſchrift des Art. II.

Abſ. 1. tritt dieſelbe Folge für alle Arten abändernder Beſtimmungen,

und alſo auch für das gemeine Landesrecht ein.

2) Das partikulare Recht hat in ſelbſtändiger Geltung neben dem

beſchränkt gemeinen Rechte, in deſſen Gebiete es ſich vorfand, beſtanden,

ohne durch eine beſtimmt erkennbare Beziehung zu demſelben als ein

integrirender Theil des Rechtsſyſtems zu erſcheinen.

In dieſem letzteren Fall iſt das partikulare Recht nach der Vor-

ſchrift des Art. II. Abſ. 1. für unbedingt aufgehoben nicht zu halten;

es kommt vielmehr hier wie bei dem gemeinen Landesrecht auf den

Inhalt ſeiner Beſtimmungen an, — ob dieſelben Materien betreffen,

auf welche das Strafgeſetzbuch ſich bezieht, oder ſolche, in Hinſicht deren

das Strafgeſetzbuch nichts beſtimmt. Liegt das letztere Verhältniß vor,

ſo findet der in Art. II. Abſ. 2. aufgeſtellte Grundſatz ſeine Anwen-

dung. c) Es kann auffallend erſcheinen, daß an dieſer Stelle im Ge-

genſatze zu den vorher im Abſ. 1. aufgeführten Rechtsquellen nur von

„beſonderen Strafgeſetzen“ gehandelt wird, während doch, wie auch die

angeführten Beiſpiele zeigen, vorzugsweiſe das neben dem Strafgeſetz-

buch fortbeſtehende gemeine Landesrecht unter jenem beſonderen Rechte

verſtanden wird. Man iſt aber, wie ſchon bemerkt worden, dabei offen-

bar von der Anſicht ausgegangen, daß das Strafgeſetzbuch das regel-

mäßige Recht im Sinne des jus commune umfaſſe, und daß alles

Recht, welches daneben beſteht, wie auch der Umfang ſeiner Geltung

beſchaffen ſei, als das beſondere Recht ſich darſtellt, mag es nun durch

c) Die hier auf Grund des Einführungsgeſetzes vom 14. April 1851. angeſtellte

Erörterung iſt natürlich von der Entſcheidung der verwandten Rechtsfrage, wie das

Verhältniß des Allg. Landrechts zu dem früher gültigen Provinzial-Strafrechte nach

Art. III. des Publikations-Patents vom 5. Februar 1794. zu beſtimmen war, ganz

unabhängig. In einem Urtheile des Geh. Ober-Tribunals (Entſcheidungen. VI.

S. 86.) iſt die Anſicht ausgeführt, daß das Allg. Landrecht (Th. II. Tit. 20.) den

früheren partikularen Strafbeſtimmungen derogirt habe, inſoweit es nicht ausdrücklich

auf dieſelben verweiſe, ein Satz, der in dieſer Allgemeinheit aufgeſtellt, mit der poſi-

tiven Beſtimmung des Art. III. ſchwer zu vereinen iſt, in der Praxis aber unzweifel-

hafte Anerkennung gefunden hat. Vgl. Wentzel, Ergänzung. S. 4.

[599/0609]

Art. II. III.

den Gegenſtand oder durch die Natur der Beſtimmungen — als jus

speciale oder jus singulare — dieſen Namen verdienen.

Im Anſchluß an das erſte Princip, daß nur die beſchränkt gemei-

nen Rechtsſyſteme mit Inbegriff der ſie ergänzenden, abändernden und

erläuternden Beſtimmungen für unbedingt aufgehoben zu achten ſind,

iſt hier alſo der Grundſatz aufzuſtellen:

B. Das übrige Strafrecht, ſei es gemeines oder par

-tikulares, bleibt neben dem Strafgeſetzbuch in Wirkſamkeit,

inſoweit es Materien betrifft, in Hinſicht deren das Straf-

geſetzbuch nichts beſtimmt.

Es iſt alſo nicht der Zweck der Kodifikation geweſen, das geſammte,

in Preußen geltende Strafrecht in dem Geſetzbuch zuſammen zu faſſen.

Ein bloßes Hülfsrecht ſoll freilich das Geſetzbuch nicht ſein, und für

die Materien, über welche es Beſtimmungen enthält, behauptet es den

Charakter der unbedingten Geltung; aber einzelne Gegenſtände ſind der

Normirung in beſonderen Geſetzen vorbehalten.

Auch die Franzöſiſche Geſetzgebung hat eine ſolche allgemeine Ver-

fügung nicht vermeiden können, und die Kodificirung des neben dem

Geſetzbuche in Geltung bleibenden Strafrechtes nicht verſucht. d) Der

Entwurf des Einführungsgeſetzes von 1847. §. II. ging inſofern auf

eine genauere Feſtſtellung des Gegenſtandes ein, als eine Reihe älterer

Geſetze als fortbeſtehend genannt wurden; doch war auch hier die Klauſel

hinzugefügt:

„Ebenſo ſollen auch ferner in Kraft bleiben alle übrigen be-

ſonderen Strafgeſetze, welche ſolche Materien betreffen, in

Hinſicht deren das gegenwärtige Strafgeſetzbuch nichts be-

ſtimmt.“

Der Entwurf von 1850. hatte ſtatt einer ſolchen Aufzählung nur

einzelne Geſetze beiſpielsweiſe genannt, und auf eine Anfrage der Kom-

miſſion der zweiten Kammer erklärte die Staatsregierung, daß ſie ge-

genwärtig wenigſtens nicht im Stande ſei, ein Verzeichniß ſämmtlicher

in Geltung bleibender Strafgeſetze vorzulegen, für deſſen Vollſtändigkeit

ſie die Verantwortlichkeit übernehmen könne. Wenn ſie daher auch ein

in dem Bericht der Kommiſſion abgedrucktes Verzeichniß mittheilte, e)

ſo erſchien doch, eben weil es kein vollſtändiges war, die Aufnahme

deſſelben in das Einführungsgeſetz nicht räthlich. Dazu kam aber noch

d) Code pénal. Art. 484. Dans toutes les matières qui n'ont pas

été réglées par le présent Code et qui sont regies par des lois et régle-

mens particuliers, les cours et les tribunaux continueront de les observer.

e) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zum Einführungs-

geſetz. Art. II.

[600/0610]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

ein anderes Bedenken. In der Regierungsvorlage Art. II. Abſ. 2. war

der Eingang ſo gefaßt:

„Dagegen bleiben in Kraft alle beſonderen Strafgeſetze, welche

ſolche Materien betreffen, in Hinſicht deren das gegenwärtige

Strafgeſetzbuch nichts beſtimmt.“

Es kam aber dabei in Erwägung, daß, auch abgeſehen von den

durch verſchiedene Geſetzgebungen beherrſchten Rechtsgebieten, z. B. dem

Militairſtrafrecht, nicht ſelten einzelne Fälle vorliegen würden, auf welche

das Strafgeſetzbuch zwar theilweiſe, z. B. hinſichtlich der Strafarten,

der allgemeinen Grundſätze über den Verſuch, zur Anwendung kommen

müſſe, welche aber doch auch nach beſonderen Geſetzen zu beurtheilen

ſeien, weil der ſpezielle Gegenſtand, auf den es ankomme, im Straf-

geſetzbuch nicht normirt worden. Um dieſes Verhältniß genauer aus-

zudrücken, wurde die Faſſung der angeführten Stelle gewählt „inſo-

weit ſie Materien betreffen,“ — und dadurch auch im Bereich der

beſonderen Geſetze, deren fortdauernde Geltung im Allgemeinen feſtſteht,

eine Einwirkung des Strafgeſetzbuchs offen gehalten. Die genauere

Abgrenzung zwiſchen der Herrſchaft des Strafgeſetzbuchs und der beſon-

deren Geſetze ſetzt alſo zweierlei voraus,

einmal die vollſtändige Kenntniß der durch das Strafgeſetzbuch

nicht aufgehobenen Rechtsquellen, und dann

die Feſtſtellung der Punkte, wo das Strafgeſetzbuch und die

beſonderen Geſetze neben einander zur Anwendung kommen

können.

Ließe ſich nun auch die erſte Bedingung durch die Geſetzgebung

erfüllen, ſo wird doch die zweite Aufgabe nur durch die freie Thätigkeit

einer wiſſenſchaftlichen Kritik gelöſt werden können, und dieſe jedenfalls

in Verbindung mit einer umfaſſenden Kaſuiſtik vorher gehen müſſen,

bevor die Geſetzgebung das ganze ſtreitige Gebiet nach feſten Grenzen

abzutheilen vermag.

Eine ſolche kritiſche Bearbeitung des Gegenſtandes iſt nun auch

bereits in dem von Wentzel herausgegebenen Werke unternommen wor-

den. f) Daſſelbe enthält in ſeinem erſten Theile die Erörterung der wich-

tigſten Rechtsgrundſätze, welche für die Anwendung der beſonderen Straf-

geſetze maaßgebend ſind, und den Abdruck der letzteren, inſoweit ſie in

der ganzen Monarchie und in dem Gebiete des Allgemeinen Landrechts

f) Ergänzung des Strafgeſetzbuchs für die Preußiſchen Staaten. Erſter Theil.

Die im ganzen Staate und in den Landestheilen, in denen das Allgemeine Landrecht

eingeführt iſt, neben dem Strafgeſetzbuche noch geltenden Strafgeſetze. Von A.

Wentzel, Erſtem Präſidenten des Kgl. Appellationsgerichts zu Ratiber. Leipzig,

Weidmann'ſche Buchhandlung. 1851.

[601/0611]

Art. II. III.

Geltung haben. Auf dieſes für die praktiſche Jurisprudenz wichtige

Werk kann hier im Allgemeinen verwieſen werden, indem nur vom

Standpunkte der allgemeinen wiſſenſchaftlichen Betrachtung aus einzelne

Bemerkungen an die vorhergegangene Erörterung anzureihen ſind.

I. Die allgemeinen Kategorien, nach welchen die neben dem Straf-

geſetzbuch gültig bleibenden Strafgeſetze aufgeführt werden, laſſen ſich

nach verſchiedenen Geſichtspunkten feſtſtellen; in dem Bericht der Kom-

miſſion der zweiten Kammer ſind ſie in folgender Weiſe bezeichnet:

a. Strafbeſtimmungen, welche ſich in den verſchiedenen Civilgeſetz-

büchern finden. Es enthalten ſowohl die Franzöſiſchen Civilgeſetzbücher,

als insbeſondere das Allgemeine Landrecht, die Allgemeine Gerichts-

ordnung, die Hypotheken- und Depoſital-Ordnung dergleichen Vorſchrif-

ten, über deren fortdauernde Wirkſamkeit, inſofern ſie Materien betreffen,

über welche das Strafgeſetzbuch nichts beſtimmt, kein Zweifel beſtehen

kann.

b. Andere Strafbeſtimmungen ſind in allgemeinen Adminiſtrativ-

Geſetzen enthalten, z. B. in der Gewerbeordnung vom 17. Juni 1845.

c. Außerdem giebt es eine Anzahl beſonderer Strafgeſetze über

einzelne Materien, welche das Strafgeſetzbuch nicht berührt.

II. Die civilrechtlichen Folgen der ſtrafbaren Handlungen beſtehen

unabhängig von den Satzungen des Strafgeſetzbuchs fort. In Betreff

des Rechtes auf Schadenerſatz iſt dieſer Grundſatz in §. 6. ausdrücklich

ausgeſprochen worden; er gilt aber allgemein und folgt aus der ſelbſt-

ſtändigen Herrſchaft des Civilrechts über das ihm zukommende Gebiet.

Der beſondere Vorbehalt wegen der Wuchergeſetze (Art. XI.) iſt auch

nur gemacht worden, weil ohne denſelben bei der in Art. II. ausge-

ſprochenen unbedingten Aufhebung des zwanzigſten Titels zweiten Thei-

les des Allg. Landrechts jene dort vorkommenden civilrechtlichen Vor-

ſchriften gleichfalls außer Wirkſamkeit geſetzt worden wären. Denn daß

geſetzliche Beſtimmungen jeder Art ohne einen ſolchen Vorbehalt mit

dem Geſetze, in welchem ſie ſich befinden, aufgehoben werden, verſteht

ſich von ſelbſt.

III. Die Frage, inwieweit die allgemeinen im Strafgeſetzbuch ent-

haltenen Rechtsgrundſätze, z. B. über Verſuch, Theilnahme, Zurechnungs-

fähigkeit neben den beſonderen Strafgeſetzen zur Anwendung kommen,

ſoll, wie der Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer annimmt, im

einzelnen Fall entſchieden werden, je nach der Qualifikation der Hand-

lung, welche in dem beſonderen Geſetze mit Strafe bedroht iſt, und

nach den Umſtänden und Vorausſetzungen, unter denen daſſelbe erlaſſen

iſt. In der That kann hier ebenſowenig der Grundſatz, daß das neuere

Geſetz dem älteren derogirt, als die freilich beſtrittene Regel, daß ein

Beſeler Kommentar. 39

[602/0612]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

neueres allgemeines Geſetz das ältere beſondere nicht ohne eine ſpezielle

Bezugnahme auf daſſelbe aufhebt, allein die Entſcheidung geben. Es

kommt vielmehr zunächſt auf die Auslegung des Art. II. Abſ. 2. an,

und es iſt im einzelnen Falle feſtzuſtellen, ob es ſich um Materien han-

delt, in Hinſicht deren das Strafgeſetzbuch nichts beſtimmt. Beiſpiels-

weiſe möge auf die Erörterung verwieſen werden, welche oben (S. 135.

136.) über die Stellung unter Polizei-Aufſicht wegen Kontrebande und

Zolldefraudationen gegeben worden iſt. — Liegen übrigens nicht be-

ſtimmte Gründe vor, welche die Anwendung der allgemeinen Grundſätze

des Strafgeſetzbuchs neben dem beſonderen Strafgeſetze ausſchließen,

z. B. in Betreff der Rückfallsſtrafen bei Preßverbrechen (ſ. oben S. 215.),

ſo wird im Allgemeinen anzunehmen ſein, daß die Abſicht des Geſetz-

gebers auf die Herſtellung eines gleichmäßigen Rechtszuſtandes auch in

dieſer Beziehung gerichtet geweſen iſt. Kommt aber noch hinzu, daß

die Faſſung des Strafgeſetzbuchs eine ſolche iſt, welche die betreffende

Regel als die unbedingt geltende Norm für alle Fälle aufſtellt, wie in

§. 2. und 332., ſo kann über ihre nothwendige und allgemeine Geltung

kein Zweifel beſtehen. Denn das neuere unbedingt gebietende Geſetz hebt

jede entgegenſtehende Regel auf.

IV. Wenn eine Vorſchrift des Strafgeſetzbuchs nur hypothetiſch

gegeben iſt, indem das Vorhandenſein beſonderer geſetzlicher Beſtimmun-

gen für die Anwendung des aufgeſtellten Strafmaaßes vorausgeſetzt

wird, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß das Geſetzbuch die beſonderen

Beſtimmungen neben ſich beſtehen läßt. In dieſem Sinne ſind manche

Vorſchriften des dritten Theiles, z. B. §. 340. Nr. 8., §. 345. Nr. 1.

zu beurtheilen, wie denn nicht zu überſehen iſt, daß bei den Uebertre-

tungen im Allgemeinen nur die Aufzählung der wichtigeren Fälle, und

keine eigentliche Kodifikation bezweckt worden iſt. g)

Artikel IV.

Die Strafbarkeit einer Handlung, welche vor dem 1. Juli 1851. begangen

iſt, wird nach den bisherigen Geſetzen beurtheilt. Iſt aber eine ſolche Hand-

lung in dem gegenwärtigen Strafgeſetzbuche mit keiner Strafe, oder mit einer

gelinderen, als der bisher vorgeſchriebenen, bedroht, ſo ſoll dieſe Handlung

nach dem gegenwärtigen Strafgeſetzbuche beurtheilt werden. Iſt es zweifelhaft,

ob die Handlung vor dem 1. Juli 1851. begangen worden, ſo iſt bei der

Entſcheidung das mildere Geſetz anzuwenden.

Die in dem Paragraphen aufgeſtellte Regel entſpricht dem auch in

§. 2. des Strafgeſetzbuchs anerkannten Rechtsgrundſatze, daß kein Geſetz

g) Wentzel, Ergänzung S. 8.

[603/0613]

Art. IV.

eine rückwirkende Kraft haben ſoll. Nur dann iſt aus Gründen der

Billigkeit, welche in allen neueren Geſetzgebungen zur Anwendung ge-

kommen ſind, eine Ausnahme von der Regel vorgeſchrieben, wenn die

vor dem 1. Juli 1851. begangene Handlung h) in dem gegenwärtigen

Strafgeſetzbuche mit keiner Strafe oder mit einer gelinderen bedroht iſt,

und das ſoll auch gelten (in dubiis pro reo!), wenn die Zeit der Ver-

übung nicht genau feſtgeſtellt werden kann.

Der ſchwierige Punkt in Betreff dieſer Beſtimmungen tritt dann

hervor, wenn Zweifel entſtehen, welche von den mehreren Strafen für

die mildere zu halten iſt, ob die in dem früheren Rechte oder die in

dem Strafgeſetzbuch vorgeſchriebene. Eine Veranlaſſung zu ſolchem Zwei-

fel kann ſich aber leicht ergeben, da gerade in Beziehung auf die Straf-

arten ſehr weſentliche Aenderungen eingetreten ſind, die Zuchthausſtrafe

z. B. jetzt eine andere iſt wie nach dem früheren Rechte, und die Eh-

renſtrafen ganz neu geordnet worden ſind.

Ueber dieſe Frage findet ſich im Juſtiz-Miniſterial-Blatt i) auf

Grund einer Entſcheidung des Königlichen Ober-Tribunals eine lehr-

reiche Erörterung.

„Einige haben angenommen, daß man die einzelnen Strafarten zu-

nächſt von einander ſondern, dieſe gegenſeitig abwägen, und dann von

jeder Strafgattung die gelindere anzuwenden habe, ſo daß es z. B. zu-

läſſig ſei, die Freiheitsſtrafe aus dem neuen und die Ehrenſtrafen aus

dem alten Kriminalrecht, — oder die Geldſtrafe aus dem alten und die

zu ſubſtituirende Freiheitsſtrafe aus dem neuen Strafrechte zu verhän-

gen. — Eine andere Anſicht geht noch weiter und will, bevor die Ab-

wägung der verſchiedenen Strafarten gegen einander ſtatt findet, mit

Rückſicht auf den §. 2. des Strafgeſetzbuchs aus den Strafen des neuen

Strafrechts Alles das ausgeſchieden haben, was im Vergleich zu den

Strafen des alten Kriminalrechts als neu zu betrachten iſt.“

„Es war z. B. über einen Angeklagten die Strafe eines zweiten

kleinen gemeinen Diebſtahls zu verhängen. Die Freiheitsſtrafe des al-

ten Rechts geht von 14 Tagen bis zu 8 Wochen Gefängniß, die des

neuen von 1 Monat bis 7½ Jahren Gefängniß. Die Ehrenſtrafe des

alten Strafrechts beſteht der Regel nach in Kokardenverluſt und deſſen

Folgen, die des neuen in Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen

Ehrenrechte auf Zeit. Nach der oben zuerſt erwähnten Anſicht würde

die Freiheitsſtrafe aus dem alten Recht als die geringere zu verhängen

h) In den Fürſtenthümern Hohenzollern iſt natürlich auch hier der 1. Januar

1852. der entſcheidende Zeitpunkt.

i) Jahrgang 1851. S. 275. 276.

39*

[604/0614]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

ſein, ebenſo auch die Ehrenſtrafe des alten Rechts, weil der Verluſt der

Kokarde mit ſeinen Folgen für eine mildere Ehrenſtrafe erachtet wird,

als die zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte.“

„Die zweite oben erwähnte Anſicht ſtimmt dagegen in dieſem letz-

ten Punkt mit der vorſtehenden nicht überein, ſie ſcheidet zunächſt bei

den Ehrenſtrafen wegen des §. 2. l. c. das aus, was im gegenwärti-

gen Strafgeſetzbuche, gegenüber den Ehrenſtrafen des alten Strafrechts,

neu iſt, und kommt dann zu einer Abwägung des Kokardenverluſtes für

immer nach dem alten, und des zeitigen Verluſtes des Rechtes, die Ko-

karde zu tragen, nach dem neuen Recht, und hält inſoweit die Ehren-

ſtrafe des letzteren für milder.“

„Neuerdings iſt dieſe Frage zur Entſcheidung des Königlichen Ober-

Tribunals gelangt, und daſſelbe hat ſich dahin ausgeſprochen:

„daß es unzuläſſig ſei, bei Beſtrafung einer und derſelben

Handlung die Strafe theils aus dem alten, theils aus dem

neuen Strafrecht herzuleiten, und eine Vermiſchung einzelner

Strafbeſtimmungen des ältern und des neuern Rechts, alſo im

Reſultat eine Strafe eintreten zu laſſen, welche weder mit dem

alten, noch mit dem neuen Rechte ſtimme, k) daß vielmehr zur

Entſcheidung, welche Strafe die mildere ſei, die in jedem der

beiden Rechte angedrohte Strafe in ihrer Totalität aufgefaßt

und beide Strafe gegen einander abgewogen werden müßten,

daß zwar hierbei Fälle vorkommen könnten, in denen die Ent-

ſcheidung wegen der innern Verſchiedenheit dieſer Strafen zwei-

felhaft ſein könne, daß dann aber je nach dem konkreten Falle

der Richter zu entſcheiden habe, welche Strafe die gelindere ſei;

daß dieſem Grundſatze endlich auch nicht der §. 2. des

Strafgeſetzbuchs entgegenſtehe, der nur die Beſtimmung habe,

den bekannten Grundſatz des Strafrechts auszuſprechen, daß

keine Strafe ohne Geſetz verhängt werden dürfe, und Straf-

geſetze an und für ſich keine rückwirkende Kraft hätten.“

In Anwendung dieſes Grundſatzes hat der fünfte Senat des Kö-

niglichen Ober-Tribunals in ſeiner Sitzung vom 9. Juli 1851. wegen

vierten einfachen Diebſtahls die in §. 219. des Strafgeſetzbuchs vor-

geſchriebene Strafe als die gelindere zur Anwendung gebracht,“ in Er-

wägung — —

„daß hierbei die Verſchiedenartigkeit der früheren und der jetzi-

gen Zuchthausſtrafe in ihren Wirkungen nicht zu der Folgerung

k) Vgl. Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. I.

chap. II. p. 14.

[605/0615]

Art. V-VII.

führen darf, die neue Zuchthausſtrafe bei Verbrechen, welche

vor dem erſten Juli c. begangen worden, ganz auszuſchließen,

vielmehr das Verhältniß der Strafen des alten und des neuen

Geſetzes nur in ihrer Totalität beurtheilt werden kann, wonach

die neuere Strafbeſtimmung offenbar die gelindere iſt; der alle-

girte Art. IV. eine Vermiſchung einzelner Strafbeſtimmungen

des älteren und neueren Rechts nicht geſtattet, überhaupt an-

genommen werden muß, daß der Geſetzgeber bei dieſer Ueber-

gangsbeſtimmung weſentlich von den Hauptſtrafen, nicht von

den acceſſoriſchen Strafübeln ausgegangen ſei.“

Artikel V.

Die Vollendung der Verjährung einer vor dem 1. Juli 1851. begangenen

ſtrafbaren Handlung wird nach den bisherigen Geſetzen oder nach dem gegen-

wärtigen Strafgeſetzbuche beurtheilt, je nachdem das eine oder das andere dem

Thäter am günſtigſten iſt.

Artikel VI.

Bei Anwendung der Strafe des Rückfalls macht es keinen Unterſchied, ob

die früheren Straffälle vor oder nach dem Eintritte der Geſetzeskraft des ge-

genwärtigen Strafgeſetzbuchs vorgekommen ſind, ob die frühere Strafe eine

ordentliche oder außerordentliche war, ob die Strafe vollſtreckt worden iſt

oder nicht.

Artikel VII.

Der §. 18. der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht wird hierdurch auf-

gehoben.

Die Beſtimmungen des Art. IV. haben

A. in Beziehung auf die Verjährung in Art. V. ihre weitere

Ausführung erhalten, während

B. der Art. VI. über die Anwendung der Rückfallsſtrafe einige

Vorſchriften aufſtellt. Es ſoll nämlich

I. keinen Unterſchied machen, ob die früheren Straffälle vor oder

nach dem Eintritte der Geſetzeskraft des Strafgeſetzbuchs vorgekommen

ſind. Dabei iſt aber im Sinne des Art. IV. anzunehmen, daß die

Frage, ob überhaupt wegen Rückfalls auf eine Strafe zu erkennen iſt,

nach den Grundſätzen des Strafgeſetzbuchs beantwortet werden muß.

II. Die Strafe wegen Rückfalls ſoll auch dann zur Anwendung

kommen, wenn nach der Kriminalordnung vom 11. Dezember 1805.

§. 391-408. in früheren Fällen nur auf eine außerordentliche Strafe

erkannt worden iſt. Die Kommiſſion der zweiten Kammer nahm im

[606/0616]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

Einverſtändniß mit dem Vertreter der Regierung dieſe Beſtimmung in

das Einführungsgeſetz auf, um dadurch eine bisher in der Praxis vor-

gekommene Streitfrage zu erledigen. Das Königliche Ober-Tribunal

und mit ihm die Mehrzahl der Gerichtshöfe haben ſchon ſeit längerer

Zeit die jetzt geſetzlich feſtgeſtellte Anſicht befolgt. l)

III. Um alle Zweifel darüber zu beſeitigen, daß die Rückfallsſtrafe

auch dann eintreten ſoll, wenn die früher erkannte Strafe zur Zeit, wo

das ſpätere Verbrechen oder Vergehen verübt wurde, noch nicht voll-

ſtreckt war, iſt auch darüber eine Beſtimmung aufgenommen worden.

Inſofern durch dieſe Beſtimmung eine Erläuterung des Strafgeſetzbuchs

gegeben werden ſollte, wäre bei deſſen deutlicher Faſſung ein ſolcher

Zuſatz indeſſen nicht erforderlich geweſen; ſ. oben S. 213. 214.

C. In Betreff der zur Zeit der Einführung eines milderen Straf-

geſetzes bereits rechtskräftig erkannten Strafen verfügte das Allgemeine

Landrecht:

Einleitung §. 18. Die Minderung der in einer älteren Ver-

ordnung feſtgeſetzten Strafe kommt auch demjenigen Uebertreter zu Stat-

ten, an welchem dieſe Strafe, zur Zeit der Publication des neueren

Geſetzes, noch nicht vollzogen war.“

Die Regierungsvorlage von 1850. Art. VII. enthielt hierüber fol-

gende Beſtimmung:

„Wir behalten Uns vor, in den Fällen, in welchen die bereits

rechtskräftig erkannte Strafe noch nicht vollſtändig vollſtreckt iſt, das ge-

genwärtige Strafgeſetzbuch aber mildere Beſtimmungen enthält, beſon-

dere Anordnungen zu treffen.

Der §. 18. der Einleitung zum Allgem. Landrecht wird hierdurch

aufgehoben.“

In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde in dieſer Beziehung

von dem Vertreter der Staatsregierung die Erläuterung gegeben, „daß

es die Abſicht der Regierung ſei, dieſe Angelegenheit im adminiſtrativen

Wege zu reguliren, dergeſtalt, daß nach einer zu erlaſſenden Inſtruktion

die Gerichte diejenigen älteren Fälle, für welche nach dem Strafgeſetz-

buche eine mildere Strafe vorgeſchrieben ſei, anzuzeigen hätten, um ge-

eigneten Falles im Wege der Begnadigung eine Strafminderung zu

veranlaſſen.“

„Die Kommiſſiou“, heißt es im Bericht weiter, „hielt es nicht

für ihre Aufgabe, das zu beobachtende Verfahren einer Prüfung zu un-

terwerfen, erklärte ſich aber damit einverſtanden, daß es unausführbar

ſei, eine Reviſion der ſämmtlichen früheren Straffälle im Wege der

l) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Art. VI.

[607/0617]

Art. V-VII.

Rechtsſprechung nach den Strafbeſtimmungen des gegenwärtigen Straf-

geſetzbuches zu veranlaſſen, und daß der Weg der Gnade der allein zu-

läſſige ſei. Es wurde indeß die Streichung des erſten Abſatzes, den

Vorbehalt der Begnadigung enthaltend, beſchloſſen, weil auch ohne dieſe

Beſtimmung der Weg der Gnade und die Ausübung des Begnadigungs-

rechts unverſchränkt ſei und es nicht angemeſſen erſcheine, in einem Ge-

ſetze eine Anordnung zu treffen, welche lediglich ein ausſchließliches

Recht der Krone betrifft.“

Im weiteren Verfolge dieſer Angelegenheit iſt von Seiten des Kö-

niglichen Juſtizminiſteriums eine allgemeine Verfügung vom 25. Mai

1851. erlaſſen, m) deren Mittheilung, da ſie in mehrfacher Hinſicht von

Intereſſe iſt, hier am Platze ſein wird:

„Dieſe Beſtimmung des Einführungsgeſetzes (Art. VII.) beruhet

auf der Erwägung: 1) daß prinzipiell ein ergangenes Erkenntniß da-

durch an ſeiner Bedeutung nichts verlieren kann, daß die Geſetze, unter

deren Herrſchaft es erlaſſen worden, ſpäter eine Abänderung erfahren

haben; 2) daß es in praktiſcher Hinſicht faſt unausführbar ſein würde,

wenn ſämmtliche ergangene Straferkenntniſſe, die noch nicht vollſtändig

vollſtreckt worden, durch die Gerichte einer nochmaligen Reviſion und

Prüfung unterworfen werden ſollten, welche nicht allein auf das gerade

vorliegende Verbrechen, ſondern bei dem ſehr ausgedehnten Arbitrium

des Richters nach dem neuen Strafgeſetze auch auf die individuelle

Strafbarkeit zu richten ſein würde; und 3) daß es überhaupt ſchwierig

und mißlich iſt, die nach einem früheren Syſtem des Strafrechts ge-

troffenen Entſcheidungen nach einem durch ein ſpäteres Strafſyſtem

gegebenen Maaßſtabe zu beurtheilen, da, wenn letzteres ſchon zur Zeit

der Entſcheidung in Kraft geweſen wäre, die Anklage, die Unterſuchung

und das Erkenntniß nicht ſelten eine andere Richtung und eine andere

Grundlage erhalten haben würden.“

„So iſt beiſpielsweiſe die Verheimlichung der Schwangerſchaft und

der Niederkunft, ſo wie die unerlaubte Selbſthülfe im Strafgeſetzbuche

nicht unter Strafe geſtellt. Allein man würde irren, wenn man an-

nehmen wollte, daß nun alle derartigen Fälle, in welchen auf Grund

der älteren Geſetze auf Strafe erkannt worden, nach dem neuen Straf-

geſetzbuche ſtraflos geblieben ſein würden. Anſtatt der Strafe der ver-

heimlichten Schwangerſchaft und Niederkunft würde in ſehr vielen Fäl-

len, wenn nicht auf die Strafe der vorſätzlichen Tödtung, alſo des Kin-

desmordes, ſo doch auf die Strafe der fahrläſſigen Tödtung (§. 184.

des neuen Strafgeſetzbuchs) oder der heimlichen Beerdigung (§. 186. a. a. O.)

m) Juſtiz-Miniſterial-Blatt von 1851. S. 194. 195.

[608/0618]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

zu erkennen geweſen ſein. Anſtatt der Strafe der unerlaubten Selbſt-

hülfe aber würde in vielen, vielleicht in allen irgend erheblichen Fällen

entweder auf die Strafe der Gewalt gegen die Perſon, alſo der Bedro-

hung (§. 212.), oder der Thätlichkeiten (§. 187.), oder auf die Strafe

der Beſchädigung fremden Eigenthums (§. 281.), oder auf die Strafe

des Eindringens in das befriedigte Beſitzthum eines Andern (§§. 214.

346.) zu erkennen geweſen ſein. Dieſe Erwägung iſt auch der Grund

geweſen, weshalb die vereinigten ſtändiſchen Ausſchüſſe im Jahre 1848.

ſich ſo entſchieden gegen die Beibehaltung einer in den meiſten andern

Geſetzgebungen nicht befindlichen Strafbeſtimmung über die unerlaubte

Selbſthülfe ausgeſprochen haben.“

„Nach allem dieſem kann der Umſtand, daß das neue Strafgeſetz-

buch anderweitige Beſtimmungen enthält, für ſich allein keinen hinrei-

chenden Grund abgeben, um den Erlaß oder die Ermäßigung erkannter

Strafen in Antrag zu bringen. Iſt in Veranlaſſung von Begnadi-

gungsgeſuchen oder aus ſonſtigen beſonderen Gründen zu berichten, ſo

ſind nach wie vor die faktiſchen Momente, welche den Erlaß oder die

Ermäßigung der Strafe als angemeſſen erſcheinen laſſen, vorzugsweiſe

ins Auge zu faſſen.“

„Im Uebrigen ſind bereits ſeit geraumer Zeit im Hinblick auf das

neue Strafgeſetzbuch, deſſen Verkündigung in Ausſicht ſtand, zur Mil-

derung derjenigen Strafen, welche als allzuſtreng erſchienen, die erfor-

derlichen Maaßregeln getroffen worden, indem namentlich die Strafen,

welche wegen vierten Diebſtahls oder wegen verheimlichter Schwanger-

ſchaft und Niederkunft, ſo wie diejenigen, welche auf Grund des Rhei-

niſchen Strafgeſetzbuchs wegen einer großen Zahl von Verbrechen ver-

hängt worden waren, in Begnadigungswege herabgeſetzt ſind, oder die

Anordnung ergangen iſt, daß nach Ablauf einer gewiſſen Zeit über die

Führung des Verurtheilten in der Strafanſtalt Bericht erſtattet werden

ſolle. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß es bei dieſen Anordnun-

gen ſein Bewenden behält.“

Artikel VIII.

Wenn in Materien, über welche das gegenwärtige Strafgeſetzbuch keine

Beſtimmungen enthält (Artikel II.), die Geſetze eine Freiheitsſtrafe von mehr

als fünf Jahren androhen, ſo iſt die Handlung ein Verbrechen.

Iſt die Handlung mit einer Freiheitsſtrafe von mehr als ſechs Wochen, je-

doch nicht über fünf Jahre, oder mit einer Geldbuße von mehr als funfzig

Thalern bedroht, oder iſt auf den Verluſt von Aemtern oder auf den Verluſt

des Rechts zum Gewerbebetriebe für immer oder auf Zeit, oder auf Stellung

unter Polizei-Aufſicht zu erkennen, ſo iſt die Handlung ein Vergehen.

[609/0619]

Art. VIII-X.

Beſteht die Strafe nur in einer Freiheitsſtrafe bis zu ſechs Wochen, oder

in Geldbuße bis zu funfzig Thalern, oder iſt die Strafe in den Geſetzen als

eine willkührliche bezeichnet, ſo iſt die Handlung eine Uebertretung. Es macht

dabei keinen Unterſchied, ob neben der eigentlichen Strafe noch auf die Kon-

fiskation einzelner Gegenſtände zu erkennen iſt oder nicht.

Artikel IX.

Auf Zuchthausſtrafe (§. 10. und §. 11. des Strafgeſetzbuchs) ſoll nur bei

Verbrechen (Artikel VIII.) und nicht unter zwei Jahren, überall aber nur dann

erkannt werden, wenn in den bisherigen beſonderen Geſetzen Zuchthaus-, Ar-

beits- oder Feſtungsſtrafe ausſchließlich angedroht iſt.

In allen anderen Fällen, ſowie bei Vergehen, tritt Gefängnißſtrafe oder

Einſchließung ein, auch wenn in den Geſetzen eine andere Art von Freiheits-

ſtrafen angeordnet iſt. Auch kann neben der Gefängnißſtrafe auf zeitige Un-

terſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden, wenn

die angeordnete Freiheitsſtrafe in Zuchthaus-, Arbeits- oder Feſtungsſtrafe

beſteht

Artikel X.

In keinem dieſer Fälle (Artikel VIII. und Artikel IX.) kann, wenn die

Handlung nach dem 1. Juli 1851. begangen worden iſt, auf andere Strafen,

als ſie in dem gegenwärtigen Strafgeſetzbuche angedroht ſind, erkannt werden.

Inſofern jedoch in beſonderen Geſetzen anſtatt der Gefängnißſtrafe oder der

Geldbuße, Forſt- oder Gemeinde-Arbeit angeordnet iſt, behält es hierbei ſein

Bewenden.

Im Art. IV. ſind Beſtimmungen getroffen worden über die Be-

ſtrafung ſolcher Handlungen, welche ihrer Natur nach unter die Vor-

ſchriften des Strafgeſetzbuchs fallen, aber vor dem Eintritt der Geſetzes-

kraft deſſelben begangen worden ſind. Es iſt daſelbſt die Regel auf-

geſtellt, daß in ſolchen Fällen das ältere Strafrecht zur Anwendung

kommen ſoll, falls nicht das Geſetzbuch eine mildere Strafe vorſchreibt,

und dieß gilt auch in Betreff der Strafarten, ſo daß noch eine Zeitlang

die Strafſyſteme beider Rechte neben einander herlaufen werden. Daß

ein ſolcher Zuſtand wenig wünſchenswerth iſt, kann nicht verkannt wer-

den; aber der Beſeitigung deſſelben ſchienen überwiegende Gründe ent-

gegen zu ſtehen. Es war in Betracht zu ziehen, daß in faſt allen äl-

teren Geſetzgebungen, welche das frühere Strafrecht bildeten, Strafen

vorkommen, welche dem neuen Geſetzbuche fremd ſind, z. B. im Rheini-

ſchen Strafgeſetzbuche die Strafe der Deportation und der Verbannung,

und daß es für Fälle dieſer Art ſehr ſchwer iſt, einen richtigen Maaß-

ſtab für die Umwandlung in eine andere Strafe zu finden. Prinzipiell

t rat aber einer ſolchen Maaßregel das Bedenken entgegen, daß dadurch

der ausdrücklich anerkannte Rechtsgrundſatz verletzt werden würde, daß

das neue Geſetz, ſofern es nicht milder iſt, auf frühere Handlungen

[610/0620]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

nicht zurückbezogen werden kann; denn es wird ſich in manchen Fällen

nicht unbedingt behaupten laſſen, daß die ſubſtituirte Strafe milder ſei

als die des älteren Rechts. — Dieſe Gründe, über deren Beweiskraft

man freilich verſchiedener Anſicht ſein kann, ſind jedenfalls die entſchei-

denden geweſen, und haben den Gang der Geſetzgebung in dieſer An-

gelegenheit beſtimmt. n)

Anders wurde dagegen die Sache für den Bereich derjenigen be-

ſonderen Geſetze aufgefaßt, welche neben dem Strafgeſetzbuch auch fer-

ner in Wirkſamkeit bleiben ſollen. Für dieſe Geſetze handelt es ſich

nicht bloß um einen Zuſtand des Uebergangs und der Vermittlung,

ſondern ſie ſollen für die Dauer in Geltung bleiben; wollte man die

Strafarten, welche ſie abweichend vom Strafgeſetzbuch aufſtellen, auch

ſpäter beibehalten, ſo würde ein wahrer Dualismus im Strafrechte,

ſchlimmer als die räumliche Verſchiedenheit des früheren Rechtszuſtan-

des, begründet ſein. Es kommt aber noch hinzu, daß in dieſem Fall

das Verbot der rückwirkenden Kraft der Geſetze der Ausgleichung der

verſchiedenen Strafarten für die nach den erſten Juli 1851. begangenen

Handlungen nicht entgegenſteht, und daß überhaupt bei der Beſchaffen-

heit der in den beſonderen Strafgeſetzen vorkommenden Beſtimmungen,

die meiſtens nur geringere Strafanſätze enthalten, der ganzen Maaß-

regel keine erhebliche Schwierigkeiten bereitet ſind.

Erwägungen dieſer Art waren es, welche die Kommiſſion der

zweiten Kammer veranlaßten, im Einverſtändniß mit der Staatsregie-

rung einige allgemeine Beſtimmungen über das Verhältniß der Strafen

der beſonderen Geſetze zu denen des Geſetzbuchs in das Einführungs-

geſetz aufnehmen. Eine ſolche Maaßnahme war aber nicht bloß nöthig,

um den Gerichtshöfen eine Norm für ihre Urtheilsſprechung zu geben,

ſondern auch wegen der Ordnung der Kompetenzverhältniſſe, welche in

Betreff jener beſonderen Strafgeſetze mit der Dreitheilung des Straf-

geſetzbuchs in Einklang geſetzt werden mußten. Auf dieſe beiden Gegen-

ſtände beziehen ſich daher die Vorſchriften der vorſtehenden Artikel, welche,

um dieß hier ausdrücklich zu wiederholen, mit den dem Strafgeſetzbuch

unterworfenen Handlungen, welche vor deſſen Geſetzeskraft begangen

ſind, in keiner Beziehung ſtehen. o)

n) Allg. Verfügung des Königl. Juſtizminiſteriums vom 24. Juni

1851. (Juſtiz-Miniſterial-Blatt. S. 237.)

o) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Art. VII a. VII b.

VII c. — Ueber die Strafarten, welche gegen die der Civilgerichtsbarkeit unterwor-

fenen, im Militairverbande befindlichen Individuen zur Anwendung kommen, ſ. Allg.

Verfügung des Königl. Juſtizminiſteriums vom 14. Juli 1851. (Juſtiz-

Miniſterial-Blatt. S. 246. 247.)

[611/0621]

Art. VIII-X.

I. Die Verbrechen. Ein ſolches ſoll nur dann angenommen

werden, wenn eine Handlung vorliegt, auf welche eine Freiheitsſtrafe

von mehr als fünf Jahren geſetzt iſt. Dieſe Beſtimmung, welche der

des §. 1. Abſ. 1. des Strafgeſetzbuchs entſpricht, gilt jedoch nur in

Beziehung auf die Zuſtändigkeit der Schwurgerichte; die Auferlegung

der gewöhnlichen Strafe des Verbrechens, nämlich der Zuchthausſtrafe,

iſt noch an andere Bedingungen geknüpft, welche in Art. IX. Abſ. 1.

angegeben ſind.

In Betreff dieſer letzteren Beſtimmung wurde in der Kommiſſion

der erſten Kammer eine Dunkelheit gerügt. „Nach der wörtlichen Faſ-

ſung,“ heißt es in dem Bericht, „könne man dieſelbe dahin auslegen,

daß Zuchthausſtrafe im Sinne des neueren Geſetzes nur bei ſolchen

Handlungen eintreten ſolle, welche

a. in dem älteren Geſetze nicht blos mit einer in ihrem Maximum

das Maaß von fünf Jahren überſchreitenden Freiheitsſtrafe,

ſondern auch

b. ausſchließlich mit Zuchthaus-, Arbeits- oder Feſtungsſtrafe p)

(mithin nicht daneben mit Gefängniß) bedroht ſind,

daß jedoch dann, ohne Rückſicht auf das geringere, in dem älteren

Geſetz ausgeſprochenen Minimum nicht unter zwei Jahren erkannt

werden ſolle.“

Die Kommiſſion war jedoch einſtimmig der Anſicht, daß dieſes

nicht die Abſicht des Geſetzes ſei, daß daſſelbe vielmehr dem Richter die

Befugniß, auf das Minimum des älteren Geſetzes, mithin, wenn das-

ſelbe eine geringere Dauer ergebe, auch unter zwei Jahren zu erkennen,

keineswegs entziehen wolle, und nur eine dritte, zur Anwendung der

Zuchthausſtrafe erforderliche Bedingung dahin aufſtelle, daß dieſelbe

c. nur dann eintreten dürfe, wenn der Richter ein Strafmaaß

von wenigſtens zwei Jahren angemeſſen halte.

Die Kommiſſion beruhigte ſich auch, namentlich mit Rückſicht auf

den erſten Satz des zweiten Abſatzes, bei der ihr vorgelegten Faſſung,

deren Sinn die Kommiſſion der zweiten Kammer nach der ſo eben an-

geführten Auslegung für unzweifelhaft gehalten hatte.

II. Als Vergehen ſollen diejenigen Handlungen betrachtet wer-

den, welche mit einer Freiheitsſtrafe von ſechs Wochen bis zu fünf

Jahren oder mit einer Geldbuße von mehr als 50. Thalern bedroht

ſind. Doch ſoll, ohne Rückſicht auf dieſes Strafmaaß, ſtets ein Ver-

gehen angenommen werden und alſo die Zuſtändigkeit des Einzelrichters

p) S. oben S. 83.

[612/0622]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

ausgeſchloſſen ſein, wenn auf den Verluſt von Aemtern oder des Rechts

zum Gewerbebetrieb für immer oder auf Zeit oder auf Stellung unter

Polizei-Aufſicht zu erkennen iſt (Art. VIII. Abſ. 2.). q)

a. Die früheren Freiheitsſtrafen (Zuchthaus-, Arbeits- oder Fe-

ſtungsſtrafe) kommen nur noch für die Beſtimmung der Kompetenzver-

hältniſſe in Betracht; im richterlichen Urtheile iſt ſtatt deren auf Ge-

fängniß, als die regelmäßige Strafe der Vergehen, oder auf Einſchließung

zu erkennen (Art. IX. Abſ. 2.).

b. Der Verluſt der Nationalkokarde wird nicht mehr ausgeſprochen;

an deren Stelle tritt die zeitige Unterſagung der Ausübung der bürger-

lichen Ehrenrechte. Sie iſt, wie jene Ehrenſtrafe des älteren Rechts,

in das richterliche Ermeſſen geſtellt; während dieß aber nach dem Straf-

geſetzbuch nur bei beſtimmten Vergehen geſchehen iſt, hat für den Be-

reich der beſonderen Strafgeſetze eine andere Kategorie für die Fälle,

wo die Ehrenſtrafe zuläſſig ſein ſoll, aufgeſtellt werden müſſen. Nur

dann nämlich, wenn nach Vorſchrift dieſer Geſetze eine Zuchthaus-,

Arbeits- oder Feſtungsſtrafe angedroht iſt, hat der Richter die Befugniß,

auf jene Ehrenſtrafe zu erkennen (Art. IX. Abſ. 2.).

III. Eine Uebertretung liegt dann vor, wenn eine Freiheits-

ſtrafe bis zu ſechs Wochen oder eine Geldbuße bis zu funfzig Thalern

vorgeſchrieben oder die Strafe in den Geſetzen als eine willkührliche

bezeichnet worden iſt. Doch hört, wie dieß auch nach dem dritten Theile

des Strafgeſetzbuchs der Fall iſt, die Handlung nicht auf, eine Ueber-

tretung zu ſein, wenn neben der eigentlichen Strafe auf die Konfiskation

einzelner Gegenſtände zu erkennen iſt (Art. VIII. Abſ. 3.).

a. In Betreff der willkührlichen Strafe iſt zu bemerken, daß

in der Kommiſſion der zweiten Kammer im Einverſtändniß mit dem

Vertreter der Regierung angenommen wurde, daß auch die Fälle dar-

unter zu befaſſen ſeien, in welchen die Geſetze eine nachdrückliche,

verhältnißmäßige oder angemeſſene Strafe androhen. r) Die

entgegenſtehende, in dem Reſkript vom 7. Februar 1815. (Jahrbücher V.

S. 32.) aufgeſtellte Anſicht hat ſchon früher ihre Widerlegung ge-

funden. s)

b. Ueber das bei der Feſtſtellung einer willkührlichen Strafe ein-

zuhaltende Strafmaaß entſchied bisher die Vorſchrift des Allgemeinen

Landrechts:

q) Vgl. Verordnung vom 3. Jan. 1849. §. 27. (G.-S. S. 19.) und

Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Art. VII a.

r) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O. Auch

die Kommiſſion der erſten Kammer hat ſich den daſelbſt gemachten Bemerkungen in

ihrem Berichte angeſchloſſen.

s) Temme, Handbuch des Preußiſchen Criminalrechts. §. 22.

[613/0623]

Art. VIII-X.

Th. II. Tit. 20. §. 35. „Wenn die Geſetze eine willkührliche

Strafe verordnen, ſo darf dieſelbe nicht über Gefängniß von Sechs

Wochen oder Funfzig Thaler Geldbuße ausgedehnt werden.“

Nach dem Sinne der in Art. VIII. Abſ. 1. enthaltenen Vorſchrift,

welche den Beſtimmungen der §§. 334. 335. des Strafgeſetzbuchs ent-

ſpricht, muß auch jetzt noch dieſes Maaß als das geltende angenommen

werden, obgleich der zwanzigſte Titel aufgehoben worden iſt. Die an-

geführte Geſetzesſtelle enthielt ja auch die Norm für die beſonderen Ge-

ſetze, welche eine willkührliche Strafe aufſtellen, und iſt daher für die

Auslegung derſelben noch jetzt beſtimmend.

IV. Es iſt ſchon bemerkt worden, daß die Artikel VIII-X. in

Beziehung auf die neben dem Strafgeſetzbuche geltenden beſonderen Ge-

ſetze zwei Gegenſtände normiren: die Unterordnung der einzelnen ſtraf-

baren Handlungen unter die Dreitheilung und die Verwandlung der

früher vorgeſchriebenen Strafen in die des Geſetzbuchs. Was namentlich

dieſen letzten Punkt betrifft, ſo iſt zu unterſcheiden, ob die Geſetzesüber-

tretung vor oder nach dem 1. Juli 1851. ſtattgefunden hat. Für

Handlungen, welche vor jenem Zeitpunkte begangen ſind, ſtellt ſich,

was die Strafarten betrifft, im Allgemeinen das gleiche Verhältniß

heraus, mögen ſie nun dem Bereiche des Strafgeſetzbuchs oder dem der

beſonderen Strafgeſetze angehören. Es lag kein genügender Grund vor,

auf dieſe früher begangenen Handlungen ſchon die aufgeſtellten Regeln

über die Strafverwandlung, welche auch die Natur eines neuen Geſetzes

an ſich tragen, zurückwirken zu laſſen, und daher beſtimmt Art. X. ganz

konſequent, daß die Strafen des Geſetzbuchs für Handlungen, welche

nach dem 1. Juli 1851. begangen ſind, ausſchließlich zur Anwendung

kommen ſollen. Nur wegen der Umſetzung der Gefängnißſtrafe und

Geldbuße in Forſt- und Gemeindearbeit behält es bei den beſtehenden

geſetzlichen Beſtimmungen ſein Bewenden; ſ. oben zu §. 334.

Daß ſich die Vorſchrift des Art. X. nicht auf ſolche Handlungen

bezieht, welche unter das Strafgeſetzbuch fallen, erhellt ſchon, abgeſehen

von allen andern Gründen, aus der klaren Wortfaſſung — „In keinem

dieſer Fälle“ — und aus der Anführung des Art. VIII. und IX. Die

ſcheinbar entgegenſtehende Auffaſſung in der Miniſterialverfügung vom

24. Juni 1851. (Juſtiz-Miniſterial-Blatt S. 238.) iſt wohl nur einem

Verſehen in der Faſſung zuzuſchreiben.

Artikel XI.

Die nachſtehenden civilrechtlichen Beſtimmungen des 20. Titels im zweiten

Theile des Allgemeinen Landrechts §§. 1271. 1272. bleiben ferner in Kraft:

Höhere Zinſen, als die Geſetze verſtatten (Theil I. Titel 11. §. 803 ff.

[614/0624]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

Allgemeines Landrecht) können rechtsgültiger Weiſe weder verſprochen

noch gegeben werden.

Was über die geſetzmäßigen Zinſen gezahlt iſt, kann binnen ſechs

Jahren nach völlig abgetragener Schuld annoch zurückgefordert werden.

Ueber dieſen Vorbehalt bei Aufhebung des Tit. 20. Th. II. des

Allg. Landrechts iſt ſchon oben S. 601. gehandelt worden.

Artikel XII.

Im Bezirke des Rheiniſchen Appellationsgerichtshofes kommen folgende Be-

ſtimmungen zur Anwendung:

§. 1.

Die Verjährung der Civilklagen aus ſtrafbaren Handlungen tritt in den

nämlichen Zeiträumen ein, welche für die Verjährung der öffentlichen Klagen

aus ſolchen Handlungen in dem gegenwärtigen Strafgeſetzbuche beſtimmt ſind.

§. 2.

Fabrikbeſitzer, Schiffsrheder und andere Handeltreibende, welche ihre Zah-

lungen einſtellen, können mit Gefängniß bis zu zwei Jahren beſtraft werden:

1) wenn ſie, nach Dotalrecht oder mit vertragsmäßiger Gütertrennung

verheirathet, die Vorſchriften des Artikels 69. des Handelsgeſetzbuchs

nicht befolgt haben;

2) wenn ſie nicht innerhalb der drei Tage nach Einſtellung ihrer Zahlun-

gen die durch Art. 440. des Handelsgeſetzbuchs vorgeſchriebene Erklä-

rung abgegeben haben, oder wenn ihre Erklärung nicht die Namen aller

ſolidariſch haftenden Geſellſchafter enthält;

3) wenn ſie ſich ohne rechtmäßige Verhinderung in den feſtgeſetzten Fällen

und Friſten nicht bei den Agenten und Syndiken perſönlich eingefun-

den oder, nachdem ſie ein freies Geleit erhalten, nicht vor Gericht

geſtellt haben.

Die in den Artikeln 69., 586. bis 599. des Handelsgeſetzbuchs enthaltenen

Strafbeſtimmungen werden aufgehoben.

§. 3.

Der Gläubiger, welcher nach Einſtellung der Zahlungen zu ſeiner Begün-

ſtigung und zum Nachtheile der Geſammtheit der Gläubiger einen beſonderen

Vertrag mit dem Gemeinſchuldner eingeht, oder ſich von demſelben oder an-

deren Perſonen beſondere Vortheile dafür gewähren oder verſprechen läßt, daß

er bei der Berathung und Beſchlußnahme der Gläubiger in einem gewiſſen

Sinne ſtimme, wird mit Gefängniß bis zu Einem Jahre beſtraft. Auch kann

gegen denſelben auf zeitige Unterſagung der Ausübung der bürgerlichen Ehren-

rechte erkannt werden.

§. 4.

Civilſtandsbeamte werden mit Geldbuße bis zu Einhundert Thalern oder

mit Gefängniß bis zu ſechs Monaten beſtraft:

[615/0625]

Artikel XII.

1) wenn ſie ihre Urkunden anders als in die dazu beſtimmten Regiſter

ſchreiben;

2) wenn ſie die Heirathsurkunde einer ſchon verehelicht geweſenen Frau

vor dem Ablaufe der in dem Artikel 228. des Civilgeſetzbuchs feſtge-

ſetzten Friſt aufnehmen;

3) wenn ſie in Fällen, in denen zur Gültigkeit der Ehe die Einwilligung

der Eltern oder anderer Perſonen erforderlich iſt, die Heirathsurkunde

aufnehmen, ohne ſich vorher von dem Daſein dieſer Einwilligung über-

zeugt zu haben.

Die Anwendbarkeit der Beſtimmungen in Nr. 2. und 3. iſt nicht dadurch

bedingt, daß die Gültigkeit der Ehe angefochten wird.

§. 5.

Geiſtliche und andere Religionsdiener, welche zu den religiöſen Feierlich-

keiten einer Heirath ſchreiten, ohne daß ihnen nachgewieſen iſt, daß vorher

eine Heirathsurkunde von dem Civilſtandsbeamten aufgenommen worden ſei,

werden mit Geldbuße bis zu Einhundert Thalern, im zweiten Rückfalle mit

Gefängniß bis zu drei Monaten beſtraft.

§. 6.

Wer einer Entbindung beigewohnt oder ein neugeborenes Kind gefunden

hat, und die ihm durch die Civilgeſetze auferlegte Anmeldung nicht innerhalb

der in denſelben vorgeſchriebenen Friſt bewirkt, wird mit Geldbuße bis zu

Einhundert Thalern oder Gefängniß bis zu ſechs Monaten beſtraft.

Die vorſtehenden Beſtimmungen, welche verſchiedene Gegenſtände

betreffen, beziehen ſich ausſchließlich auf das im Bezirke des Rheiniſchen

Appellationsgerichtshofes geltende Recht.

A. Bereits in dem Entwurf des Einführungsgeſetzes von 1847.

§. XVII. war auf den Vorſchlag der zu der Staatsraths-Kommiſſion

hinzugezogenen Rheiniſchen Juriſten vorgeſchrieben, daß die Verjährung

der Civilklagen aus ſtrafbaren Handlungen in den nämlichen Zeiträu-

men eintreten ſolle, welche für die Verjährung der öffentlichen Klagen

aus ſolchen Handlungen in dem Strafgeſetzbuche beſtimmt ſind. t) Der

Art. XII. §. 1. wiederholt dieſe Vorſchrift, für welche Gründe der

Zweckmäßigkeit ſprechen; für beide Arten der Klagen galt nämlich früher

nach Rheiniſchem Rechte dieſelbe Verjährungsfriſt, u) und da dieſe für

die öffentlichen Klagen im Strafgeſetzbuch weſentlich erweitert iſt, ſo

ſchien es angemeſſen, eine gleiche Veränderung auch für die Civilklagen

eintreten zu laſſen. Einer ausdrücklichen Aufhebung der betreffenden

t) Fernere Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von

1847. S. 39. — Vierte Beilage ebendaſ. S. 26. 27.

u) Code d'instruction crim. Art. 637-43.

[616/0626]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt I.

Stelle der Rheiniſchen Strafprozeßordnung bedurfte es nach den in

Art. II. aufgeſtellten Grundſätzen nicht.

Ein praktiſches Bedenken, welches mit Rückſicht auf die Verſäu-

mung der Privatſtrafanträge (§. 50.) in der Kommiſſion der erſten

Kammer angeregt wurde, erſchien bei näherer Erwägung von keiner

Erheblichkeit; v) dagegen wurde in der Kommiſſion der zweiten Kammer

die Frage aufgeworfen, ob die gleiche Verjährungsfriſt für die Civil-

klagen und die öffentlichen Klagen nicht auch für die übrigen Landes-

theile einzuführen ſei. Man ging jedoch auf dieſe Anſicht nicht ein,

weil ſich für eine ſolche Neuerung kein praktiſches Bedürfniß heraus-

geſtellt habe, und dieſes Einführungsgeſetz jedenfalls nicht der Ort ſei,

umfaſſendere Beſtimmungen über die Verjährung zu treffen. w)

B. Das Rheiniſche Handelsgeſetzbuch ſchreibt namentlich in Art.

69. 440. 466. den Handeltreibenden (commerçans) für den Fall des

Falliments gewiſſe formelle Verpflichtungen vor, deren Vernachläſſigung

mit der Strafe des einfachen oder betrügeriſchen Bankerutts bedroht iſt;

Code de com. Art. 69. 586-599. Nach dem im Strafgeſetzbuch

(§§. 259. 261.) befolgten Syſteme erſcheint aber in ſolchen Fällen nur

die Strafe des einfachen Bankerutts angemeſſen, und die Vorſchrift des

Art. XII. §. 2. hat den Zweck, unter Aufhebung der entgegenſtehenden

Beſtimmungen des Handelsgeſetzbuchs, dieſe Milderung der Strafe ein-

zuführen. Es iſt dabei zu bemerken, daß nur die Straf beſtimmungen

der angeführten Artikel, und nicht ihr weiterer civilrechtlicher Inhalt

aufgehoben iſt. Wenn aber an dieſer Stelle, wie in den früheren Ent-

würfen von „Handeltreibenden“ die Rede iſt, während das Strafgeſetz-

buch ſelbſt „Handelsleute“ nennt, ſo iſt das ein Redaktionsverſehen;

ein verſchiedener Sinn iſt mit dieſen Worten nicht verbunden worden. x)

C. Die Vorſchrift des Art. XII. §. 3. war in dem Entwurf des

Strafgeſetzbuchs von 1850. als §. 238. für die ganze Monarchie in

Vorſchlag gebracht, von der Kommiſſion der zweiten Kammer jedoch

auf den Bereich des Rheiniſchen Handelsrechts beſchränkt und in das

Einführungsgeſetz verwieſen worden. y) Dieſelbe iſt dem Franzöſiſchen

Geſetze vom 28. Mai 1838. entlehnt, und entſpricht den beſonderen

Verhältniſſen des Rheiniſchen Konkursverfahrens, nach welchem der

Zutritt zu dem Konkordat mit dem Fallit gewordenen Schuldner kein

freiwilliger iſt, und daher Vorſorge getroffen werden muß, daß nicht

v) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer zu Art. XII.

w) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer ebendaſ.

x) Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer a. a. O.

y) S. oben S. 496. 497.

[617/0627]

Artikel XII.

durch illoyale Separatverträge mit einzelnen Gläubigern Majoritäts-Be-

ſchlüſſe, welche der Geſammtheit nachtheilig ſind, herbeigeführt werden. z)

D. Auch die in Art. XII. §. 4-6. enthaltenen Beſtimmungen

waren in dem Entwurf von 1850. §. 125-27. im Titel X. unter

den Verbrechen und Vergehen in Beziehung auf den Perſonenſtand auf-

genommen. Man war dabei ohne Zweifel von der Vorausſetzung aus-

gegangen, daß die in Art. 19. der Verfaſſungs-Urkunde in Ausſicht

geſtellte allgemeine Geſetzgebung über die Civilehe bald werde verwirk-

licht werden, wenn auch in den Motiven angegeben wurde, daß §. 125.

und 127. allein auf die Rheinprovinz, und §. 126. nur in Betreff der

Ehen der Juden und Diſſidenten auf die anderen Provinzen Anwendung

finden könnten. In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde jedoch

dieſe letztere Bemerkung nach den beſtehenden Geſetzen a) nicht für ganz

zutreffend gehalten, und es überhaupt bedenklich gefunden, in Erwartung

einer künftigen Geſetzgebung allgemeine Beſtimmungen, welche dieſelbe

vorausſetzen, in das Strafgeſetzbuch aufzunehmen. Wenn es zur all-

gemeinen Einführung der Civilehe komme (und ſie wird über kurz oder

lang erfolgen), ſo laſſe ſich in dem beſonderen Geſetze wegen der erfor-

derlichen Strafvorſchriften ſchon Vorſorge treffen. Auch die Erwägung

machte ſich wohl geltend, daß man die Ungunſt, in welcher gegenwärtig

bei Manchen die Civilehe zu ſtehen ſcheint, nicht auf das Strafgeſetz-

buch, auf deſſen Zuſtandekommen ein ſo großes Gewicht gelegt wurde,

übertragen zu ſehen wünſchte, was doch vielleicht geſchehen wäre, wenn

daſſelbe jene allgemeinen Beſtimmungen beibehalten hätte. Die Kom-

miſſion beſchloß daher zuletzt, die angeführten Paragraphen in das Ein-

führungsgeſetz zu verweiſen, und ihre Geltung auf den Bezirk des

Rheiniſchen Appellationsgerichtshofes zu beſchränken. b)

Die Beſtimmungen ſind übrigens im Weſentlichen die des früheren

Rheiniſchen Strafrechts, c) und nur die Strafanſätze nach dem ganzen

Syſteme des Strafgeſetzbuchs ermäßigt worden. d)

z) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer a. a. O.

a) Verordnung vom 30. März 1847. §. 1. 5-8. 11. (G.-S. S. 125.)

Geſetz vom 23. Juli 1847. §. 8. 9. 12-15. 21. (G.-S. S. 263.)

b) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu §§. 124-27.

c) Code pénal. Art. 192-94.

d) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Art. XII. —

Erklärung des Juſtizminiſters Simons in der Sitzung der zweiten Kammer vom

27. März 1851.

Beſeler Kommentar. 40

[618/0628]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt II.

Zweiter Abſchnitt.

Beſtimmungen über die Kompetenz und das Ver-

fahren in Strafſachen.

Artikel XIII.

In den Landestheilen, in welchen die Verordnung über die Einführung des

mündlichen und öffentlichen Verfahrens vom 3. Januar 1849. Geſetzeskraft

hat, erfolgt die Unterſuchung und Entſcheidung:

in Anſehung der Uebertretungen: durch Einzelrichter;

in Anſehung der Vergehen:

durch Gerichtsabtheilungen, welche aus drei Mitgliedern beſtehen;

in Anſehung der Verbrechen:

durch die Schwurgerichtshöfe.

Artikel XIV.

Im Bezirke des Rheiniſchen Appellationsgerichtshofes erfolgt die Unter-

ſuchung und Entſcheidung:

in Anſehung der Uebertretungen:

durch die Polizeigerichte;

in Anſehung der Vergehen:

durch die Zuchtpolizei-Kammern der Landgerichte;

in Anſehung der Verbrechen:

durch die Schwurgerichtshöfe.

Artikel XV.

Die Gerichtsabtheilungen, welche aus drei Mitgliedern beſtehen, ſowie

die Zuchtpolizei-Kammern der Landgerichte bleiben zur Unterſuchung und

Entſcheidung in Anſehung der Vergehen auch dann kompetent, wenn wegen

Rückfalls auf eine höhere als fünfjährige Gefängnißſtrafe oder Einſchließung

erkannt werden kann.

Während im Art. VIII. Beſtimmungen über die Kompetenzverhält-

niſſe in Betreff der neben dem Strafgeſetzbuch geltenden beſonderen

Strafgeſetze aufgeſtellt ſind, behandelt der zweite Abſchnitt dieſen Gegen-

ſtand mit Beziehung auf das Strafgeſetzbuch ſelber, und ſchließt daran

[619/0629]

Artikel XIII-XV.

einzelne Vorſchriften über das Verfahren in Strafſachen an. Bei dem

Mangel einer allgemeinen Strafprozeßordnung mußte dabei das Gebiet

der Verordnung vom 3. Januar 1849. von dem des Rheiniſchen Rechts

unterſchieden werden.

I. Anſtatt der in der Verordnung vom 3. Januar durchgeführten

Regelung der Kompetenzverhältniſſe iſt die in §. 1. des Strafgeſetzbuchs

aufgeſtellte Dreitheilung maaßgebend geworden; Art. XIII. enthält dar-

über die näheren Beſtimmungen. e)

II. Für den Bezirk des Rheiniſchen Appellationsgerichtshofs galt

bisher ſchon die Dreitheilung, und nur die jetzt geltende Durchführung

derſelben nach den im materiellen Strafrechte vorgenommenen Aende-

rungen war in Art. XIV. auszuſprechen.

III. Die für beide Rechtsgebiete gleich wichtige Frage, wie die

Zuſtändigkeit der Gerichte wegen der vor dem 1. Juli 1851. begangenen

ſtrafbaren Handlungen zu beſtimmen ſei, hat eine allgemeine Verfügung

des Juſtizminiſteriums vom 1. Juli 1851. hervorgerufen, welche ſich

dahin ausſpricht, daß für jene Handlungen die älteren Kompetenzver-

hältniſſe noch maaßgebend ſind, und den Beamten der Staatsanwalt-

ſchaft in dieſem Sinne Anweiſung giebt. f) Auf ein näheres Eingehen

auf dieſen Gegenſtand, der nur durch eine umfaſſende wiſſenſchaftliche

Erörterung zu erledigen ſein würde, kann hier verzichtet werden, da

anzunehmen iſt, daß gegenwärtig die Praxis der Gerichtshöfe ſich ſchon

allenthalben hierüber feſtgeſtellt hat.

IV. Wegen Rückfalls kann die gewöhnliche geſetzliche Strafe um

die Hälfte ihres höchſten Maaßes geſteigert werden, ſo daß alſo z. B.

ein Vergehen, welches mit Gefängniß bis zu fünf Jahren bedroht iſt,

wegen Rückfalls mit Gefängniß von ſieben Jahren und ſechs Monaten

belegt werden kann (§. 58.). Um nun die Anſicht nicht aufkommen zu

laſſen, daß in ſolchen Fällen die für die Vergehen kompetenten Ge-

richtshöfe nicht mehr zuſtändig ſeien, ſondern die Sache vor die Schwur-

gerichtshöfe gehöre, iſt die Beſtimmung des Art. XV. aufgenommen

worden. Vgl. auch unten Art. XXVI.

e) Gegen die Anſicht, daß in Betreff der Zuſtändigkeit der Einzelrichter bei

Uebertretungen unterſchieden werden müſſe, ob die Handlung rein polizeilicher Natur

ſei oder einen kriminellen Charakter (Injurie, Diebſtahl an Eßwaaren u. dgl.) an

ſich trage, — hat ſich das Königliche Juſtizminiſterium in der allgemeinen Ver-

fügung vom 6. Auguſt 1851. (Juſtiz-Miniſterial-Blatt S. 266. 267.) mit Recht

ausgeſprochen.

f) Juſtiz-Miniſterial-Blatt von 1851. S. 238. 239. — Ueber das Verfahren

bei Dienſtvergehen der Rechtsanwalte und Advokaten in den Gerichtsſitzungen f. All-

gemeine Verfügung vom 12. Juli 1851. (Juſtiz-Miniſterial-Blatt S. 250.)

40*

[620/0630]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt II.

Artikel XVI.

Wenn wegen Ehrverletzung und leichter Mißhandlung in den Fällen der

§§. 102., 103., 152. bis 156. und 189. die Staatsanwaltſchaft einſchreitet,

ſo erfolgt die Entſcheidung in Unterſuchungsverfahren.

Schreitet die Staatsanwaltſchaft nicht ein, ſo bleibt in den Landestheilen,

in welchen die Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffent-

lichen Verfahrens vom 3. Januar 1849. Geſetzeskraft hat, dem Verletzten die

Verfolgung im Wege des Civilprozeſſes nach den beſtehenden Vorſchriften un-

benommen. Die einfache Beleidigung (§. 343.) kann nur im Wege des Civil-

prozeſſes verfolgt werden.

Im Bezirke des Rheiniſchen Appellationsgerichtshofes wird an der Befugniß

des Verletzten, als Civilpartei aufzutreten, nichts geändert.

Artikel XVII.

Iſt auf eine von der Staatsanwaltſchaft wegen Ehrverletzung oder leichter

Mißhandlung erhobene Anklage eine gerichtliche Unterſuchung eröffnet, ſo wird

deren Fortgang, ſowie die Erlaſſung und Vollſtreckung des Urtheils weder

durch die Zurücknahme der Ermächtigung oder des Antrages, noch durch die

Verzichtleiſtung auf Beſtrafung gehemmt.

Artikel XVIII.

In den Landestheilen, in welchen das Inſtitut der Schiedsmänner beſteht,

ſoll eine Klage über Ehrverletzungen und leichte Mißhandlungen, ſofern ſie

nur im Wege des Civilprozeſſes verfolgt werden, von den ordentlichen Ge-

richten nicht eher zugelaſſen werden, als bis durch ein von dem Schiedsmann

des Verklagten ausgeſtelltes Atteſt nachgewieſen wird, daß der Kläger die

Vermittelung des Schiedsmannes ohne Erfolg nachgeſucht hat. Dieſe Be-

ſtimmung findet keine Anwendung, wenn der Kläger in einem anderen Gerichts-

bezirke ſeinen Wohnſitz hat, als der Verklagte.

Die Anbringung des Geſuches bei dem Schiedsmann unterbricht die Ver-

jährung.

Dieſe Artikel enthalten Beſtimmungen über das Verfahren wegen

Ehrverletzungen und leichter Mißhandlungen.

I. Im Allgemeinen wird auch hier (Art. XVI.) unterſchieden zwi-

ſchen dem Gebiete der Verordnung vom 3. Januar 1849. und dem des

Rheiniſchen Rechts, für beide jedoch die Fortdauer des beſtehenden Rech-

tes ausgeſprochen. In den Landestheilen, wo jene Verordnung gilt, iſt

daſſelbe in dem Geſetze vom 11. März 1850. §. 5. (G.-S. 174.) ent-

halten; und nur für dieſes die Aenderung beliebt worden, daß die Ver-

folgung der einfachen Beleidigung (§. 343.) ausſchließlich auf den Weg

des Civilprozeſſes verwieſen iſt. Daß auch in den Fällen des §§. 152.

bis 156. der Staatsanwaltſchaft das Recht auf die Verfolgung von

Amtswegen eingeräumt iſt, läßt ſich übrigens mit der Beſtimmung des

§. 160. des Strafgeſetzbuchs ſchwer vereinigen; ſ. oben S. 333.

[621/0631]

Artikel XVI-XVIII.

II. Die Vorſchriften des Art. XVII. ſind aus dem früheren Rechte

beibehalten; g) ihre Ausdehnung auf die Rheinprovinz iſt geſchehen, um

einem von dort aus vielfach geäußerten Bedürfniſſe zu entſprechen. h)

III. In der Kommiſſion der zweiten Kammer wurde es von verſchiede-

nen Seiten zur Sprache gebracht, daß namentlich von den weniger gebil-

deten Volksklaſſen mit der Anſtellung von Injurienprozeſſen ein Mißbrauch

getrieben werde, dem die Geſetzgebung in irgend einer Weiſe entgegen-

treten müſſe; die Zahl der Injurienprozeſſe belaufe ſich jährlich auf

mehr als 80,000., die Gerichte ſeien der ihnen daraus entſtehenden

Geſchäftslaſt kaum mehr gewachſen. Es komme aber hauptſächlich

darauf an, ein Mittel aufzufinden, welches die Parteien abhalte, un-

mittelbar nach dem Streite in der erſten Aufregung ihre Klage anzu-

bringen, und das laſſe ſich erreichen, wenn dem Kläger aufgegeben

werde, bei Anſtellung der Klage ein von dem Schiedsmann des Ver-

klagten ausgeſtelltes Atteſt darüber beizubringen, daß er die Vermittlung

des Schiedsmanns ohne Erfolg nachgeſucht habe.

Gegen den in dieſem Sinne geſtellten Antrag wurden zwar ſehr

erhebliche Bedenken erhoben: es werde dadurch eine Rechtsungleichheit

befördert, da nicht in allen Landestheilen das Inſtitut der Schieds-

männer beſtehe; daſſelbe habe ſich überhaupt nicht bewährt; eine ſolche

Beſchränkung der Rechtsverfolgung ſei grundſätzlich zu verwerfen; die

ganze Einrichtung werde ſich als rein illuſoriſch erweiſen. Indeſſen

glaubte die Mehrheit der Kommiſſion doch einen ſolchen Verſuch machen

zu dürfen, und ſo iſt der Art. XVIII. in das Einführungsgeſetz gekom-

men, indem nur für den Fall, daß der Kläger in einem andern Ge-

richtsbezirke ſeinen Wohnſitz hat als der Beklagte, eine Ausnahme von

der geſetzlichen Vorſchrift gemacht worden iſt. — Unter dem Gerichts-

bezirk iſt übrigens der des Gerichtes erſter Inſtanz zu verſtehen; darauf

weiſt die Abſicht der Ausnahmebeſtimmung hin, die Rechtsverfolgung

nicht zu ſehr zu erſchweren. Auch könnte man ja, wenn die Appel-

lationsinſtanz gemeint ſein ſollte, bis zu dem Gerichte letzter Inſtanz

gelangen, — deſſen Bezirk, für das Obertribunal wenigſtens, faſt die

ganze Monarchie iſt.

g) Verordnung vom 30. Juni 1849. §. 34. (G.-S. S. 233.). — Ge-

ſetz vom 11. März 1850. §. 5. — Vgl. Strafgeſetzbuch §. 53. und oben

S. 203-7. — Ueber das Verfahren der Staatsanwaltſchaft bei Beleidigungen von

Staatsminiſtern ſ. die allgemeine Verfügung vom 23. Juni 1851. (Juſtiz-

Miniſterial-Blatt S. 228.).

h) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Art. XII.

(XVII.).

[622/0632]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt II.

Artikel XIX.

In Anſehung der durch die §§. 36., 75., 77., 79., 87., 100., 101., 102.

des Strafgeſetzbuchs vorgeſehenen Vergehen richtet ſich die Kompetenz der

Schwurgerichtshöfe nach den beſtehenden Vorſchriften.

Ingleichen gehören als politiſche Vergehen vor die Schwurgerichtshöfe die

in den §§. 78., 84., 85., 86., 98., 99. erwähnten ſtrafbaren Handlungen.

Der Art. 94. der Verfaſſungs-Urkunde beſtimmt.

„Bei den mit ſchweren Strafen bedrohten Verbrechen, bei allen

politiſchen Verbrechen und bei allen Preßvergehen, welche das Geſetz

nicht ausdrücklich ausnimmt, erfolgt die Entſcheidung über die Schuld

des Angeklagten durch Geſchworene.“

Im Sinne dieſer Vorſchrift (zu deren Verſtändniß übrigens bemerkt

werden muß, daß zur Zeit der Erlaſſung der Verfaſſungs-Urkunde die

techniſche Unterſcheidung zwiſchen Verbrechen und Vergehen noch nicht

beſtand) waren in der Verordnung vom 3. Januar 1849. §. 61.

(G.-S. S. 24. 25.) und in der Verordnung vom 30. Juni 1849.

§. 39. (G.-S. S. 234. 235.) diejenigen ſtrafbaren Handlungen genauer

bezeichnet worden, welche als politiſche Verbrechen und Preßvergehen

vor die Schwurgerichtshöfe gehörten. Bei der Entwerfung des Ein-

führungsgeſetzes für das Strafgeſetzbuch war die Kommiſſion der zwei-

ten Kammer darauf bedacht, den beſtehenden Rechtszuſtand in dieſer

Beziehung aufrecht zu erhalten. Sie verglich daher die in jenen Ge-

ſetzesſtellen enthaltenen Vorſchriften mit denen des Strafgeſetzbuchs, und

wiederholte in Betreff derſelben die Beſtimmung über die Zuſtändigkeit

der Schwurgerichtshöfe, indem ſie auf die Paragraphen des Geſetzbuchs

verwies, in welchen die einzelnen hierher gehörigen Handlungen mit

Strafe bedroht ſind. Dabei kam nur in Betracht:

a. Daß einzelne dieſer Handlungen im Strafgeſetzbuch unter die

Verbrechen aufgenommen worden ſind, ſo daß die allgemeine Regel über

die Zuſtändigkeit der Schwurgerichtshöfe für dieſelben geltend wurde.

b. Das in §. 93. vorgeſehene Vergehen iſt nach der gegenwär-

tigen Feſtſtellung des Thatbeſtandes mehr polizeilicher als politiſcher

Natur, und daher unter die in Art. XIX. Abſ. 2. aufgezählten Fälle

nicht aufgenommen worden.

c. Zur Zeit der Verhandlungen über das Strafgeſetzbuch war

die Preßgeſetzgebung noch nicht definitiv geordnet. Daher erklärt ſich

die umſchreibende Faſſung des erſten, von den Preßvergehen handeln-

den Abſatzes des Art. XIX. Der Sinn der Geſetzesſtelle geht jedoch

ſchon aus den Anfangsworten des folgenden Abſatzes „Ingleichen

gehören als politiſche Vergehen“ u. ſ. w. — deutlich hervor. i)

i) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Art. XIV. (XIX.).

[623/0633]

Artikel XX.

Die aus dieſen Erwägungen hervorgegangene Faſſung des Art.

XIX. blieb, indem ſie den beſtehenden Rechtszuſtand wahrte, in vollem

Einklang mit dem Art. 94. der Verfaſſungs-Urkunde, welche auch für

Preßvergehen die Regel aufſtellt, daß ſie vor die Schwurgerichtshöfe

gehören, und nur für die im Geſetz ausdrücklich ausgenommenen Fälle

das Gegentheil zuläßt. Dieſer Standpunkt iſt aber ſpäter in dem

Geſetz über die Preſſe vom 12. Mai 1851. §. 27. (G.-S. S. 279. 280.)

verlaſſen worden, indem es daſelbſt heißt:

„Die mittelſt der Preſſe verübten Vergehen, welche mit Frei-

heitsſtrafe von mehr als drei Jahren bedroht ſind, gehören zur

Kompetenz der Schwurgerichte. Im Uebrigen regelt ſich die

Kompetenz der Gerichte zur Aburtheilung der mittelſt der

Preſſe begangenen ſtrafbaren Handlungen nach den Art. XIII.

bis XV. des Geſetzes über die Einführung des Strafgeſetz-

buchs vom 14. April 1851.“

Durch dieſe neuere Beſtimmung, welche den Art. XIX. Abſ. 1. erſetzt

hat, iſt die in der Verfaſſungs-Urkunde vorbehaltene Ausnahme zur Regel

geworden, und die Gerichtsbarkeit über die Preſſe den Schwurgerichts-

höfen thatſächlich faſt ganz entzogen.

Artikel XX.

Soweit durch beſondere Geſetze über Materien, hinſichtlich welcher das

Strafgeſetzbuch nichts beſtimmt, eine über die gegenwärtigen Grenzen der

Polizeiſtrafen (§§. 333., 334., 335. des Strafgeſetzbuchs) hinausgehende

Strafe angeordnet und den Polizeigerichten eine höhere Kompetenz beigelegt

iſt, behält es dabei ſein Bewenden. Jedoch ſind von der Kompetenz der Po-

lizeirichter die Fälle ausgeſchloſſen, in welchen nach den bisherigen beſonderen

Geſetzen auf den Verluſt von Aemtern, oder auf den Verluſt des Rechts zum

Gewerbebetriebe für immer oder auf Zeit, oder auf Stellung unter Polizei-

Aufſicht zu erkennen iſt. Dieſe Fälle ſind als Vergehen zu behandeln.

Dieſe Beſtimmung wird in dem Bericht der Kommiſſion der zweiten

Kammer in folgender Weiſe motivirt:

„In verſchiedenen polizeilichen Verordnungen, z. B. in der Ge-

werbeordnung vom 17. Januar 1845. und dem Geſetze vom 9. Februar

1845. kommen Polizeiſtrafen vor, welche die Summe von 50. Rthlr.

und die Dauer der Gefängnißſtrafe von ſechs Wochen überſteigen. In

Anſehung ſolcher Strafen war nach der bisherigen Geſetzgebung, ſofern

damit nicht andere Strafen, als: Verluſt des Gewerbes u. ſ. w. kon-

kurriren, in den Landestheilen, wo die Verordnung vom 3. Januar

1849. zur Zeit Geſetzeskraft hat, auch der Polizeirichter nach §. 161.

derſelben zur Entſcheidung kompetent, und iſt in Anſehung der Rhein-

[624/0634]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt II.

provinz unter andern durch §. 189. der Gewerbeordnung vom 17. Ja-

nuar 1845. über die Erweiterung der damaligen Kompetenz der Polizei-

gerichte Beſtimmung getroffen.“

„Es iſt von der Kommiſſion im Einvernehmen mit dem Vertreter

der Staatsregierung anerkannt, daß durch die Beſtimmungen des Straf-

geſetzbuchs in Betreff dieſer beſonderen Beſtimmungen über die höhere

Kompetenz der Einzelrichter nichts hat geändert werden ſollen, und ge-

meint, dies in dem Artikel XV. (XX.) beſonders ausdrücken zu müſſen,

um etwaigen Zweifeln zu begegnen.“

Artikel XXI.

Konnexe ſtrafbare Handlungen können zur gleichzeitigen Unterſuchung und

Entſcheidung vor das Gericht gebracht werden, welches kompetent iſt, die

ſchwerſte der für jene Handlungen angedrohten Strafen auszuſprechen.

Vergehen, welche zur Kompetenz der Schwurgerichtshöfe gehören, können

jedoch nicht auf Grund der Konnexität vor ein anderes Gericht als den

Schwurgerichtshof gelangen.

Artikel XXII.

Konnexität iſt insbeſondere vorhanden:

1) wenn die nämliche Perſon verſchiedener ſtrafbarer Handlungen beſchul-

digt wird,

2) wenn verſchiedene Perſonen als Urheber, Theilnehmer oder Begünſtiger

einer ſtrafbaren Handlung oder als Hehler beſchuldigt werden.

Artikel XXIII.

Iſt gegen einen Beſchuldigten wegen mehrerer ſtrafbarer Handlungen eine

Vorunterſuchung eingeleitet, und iſt mit Rückſicht auf diejenigen derſelben,

welche mit ſchwererer Strafe bedroht ſind, zu erwarten, daß die Feſtſtellung

der leichteren Straffälle für die Entſcheidung nicht von weſentlicher Bedeutung

ſein werde, ſo kann die Unterſuchung wegen der letzteren einſtweilen bis zur

rechtskräftigen Entſcheidung über die ſchwereren Straffälle ruhen bleiben.

Die Wiederaufnahme der Unterſuchung wird dem Ermeſſen der Staats-

anwaltſchaft überlaſſen.

I. Die Artikel XXI. und XXII. verfügen über die prozeſſualiſche

Behandlung konnexer Straffälle, indem Art. XXI. Abſ. 1. die Regel

aufſtellt, und Art. XXII. dieſelbe durch die Anführung einzelner beſon-

ders wichtiger Beiſpiele erläutert. Eine Ausnahme war nur in Arti-

kel XXI. Abſ. 2. in Betreff der in Art. XIX. vorgeſehenen Verge-

hen zu machen.

II. Die Vorſchrift des Art. XXIII. iſt durch den in §. 56. aus-

geſprochenen Grundſatz über die Beſtrafung eines Angeſchuldigten im

Falle der realen Konkurrenz mehrerer Verbrechen oder Vergehen hervor-

gerufen worden. Indem nämlich feſtgeſetzt iſt, daß auf alle durch die

[625/0635]

Artikel XXI-XXVI.

verſchiedenen Handlungen verwirkten Strafen vereinigt erkannt werden

ſoll, kann es geſchehen, daß die Verhandlungen über die wichtigeren

Fälle in einer kaum zu rechtfertigenden Weiſe verzögert werden müßten,

wenn man dieſelben bis zur Erledigung auch der geringfügigen An-

ſchuldigungen aufſchieben wollte. Schon bei der Aufſtellung des §. 56.

wurde es in der Kommiſſion der zweiten Kammer vorbehalten, bei der

Berathung des Einführungsgeſetzes auf dieſen Gegenſtand zurück zu

kommen, und eine dem praktiſchen Bedürfniſſe entſprechende Beſtimmung

zu treffen. k) Eine ſolche iſt nun im Art. XXIII. gegeben; ſie hat

zwar, namentlich inſofern ſie die Wiederaufnahme der Unterſuchung in

das Ermeſſen der Staatsanwaltſchaft ſtellt, manche Bedenken hervor-

gerufen; aber bei ſorgfältiger Erwägung erſchien doch immer dieſe Lö-

ſung der Aufgabe als die angemeſſenſte. l)

Artikel XXIV.

Wenn das Geſetz die Erhöhung oder Ermäßigung der Strafe von dem

Vorhandenſein erſchwerender oder mildernder Umſtände abhängig macht, ſo

muß in Sachen, welche zur Kompetenz der Schwurgerichtshöfe gehören, auf

den Antrag der Staatsanwaltſchaft oder des Angeſchuldigten eine darauf be-

zügliche Frage den Geſchworenen bei Strafe der Nichtigkeit vorgelegt werden.

Eine ſolche Frage kann den Geſchworenen auch von Amtswegen vorgelegt

werden.

Artikel XXV.

Den Geſchworenen ſind geeigneten Falls eventuelle Fragen vorzulegen, ins-

beſondere um feſtzuſtellen, ob der Angeklagte in Beziehung auf das Verbrechen

oder Vergehen, wegen deſſen die Anklage gegen ihn erhoben iſt, nicht wenig-

ſtens des Verſuchs, der Theilnahme, der Begünſtigung oder der Hehlerei

ſchuldig iſt, oder ob er die Handlung, welche ihm die Anklageſchrift als eine

vorſätzlich verübte zur Laſt legt, nicht wenigſtens aus Fahrläſſigkeit begangen

zu haben ſchuldig iſt.

Artikel XXVI.

Darüber, ob die Vorausſetzungen des Rückfalls vorhanden ſind, entſcheidet

der Schwurgerichtshof ohne Mitwirkung der Geſchworenen.

I. Die in Art. XXIV. enthaltene Beſtimmung entſpricht ſo ſehr

dem Weſen der Inſtitution der Schwurgerichte und hängt namentlich

mit dem Syſteme, welches das Geſetzbuch bei der Behandlung der mil-

dernden Umſtände befolgt hat, m) ſo genau zuſammen, daß dieſelbe, auch

k) S. oben S. 210.

l) Bericht der Kommiſſion der zweiten Kammer zu Art. XVIII. (XXIII.).

— Bericht der Kommiſſion der erſten Kammer ebendaſ.

m) S. oben S. 29-36.

[626/0636]

Das Einführungsgeſetz. Abſchnitt II.

wenn ſie nicht ausdrücklich vorgeſchrieben wäre, nothwendig zur Anwen-

dung gebracht werden müßte. n)

Daſſelbe läßt ſich von der Vorſchrift des Art. XXV. ſagen, indem

nur darüber Zweifel beſtehen konnten, ob die aufgeſtellte Regel auf die

genannten Fälle zu beſchränken oder nur durch dieſelben zu erläutern ſei.

Es iſt der letztere Weg durch Hinzufügung des Wortes „insbeſondere“

gewählt, und dadurch die weitere Feſtſtellung des Verfahrens der künf-

tigen Geſetzgebung und der Praxis vorbehalten worden.

II. Die beiden Bedingungen der Rückfallsſtrafe: vorhergegangene

rechtskräftige Verurtheilung durch einen Preußiſchen Gerichtshof und

Identität der mehreren Verbrechen oder Vergehen (§. 58.) ſind als dem

Rechtsgebiet angehörig bei Erkenntniſſen des Schwurgerichtshofs der

Mitwirkung der Geſchworenen entzogen worden (Art. XXVI.).

Artikel XXVII.

Im Bezirke des Rheiniſchen Appellationsgerichtshofes kommen folgende

Beſtimmungen zur Anwendung:

§. 1.

Alle wegen eines und deſſelben Verbrechens oder Vergehens zur Strafe

verurtheilte Perſonen ſind zu den Koſten, zur Rückgabe und zum Schadens-

erſatze, auf welche erkannt wird, ſolidariſch zu verurtheilen.

§. 2.

Wegen der Rückgabe und des Schadenserſatzes, auf welche wegen ſtraf-

barer Handlungen erkannt wird, findet gegen die Verurtheilten die perſönliche

Haft ſtatt.

§. 3.

Iſt auf Konfiskation oder Geldbuße, zugleich aber auf Rückgabe oder

Schadenserſatz erkannt worden, ſo haben die letzteren den Vorzug, wenn das

Vermögen des Verurtheilten nicht ausreicht, alle dieſe Leiſtungen zu beſtreiten.

Der Artikel hält die in Folge der Vorſchrift des Art. II. aufgeho-

benen Beſtimmungen des Code pénal Art. 52., 54. und 55. aufrecht.

Jedoch iſt inſofern eine Milderung eingetreten, als die Vollſtreckung

durch perſönliche Haft nur bei der Verurtheilung zur Rückgabe und zum

Schadenserſatze beibehalten, und die ſolidariſche Verpflichtung der Mit-

ſchuldigen nicht auf die Geldbuße ausgedehnt worden iſt.

n) Außer den beiden Kommiſſionsberichten zu dieſem Artikel vgl. Fernere

Verhandlungen der Staatsraths-Kommiſſion von 1847. S. 58. 63.

[[627]/0637]

Sachregiſter.

(Die Zahlen bezeichnen die Seite.)

A.

Abbildung. Vernichtung ſtrafbarer Abbildungen 120-122.; Verbreitung un-

züchtiger Abbildungen 319-320.

Abgeordnete der Obrigkeit. Widerſetzlichkeit gegen dieſelben 254-258.

Abgraben, Abpflügen fremder Grundſtücke 588.

Abſicht f. Vorſatz.

Abtreibung der Leibesfrucht 358-360.

Acker. Unbefugtes Betreten fremder Aecker 587-589.; Entwendung von Acker-

geräthſchaften 411-415.

Adel. Verluſt deſſelben 107-108. 124-128.; unbefugte Anmaßung des Adels

273-274.

Affekt bei der Tödtung 351-353.; bei der Körperverletzung 378.

Akten. Mittheilung von Akten an fremde Regierungen 235-236.; Vernichtung

amtlich aufbewahrter Akten 274-275.

Aktien. Nachmachung und Fälſchung derſelben 282-289.

Alter. Einfluß deſſelben auf die Zurechnungsfähigkeit 189-195.

Amt. Unfähigkeit zur Bekleidung deſſelben 87. 107.; zeitige Unfähigkeit 132-133.;

Verluſt des Amtes 124-128.; unbefugte Ausübung deſſelben 273-274.; Verbre-

chen und Vergehen im Amte 542-567.; Theilnahme Anderer 565-567.; unbe-

fugtes Tragen einer Amtskleidung oder eines Amtszeichens 273-274. ſ. Beamte.

Analogie der Strafgeſetze 68-70.

Angriff 375-378.; gegen Beamte 254-258.

Ankauf geſtohlener oder geraubter Sachen 449-455.

Ankündigungen, welche dem Papiergelde ähnlich ſind 578-580.

Anlage. Beſchädigung öffentlicher Anlagen 518-520.

Anleitung zu Verbrechen oder Vergehen 157-160.; zum Betteln 278. 579.

Anmaßung von Rechten 273-274.

Anpreiſung ſtrafbarer Handlungen 252-254.

Anreizung zu Verbrechen und Vergehen 151-160. 165-167.; zum Ungehorſam

gegen die Geſetze oder gegen obrigkeitliche Anordnungen 252-254.; zum Haſſe

oder zur Verachtung gegen einander 267-268.

Anſchuldigung. Strafe falſcher Anſchuldigung 298.

[628/0638]

Sachregiſter.

Anſtiftung eines Verbrechens oder Vergehens 155-157.; durch Reden und Schrif-

ten c. 166-167.

Antrag des Verletzten auf Beſtrafung 203-207.; bei Beleidigungen 232-236.

581-582.

Anwalt. Amtsverbrechen der Anwälte 552. 561-562.

Anwendung der Strafgeſetze, analogiſche 68-70.; territoriale 70-78.

Anwerben zum Militairdienſte fremder Mächte 276.

Anzeige. Unterlaſſene Anzeige von dem Vorhaben eines Hochverraths, Landes-

verraths, Mordes, Raubes c. 171-174; einer Deſertion 276.; Abreißen oder

Beſchädigung öffentlicher amtlicher Anzeigen 274-275.

Arbeitshaus. Einſperrung 278-279.

Arbeitsſcheue 278-279.

Armaturſtücke. Ankauf derſelben 588.

Armee. Unfähigkeit in die Armee einzutreten 109-110.; Entfernung aus der

Armee 124-129.

Armenanſtalt. Die Vorſteher und Verwalter öffentlicher Armenanſtalten ſind als

Staatsbeamte anzuſehen 565.

Arzenei. Unbefugter Handel mit Arzeneien 584-585.

Arzt ſ. Medizinalperſon.

Attentat 218-225.

Atteſt. Ausſtellung falſcher Atteſte 481-485.

Aufforderung zu Verbrechen oder Vergehen 155-157.; durch Reden, Schriften c.

166-167.; Aufforderung zu einem hochverrätheriſchen Unternehmen 226-232.;

zum Ungehorſam gegen die Geſetze oder gegen obrigkeitliche Anordnungen 252-254.

Auflauern eines Menſchen 370.

Auflauf 259-262.

Aufruhr 259-262.

Ausbruch aus dem Gefängniſſe 263-264.

Ausland. Beſtrafung der im Auslande begangenen Verbrechen, Vergehen und

Uebertretungen 70-78. 131-132.

Ausländer. Beſtrafung derſelben für begangene Verbrechen, Vergehen und Ueber-

tretungen 72-78.; beim Landesverrath 237-238.; bei feindlichen Handlungen

gegen befreundete Staaten 245-246.; Beſtrafung der des Landes verwieſenen

Ausländer im Fall der Rückkehr 277-278.

Auslegung der Strafgeſetze 68.

Ausſetzung hülfloſer Perſonen 360-363.

Ausſpielung. Veranſtaltung öffentlicher Ausſpielungen 505-508.

Ausſteuerkaſſe. Unbefugte Errichtung derſelben 579-580.

Auswanderung, um ſich dem Militairdienſte zu entziehen 275-276.; Verleitung

zum Auswandern 277.

Autonomie in Strafſachen 68.

B.

Bande 152-154.; Diebſtahl in Banden 416. 426.; Raub in Banden 444-445.

Bankerutt. Begriff und Strafe 485-499.; mildernde Umſtände 33-36.; Theil-

nahme am Bankerutt 491-493.; Bankerutt der Mäkler und Notarien 497-499.;

beſondere Beſtimmungen für die Rheinprovinz 614-617.

[629/0639]

Sachregiſter.

Bauten. Beſtrafung der Baumeiſter und Bauhandwerker wegen Pflichtverletzungen

383-386. 365.; Uebertretungen der polizeilichen Vorſchriften bei Bauten 584.

Beamte. Begriff 563-565.; Verluſt ihrer Penſion oder ihres Gnadengehalts

130-131.; Widerſetzlichkeit gegen Beamte 254-259.; Beleidigung der Beamten

269-273.; Mißhandlung derſelben 369-371.; Unzüchtige Handlungen der Be-

amten 312-313.; Offenbarung von Privatgeheimniſſen 321. 328.; Beſtrafung

der Beamten wegen fahrläſſiger Tödtung 363-364.; wegen Körperverletzung 383.

bis 386.; Verbrechen und Vergehen der Beamten im Amte 542-567. ſ. Amt.

Beerdigung eines Leichnams ohne Vorwiſſen der Behörde 365-366.; voreilige

Beerdigung 584-585.

Befehl einer vorgeſetzten Dienſtbehörde, Einfluß deſſelben auf die Zurechnung ſtraf-

barer Handlungen 182-183.

Befreiung eines Gefangenen 263-264.; durch Beamte 558.

Begünſtigung eines Verbrechens oder Vergehens 168-171.; bei Diebſtahl und

Unterſchlagung 449-453.

Behörde. Zwang gegen eine Behörde 258-259.; Beleidigung derſelben 269-273.;

Mißhandlungen gegen Mitglieder einer öffentlichen Behörde 369-371.

Beihülfe bei Verbrechen und Vergehen 151-160.; Beſtrafung derſelben 160-164.

Beiſchlaf. Verleitung dazu 313. 316-318.

Beiſtand. Unfähigkeit gerichtlicher Beiſtand zu ſein 108. 128. ſ. Begünſtigung,

Theilnahme.

Bekanntmachung der Strafurtheile 87. 136-137.; bei falſcher Anſchuldigung

298.; bei Ehrverletzungen 336-337.; Beſchädigung öffentlicher Bekanntmachun-

gen 274-275.

Beleidigung der Majeſtät 242-244.; der Königin, der Prinzen c. 244.; der

Kammern, Behörden, Beamten c. 269-273.; öffentliche und ſchriftliche Belei-

digung 320-327.; einfache Beleidigung 581-582. Verfahren in Injurienſachen

620-621. ſ. Ehrverletzung.

Beſchädigung fremder Sachen 517-520.; mit gemeiner Gefahr 534-535.; mil-

dernde Umſtände 34-36.

Beſchlagnahme. Beſeitigung in Beſchlag genommener Sachen 512-513.

Beſtätigung der Todesurtheile 97-99.

Beſtechung von Beamten 550-554.; mildernde Umſtände 33-36.; Beſtechung

bei den Wahlen 250.

Betrug. Begriff 457-462.; Strafe 462-467 mildernde Umſtände 34-36.;

Betrug bei der Sammlung von Wahl- oder Stimm-Zetteln 250.

Bettelei als Vergehen 278-279.; als Uebertretung 579-581.

Beurkundung. Falſche Beurkundung 479-480.

Bewußtloſigkeit. Einfluß derſelben auf die Zurechnungsfähigkeit 181.

Bienenſtöcke. Entwendung derſelben 411.

Bigamie 302-309.; Verjährung derſelben 199 (III.). 308-309.

Bilder ſ. Abbildung.

Blanket. Unbefugte Ausfüllung deſſelben 471-475.

Bleiche. Diebſtahl an Leinen c. von der Bleiche 411.

Blödſinn zur Zeit der That 174-181.; Diebſtahl gegen blödſinnige Perſonen

416. 424.

Blutſchande 43. 310-312.

Bordellwirthſchaft 318.

[630/0640]

Sachregiſter.

Brandſtiftung. Begriff und Strafe 520-528.; Brandſtiftung in betrügeriſcher

Abſicht 463. 466.; unterlaſſene Anzeige von dem Vorhaben einer Brandſtiftung 173.

Brief. Unbefugte Eröffnung verſiegelter Briefe 516-517.; durch Poſtbeamte 561.;

Fälſchung geſtempelter Brief-Couverts 480-481.

Brücke. Zerſtörung einer Brücke 518-520.; Beſchädigung derſelben mit gemeiner

Gefahr 534-535.

Brunnen. Vergiftung derſelben 536-538.; unterlaſſene Bedeckung derſelben

584-586.

Brutalität an Perſonen unter 14 Jahren 316.

Bürgerliche Tod 106.; bürgerliche Ehre ſ. Ehre.

C.

Civilklagen aus ſtrafbaren Handlungen 601.; bei Beleidigungen 620-621.; in

der Rheinprovinz 614-616.

Civilſtandsbeamte ſ. Perſonenſtand.

Concursus delictorum 207-210.

Concussion ſ. Erpreſſung.

Coupons. Nachmachung und Verfälſchung derſelben 282-289.

Culpa 36-44. 47-56. ſ. Fahrläſſigkeit.

Custodia honesta ſ. Einſchließung.

D.

Damm, Beſchädigung eines Dammes 518-520.; mit gemeiner Gefahr 534-535.

Deiche. Zerſtörung oder Beſchädigung derſelben 534-535.

Denkmäler. Beſchädigung oder Zerſtörung derſelben 518-520.

Deſertion 276.

Diebſtahl. Begriff 405-411.; einfacher Diebſtahl 411-415.; ſchwerer Dieb-

ſtahl 415-426.; mildernde Umſtände 33-36.; Rückfall beim Diebſtahl 426-428.;

Diebſtahl unter Verwandten 433-439.; Entwendung eigner Sachen 510-512.;

Diebſtahl an Eßwaaren c. 588-590.; Ankauf geſtohlener Sachen 499-455.

Dienſteid. Berufung auf denſelben 290. 293.

Dividendenſcheine. Nachahmung und Verfälſchung derſelben 282-289.

Drahtleitung bei Telegraphen-Anſtalten, Zerſtörung oder Beſchädigung derſel-

ben 531.

Dreitheilung — Verbrechen, Vergehen, Uebertretungen 59-66.

Drohung. Ausſchließung der freien Willensbeſtimmung durch Drohungen 174-181.;

Drohungen gegen Beamte c. 254-259.; Drohungen zur Befriedigung des Ge-

ſchlechtstriebes 313-315.; Drohung mit der Verübung eines Verbrechens oder

Vergehens 400-403. 446-449.

Dolus alternativus, directus, eventualis, indeterminatus 36-47. ſ. Vorſatz.

Duell 337-342.

E.

Ehe. Mehrfache Ehe 302-309.

Ehebruch 43. 309. 310.

[631/0641]

Sachregiſter.

Ehegatte. Begünſtigung eines von dem andern Gatten begangenen Verbrechens

168-171.; Mord an Ehegatten 342-349.; Entwendungen unter Ehegatten

433-439.; Beſeitigung gepfändeter Sachen 512-513.

Ehre. Verluſt der bürgerlichen Ehre 86-87.; bei der Todesſtrafe 93-94.; Fol-

gen des Verluſtes 102-112.; Verletzungen der Ehre 320. ff. Uebertretungen in

Beziehung auf die Ehre 581-586.

Ehrenrechte. Zeitige Unterſagung derſelben 87. 124-130.

Ehrenſtrafen 86-87.

Ehrenzeichen. Unfähigkeit dieſelbe zu tragen oder zu erlangen 107.; Verluſt der

Ehrenzeichen 124-128.; unbefugtes Tragen derſelben 273. 274.

Ehrfurcht gegen den König. Verletzung derſelben 242-244.

Ehrverletzung. Mildernde Umſtände 33-35.; Antrag auf Beſtrafung 206.;

Verfahren 620-621. ſ. Beleidigung.

Eid. Falſcher Eid 289-293.; Verſicherung an Eidesſtatt 294-297.

Eier. Ausnehmen derſelben von jagdbarem Federwild 588.

Eigennutz. Strafbarer Eigennutz 499. ff.

Einbruch. Diebſtahl mittelſt Einbruchs 415-420.

Eindringen in fremde Wohnungen 586.; durch mehrere Perſonen 403-405.;

durch Beamte 556-557.

Einführungsgeſetz 593. ff.

Einſchließung 86. 112. 113.

Einſperrung. Widerrechtliche Beraubung der Freiheit 397-400.

Einſteigen. Diebſtahl vermittelſt Einſteigens 415-424.

Einzelrichter. Kompetenz derſelben 618. 619. 623. 524.

Eiſenbahn. Diebſtahl auf der Eiſenbahn 415. 416.; Zerſtörung derſelben 518. bis

520.; Beſchädigung mit gemeiner Gefahr 530-534.; Pflichtverletzungen der Ei-

ſenbahnbeamten 531-534. 565.

Eltern. Entwendungen und Unterſchlagungen zwiſchen Eltern und Kindern

433-439.; Unzucht 310-312.; Kuppelei 317. 318.; Eltern-Mord 342-349.;

Todtſchlag 350-354.; Mißhandlung 369-375.; Beraubung der Freiheit

397-400.

Empfehlungskarten, welche dem Papiergelde ähnlich ſind. Anfertigung und

Verbreitung derſelben 289.

Entbindung. Unterlaſſene Anmeldung derſelben in der Rheinprovinz 615-617.

Entehrende Strafen 88.

Entführung 386-396.

Enthauptung 95-97.

Entmannung 374.

Entwendung ſ. Diebſtahl.

Erde. Wegnahme fremder Erde 588.

Ermeſſen des Richters 23-29.

Erpreſſung. Begriff und Strafe 446-449.; gewaltſame Erpreſſung 445.

Erzieher. Unzucht mit den Zöglingen 312. 313.; Kuppelei 317. 318.; Diebſtahl

gegen Erzieher 433-439.

Eßwaaren. Verkauf verdorbener oder verfälſchter Eßwaaren 584-586.; Dieb-

ſtahl an Eßwaaren 588-590.

Etiquettes, welche dem Papiergelde ähnlich ſind 578-580.

[632/0642]

Sachregiſter.

F.

Fabrik. Verleitung inländiſcher Fabrikarbeiter zum Uebergehen in ausländiſche Fa-

briken 277.; Gebrauch falſcher Fabrikzeichen 465.

Fähre. Zerſtörung oder Beſchädigung derſelben 534-535.

Fälſchung der Wahl- und Stimmzettel 247. 250.; Fälſchung von Urkunden

471-479.; von Stempelpapier, Poſtfreimarken, Reiſepäſſen, Atteſten c.

480-484.

Fahnen. Verbotene Ausſtellung derſelben 262. 263.

Fahren in Städten oder Dörfern 583.

Fahrläſſigkeit 36-44. 47-56.; fahrläſſiger Verſuch 141.; fahrläſſiger Meineid

297.; Tödtung 363. 364.; Körperverletzung 381. 382.; Brandſtiftung 521.

526-528.; Ueberſchwemmung 529. 530.; Beſchädigung von Eiſenbahnen und

Telegraphen-Anſtalten 530-534.; Beſchädigung anderer Anlagen mit gemeiner

Gefahr 534-536.; fahrläſſige Vergiftung 536-538.; Fahrläſſigkeit bei Amts-

vergehen 557-558.; bei Uebertretungen 577.

Fahrwaſſer. Störung des Fahrwaſſers in Strömen, Flüſſen und Kanälen 534. 535.

Falliment in der Rheinprovinz 614-617.

Falſchmünzerei 285.

Familienrath. Unfähigkeit, Mitglied eines Familienraths zu ſein 108. 128.

Felddiebſtahl 411.

Feldpolizei-Vergehen 587-589.

Feſtung. Vollſtreckung der Einſchließung in den Zeitungen 112. 113.; Mittheilung

von Feſtungsplänen 235-238.; Aufnahme von Feſtungsriſſen 578.

Feuer. Diebſtahl in Feuersnoth 416. 426.; Zerſtörung von Feuerzeichen 535. 536.;

Uebertretung der feuerpolizeilichen Anordnungen 587. 588.; Verkauf und Aufbe-

wahrung von Feuerwerken und anderen feuergefährlichen Gegenſtänden 584. 587.;

Abbrennung von Feuerwerken in der Nähe von Gebäuden 587.; ſ. Brand-

ſtiftung.

Finden. Verkauf oder Verbrauch gefundener Sachen 428-433.

Firma. Mißbrauch einer fremden Firma bei Waarenbezeichnungen 508.

Fiſche. Entwendung von Fiſchen aus Teichen c. 411.; unberechtigtes Fiſchen

513-515.

Fleiſchesverbrechen 302 ff.

Frageſtellung an die Geſchworenen 625. 626.

Freiheit. Verbrechen und Vergehen wider die perſönliche Freiheit 386-400.;

Uebertretungen in Beziehung auf dieſelbe 581-586.

Freiheitsſtrafen 86. 90.; Berechnung und Dauer derſelben 115. 116.; Umwand-

lung derſelben 116. 117.

Freimaurerlogen 266.

Früchte. Diebſtahl an geerndteten Früchten vom Felde 411-415.; an anderen

Früchten 588-590.

Formulare zu öffentlichen Papieren und Atteſten. Unbefugte Anfertigung derſel-

ben 578.

Forſtarbeit 609. 613.

Forſtvergehen. Beſondere Strafgeſetze 595-602.

Funddiebſtahl 428-433.

Fußangeln. Unbefugtes Legen derſelben 584.

[633/0643]

Sachregiſter.

G.

Garn. Diebſtahl an Garn von der Bleiche 411-

415.

Garten. Werfen von Unrath in Gärten 583.;

unbefugtes Betreten fremder Gär-

ten 587-589.; Gartendiebſtahl 411.

Gaſthaus. Diebſtahl in einem Gaſthauſe 412-

414.; Verweilen in einem Gaſt-

hauſe zur verbotenen Zeit 579-581.

Gattenmord 342. 347.

Gebäude. Diebſtahl aus einem bewohnten Gebäude

415-418.; Zerſtörung

fremder Gebäude 518-520.; unterlaſſene Ausbeſſerung

baufälliger Gebäude 584.

Gebühren. Widerrechtliche Erhebung derſelben

560. 561.

Geburtshülfe. Unbefugte Ausübung derſelben

382. 383.; Beſtrafung der He-

beammen 383-385.

Gefahr. Verweigerung der Hülfe in Gefahr 579.;

von Medizinalperſonen 383-385.

Gefangene. Beaufſichtigung und Beſchäftigung derſelben

112-115.; Befreiung

derſelben 263. 264.; durch Beamte

557. 558.

Gefängnißſtrafe 86. 114. 115.; bei Uebertretungen 573-575.; nach den be-

ſonderen Strafgeſetzen 609-613.; Gefängnißweſen

90.

Geheime Verbindungen 265-267.

Geheimniſſe. Offenbarung von Staatsgeheimniſſen

235.; von Privatgeheimniſſen

321. 328.

Gehülfen bei einem Verbrechen oder Vergehen 157-

160.

Geiſteskranke. Beſchränkung ihrer perſönlichen Freiheit

397-400.

Geiſteszuſtand des Angeſchuldigten. Einfluß

deſſelben auf die Zurechnungsfähig-

keit 183-185.

Geiſtliche. Beleidigung derſelben 269-273.;

Mißhandlung derſelben 369-371.;

Anmaaßung geiſtlicher Amtshandlungen 273. 274.; Beſtrafung der Geiſtlichen

für ihre Mitwirkung zu einer mehrfachen Ehe 302. 308.; Beſtrafung der Unzucht

mit Schülern 312. 313.; unbefugte Einſegnung der

Ehe in der Rheinprovinz

615-617.

Geld. Unterſchlagung von Geldern durch Beamte

559. 560.; Betrug bei Veraus-

gabung von Geldpaketen 463. 466.; f.

Münzverbrechen.

Geldbuße. Bei Vergehen 86. 117-

120.; bei Uebertretungen 573-575.; Voll-

ſtreckung der Geldbuße in den Nachlaß des Angeſchuldigten

123.

Gemeindearbeit 609. 613.

Gemeindebeamte. Verluſt der Penſion oder des

Gnadengehalts 130-131.;

f. Amt. Beamte.

Gemeingefährliche Verbrechen. Begriff und Strafe

520 ff.; unterlaſſene An-

zeige von dem Vorhaben derſelben 171-174.

Geſandte. Beleidigung fremder Geſandten 245.

246.

Geſchenke an Beamte 550-554.

Geſchwiſter. Begünſtigung von Verbrechen 168-

171.; Unzucht unter Geſchwi-

ſtern 310-312.; Entwendungen unter Geſchwiſtern 433-

439.

Geſchworene. Unfähigkeit, Geſchworener zu ſein 102-

112.; Beleidigung der-

ſelben 269-273.; Mißhandlung derſelben 369-

371.; Vorſchützung falſcher Ent-

ſchuldigungs-Urſachen von Seiten eines Geſchworenen

275.; Beſtechung eines

Geſchworenen 550-554.; Fragen an die Geſchworenen

625. 626.

Beſeler Kommentar. 41

[634/0644]

Sachregiſter.

Geſelle. Diebſtahl in der Wohnung des Meiſters 412.

Geſinde. Diebſtahl 412-415.; Fälſchung der

Geſindebücher 481-484.

Getränke. Verkauf verfälſchter oder verdorbener Getränke

584-586.; Diebſtahl

an Getränken 588-590.

Gewalt. Ausſchließung der freien Willensbeſtimmung

durch Gewalt 174-181.;

Gewalt gegen Beamte 254-259.; gegen Perſonen und

Sachen beim Aufruhr

259-261.; Gewalt zur Befriedigung des

Geſchlechtstriebes 313. 314.

Gewerbe. Unfähigkeit zum ſelbſtändigen Gewerbebetriebe 87.; Beſtrafung der Ge-

werbetreibenden 564. 565.; wegen fahrläſſiger Tödtung 363. 364.; wegen Kör-

perverletzung 383-386.; wegen begangener Untreue

467-471.; wegen Ueber-

tretungen 588-590.

Gewicht. Falſches Gewicht 462-465.; Uebertretung der Gewichtspolizeiord-

nung 588.

Gewohnheitsrecht iſt in Strafſachen ausgeſchloſſen

68.

Gift. Verkauf und Aufbewahrung 584.585.; Giftmiſcherei 378-381.

Gnadengehalt. Verluſt deſſelben 130.131.

Gold. Betrug beim Verkauf von Gold 462-

465.

Gottesdienſt. Vergehen in Bezug auf den Gottesdienſt

299-301.; Diebſtahl

aus einem zum Gottesdienſte beſtimmten Gebäude 415-418.; Brandſtiftung 520.;

Beſchädigung der zum Gottesdienſte beſtimmten Sachen 518-520.

Gottesläſterung 299. 300.

Gräber. Zerſtörung oder Beſchädigung derſelben

301.; Beſchädigung der Grab-

mäler 518-520.

Grenze. Veränderung der Grenzmale 463.

466.

Gruben. Unterlaſſene Bedeckung derſelben 584-

586.

Güterbeſtätiger 564. 565.; Untreue

derſelben 467-471.

H.

Handelsleute. Bankerutt 485-497.; in der Rheinprovinz 614-616.

Handwerker, f. Gewerbe.

Haufen. Unbefugte Bildung bewaffneter Haufen

265.

Hausdiebſtahl 411-414.

Hauskollekten 507. 508.

Hausrecht. Verletzung deſſelben 403-405.

586.

Hazardſpiel 505-507. 579.

Hebeammen. Pflichtverletzungen derſelben 383-

385.

Hehlerei. Begriff und Strafe 449-455.; mildernde Umſtände 33-36.; Rück-

fall 455. 456.

Heilanſtalt. Anrechnung des Aufenthalts in der

Heilanſtalt auf die erkannte

Strafe 89. 90.

Herausforderung zum Zweikampfe 337-

342.

Hetzen von Hunden auf Menſchen 586.

Hinrichtung 95-97.

Hochverrath. Begriff und Strafe 217-225.;

mildernde Umſtände 33-35.;

Vorbereitung eines hochverrätheriſchen Unternehmens 225-

234.; unterlaſſene An-

zeige von dem Vorhaben eines Hochverraths 171-174.;

Stellung des Hoch-

verräthers unter Polizei-Aufſicht, Beſchlagnahme ſeines

Vermögens 238-242.

[635/0645]

Sachregiſter.

Hohenzollern. Anwendung des Strafgeſetzbuchs

594-599.

Holzdiebſtahl 411.; beſondere Strafgeſetze 595-602.

Hülfeleiſtung f. Beihülfe, Begünſtigung.

Hülfloſe Perſonen. Ausſetzung oder Verlaſſen derſelben 360-363.

Hunde. Hetzen derſelben auf Menſchen 586.

Hurerei 317.

J.

Jagd. Unbefugtes Jagen 513-516.; Jagdpolizeivergehen 587-589.; beſondere

Strafgeſetze 595-602.

Inceſt f. Blutſchande 310-312.

Injurie f. Beleidigung.

Irrthum. Einfluß deſſelben auf die Strafbarkeit 38. 39. 195. 196.

Jugend. Berückſichtigung derſelben bei Beſtrafung von Verbrechen oder Vergehen

189-195.

Junge. Ausnehmen von Eiern und Jungen

588.

K.

Kalumnie 298.; Kalumnien-Eid 297.

Kammern. Verbrechen und Vergehen gegen die Kammern und deren Mitglieder

247-249.; Beleidigung derſelben 269-273.;

Mißhandlung derſelben 369-371.

Kartellträger. Beſtrafung derſelben 337-342.

Kaſſenanweiſungen f. Münzverbrechen.

Kaſſenverbrechen der Beamten 559-561.

Kaution. Zuwiderhandeln gegen eine eidliche Kaution 296. 297.

Keller. Unterlaſſene Bedeckung derſelben 584-586.

Kinder. Unzucht zwiſchen Kindern und Eltern 310-

312.; Unzucht mit Kindern

unter vierzehn Jahren 313. 316.; Unterſchiebung oder Verwechſelung von Kin-

dern 301. 302.; Ausſetzung von Kindern

360-363.; Diebſtahl gegen Kinder

unter zwölf Jahren 416. 424.; Entwendungen

zwiſchen Kindern und Eltern

433-439.; Kinderdiebſtahl 394.

Kindesmord 355-358.

Kirche. Vergehen gegen Kirchen 299-301.;

Kirchendiebſtahl 415-418.; f. Got-

tesdienſt.

Kollekten 507. 508.

Kompetenz der Gerichte in Strafſachen 618-

626.

Komplott 152-154.; beim Hochverrath 218-

225. 226-229.

Konfiskation 120-123.; von Nachlaßſachen

des Angeſchuldigten 123.; Konfis-

kation unzüchtiger Schriften und Bilder 319. 320.;

Konfiskation bei Uebertre-

tungen 575.

König. Hochverrath gegen den König 217-225.;

Thätlichkeiten und Beleidigun-

gen gegen denſelben 242-249.

Königin. Thätlichkeiten und Beleidigungen gegen dieſelbe 244.

Konkurrenz von Verbrechen oder Vergehen 207-

210.; von Uebertretungen 578.

Konnexität in Unterſuchungsſachen 624.

625.

41*

[636/0646]

Sachregiſter.

Körperverletzung. Begriff und Strafe 366-386.;mildernde Umſtände 33-35.;

Körperverletzung als Realinjurie 322. 323.; Körperverletzung durch Beamte

556. 557.; Verfahren 620. 621.

Korporation. Verluſt der Korporationsrechte 111. 112.; Beleidigung politiſcher

Korporationen 269-273.; Mißhandlung eines Mitgliedes derſelben 369-371.;

Beamte der Korporationen 565.

Krankenanſtalt. Anrechnung des Aufenthalts in

derſelben auf die erkannte Strafe

89. 90.

Krankheit. Unbefugte Heilung von Krankheiten

382. 383.; Uebertretung der

Maaßregeln zur Verhütung anſteckender Krankheiten 538. 539.

Krebſen. Strafe für unberechtigtes Krebſen 513-515.

Krieg. Landesverrath in Beziehung auf den Krieg 234-238.

Kunſt. Unfähigkeit zum ſelbſtändigen Betriebe derſelben

87.

Kuppelei 317. 318.

Kurator. Unfähigkeit, Kurator zu ſein 108.

128.; Beſtrafung wegen Untreue

467-471.; f. Vormundſchaft.

Kuriren. Unbefugtes Kuriren 382.

383.

L.

Landesverrath. Begriff und Strafe 234-242.; mildernde Umſtände 33-35.;

unterlaſſene Anzeige von dem Vorhaben eines Landesverraths 171-174.

Landesverweiſung 87-136. 278.

279.; Beſtrafung im Fall der Rückkehr 277.

Landfriedensbruch 404.

Landſtreicher 278. 279.

Landwehr f. Militair.

Landzwang 400-403.

Lärm. Ungebührlicher Lärm 579.

Leben. Verbrechen und Vergehen wider das Leben 342 ff.

Legitimationspapiere. Fälſchung derſelben 481-484.

Lehrer. Unzucht mit den Schülern 312.

313.; Kuppelei 317. 318.

Lehrling. Diebſtahl in der Wohnung des Meiſters 412.

Leibesfrucht. Abtreibung oder Tödtung derſelben 358-360.

Leichnam hingerichteter Perſonen 97.; heimliche Beerdigung eines Leichnams 365.

366.; Leichendiebſtahl 301. 314.

Leihen auf Pfänder 505. 506.

588.

Licht. Unvorſichtiges Umgehen mit Licht

587.

Licitation. Abhalten vom Bieten 508-510.

Liederliche Perſonen 278. 279.

Lieferungsvertrag. Richterfüllung deſſelben im Fall eines Krieges oder Noth-

ſtandes 539-542.

Linnen. Entwendung von der Bleiche 411-415.

Lotterie. Veranſtaltung öffentlicher Lotterien 505-508.

M.

Maaß. Falſches Maaß 462-465.; Uebertretung der Maaßpolizei-Ordnung 588.

Majeſtätsbeleidigung. Begriff und Strafe 223.242-244.; mildernde Um-

ſtände 33-35.

[637/0647]

Sachregiſter.

Mäkler. Untreue derſelben 467-471.; Bankerutt 497-499.; Mäkler gehören

nicht zu den Staatsbeamten 564. 565.

Manifeſtationseid. Zuwiderhandlung gegen das darin enthaltene Verſprechen

296. 297.

Mannſchaften. Verſorgung unbefugter Mannſchaften mit Waffen oder Kriegsbe-

dürfniſſen 265.

Medizinalperſonen. Unzucht derſelben in Kranken- und Gefangen-Anſtalten

312. 313.; Offenbarung von Privatgeheimniſſen 321. 328.; Medizinal-Pfuſcherei

382.; Pflichtverletzungen der Medizinalperſonen 383-386.; Ausſtellung falſcher

Atteſte 481-484.; Aerzte gehören nicht zu den Staatsbeamten 565.

Meineid 289-293.; Verleitung zum Meineide 294-297.; fahrläſſiger Meineid 297.

Mennoniten. Meineid 293.

Menſchenraub. Begriff und Strafe 386-394.;

unterlaſſene Anzeige von dem

Vorhaben deſſelben 171-174.

Metallgeld f. Münzverbrechen.

Meuterei unter Gefangenen 263.264.

Mildere Beſtimmungen des Strafgeſetzbuchs. Anwendung derſelben auf früher be-

gangene Handlungen 602-605. 606-608.

Milderungsgründe (mildernde Umſtände) 29-

36. 174 ff.; bei der Theilnahme

an Verbrechen 160-165.

Militair. Anwendung der allgemeinen Strafgeſetze auf Militairperſonen 78-81.;

Widerſetzlichkeit gegen Mannſchaften des Militairs 245-258.; Beleidigung der-

ſelben 269-273.; Mißhandlung derſelben 369-371.; Beſtechung eines Mili-

tairs 550-553.; Verletzung der Militairdienſtpflicht

275-277.; Verbrechen und

Vergehen der Militairbeamten 564. f. Armee, Soldatenſtand.

Mißbrauch der vom Staate anvertrauten Macht 230.; Mißbrauch der Amtsgewalt

555-558.; mildernde Umſtände 33-36.

Mißgeburt. Tödtung derſelben 347.

348.

Mißhandlung, f. Ehrverletzung, Körperverletzung.

Miturheber 152-154.

Montirungsſtücke. Ankauf derſelben 588.

Mord. Begriff und Strafe 342-349.; unterlaſſene Anzeige von dem Vorhaben

deſſelben 171-174.

Munition. Verbotene Aufſammlung von Munition 578.; Zueignung verſchoſſener

Munition 588.

Münzverbrechen und Münzvergehen 282-289. 466.; Uebertretungen 578-580.;

unterlaſſene Anzeige von dem Vorhaben einer Münzfälſchung 171-174.; Be-

ſchneiden des Metallgeldes 462. 466.; unbefugte Anfertigung von Stempeln,

Platten c. zu Metallgeld 578-580.

Müßiggänger 278. 279.

Muthwillen 45-47.

N.

Nachdruck 500.

Nachſchlüſſel. Diebſtahl mit Nachſchlüſſeln 415-417. 424.

Nachtzeit. Begriff 134.; Diebſtahl zur Nachtzeit 415-419.

Namen. Führung falſcher Namen 273.

[638/0648]

Sachregiſter.

Nationalkokarde 104. 105. 107. 612.

Nebenſtrafen 86. 88.

Niederkunft. Verheimlichung derſelben 355.

Notarien. Bankerutt derſelben 497-499.; Amtsvergehen 564.

Nöthigung 400-402. 448.; durch Beamte 555. 556.

Nothſtand. Einfluß deſſelben auf die Zurechnungsfähigkeit 181. 182.; Verweige-

rung der Hülfe im Fall der Noth 579.

Nothwehr 185-189.

Nothzucht 313-316.

O.

Obdachloſe Perſonen 278. 279.

Obrigkeit. Aufforderung zum Ungehorſam gegen dieſelbe

252-254.; Widerſetz-

lichkeit gegen Abgeordnete der Obrigkeit 254-258.

Orden. Unfähigkeit, Orden zu tragen oder zu erlangen

107.; Verluſt der Orden

124-128.; unbefugtes Tragen derſelben 273.274.

Ordnung. Vergehen wider die öffentliche Ordnung 265 ff.; Uebertretungen in

Beziehung auf dieſelbe 578-581.

P.

Päderaſtie 313.

Papiergeld f. Münzverbrechen.

Partikulargeſetze. Anwendung derſelben in Strafſachen 597-599.

Pasquill 324.

Paßkarte. Fälſchung derſelben 481-484.

Patent. Abreißen oder Beſchädigung öffentlicher amtlicher Patente 274-275.

Penſion. Verluſt derſelben 130.131.

Perſonenſtand. Verbrechen und Vergehen in Beziehung auf denſelben 301. 202.;

in der Rheinprovinz 614-617.; Beſtrafung der Perſonenſtandsbeamten für ihre

Mitwirkung zu einer mehrfachen Ehe 302.308.

Pfandleiher. Beſtrafung derſelben 505.506. 588.

Pfändung. Beſeitigung gepfändeter Sachen 512.513.; Pfändung bei Feldpolizei-

vergehen 587-589.

Philipponen. Meineid 293.

Plätze. Polizei-Verordnungen über die Sicherheit, Reinlichkeit c. auf öffentlichen

Plätzen 583.

Plünderung in Gemeinſchaft mit Anderen 518-

520.

Politiſche Rechte. Verluſt derſelben 108.

111. 112. 124-128. 225.; politiſche

Vergehen 622. 623.

Polizeiaufſicht 133-137. 277-278.;

nach den beſonderen Strafgeſetzen 608. 623.

Polizeigerichte in der Rheinprovinz. Kompetenz derſelben

618. 619. 623. 624.

f. Einzelrichter.

Polizeiſtrafen 573-575.

Polizeiſtunde. Einhalten derſelben 579-581.

Polizeivergehen im Allgemeinen 568-578.;

beſondere Fälle 578. ff.

Poſtbeamte. Beſtrafung derſelben für unbefugte Eröffnung

von Briefen 561.

[639/0649]

Sachregiſter.

Poſtfreimarken. Fälſchung derſelben 480. 481.

Poſtgebäude. Diebſtahl in Poſtgebäuden 415. 416.

Poſtkontraventionen. Beſondere Strafgeſetze 595-602.

Preßvergehen. Konfiskation der Schriften, Abbildungen, Platten c. 120-122.;

Strafe des Rückfalles 215. 602.; Kompetenz der Gerichte 622. 623.

Prinzen des Königlichen Hauſes. Thätlichkeiten und Beleidigungen gegen dieſel-

ben 244.

Privatklage bei Beleidigungen 332-336.; bei Mißhandlungen 366-368.

Provinzialſtrafgeſetze. Anwendbarkeit derſelben 597-599.

Prozeſſionen 263.

Pulver. Zerſtörung von Gebäuden durch Pulver 521. 528.

O.

Quälerei von Thieren 579.

Quittungsbogen. Fälſchung derſelben 282-289.

R.

Raſen. Wegnahme von Raſen aus fremden Grundſtücken 588.

Raub. Begriff 439-443.; Strafe 443-445.; unterlaſſene Anzeige von dem Vor-

haben deſſelben 171-174.

Raufhandel 375-378.

Raupen. Unterlaſſung deſſelben 587.

Realinjurien 322-323.; ſ. Körperverletzung.

Rechnungen. Fälſchung derſelben durch Beamte 559. 560.

Rechtsanwalte. Amtsvergehen derſelben 552. 561. 562.

Regent des Preußiſchen Staats. Angriff gegen denſelben 223.; Thätlichkeiten und

Beleidigungen gegen denſelben 244. Feindliche Handlungen gegen Regenten be-

freundeter Staaten 245. 246.

Regiſter. Vernichtung amtlich verwahrter Regiſter 274. 375.; Fälſchung derſelben

477-479., durch Beamte 559. 560.

Reiſegepäck. Entwendung deſſelben 415. 416. 424.

Reiſepaß. Fälſchung deſſelben 481-484.

Reiten in Städten oder Dörfern 583.

Religion. Vergehen, welche ſich auf die Religion beziehen 299-301.

Religionsdiener. Beleidigung derſelben 269-273.; Mißhandlung derſelben

369-371.; Beſtrafung der Religionsdiener für ihre Mitwirkung zu einer mehr-

fachen Ehe 302. 308.; ſ. Geiſtliche.

Rentenanſtalten. Unbefugte Errichtung derſelben 579-581.

Reparaturen an Gebäuden c. Uebertretung der polizeilichen Beſtimmungen 584.

bis 586.

Reviſion des Strafrechts S. 3-15.

Rheinprovinz. Aufhebung des Rheiniſchen Strafgeſetzbuchs 594-597.; beſon-

dere Strafbeſtimmungen für die Rheinprovinz 614-617. 618-620. 626-627.

Rückfall 605. 606.; bei Verbrechen und Vergehen 211-216.; beim Diebſtahl

416. 426-428.; beim Raube 444. 445.; bei der Hehlerei 455. 456.; bei Ue-

[640/0650]

Sachregiſter.

bertretungen 575-578.; Kompetenz in Bezug auf die Strafe des Rückfalls

618. 619.

Rückwirkende Kraft der Strafgeſetze 67.

Ruheſtörung 579. 583.

S.

Sachverſtändiger. Unfähigkeit, als Sachverſtändiger eidlich vernommen zu wer-

den 108-109.; Beleidigung eines Sachverſtändigen 269-273.; Mißhandlung

deſſelben 369-371.; Vorſchützung falſcher Entſchuldigungs-Urſachen von Seiten

eines Sachverſtändigen 275.; Beſtrafung der Sachverſtändigen, welche wiſſentlich

ein falſches Gutachten beeidigen 290-293.

Sammlung. Beſchädigung der in öffentlichen Sammlungen aufbewahrten Gegen-

ſtände 518-520.

Sand. Sandgraben auf fremden Grundſtücken 588.

Schadenserſatz 81. 601.; beſondere Beſtimmungen für die Rheinprovinz 626-627.

Schaffner. Beſtrafung wegen Untreue 467-471.

Schamhaftigkeit. Verletzung derſelben 319. 320.

Schärfungsgründe 29-31.

Schiedsmänner. Wirkſamkeit derſelben bei Injurienklagen 620. 621.

Schiedsrichter. Beſtrafung derſelben wegen Beſtechung und Ungerechtigkeiten

550-555.

Schießen an bewohnten Orten 584.; in der Nähe von Gebäuden 587.

Schießpulver. Verkauf und Aufbewahrung 584. 585.

Schiff. Diebſtahl aus bewohnten Schiffen 415-418.; Gefährdung eines Schiffes

durch Kontrebande 516. 517.; Zerſtörung eines Schiffes 518-520.; Gefährdung

der Schiffahrt durch Zerſtörung von Feuerzeichen c. 535. 536.; Strandung eines

Schiffes 535. 536.

Schiffer. Annahme verbotener Gegenſtände an Bord 516.; Beſtrafung der Schif-

fer, wenn ſie mit der Heuer entlaufen 516. 517.

Schlägerei. Theilnahme an derſelben 43. 44. 375-378.

Schleuſe. Beſchädigung von Schleuſen mit gemeiner Gefahr 534. 535.

Schloſſer. Beſtrafung derſelben 588.

Schlüſſel. Diebſtahl mit falſchen Schlüſſeln 415-417. 424.; unbefugte Anferti-

gung von Schlüſſeln 588.

Schmähung der Einrichtungen des Staats oder der Anordnungen der Obrigkeit

267-269; der Religionsgeſellſchaften 299-301.

Schonung. Unbefugtes Betreten derſelben 587-589.

Schonzeit. Unbefugtes Jagen während der Schonzeit 513-516.

Schornſteine. Unterlaſſene Reinigung derſelben 587.

Schrift. Vernichtung ſtrafbarer Schriften 120-122.; Aufforderung zu Verbrechen

durch Schriften 165-167.; insbeſondere zu hochverrätheriſchen Handlungen 225.

230.; Verbreitung unzüchtiger Schriften 319. 320.

Schuldverſchreibungen. Fälſchung derſelben 282-289.

Schwangere Frauen. Vollſtreckung der Todesſtrafe an denſelben 95.

Schwangerſchaft. Verheimlichung derſelben 355.; Abtreibung der Leibesfrucht

358-360.

[641/0651]

Sachregiſter.

Schwiegereltern. Unzucht zwiſchen Schwiegereltern und Schwiegerkindern 310.

bis 312.; Entwendungen 433-439.

Schwurgerichte. Kompetenz derſelben 618-625.; Verfahren 64. 625. 626.

Seelenverkäuferei 389.

Sekundanten beim Zweikampf 337-342.

Selbſtgeſchoſſe. Unbefugtes Legen derſelben 584.

Selbſthülfe 186. 187. 279-281.

Selbſtmord. Beihülfe zu demſelben 349.

Selbſtverſtümmelung, um ſich zum Militairdienſte untauglich zu machen 276.

Sequeſter. Beſtrafung wegen Untreue 467-471.

Sicherheit. Uebertretungen in Beziehung auf die Sicherheit des Staats 578. bis

581.; in Beziehung auf die perſönliche Sicherheit 581-586.

Siegel. Beſchädigung oder Abreißung amtlicher Siegel 274. 275.; unbefugte An-

fertigung von Siegeln 578-580.

Silber. Betrug beim Verkauf von Silber 462-465.

Sittlichkeit. Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit 302. ff.

Sodomiterei 313.

Soldatenſtand. Ausſtoßung aus demſelben 109. 110.; Aufforderung an Perſonen

des Soldatenſtandes zum Ungehorſam gegen die Befehle der Oberen 252-254.;

Verleitung eines Soldaten zum Deſertiren 276. 277.; ſ. Armee, Militär.

Sonntagsfeier. Störung derſelben 579.

Spiel. Beſtrafung der dem Spiele ergebenen Perſonen 278. 279.; ſ. Hazardſpiel.

Spion. Beſtrafung deſſelben 235.

Sportuliren. Strafe 560. 561.

Staat. Feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten 245. 246.

Staatsbürgerliche Rechte. Verluſt derſelben 102-112. 225. Verbrechen und

Vergehen in Bezug auf die Ausübung ſtaatsbürgerlicher Rechte 247-251.

Staatsgewalt. Widerſtand gegen dieſelbe 251. ff.

Steine. Werfen derſelben gegen Häuſer, in Gärten oder auf Pferde 583.; auf

Menſchen 586.; Wegnahme von Steinen aus fremden Grundſtücken 588.

Stempel. Unbefugte Anfertigung 578-580.

Stempelpapier. Fälſchung deſſelben 480-481.; unbefugte Anfertigung 578-580.

Sterbekaſſen. Unbefugte Errichtung derſelben 579. 580.

Steuern. Widerrechtliche Erhebung 560. 561.

Steuer-Kontraventionen 135. 136.; beſondere Strafgeſetze 595-602.

Stiefeltern. Unzucht zwiſchen Stiefeltern und Stiefkindern 310-312.; Entwen-

dungen 433-439.

Stimmrecht. Strafbare Handlungen in Bezug auf die Ausübung deſſelben 247.

bis 251.; Verluſt des Stimmrechts 102-112. 225.

Stockdegen. Tragen derſelben 584.

Strafbarkeit einer Handlung. Beurtheilung derſelben 602-605.

Strafe. Nulla poena sine lege 67-70.; verſchiedene Strafarten 82-91.; bei

Uebertretungen 573-575.; nach den beſonderen Strafgeſetzen 609-613.; Ver-

brechen und Vergehen der Beamten in Bezug auf Strafſachen 557. 558.

Strafgeſetzbuch. Geſchichte der Entſtehung 3-15.; Syſtem und Charakter

deſſelben 15-23.

Strafgeſetze. Anwendung derſelben 70-78.; auf Militairperſonen 78-81.; Anwen-

dung des Strafgeſetzbuchs 593. 594.; beſondere Strafgeſetze 595-602. 608-613.

[642/0652]

Sachregiſter.

Strandung eines Schiffes in betrügeriſcher Abſicht 463. 466.; durch Zerſtörung

von Feuerzeichen c. 535. 536.

Straße. Zerſtörung einer Straße mit gemeiner Gefahr 518-520.; Polizei-Ver-

ordnungen über die Sicherheit, Reinlichkeit c. auf den öffentlichen Straßen 583.

Straßenraub 444. 445.; Straßen-Diebſtahl 415. 424.

Subhaſtation. Abhalten vom Bieten 508-510.

T.

Taubſtumme. Zurechnungsfähigkeit derſelben 181.

Teich. Entwendung von Fiſchen aus Teichen 411.

Telegraphen-Anſtalt. Beſchädigung derſelben mit gemeiner Gefahr 531-534.;

Beſtrafung der Telegraphen-Beamten 531-534.

Teſtament. Fälſchung von Teſtamenten 477-479.

Teſtamentsvollzieher. Beſtrafung wegen Untreue 467-471.

Thätlichkeiten ſ. Körperverletzung.

Theilnahme an einem Verbrechen oder Vergehen 151-160.; Strafe der Theil-

nehmer 160-165.; mildernde Umſtände 33.; Theilnahme an den Vortheilen eines

Verbrechens 168-170.; Theilnahme an einer Uebertretung 576. 577.; Strafe

der Theilnahme nach den beſonderen Strafgeſetzen 601. 602.

Thiere. Unzucht mit Thieren 313.; Diebſtahl an Thieren auf dem Felde 411-415.;

Halten wilder Thiere 584.

Thierquälerei 579.

Thronfolge. Unternehmen auf gewaltſame Aenderung derſelben 217.; in andern

befreundeten Staaten 245.

Thronfolger. Thätlichkeiten und Beleidigungen gegen denſelben 244.

Titel. Unfähigkeit, öffentliche Titel zu führen oder zu erlangen 107.; Verluſt der

Titel 124-128.; unbefugte Annahme derſelben 273. 274.

Tod. Bürgerlicher Tod 106.

Todesſtrafe 86. 91-99.

Todesurtheil. Beſtätigung deſſelben 97-99.

Todtſchlag 349-354.; bei einer Schlägerei 375-378.

Tödtung eines Menſchen 342-343.; eines Todtkranken oder tödtlich Verwundeten

348. 349.; fahrläſſige Tödtung 363. 364.; Tödtung durch Mißhandlung 369.

375.; Thatbeſtand der Tödtung 364. 365.

Trunk. Einfluß der Trunkenheit auf die Zurechnungsfähigkeit 181.; Beſtrafung der

dem Trunke ergebenen Perſonen 278. 279.

Tumult 259-262.

U.

Ueberſchwemmung. Veranlaſſung derſelben 528-530.; unterlaſſene Anzeige von

dem Vorhaben derſelben 173.; Drohung mit Ueberſchwemmung 400-403.

Uebertretungen. Geſchichtliche Bemerkungen 21.; Begriff 59-66.; Beſtrafung

im Allgemeinen 568-578. 602; beſondere Beſtimmungen 578. ff.; Uebertretungen

nach den beſonderen Strafgeſetzen 608-613.; Kompetenz der Gerichte 618. 619.

Umwandlung der Strafen ſ. Verwandlung.

[643/0653]

Sachregiſter.

Unfug. Verübung groben Unfugs 579.

Ungehorſam gegen die Geſetze c. Oeffentliche Aufforderung dazu 252-254.

Unglücksfälle. Verweigerung der Hülfe bei Unglücksfällen 579.

Uniform. Unbefugtes Tragen derſelben 273. 274.

Unmündige. Zurechnungsfähigkeit derſelben 189-195.

Unrath. Werfen deſſelben gegen Häuſer, in Gärten c. 583., auf Menſchen 586.

Unterlaſſung. Strafbare Unterlaſſung einer Handlung 48. 66.; unterlaſſene An-

zeige von dem Vorhaben eines Hochverraths, Landesverraths, Mordes, Raubes c.

171-174., einer Deſertion 276.

Unternehmen, hochverrätheriſches 218-225.; Vorbereitung dazu 225-234.; ſtraf-

bare Unternehmungen gegen die Kammern und deren Mitglieder 248.

Unterſchiebung von Kindern 301. 302.

Unterſchlagung. Begriff und Strafe 428-433.; mildernde Umſtände 33-36.;

Unterſchlagung unter Verwandten 433-439.; Unterſchlagung durch Beamte 559.

bis 560.

Unterſuchungshaft. Anrechnung derſelben auf die Strafe 88-89.

Unterſuchungsſachen. Mißbrauch der Amtsgewalt 557. 558.; Kompetenz 618.

bis 625.; Verfahren 64. 625. 626.

Untreue. Begriff und Strafe 467-471.

Unzucht zwiſchen Verwandten 310-312.; unzüchtige Handlungen der Vormünder,

Lehrer, Geiſtlichen, Beamten, Aerzte c. 312. 313. 316.; widernatürliche Unzucht

313.; gewerbsmäßige Unzucht 317. 318.; Verbreitung unzüchtiger Schriften 319. 320.

Unzurechnungsfähigkeit 176-185.; bei Uebertretungen 577.

Urheber eines Verbrechens oder Vergehens 151-157.

Urkunden. Mittheilung geheimer Urkunden 235.; Vernichtung amtlich verwahrter

Urkunden 274. 275., anderer Urkunden 463. 466.; Urkundenfälſchung 471. ff.,

durch Beamte 558-560.

V.

Vater. Befugniß deſſelben zum Antrage auf Beſtrafung bei Verletzungen ſeiner

Kinder 203-207.; bei Beleidigungen derſelben 332-336.; Untreue des Vaters

in ſeiner Eigenſchaft als Vormund oder Kurator ſeiner Kinder 470.

Verbindung. Theilnahme an verbotenen Verbindungen 265-267.; Tragen von

Verbindungszeichen 262. 263.

Verbrauch gefundener oder in Verwahrung befindlicher Sachen 428-433.

Verbrechen. Begriff 59-66.; nach den beſonderen Strafgeſetzen 608-613.;

nullum crimen sine lege 67.

Verbreitung erdichteter oder entſtellter Thatſachen in Bezug auf die Einrichtungen

des Staats, oder auf Anordnungen der Obrigkeit 267-269.; Verbreitung un-

züchtiger Schriften 319. 320.

Vereinsrecht. Beſondere Strafgeſetze 595-602.

Verfälſchung ſ. Fälſchung.

Verfahren in Strafſachen 64.; in Injurienſachen 620. 621.; vor Geſchworenen

625. 626.

Verfaſſung. Unternehmen auf gewaltſame Aenderung derſelben 217.; in andern

befreundeten Staaten 245.

Verführung junger Mädchen zum Beiſchlafe 317-319.

[644/0654]

Sachregiſter.

Vergehen. Begriff 59-66.; nach den beſonderen Strafgeſetzen 608-613.; poli-

tiſche Vergehen 622. 623.

Vergiftung. Begriff und Strafe 378-381.; Vergiftung von Brunnen, Waa-

ren c. 536-538.

Verhaftung. Rechtswidrige Verhaftung eines Menſchen 556. 557.

Verheimlichung geſtohlener oder geraubter Sachen 449-455.

Verjährung der Verbrechen und Vergehen 196-202. 605.; der Bigamie 302.

308. 309.; des Antrags auf Beſtrafung 204. 205.; Verjährung beim Rückfall

215. 216.; Verjährung der Uebertretungen 576-578.; der Beleidigungen 581.

582. 620. 621.; Verjährung der Civilklagen in der Rheinprovinz 614-616.

Verkauf verbotener Fahnen c. 262. 263.; unzüchtiger Schriften 319. 320.; ver-

gifteter Sachen 536-538.; verdorbener Getränke 584-586.

Verleitung zu Verbrechen oder Vergehen 155-157.; zum Deſertiren 276.; zum

Auswandern 277.; zum Meineide 294-297.; zum Beiſchlaf 313. 317. 318.

Verleumdung. Begriff und Strafe 328-332.; mildernde Umſtände 33-36.;

Verleumdung der Kammern, Behörden, Beamten c. 269-273.; Verfahren

620. 621.

Vermögen. Beſchränkung der freien Verfügung über daſſelbe 87. 101. 102.;

beim Hochverrath 239-242.; bei der verbotenen Auswanderung 275-277.;

Beſchädigung fremden Vermögens 517-520.; Uebertretungen in Beziehung auf

das Vermögen 587-590.

Vernichtung ſtrafbarer Schriften, Abbildungen, Platten c. 120-123.; Vernich-

tung von Urkunden 274. 463.

Verpachtung. Abhalten vom Mietbieten bei öffentlichen Verpachtungen 508-510.

Verſammlungsrecht. Beſondere Strafgeſetze 595-602.

Verſchwörung 227-229.

Verſehen 36-44. 47-56. ſ. Fahrläſſigkeit.

Verſicherung auf den Dienſteid 290-293.; falſche Verſicherung an Eidesſtatt

294-297.

Verſicherungsgeſellſchaften. Täuſchung derſelben durch falſche Atteſte 482-484.

Verſpottung der Einrichtungen des Staats oder der Anordnungen der Obrigkeit

267-269.; der Religionsgeſellſchaften 299-301.

Verſteigerung. Abhalten vom Bieten 508-510.

Verſtümmelung in Folge erlittener Mißhandlungen 369-375.

Verſuch. Begriff des ſtrafbaren Verſuchs 137-146.; mildernde Umſtände 33.;

Verſuch eines Verbrechens 146-149.; eines Vergehens 149-151.; einer Ueber-

tretung 575. 576.; Strafe des Verſuchs nach den beſonderen Strafgeſetzen

601. 602.

Verwalter fremder Sachen. Widerrechtliche Veräußerung oder Verpfändung der-

ſelben 428-433.; Verwalter von Stiftungen, Untreue derſelben 467-471.

Verwandlung der Strafen 88. 116-120.

Verwandte. Beſtrafung derſelben für die Begünſtigung eines Verbrechens oder

Vergehens 170. 171.; Verwandtenmord 342. 347.

Verzeihung des Verletzten 205.

Viehſeuche. Uebertretung der Maaßregeln zur Verhütung von Viehſeuchen 538. 539.

Vorbereitung eines hochverrätheriſchen Unternehmens 226-234.

Vormund. Unfähigkeit, Vormund zu ſein 108. 128.; Unzucht der Vormünder mit

[645/0655]

Sachregiſter.

ihren Pflegebefohlenen 312. 313.; Kuppelei 317.; Untreue der Vormünder 467.

bis 471.; Diebſtahl gegen den Vormund 433.

Vormundſchaft. Einleitung derſelben über die zur Zuchthausſtrafe verurtheilten

Perſonen 101. 102.

Vorſatz 36-47.; bei Uebertretungen 577.

Vortheil. Theilnahme an den Vortheilen eines Verbrechens 168-170.

W.

Waage. Beſitz unrichtiger Waagen 588-590.

Waaren. Bezeichnung derſelben mit der Firma eines andern Fabrikanten 508.;

Vergiftung von Waaren 536-538.; Anfertigung von Waaren-Empfehlungskarten,

welche dem Papiergelde ähnlich ſind 578-580.; Diebſtahl in einem Waarenlager

412-415.

Waffen. Verluſt des Rechts, Waffen zu tragen 109. 110.; Diebſtahl mit Waffen

416. 424-426.; Raub mit Waffen 444. 445.; Aufſammlung von Waffenvor-

räthen 578.; Tragen verbotener Waffen 584.

Wahlrecht. Verluſt deſſelben 102-112. 123-130. 225.; Verbrechen und Ver-

gehen in Bezug auf die Ausübung des Wahlrechts 247-251.

Wahlſtimme. Kauf und Verkauf derſelben 247. 250.

Wahnſinn. zur Zeit der That 174-181.

Wahnverbrechen. 143. 144.

Wald. Entwendung von geſchlagenem Holz aus dem Walde 411-415.; Anzündung

fremder Waldungen 521.; Feuer im Walde 587.

Wallfahrten. 263.

Wanderbuch. Fälſchung deſſelben 481-484.

Waſſer. Diebſtahl in Waſſersnoth 416. 426.; Beſchädigung von Waſſerbauten mit

gemeiner Gefahr 534. 535.

Wechſel. Fälſchung derſelben 477-479.

Weg. Diebſtahl auf öffentlichen Wegen 415. 424.; Raub 444. 445.; Beſchädigung

eines Weges mit gemeiner Gefahr 534. 535.; Polizei-Verordnungen über die

Sicherheit, Reinlichkeit c. auf öffentlichen Wegen 583.

Weide. Entwendung von Thieren auf der Weide 411.; Weidefrevel 587-589.

Weinberg. Uebertretung der polizeilichen Anordnungen 587.

Werbung zum Militairdienſte fremder Mächte 276. 277.

Werkſtätte. Diebſtahl in der Werkſtätte 412-415.

Widerſetzlichkeit gegen Beamte 254-258.; beim Aufruhr und Auflauf 259-262.;

Widerſetzlichkeit gegen Forſt-, Jagd- und Zollbeamte 595-602.

Widerſtand gegen die Staatsgewalt 251 ff.

Wieſe. Diebſtahl an Heu c. von den Wieſen 411-415.; unbefugtes Betreten

fremder Wieſen 587-589.

Wilddiebſtahl 411. 515. 516.

Wilde Thiere. Halten derſelben 584.

Willkührliche Strafe 612. 613.

Wittwenkaſſe. Unbefugte Errichtung derſelben 579. 580.

Wucher. Begriff und Strafe 499-504.; Wuchergeſetze 601. 613. 614.

Würde. Unfähigkeit, öffentliche Würden zu führen oder zu erlangen 107.; Verluſt

der Würde 124-128.; unbefugte Annahme derſelben 273. 274.

Wundarzt f. Medizinalperſon.

[646/0656]

Sachregiſter.

Z.

Zeuge. Unfähigkeit zum Zeugniß 108. 109.; Beleidigung eines Zeugen 269-273.;

Mißhandlung deſſelben 369-371.; Vorſchützung falſcher Entſchuldigungs-Urſachen

von Seiten eines Zeugen 275.; Meineid 289-293.

Zeugniß. Ausſtellung falſcher Zeugniſſe 481-484.

Zerſtörung fremder Sachen ſ. Beſchädigung.

Zinsſcheine. Fälſchung derſelben 282-289.

Zinſen. Höhere Zinſen, als die Geſetze zulaſſen 499-504. 613. 614.

Zoll-Kontraventionen. Polizei-Aufſicht 135. 136.; beſondere Strafgeſetze

595-602.

Zuchthausſtrafe 86. 99-102.; nach den beſonderen Strafgeſetzen 611. 612.

Zuchtpolizeikammern in der Rheinprovinz. Kompetenz derſelben 618. 619.

Zuchtrecht 321. 369.

Zufall 36.

Zumeſſungsgründe 25-29.

Zurechnungsfähigkeit 176-185.; bei Uebertretungen 577.; nach den beſonderen

Strafgeſetzen 601. 602.

Zuſammenrotten mehrerer Perſonen zum Aufruhr 259-262.; zur Meuterei 263.

264.; zum Eindringen in fremde Wohnungen 403-405.; zur Plünderung 518-520.

Zuſammentreffen mehrerer Verbrechen oder Vergehen 207-210.; mehrerer Ueber-

tretungen 578.

Zwangsmittel. Anwendung derſelben in Unterſuchungsſachen 557. 558.

Zweikampf 337-342.

Druck von Georg Reimer in Berlin.

[0657]

Berichtigungen.

S. 11. Z. 7. Die Reviſionsſchrift von 1845. iſt nach einer vom Geh. Juſtizrath

Biſchoff mir gewordenen Mittheilung nicht allein von letzterm verfaßt wor-

den, ſondern an derſelben haben unter der Leitung und unmittelbaren Mit-

wirkung des Juſtizminiſters v. Savigny außerdem noch gearbeitet: der

Profeſſor Hendemann, der Kammergerichtsrath, jetzige Ober-Tribunals-

rath Meyer und der Juſtizrath Arndts.

S. 56. Z. 19. a. E. fehlt das Notenzeichen I)

S. 96. Note c) Z. 3. ſt. statuty l. statutes.

S. 97. Z. 8. v. u. ſt. 1806. l. 1806-10.

S. 98. Z. 23. Nach einer mir gewordenen Mittheilung werden auch jetzt noch nicht

allein die Todesurtheile, ſondern auch die auf lebenswierige Freiheits-

ſtrafe lautenden Erkenntniſſe dem Könige zur Beſtätigung vorgelegt.

S. 115. Z. 18. ſt. zwanzig ſt. zehn.

S. 199. Z. 29. 30. lies: die Bigamie würde alſo ohne die Beſtimmung

des §. 139.

S. 287. Ueberſchrift ſt. 122. l. 124.

S. 385. Z. l. iſt offenbar zu ſtreichen.

— Note m) zu Anfang füge hinzu: Verhandlungen der Staatsraths-

Kommiſſion von 1846. S. 181. —

— Note m) Z. 8. ſt. dieſe l. dieſer.

S. 412. Z. 8. zu Anfang fehlt: Nr. 5.

S. 426. Note I) ſt. geretteten l. gefährdeten.

S. 567. Z. 12. ſt. jeden l. jeden.

[0658]

[0659]

[0660]

[0661]